Larry Brent Classic 088: Im Horrorreich der Nökken - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 088: Im Horrorreich der Nökken E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Eine Gruppe junger Leute lässt an einem ruhigen Waldsee Erinnerungen an ihre Schulzeit aufleben. Doch die ausgelassene Feier entwickelt sich zum Albtraum. Die Nökken tauchen auf.

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Band 88

Dan Shocker

Im Horrorreich der Nökken

Erscheinungstermine von „Im Horror-Reich der Nökken“

07.09.1976 als Silber Grusel-Krimi Nr. 124

© 2016 BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Illustration: Ralph Kretschmann

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Druck und Bindung: CPI, Clausen & Bosse, Leck

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-888-4 (epub)

Die Nacht war mondhell und romantisch. Eine Nacht zum Träumen. Und dann wurde es eine Nacht der Alpträume, die den Tod brachte …

Davon ahnten die jungen Menschen jedoch nichts, als sie sich in der einsamen Blockhütte mitten in dem dunklen Kiefernwald trafen, um ein Fest zu feiern. Sie waren zu acht, vier Pärchen. Jan hatte seine Mundharmonika mitgebracht. Kirsten spielte auf der Gitarre. Die jungen Männer und Frauen, die mit Autos und Motorrädern in dieses abseits gelegene Tal gekommen waren, hatten eine lange Anreise hinter sich. Sie mieteten die Hütte bei einem Privatmann in Kristiansund, dem der Wald gehörte. Die Hütte war schon lange unbenutzt und nicht mehr gut in Schuss. Doch das störte die Gruppe nicht. Sie brauchten für die Nacht nur ein Dach über dem Kopf.

Unweit der Hütte lag im Mondlicht, geheimnisvoll funkelnd wie ein Juwel, ein kleiner Waldsee. Von diesen Gewässern gab es in Norwegen Tausende, und in den Märchen und Legenden dieses Landes erzählt man sich davon, dass diese Seen von seltsamen und scheuen Wesen bewohnt wären.

Aber an Märchen und Legenden dachte in dieser Stunde niemand. Die Freunde erzählten sich von der gemeinsamen Schulzeit. Man amüsierte sich köstlich. Es wurde gelacht, gescherzt und gesungen. Kirsten legte die Gitarre beiseite. Die blonde Norwegerin trug das lange Haar zusammengebunden. Sie war nicht sonderlich hübsch, aber apart und sympathisch. Mit ihr konnte man Pferde stehlen. Außer ihr waren Gunnar, Mike, Rolf und Jan auf der männlichen und Gitta, Gerda und Selma auf der weiblichen Seite mit von der Partie.

Kirsten kam auf die Idee, die Kerngruppe der damaligen Klasse zusammenzutrommeln und den Ausflug zu organisieren. Die jetzt Achtundzwanzig- bis Dreißigjährigen waren gebeten worden, ein Fest nach altem Stil zu planen und die Ehepartner nicht daran teilnehmen zu lassen. Es war, als wollte man noch mal einen Teil der verflossenen, heiteren und unbeschwerten Jugend nachvollziehen. Trotz aller Skepsis hatte Kirsten die Freunde zusammengebracht, die sich in den zurückliegenden Jahren aus den Augen verloren hatten, und es war erstaunlich, wie gut alles über die Bühne ging. Die Clique von damals fand im Nu den richtigen Tonfall und verstand es zu feiern. Es war erstaunlich, wie viel man sich eigentlich zu erzählen hatte, obwohl jeder zuvor glaubte, dass man die vergangene Zeit nicht wieder herbeiholen könne und man sich eigentlich gar nichts zu sagen hätte.

