Larry Brent Classic 074: Voodoorache - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 074: Voodoorache E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Larry Brent hat alle Hände voll zu tun, der neuen Aufgabe als X-RAY-1 gerecht zu werden. Doch dann bietet sich dem PSA-Agent die Chance, erneut in den geheimen Tempel des Dr. Satanas einzudringen.

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Band 74

Dan Shocker

VOODOORACHE

Erscheinungstermine von „Voodoo-Rache“

21.10.1975 als Silber Grusel-Krimi Nr.102

Juni 1977 als Silber Grusel-Krimi-Neuauflage Nr. 102

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Illustration: www.ralph-kretschmann.de

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-874-7

„Voodoo-Zauber? Unsinn! Gibt es nicht. Ich lach mich tot, Berry. Glauben Sie wirklich, Sie könnten mich damit einschüchtern?“ Der Mann, der das sagte, war Mitte vierzig, hatte dunkelblondes, dicht gewelltes Haar und trug eine Goldrandbrille.

Der junge Mann, der zuhörte, war Anfang zwanzig, schlank, beinahe hager, von blasser Gesichtsfarbe. In seinen dunklen Augen lag ein gefährliches Leuchten.

Henry Mathews, Studienprofessor, wirkte eher wie ein durchtrainierter Sportsmann denn wie ein Lehrer, der Tag für Tag hinter dem Pult steht und seinen Schülern wissenschaftliche Formeln einpaukt. „Sie haben den Verstand verloren, Berry. Sie müssen sich mal überlegen, was Sie von mir verlangen. Ich soll eine Urkundenfälschung begehen, ich soll mich, und Sie selbst und alle anderen betrügen! Ihre Arbeit im letzten Halbjahr war miserabel. Sie sind nicht dumm, aber Sie sind faul! Mit diesen Noten fallen Sie durch, Sie schaffen die Prüfung nicht!“

„Das brauchen Sie mir nicht auch noch unter die Nase zu reiben, Mathews“, fiel Berry White dem Lehrer ins Wort. „Schließlich bin ich deshalb hierhergekommen, um von Ihnen eine Zusage zu erhalten.“

„Sie wissen, dass ich Ihnen die nicht geben kann.“

„Doch, Sie können! Wenn Sie wollen! Sie sind im Prüfungsausschuss. Sie stellen die Fragebögen zusammen. Niemand kennt meine Schwächen besser als Sie. Wenn Sie nur wollten, brauchten Sie den Fragenkomplex nur so zusammenzustellen, dass ich noch mal mit einem blauen Auge davonkäme. Ich würde mit durchrutschen.“

„Diese Chance haben Sie trotz allem, Berry.“

„Das ist nicht wahr! Sie können mich nicht leiden. Ständig bereiten Sie mir Schwierigkeiten, Mathews. Glauben Sie, ich bin so dumm, um das nicht zu bemerken? Sie stellen mir absichtlich Fragen, bei denen Sie von vornherein wissen, dass ich sie nicht beantworten kann.“

„Hätten Sie gelernt, könnten Sie sie auch beantworten, Berry.“ Henry Mathews ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Um seine Lippen spielt ein leichtes Lächeln, das White zur Weißglut reizte. „Das ganze Gespräch ist in höchstem Maß unerquicklich, mein lieber Berry. Es führt zu nichts. Wir beide sprechen nicht dieselbe Sprache. Ich würde Ihnen vorschlagen zu gehen. Ich will das Ganze vergessen.“

„Vergessen, Mister Mathews?“, seit Berry White hier war, redet er den Studienprofessor zum ersten Mal mit Mister an. In seiner Stimme klang ein gefährlicher Unterton mit, der den Lehrer aufhorchen ließ. „Im Gegenteil! Sie sollen daran denken. Ständig!“

Er ließ den Verschluss der speckigen Aktentasche, die auf seinen Knien lag, aufschnappen und nahm eine primitive Stoffpuppe heraus. Sie hatte ein breites Gesicht, eine Knollennase, kurze, gedrungene Arme und Beine. Deutlich zu erkennen waren die Nähte, die den Ansatz der Arme, Beine und Hände zeigten.