Wie in früheren Zeiten begannen Selma und Mike zu flirten. Sie waren beide nicht verheiratet. Jeder in der Klasse hatte seinerzeit fest damit gerechnet, dass die beiden später Mal ein Paar würden. Warum es nie dazu gekommen war, wusste niemand mehr. Einer aus der Runde machte den Vorschlag, dass Kirsten eigentlich eine Vermittlungsgebühr zustehe, weil sie es fertiggebracht habe, die beiden unglücklich Verliebten doch noch nach all den Jahren der Trennung zusammengeführt zu haben.

Es sollte ein Witz sein und alle lachten darüber. Auch Selma Tjörns. Doch Kirsten merkte: Ihre Augen lachten nicht mit. Sie zwang sie dazu. Geschickt überspielte sie die Verlegenheit, die den meisten gar nicht bewusst wurde.

Kirsten griff zur Gitarre und stimmte einen Schlager an, den alle kannten. Zwei Paare begannen zu tanzen. Darunter auch Selma und Mike. Hier, in der Abgeschiedenheit des Waldes war kaum zu erwarten, dass jemand die fröhliche Clique beobachtete. Und doch war es so! Nicht menschliche Augen waren auf die acht Personen gerichtet …

Der Beobachter atmete flach und verfolgte das nächtliche Treiben aus einer Entfernung von etwa dreißig Metern. Er starrte über den grasbewachsenen, feuchten Boden zwischen den Stämmen hindurch zum Lagerplatz, auf dem sich die jungen Leute tummelten. Aus trüben, grünen Augen registrierte er die Bewegungen der schlanken Frauen.

Der phosphoreszierende Kopf des mit Tang überwachsenen Wesens ragte wie ein Knäuel zusammengeballter Wasserpflanzen aus dem klaren, sauberen Wasser des Teichs. Es war quallig und glitschig, hatte keine Arme, und auch die Sinnesorgane waren hinter den phosphoreszierenden Tangfäden nicht wahrzunehmen.

Der Nökk war da!

Jan konnte schon nicht mehr richtig auf seiner Mundharmonika spielen. Der reichlich genossene Alkohol machte sich bemerkbar. Jan spielte falsch und tanzte plump wie ein Bär.

Rolf und Gunnar diskutierten über ein Problem, Gitta und Gerda redeten über Mode.

Kirsten hatte die Gitarre längst zur Seite gelegt, rauchte eine Zigarette nach der anderen und beobachtete aus halb geschlossenen Augen, dass Selma sich vom Lagerplatz entfernte, um einen Spaziergang hinüber zum kleinen See zu machen.

„Pass auf, Selma!“, rief Jan ihr nach, der allein tanzte und sich ständig im Kreis drehte. Als er stehenblieb, fiel es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. Der dunkelblonde Mann mit dem schmalen Lippenbart streckte die Rechte aus, in der er die unscheinbare Mundharmonika hielt, und torkelte ein paar Schritte über den Lichtkreis der Grillstätte. Der Duft von verbranntem Fett und Bratwurst lag in der Luft.

„Dort vorn … liegt ein See, Mädchen … in einsamen Waldseen hausen die Nökken! Nimm dich vor ihnen in Acht! In mondhellen Nächten steigen sie aus der Tiefe … sie fühlen sich einsam dort unten auf dem Grund und wenn sie Gelegenheit haben, dann holen sie Menschen zu sich, um nicht allein zu sein. Allerdings sind diejenigen, die diese scheuen Wesen mal aus der Nähe gesehen haben, nie wieder aufgetaucht. Der Nökk scheint von denen, die er zu sich geholt hat, so begeistert zu sein, dass er sie für immer bei sich behält. Er spielt gern mit Menschen, sagt man, besonders aber mit kleinen, hübschen Mädchen … Pass auf, Selma, du bist verdammt hübsch!“

Jan blies in seine Mundharmonika. Es hörte sich an, als ob sämtliche Blaslöcher defekt seien. Er brachte keinen vernünftigen Ton mehr heraus.

Mike Krogson lehnte gegen einen Baum. Der Neunundzwanzigjährige hatte am wenigsten getrunken. Die Begegnung mit Selma hatte ihn aufgewühlt. Ein Wiedersehen nach zehn Jahren! Es war ihm, als wäre ihre letzte Begegnung erst gestern gewesen. So früh hatte alles begonnen. In der gleichen Straße waren sie groß geworden, hatten die ersten Spiele miteinander gemacht, dann die gleiche Schule besucht … Vor Krogsons geistigem Auge tauchten bestimmte Landschaften, Szenen und Menschen auf. Er hatte ein gutes Gedächtnis.

Er sah sich auf einem funkelnagelneuen Fahrrad neben Selma herfahren. Sie lachten und hielten sich bei der Hand … der erste körperliche Kontakt …

Ein Ausflug ans Meer … niemand von seinen Freunden wusste etwas davon. Er war stolz, dass es ihm gelungen war, die hübsche Selma zu seiner Freundin zu machen. In einer verschwiegenen schwer zugänglichen Bucht küssten sie sich zum ersten Mal … in einer baufälligen Fischerhütte, in der sie vor einem heftigen Regenschauer Schutz gesucht hatten, kamen sie sich näher. Die erste Liebe verzauberte sie. Er und Selma … sprachen von ewiger, unzerbrechlicher Treue, von späterer Heirat.

Dann zog Selma in eine andere Stadt. Der Kontakt blieb. Sie schrieben sich regelmäßig, sie besuchten sich gegenseitig … jedes Wochenende gehörte ihnen.

Dann wurde Selma achtzehn. Mike freute sich auf diesen Tag. Er war dazu eingeladen worden. Selma wollte eine große Geburtstagsfeier veranstalten. Da kam ihr Anruf …

Mike Krogson schüttelte mit einer heftigen Bewegung den Bierrest aus der Flasche und schleuderte die Flasche gegen einen Baum, wo sie zersprang. Das laute, klirrende Geräusch ließ die anderen zusammenfahren.

„Mensch, Mike, was ist denn mit dir los?“ Gitta, die nur einen Meter von dem Dunkelblonden entfernt im Gras hockte, warf erschreckt den Kopf herum.

Für drei Sekunden saß Mike Krogson da mit glasigen Augen und bleicher Haut, und alles Leben schien aus seinem Körper gewichen.

„Mike, Mensch, was hast du denn?“ Gitta schüttelte den ehemaligen Schulkameraden, der zusammenzuckte, als ob ihn eine kalte Dusche träfe.

„Entschuldigung“, murmelte Krogson benommen, sich das wellige Haar nach hinten streichend. „Ich muss wohl eingenickt sein …“

„Und dann wirfst du mit Bierflaschen? Mann, was sind denn das für Sitten? Macht ihr das bei euch zu Hause auch immer so?“

Krogson fuhr herum. Ehe die grazil wirkende Gitta begriff, was los war, schoss Krogsons Rechte auf sie zu. Im ersten Moment sah es so aus, als ob er ihr eine Ohrfeige versetzen wollte. Dann sank seine Hand herab, und das eigentümlich kalte Glitzern in seinen Augen verschwand.

Er atmete tief durch, die Spannung, unter der er eben noch stand, fiel von ihm ab wie eine zweite Haut. „Es tut mir leid, ich wollte die Flasche nicht an den Baum werfen …“

Gitta schluckte. Sie wollte etwas sagen, ihn auf seinen Zorn aufmerksam machen, den er zur Schau stellte, als sie ihn ansprach. Aber sie unterließ es dann doch.

Mike Krogson schien den Vorfall plötzlich total vergessen zu haben …

Selma hockte an dem Rand des kleinen Sees. Sie hörte die falschen Töne aus Jans Mundharmonika und vernahm die gedämpften Stimmen der Freunde.

Die gutaussehende Achtundzwanzigjährigehatte eine Figur, um die jede Schauspielerin sie beneidet hätte. Gewichtsprobleme kannte Selma nicht. Sie konnte essen und trinken, was immer ihr in den Sinn kam, ohne befürchten zu müssen, zuzunehmen.