Henry Mathews lachte. „Das soll ich sein?“, fragte er.

„Das ist eine Puppe, mehr nicht. Aber sie ist verhext.“ White ließ sich nicht irritieren. Auf seinem bleichen Gesicht zeigten sich hektische rote Flecken. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn, griff dann erneut in die Tasche und holte eine flache Metallschachtel heraus, in der sich mehrere lange, dicke Stecknadeln befanden. White nahm nur eine einzige Nadel.

Mathews wandte den Blick nicht von dem jungen Studenten, der in den letzten Monaten die meisten Vorlesungen versäumt hatte und der gekommen war, um ihm zu drohen. „Aha, und Sie glauben also, dass Sie mir nun Schmerz zufügen können, wenn Sie in die Puppe eine Nadel bohren? Sie studieren Naturwissenschaft, Berry! Es ist erstaunlich, mit welch primitiven Mitteln Sie hantieren. Ich hätte Ihnen mehr Phantasie zugetraut. Ehrlich! Wenn Sie hier aufgetaucht wären mit einer Pistole in der Hand, würde das noch gepasst haben. Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie mich mit diesem Kram einschüchtern können?“

„Sie denken auch, Mister Mathews, die ganze Wahrheit gepachtet zu haben. Aber!“

„Aha, das alte Lied von den Dingen, die es zwischen Himmel und Erde gibt, und von denen wir nichts wissen. Das wollten Sie doch sagen, Berry, nicht wahr?“

„Genau.“ White drehte die Stoffpuppe wie etwas Zerbrechliches in den Händen. „Der Vergleich mit der Pistole hinkt, Mister Mathews. Ich könnte Sie zwar damit bedrohen, und vielleicht wäre ich sogar imstande abzudrücken, wenn ich so in Wut geriete, dass mir alles egal wäre. Aber dann müsste ich damit rechnen, von der Polizei als Mörder gesucht zu werden. Und das wäre mir nicht recht. Mit der Puppe aber, kann mir gar nichts und Ihnen alles passieren! Das ist der Vorteil daran!“

Henry Mathews schüttelte nur den Kopf, als er sah, wie White mit unnachahmlicher Akribie eine Nadel aus dem Behälter nahm und mit seltsamem Lächeln deren Spitze langsam dem Oberarm der primitiven Stoffpuppe näherte. Der Lehrer presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und fragte sich, wie ein Mensch so werden konnte. War Rauschgift im Spiel?

White war ein Durchschnittsschüler gewesen. Er hätte die geforderten Leistungen ohne weiteres bringen können. Doch seit ein paar Monaten machte er nicht mehr mit. Er fehlte oft und wenn er schon mal auftauchte, dann machte er einen abgeschlafften, übernächtigten Eindruck. Er war wie geistesabwesend. Whites Psyche hatte sich verändert.

„Vielleicht sollten Sie mal zum Arzt gehen, Berry“, kam es unvermittelt über Henry Mathews Lippen. „Und …“ Da verzog er das Gesicht. Blitzartig bohrte sich der Schmerz in seinen Arm und strahlte bis zu den Schulterblättern aus. Mathews presste seine Hand gegen die Schulter und sah dabei Whites breites Grinsen.

„Unangenehm, nicht wahr?“, kam es hart und trocken aus dem Mund des jungen Besuchers.

Mathews sah, dass die Nadel mehrere Millimeter tief im Arm der Puppe saß. Es war genau jene Stelle, die auch ihn schmerzte. Unsinn! So etwas gab es nicht. Ein verdammter Zufall. Das elende Rheuma, über das er in der letzten Zeit schon öfter geklagt hatte, machte sich gerade wieder bemerkbar. „Rheuma, ich kenn das, Berry. Und Sie wollen mir …“

„Reden Sie sich doch nichts ein, Mister Mathews!“, fiel der andere ihm frech ins Wort. Das Grinsen auf seinem Gesicht verstärkte sich, und er erhob sich. „Das ist kein Rheuma! Sie sehen doch mit eigenen Augen, was die präparierte Puppe und die Nadel vermögen.“

„Ich habe das öfter, ich …“

„Sie haben das öfter, weil ich es so wollte, Mathews! Sie werden noch schlimmere Schmerzen bekommen. Das ist noch gar nichts. Ich kann den Druck verstärken.“ Berry White tat es.

Im gleichen Augenblick glaubte auch Henry Mathews, dass sich eine spitze, glühende Nadel in seinen Oberarm bohre. Der Schmerz war beinahe unerträglich. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, und seine Hand, die er gegen die Schulter presste, begann zu zittern. „Es ist ein Zufall, Berry. Sie nutzen eine Situation aus, die sowieso eingetreten wäre, auch wenn Sie nicht hier aufgetaucht wären, ich habe oft diese Rheumaanfälle.“

White schien überhaupt nicht zuzuhören. Kurzerhand nahm er eine zweite Nadel zur Hand und schob die Spitze in die linke Schulter seiner Puppe. Mathews Körper spannte sich. Er beugte sich nach vorn; ein Stöhnen kam über seine Lippen, obwohl er sich zusammenriss und seine Schwäche dem unangenehmen Besucher nicht zeigen wollte.

„Jetzt fängt auch noch die zweite Schulter an, nicht wahr?“, fragte Berry White ungerührt. Seine Augen glitzerten kalt und teuflisch. „So stark war Ihr Rheuma noch nie.“

Da hatte er recht. Aber doch war es ein Zufall! Er glaubte nicht an diese Dinge.Er war psychisch überlastet, und der Besuch und das Verlangen Berry Whites hatten ihn offenbar doch tiefer getroffen, als er sich selbst eingestehen wollte. Henry Mathews taumelte gegen den Tisch und stützte sich dort ab. Er atmete schnell und flach. Er glaubte, ihm würde die Haut von den Schulterblättern geschält. Er bemühte sich um Ruhe, schloss die Augen und ärgerte sich, dass ausgerechnet White Zeuge dieses Schwächeanfalls wurde. Die Schmerzen wollten nicht weichen. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Er nahmBerry White wahr wie durch einen Nebelschleier.

„Nun, machen wir’s für den Anfang nicht so schlimm“, vernahm er die Stimme seines Besuchers wie aus weiter Ferne. White lachte leise. Es klang so widerlich, dass Mathews am liebsten aufgesprungen wäre, um ihm ins Gesicht zu schlagen.

Der Student zog die beiden Nadeln aus der Puppe und verstaute wieder alles. Die Schmerzen in Mathews’ Oberarmen und Schultern ließen langsam nach.

„Glauben Sie noch immer nicht an Voodoo-Zauber, Mister Mathews?“

„Verschwinden Sie, White! Und lassen Sie sich hier nie wieder sehen!“ Mathews schluckte. Ihm ging es wieder etwas besser. Er musste unbedingt wieder regelmäßig seine Medikamente nehmen. Aber wenn er es genau betrachtete, musste er sich eingestehen, dass die Tabletten auch nicht halfen. Er musste noch mal zum Arzt.