Die eins dreiundsiebzig große Norwegerin hatte eine Haut wie ein Pfirsich und große blaue Augen, klar und rein wie ein Bergsee. Ihre Haare waren hellblond von Natur, und sie trug sie in lauter kleinen Löckchen.

Selma Tjörns starrte in den dunklen See, in dem sich der Mond spiegelte, der durch das Blätterdach schien. Sie sah ihr eigenes Spiegelbild dunkel und geheimnisvoll, tauchte die Hände in das klare, kühle Wasser und führte sie zum Gesicht, um ihre erhitzte Stirn zu kühlen.

Selma musste sich im Stillen eingestehen, dass das Wiedersehen mit Mike ihr mehr zu schaffen machte, als sie erwartet hatte. Vielleicht war es doch nicht gut gewesen, dieser spontanen und sicher auch gutgemeinten Idee Kirstens zu folgen.

Sie hörte ein leises Geräusch hinter sich. Raschelnde Schritte waren es. Offenbar kam noch jemand zum See. Selma wandte sich nicht um und blieb gedankenversunken sitzen. Das Wasser kräuselte sich etwas und verzerrte das Spiegelbild.

Der See rauschte und schwoll an. Das Wasser stieg wie eine Fontäne vor Selma auf. Etwas stürzte sich auf sie, ehe sie begriff, was es war, und ehe sie sich in Sicherheit bringen konnte.

Glitschige Hände umfassten sie. Selma Tjörns kippte nach vorn. Sie schrie gellend auf. Dann schlug das Wasser über ihr zusammen.

„Selma?!“ Kirsten sprang wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe. Die junge Gitarrenspielerin lief zwischen den dunklen, dicht stehenden Stämmen auf den See zu.

„Selma!“ Kirsten rief aus vollem Hals den Namen der Freundin, und die Stimme hallte laut und echote durch die Nacht und den Wald.

Laub und Gras raschelten unter den Füßen der anderen, die ebenfalls angelaufen kamen und denen Selmas entsetzlicher Schrei noch in den Ohren klang. Alles redete durcheinander. Sogar Jan, der schwer Schlagseite hatte, taumelte heran.

„Was is‘n los?“, lallte er. „Ist jemand in den See gefallen? Hat der Nökk sie geholt?“ Er zog die Augenbrauen hoch und zeigte warnend den Zeigefinger. „Ich habe es ihr doch … noch gesagt, ich …“

„Lass den Unsinn, Jan“, fuhr Kirsten ihn unbeherrscht an. Die herbe Blondine mit dem weit ausgeschnittenen und weit schwingenden Jeanskleid schüttelte unwillig den Kopf und starrte in den dunklen, unbewegten See. Nein, hier konnte nichts passiert sein. Wenn Selma ins Wasser gefallen war, konnte die Oberfläche nicht so ruhig daliegen. Das widersprach allen Naturgesetzen.

Kirsten blickte sich ruhig um. Die Spannung in Gittas und Gerdas Gesichtern wich. Auch Rolf und Gunnar, die herangekommen waren, hatten den ersten Schreck abgestreift.

„Die macht Unsinn, die foppt uns.“ Rolf, klein, untersetzt und mit vollendeter Stirnglatze, winkte ab. „Jan hat sie auf eine Idee gebracht. Er mit seinem Gerede vom Nökk.“

Er tanzte wild herum, schnitt Grimassen und riss mit seiner plötzlichen Heiterkeit die anderen mit. Sie fassten sich bei den Händen und bildeten einen Kreis, sangen und johlten und riefen gemeinsam nach Selma Tjörns. Gemeinsam, in Form einer Polonaise, liefen sie durch den Wald.

„Seelmaa! Seelmaa!“, hallte ihr Rufen durch die Nacht.

Die Freunde inspizierten die dicksten Bäume und sahen hinter Büschen und Sträuchern nach, fanden jedoch keine Spur von der Verschwundenen.

In der Zwischenzeit hielten sie den Vorfall alle für einen Mordsspaß, und sie genossen die unerwartete Abwechslung. Keiner war mehr richtig nüchtern, um die Sache zu ernst zu nehmen.

Sie liefen weit in das Dunkel des unbekannten Waldes und kehrten dann wieder zurück.

Sie gingen in die Hütte, spazierten grölend über die Luftmatratzen und Schlafsäcke, und Gunnar war es, der auf die Idee kam, sämtliche Matratzen und Schlafsäcke nebeneinanderzulegen und zu bestimmen, dass man heute Nacht in einer großen Gemeinschaft schlafen wolle.

„Schließlich“, so sagte er mit schwerer Zunge und nicht mehr ganz sicherem Stand, „ist es schon 15 Jahre her, Gitta, seit ich dich zum letzten Mal nackt gesehen habe.“

Der brünetten Verkäuferin fielen die Mundwinkel herab. Noch ehe sie jedoch etwas sagen konnte, fuhr Gunnar Sveigon schon in seinen Ausführungen fort. „Da staunst du, was? Das kann ich mir denken! Du hast es bis heute nicht gewusst. Ich war der Spanner vom Dienst, Mädchen! Hahaha! Wenn mich damals die Lehrer erwischt hätten, dann wäre ich von der Schule geflogen. Es hat uns immer interessiert, wie die Mädchen aus unserer Klasse wohl unten drunter aussehen. Als ihr wieder mal Turnen hattet, bin ich einfach den Fenstersims hochgeklettert und hab‘ einen Blick durch die kleinen Fenster der Halle gewagt. Du und die hochbeinige Gisa, die glatt wie ein Brett war, wart noch im Ankleideraum. Gisa wunderte sich, dass du schon einen so gut entwickelten Busen hattest …“ Er wollte weitersprechen, aber er konnte nicht mehr. Er musste lachen, und die anderen fielen ein.

Rolf wälzte sich am Boden und hielt sich den Bauch. Jan kippte weg wie einer, dem man die Beine kappte und blieb gleich liegen. Er lachte rau und abgehackt und verstummte dann, weil ihm die Stimme wegblieb. Kirsten und Gitta sahen sich an. Auch die jungen Frauen lachten lauthals mit.

Für kurze Zeit war der Vorfall mit Selma vergessen. Aber als eine halbe Stunde vergangen war und sie immer noch fehlte, gingen die, die imstande dazu waren, noch mal hinaus.

Da erst merkten sie es erst: Mike Krogson fehlte.

Gitta fiel es wie Schuppen von den Augen. „Wir Trottel“, sagte sie laut und vernehmlich. „Da liegt der Hase begraben. Selma und Mike. Die haben sich abgesetzt, und wir …“

„Was ist mit Selma?“, fragte da dunkel und rau eine Stimme hinter ihr.

Mit leisem Aufschrei fuhr Gitta herum. Aus dem Schatten einer Kiefer löste sich eine Gestalt.

Mike Krogson hielt eine Zigarette in der Hand, die zur Hälfte geraucht war, jedoch nicht mehr glühte.

„Wo kommst du denn her?“, fragte Kirsten erstaunt.

„Ich hab‘ mich hier an den Baum gesetzt. Ich wollte für einen Moment allein sein. Musste über was nachdenken. Kann schließlich passieren nach so einem Tag, findet ihr nicht auch? Was guckt ihr mich so an?“

„Sag, Mike, hast du die ganze Zeit hier gesessen?“

„Ja, scheint so. Ich hab‘ euch eben kommen und reden hören. Muss wohl eingenickt sein.“ Er rieb sich die Augen, und er machte einen sichtlich müden und abgespannten Eindruck.