„Ich gehe freiwillig, Mister Mathews. Sie brauchen mich nicht hinauszuwerfen. Ich komme auch nicht wieder. Ich denke, wir sind uns einig geworden. Nach dieser kleinen Demonstration wird es Ihnen sicher leichter fallen, die Prüfungsbögen so gut zu gestalten, dass auch ich etwas davon habe oder den Notenspiegel zu meinem Vorteil zu verändern. Rheumaschmerzen können nicht nur lästig, sie können sogar verdammt unangenehm werden. Bisher habe ich die Schmerzen immer nur sporadisch auftreten lassen. Hin und wieder ein paar Minuten. Das schien mir genug, um Sie vorzuwarnen. Wenn die Schmerzen stundenlang anhalten und Sie auch nicht mehr schlafen können, werden Sie sicher nicht mehr so starrsinnig sein. Versuchen Sie es erst gar nicht mit Medikamenten, Mister Mathews! Und wenn Sie kiloweise Tabletten schlucken, wird Ihnen das nicht helfen. Kein Arzt kann etwas für Sie tun, weil er die Krankheit nicht an der Wurzel packen kann. Ich müsste Ihnen dann schon den Arzt empfehlen, der die Puppe von Ihnen anfertigte, der ein Haar eingenäht hat, das von Ihrem Haupt stammt. Haarausfall kann nicht nur peinlich, sondern auch schmerzhaft sein, wie Sie jetzt gesehen haben.“ Er lachte wie über einen Witz.

Mathews’ Gesicht blieb starr wie eine Maske.

White fuhr fort: „Aber dieser Mann ist dann, in Ihren Augen, ein sogenannter Hexendoktor, ein Quacksalber. Zu solchen Leuten gehen Sie ja nicht. Aber er könnte Ihnen wirklich helfen. Auf Wiedersehen, Mister Mathews! Ich rufe Sie vielleicht in den nächsten Tagen nochmal an.“

Er näherte sich der Tür. Mathews Gesicht war puterrot angelaufen. Er war wütend. Aber er riss sich zusammen, um die Beherrschung nicht zu verlieren. So etwas war ihm in seiner ganzen Laufbahn noch nicht passiert. White war wahnsinnig. Er musste eine panische Angst vor der Prüfung haben. Viel schien für ihn auf dem Spiel zu stehen. Whites Eltern waren sehr streng.

Er war der einzige Sohn, und sie förderten ihn, wo sie nur konnten.

„Ich glaube aber, dass das gar nicht notwendig sein wird“, fuhr er unbeirrt fort, bereits auf der Türschwelle stehend. „Wie ich die Dinge sehe, werden Sie mich spätestens morgen früh anrufen und mich bitten, Sie zu meinem Hexendoktor zu begleiten, damit er die Puppe neutralisiert. Aber selbst diesen Weg können Sie sich ersparen. In dem Moment, da Sie sich bereit erklären, auf meine Vorschläge und Bitten einzugehen, wird alles automatisch ein Ende haben. So habe ich den Zauber auslegen lassen.“

„Sie sind ein Narr, Berry“, presste Henry Mathews angewidert hervor. „Sie glauben doch selbst nicht, dass ich jemals auf Ihre verrückte Geschichte eingehe. Niemals, White!“

„Nun, das haben schon andere gesagt, und nachher doch klein beigegeben. Verwenden Sie in diesem Fall nie das Wörtchen Niemals, Mathews!“

„Wenn ich niemals sage, dann bleibt es dabei!“ Bei ihm stimmte es wirklich.

Aber auf andere Weise als er und auch Berry White es in diesen Sekunden ahnten.

White verließ das vierstöckige Wohnhaus mit der neugestrichenen Fassade. Winterliche Luft schlug dem bleichen, unrasierten jungen Mann entgegen, der nur ein leichtes Jackett trug. Er stellte den Kragen hoch, um sich vor dem Wind zu schützen, zog die Schultern ein und klemmte sich die schwarze Tasche fest unter den Arm. Hinter Whites Stirn arbeitete es. Mathews war in der Tat ein harter Brocken. Aber auch solche Typen waren zu knacken. Wenn man wusste, was ihm bekannt war, dann konnte man praktisch jedes Hindernis aus dem Weg räumen. Seine dünnen Lippen bildeten einen Strich in dem bleichen, verfrorenen Gesicht. Er lief auf die Straßenkreuzung zu. An der Ecke war ein Gebäude abgerissen worden und vorübergehend ein Parkplatz entstanden, wo sein Wagen stand. White liebte schnelle Autos. Der Jaguar war weinrot und hatte ein schwarzes Verdeck. Seit einiger Zeit konnte White sich solche Extravaganzen erlauben. Alles von geliehenem Geld. Die Gläubiger waren so nett, die Beträge nicht mehr zurückzuverlangen. Das machte sich, im wahrsten Sinn des Wortes bezahlt. Um die Ecke bog ein LKW. Hinter White näherte sich im gleichen Augenblick ein grüner Ford älteren Baujahres.