„Selma war nicht bei dir?“, hakte Kirsten nach und ließ ihr Gegenüber nicht aus den Augen. Gunnar Sveigon gesellte sich zu ihnen. Der junge Mann war von den männlichen Teilnehmern der Vernünftigste. Das war er schon in der Schule immer gewesen. Kirsten Tavlo wusste nicht, warum sie plötzlich das Gefühl überfiel, doch nicht alles richtig gemacht zu haben. Das Treffen verlief nicht in ihrem Sinn. Die Stimmung war hin.

Mike Krogson musste in der Tat geschlafen haben. Er konnte sich nicht daran erinnern, Selmas Schrei vernommen zu haben. Die Suche nach der Freundin wurde neu organisiert. Jetzt machte man sich ernsthaft Sorgen. Eine Stunde war seit Selma Tjörns Verschwinden vergangen. Soweit konnte sie doch das grausame Spiel nicht treiben.

„Selma!“, rief Kirsten mit lauter Stimme. „Wir haben dich die ganze Zeit gesucht. Hör jetzt auf mit dem Versteckspiel! Wir geben auf. Wenn du uns die Stimmung nicht ganz vermiesen willst, dann komm jetzt raus!“

Die letzten Silben verhallten. Irgendwo in der tiefen Finsternis des undurchdringlichen Waldes rief ein Nachtvogel. Selma Tjörns kam nicht.

Sie gingen noch mal an den See. Diesmal achteten sie genauer auf eventuelle Spuren. Unruhe und Angst erfüllten die vier jungen Menschen. Drei aus der Gruppe waren gleich in der Hütte geblieben. Jan schnarchte, Gerda fielen vor Müdigkeit die Augen zu, Rolf klagte über Magenbeschwerden und Blähungen. Er hatte zu viel Bratwürste gegessen und Bier getrunken.

In der Nähe des Waldsees wurde Gunnar Sveigon plötzlich stutzig. Der Mond war weitergewandert, und das silberne Licht erhellte nun nicht mehr nur die Mitte des kleinen Sees, sondern auch den Rand. Deutlich war jetzt zu erkennen, dass hier der Boden aufgewühlt war. Tiefe, verwischte Fußeindrücke, eine kaum sichtbare Schleifspur, als ob sie sich nach vorn abgestützt hätte und dann abgerutscht wäre.

Gunnar Sveigons Miene wurde hart wie Marmor. „Da scheint doch etwas passiert zu sein, verdammt nochmal! Aber so blau war das Mädchen doch gar nicht.“ Er nagte an seiner Unterlippe.

Allen war plötzlich kalt. Kirsten hatte das Gefühl, als ob sich eine Totenhand in ihr Herz grabe.

Gunnar Sveigon zog Hemd und Hose aus. „Nun guckt mal züchtig weg, wie sich das gehört“, sagte er scherzhaft. „Ich muss auch noch aus der Unterhose steigen. Ich kann mir nicht erlauben, sie nass zu machen. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, hätte ich natürlich eine Badehose mitgenommen. Aber in der Not geht es auch so. Ich gehe mal kurz auf Tauchstation, um mir Gewissheit zu verschaffen. Verdammt“, fügte er mürrisch hinzu, „das Ding geht mir an die Nieren. Ich hab‘ noch nie eine Wasserleiche gesehen, aber schon gehört, dass die recht unappetitlich aussehen …“

„Du willst wirklich tauchen?“, fragte Kirsten. Ihre Stimme klang erschrocken.

Sie musste in diesem Augenblick ein so merkwürdiges Gesicht machen, dass Gunnar Sveigon lachte. „Ja, ich tauche. Oder meinst du, ich strippe euch hier was vor?“

Ehe einer noch etwas sagen konnte, stieg Sveigon aus seiner Unterhose und sprang in den Teich. Eine Fontäne spritzte in die Höhe, Gitta und Rolf sprangen zurück.