Der Fahrer des Fords musste einen Moment geschlafen haben. Er sah den riesigen Schatten des Lastwagens auf sich zukommen. Er fuhr zu weit auf der linken Fahrbahnseite und versuchte diesen Fehler wieder gutzumachen, indem er das Steuer herumriss. Genau das war aber ein Fehler.

Auf der regennassen Fahrbahn geriet der Wagen ins Schleudern und raste über den Gehweg.

White vernahm noch, das ungewohnte Geräusch, warf seinen Kopf herum und erfasste geistesgegenwärtig die Gefahr. Mit einem verzweifelten Sprung warf er sich dann zur Seite.

Ganz schaffte er es nicht mehr, aus der Gefahrenzone herauszukommen. Er erhielt einen Schlag gegen die Hüften und warf die Arme nach vorn, um sich abzustützen.Die speckige, alte Aktentasche, in der die verhexte Puppe lag, flog ihm voran, krachte gegen die Windschutzscheibe, rutschte durch den Schwung ab, erhielt einen zweiten Stoß und prallte ab wie ein Querschläger, wobei sich der Verschluss öffnete und die Puppe in hohem Bogen herausflog. Der Ford neigte sich bedrohlich auf die Seite, rammte mit seinem rechten Kotflügel eine Straßenlaterne, wurde herumgerissen und knallte dann gegen die Absperrung. Die Stoffpuppe rutschte genau vor die Scheinwerfer, die an den Metallpfosten stieß. Ein Dorn bohrte sich durch die Brust der Puppe, große Splitter malträtierten den prallgefüllten Stoff. Die kurzen, drallen Arme rissen die Naht auf, der Kopf klappte zurück und hing nur noch an einem dünnen Faden.

In der gleichen Sekunde in der Wohnung von Henry Mathews. Der Professor glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. War er betrunken?

Wackelte der schwere Schrank, der mit Nachschlagewerken, kostbar geschliffenen Gläsern, einer Marmorbüste Newtons und zahlreichen anderen Utensilien überladen war, wirklich oder täuschte er sich? Mathews fand nicht mehr die Gelegenheit, darüber nachzudenken. Es ging alles zu schnell. Der riesige Schrank, der zweieinhalb Meter hoch und vier Meter breit war, schien plötzlich von gespenstischem Leben erfüllt. Er kippte nach vorn! Mathews sah das Ungetüm auf sich zukommen und war so entsetzt, dass er wie angewurzelt stehen blieb. Ein gellender Aufschrei entfuhr seinen Lippen. Dann kippte der ganze Schrank um. Es krachte und polterte. In der Wand ächzte es gefährlich. Schwere Bücher und Bretter kamen ins Rutschen, flogen gegen Mathews’ Brust und warfen ihn um. Ein einziger, ohrenbetäubender Lärm erfolgte. Mathews’ Kopf flog nach hinten. Es knackte knöchern. Der Schrank begrub ihn unter sich. Handgroße Glassplitter bohrten sich tief in seinen Arm und in seinen Kopf. Von alledem und von den zahllosen Schnittwunden auf seinem Körper merkte Henry Mathews nichts mehr.

Er war tot! Auf rätselhafte Weise gestorben.

Berry White zitterten die Knie. Er lag auf dem Asphalt und sah wie der Fahrer über dem Lenkrad langsam nach vorn kippte. Die Frontscheibe zerbarst in tausend winzige Splitter, die wie Hagelkörner durch die Luft schwirrten. Whites Blick fiel auf die Stoffpuppe die zwischen Metallpflock und eingebeulten Kotflügel hing. Unwillkürlich flog Whites Blick zurück zu dem vierstöckigen Haus, aus dem er vor wenigen Augenblicken erst gekommen war. Die Fenster zum dritten Stock waren alle verschlossen. Was für ein Drama mochte sich dort oben vor nur einer einzigen Sekunde abgespielt haben? White stand auf und taumelte auf den Wagen zu. Es war erstaunlich, auf welche Weise und wie überlegen er die Situation meisterte. Noch ehe der Fahrer des LKW seinen Wagen verließ, noch ehe die ersten Passanten eine dichte Traube um den Ort des Geschehens bildeten, war er um die eingedrückte Kühlerhaube des Fords herum und zerrte an der Puppe. Die hing fest. White erschauerte. Er riss solange daran, bis sich die obere Körperhälfte knirschend löste, während die untere zwischen Kühlerhaube und Metallpflock eingezwängt blieb. White verstaute die eine Hälfte kurzerhand in der Tasche, die er rund dreißig Meter weit entfernt auf dem Parkplatz fand.

Menschen strömten zusammen. Rotlicht in der Ferne, Polizeisirene. Dann tauchte ein Krankenwagen auf. Im Nu glich die Unfallstelle einem wimmelnden Ameisenhaufen. Alles redete durcheinander. Die Polizei fragte nach Zeugen und den Fahrer des LKW nach dem Ablauf. Der Fahrer des Fords wurde eine Viertelstunde später äußerlich unverletzt aus dem Wagen geschweißt. Die Türen und Holme hatten sich völlig verzogen. Der Mann hatte einen Schock und konnte vorerst nicht vernommen werden. White sollte mit ins Krankenhaus aber er lehnte ab. Er wurde nach dem Vorfall befragt und gab zu Protokoll, was er gehört, gesehen und selbst erlebt hatte. Wie im Traum schilderte er nachträglich den Unfallhergang und beobachtete wie die Scherben zusammengekehrt wurden und ein Abschleppwagen kam, um das zertrümmerte Fahrzeug hochzuhieven. Als sich der Kotflügel von dem völlig verbogenen Metallpflock löste, lag auch die zweite Hälfte der Stoffpuppe auf dem Boden. White bückte sich danach.

„Was haben Sie denn da?“, vernahm er plötzlich eine raue Stimme hinter sich.

Unwillkürlich zuckte er zusammen, als hätte ein Peitschenschlag ihn getroffen. Er wandte den Kopf. Hinter ihm stand der bullige Polizist, der die Aufräumungsarbeiten überwachte.

„Eine Puppe, nur eine Puppe“, murmelte White geistesabwesend. Er drehte den aufgeschlitzten Torso nachdenklich zwischen den Fingern. „Bei dem Unfall ist sie kaputt gegangen.“

„Haben Sie das zu Protokoll gegeben? Ich meine, das ist doch wichtig. Das zahlt Ihnen doch die Versicherung.“

„Es ist keine wertvolle Puppe, nicht der Rede wert. Ich habe sie selbst gebastelt. Es sollte ein Geschenk werden.“ Er warf die untere Hälfte ebenfalls in seine Aktentasche und war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie der Beamte einen Vermerk zu dem Unfallhergang auf seinen linierten Notizblick schrieb.

„Seien Sie doch nicht so dumm“, knurrte der Mann. „Sie schneiden sich ja ins eigene Fleisch. Ihr Anzug hat etwas abbekommen, ein Geschenk wurde Ihnen zerstört. Mann, das wird Ihnen doch alles ersetzt.“