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Du kannst alleine leben, aber nicht alleine lieben
Warum sind Liebesbeziehungen heute so kompliziert? Ratlos fragt sich die »Generation Beziehungsunfähig«, wie das geht: mit dem Partner dauerhaft zusammenbleiben. Was früher ganz selbstverständlich schien, stürzt heutige Paare in Verzweiflung: Während in ihren Köpfen noch die alten Vorstellungen spuken, richten sie ihr Verhalten an dem Ideal der »Ganzliebe«, der vollkommenen Akzeptanz aus. Schließlich will jeder um seiner selbst willen geliebt werden. Doch bestehen kann dabei nur, wer auch etwas riskiert, sich auf den Partner einlässt, sich immer wieder aufs Neue auseinandersetzt. Im Risiko des Liebens liegt die Erfüllung der neuen Liebe!
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Seitenzahl: 272
Du kannst alleine leben, aber nicht alleine lieben
Was Liebespartner von einer Paarbeziehung erwarten, hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte grundlegend verändert. Ging es ihnen früher um eine partnerschaftliche oder freundschaftliche Beziehung, so suchen sie heute vorwiegend eine emotional-leidenschaftliche Liebe. Dabei geraten Paare in ein Dilemma: Während in ihren Köpfen noch die alten Vorstellungen spuken, richten sie ihr tatsächliches Verhalten nach ihren wahren Bedürfnissen aus. Heute will jeder als die Person geliebt werden, die er/sie ist. Bestehen kann aber nur, wer sich immer wieder aufs Neue mit seinem Partner auseinandersetzt und ihm/ihr neu begegnet. Darin liegt das Risiko, aber auch die Erfüllung der neuen Liebe.
Michael Mary ist einer der bekanntesten Paar- und Singleberater Deutschlands. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter einiger Bestseller. Bei Paarberatungen im Fernsehen (NDR und SWR) war er verantwortlicher Berater und führte durch die Sendungen. Seit 1980 arbeitet er in Hamburg, wo er auch Seminare und Fortbildungen in seiner Methode der »Erlebten Beratung« anbietet.
Michael Mary
Liebe will riskiert werden
Warum Paare heute anders lieben und wie sie damit glücklich werden
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
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© 2016 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Dr. Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-17733-1V001
Inhalt
Vorwort
Was ist Liebe?
Was heute für eine Liebesbeziehung nicht mehr ausreicht
Was in der Paarliebe dazugekommen ist
Welche Liebesformen es in Paarbeziehungen gibt
Im Zentrum der neuen Liebe – der Einzelne
Die Aufgabe der neuen Liebe
Wie eine emotional/leidenschaftliche Liebe entsteht
Wie die emotional/leidenschaftliche Liebe gefährdet wird
Die Liebe gibt es zweimal
Was sich Partner (noch) unter Liebe vorstellen
Was die neue Liebe von den Partnern verlangt
Das Wesen des Innersten
Das Paradox der emotional/leidenschaftlichen Paarliebe
Noch mehr Individualität
Chancen und Risiken der neuen Liebe
Fazit
Anmerkungen
Literatur
Vorwort
Was ist Liebe? Seit Ewigkeiten brüten Denker darüber, versuchen Poeten das Phänomen zu erfassen, ohne die Frage je zufriedenstellend beantwortet zu haben. Das liegt nicht an der Unfähigkeit der Philosophen, Psychologen oder Dichter. Es hat damit zu tun, dass Liebe nichts Bestimmtes »ist«.
Liebe ist weder ein festes Ding noch eine über den Verhältnissen schwebende Erscheinung. Liebe existiert nicht »an sich«, es gibt keine Liebe »als solche«. Vielmehr stellt die Liebe ein komplexes Gefühls- und Verhaltensphänomen dar, das in die jeweilige soziale Umgebung und konkrete Lebenswirklichkeit der Menschen eingebunden ist.
Menschen verstanden zu jeder Zeit unter Liebe – ich spreche in diesem Buch übrigens ausschließlich von der Paarliebe – etwas anderes. Abhängig vom historischen Kontext nahm die Paarliebe unterschiedliche Formen an, und abhängig davon erfüllte sie jeweils einen anderen Zweck.
Das gilt auch für unsere heutige Zeit, und daher intendiert der Titel dieses Buchs einen »neuen Zweck« von Liebe. Ich möchte beschreiben, was heute unter Liebe verstanden wird, welche Formen sie aktuell annimmt und welchen Zweck sie gegenwärtig erfüllt. Natürlich unterscheidet sich die heutige Liebe nicht vollständig von früherer Liebe. Aber sie unterscheidet sich wesentlich von der Liebe, die in der Generation unserer Eltern praktiziert wurde, und sie unterscheidet sich sogar beachtlich von der Liebe, die noch vor zwanzig Jahren gemeint war.
Was bildet das Zentrum der heutigen Paarliebe – und was ist mittlerweile an ihren Rand gerückt? Wodurch entsteht und wie vergeht sie? Was erwarten die Partner von der neuen Liebe und was verlangt sie ihnen ab? Welcher soziale und welcher individuelle Sinn verbergen sich in ihr? Auf welche Weise wird sie von der Auflösung der Geschlechterrollen beeinflusst? Und welche Chancen und Risiken sind mit ihr verbunden?
Mit all diesen Fragen befasse ich mich unter psychologischen und gleichwohl praktischen Gesichtspunkten anhand zeitgemäßer Begriffe. Und hoffe, dass Ihnen die Lektüre ebenso viele Erkenntnisse vermittelt wie mir das Schreiben.
Michael Mary
Was ist Liebe?
Liebe bedeutet zu jeder Zeit etwas anderes. Doch bevor ich das genauer ausführen möchte, will ich zuvor anhand eines Beispiels veranschaulichen, was Partner heute typischerweise meinen, wenn sie von Liebe sprechen, und woran sie erkennen, dass sie selbst lieben und von jemandem geliebt werden.
Bei dem Beispiel geht es um eine zweiunddreißigjährige Frau, die Single ist und seit Längerem einen Liebespartner sucht. Dabei beschreibt sie ihre Lebenssituation durchaus sehr positiv:
Eigentlich kann es mir kaum besser gehen. Ich habe einen super Job, der mir Spaß macht und bei dem ich gut verdiene. Ich besitze eine Eigentumswohnung, die in einigen Jahren abbezahlt sein wird. Ich habe eine Menge Bekannte, mit denen ich viel unternehme, und beste Freunde, mit denen ich über alles Mögliche reden kann. Tolle Hobbys habe ich, auch reise ich sehr gern. Wenn ich möchte, habe ich guten Sex …Sie zögert, und dann fügt sie hinzu: Und doch … fehlt mir etwas … zum echten Glück.
Diese junge Frau hat in der Tat eine Menge, mit dem sie zufrieden sein kann, einen klasse Job, Bekannte, Freunde, Sex. Bestimmt ist sie recht glücklich, doch etwas fehlt ihr zum echten Glück, wie sie sagt. Aber was fehlt ihr? Lassen wir sie das selbst ausdrücken:
Was mir fehlt … ist jemand, der mir das Gefühl gibt, die Frau für ihn zu sein, die einzige Frau. Ja, mir fehlt ein Mann, der mich fühlen lässt, die wichtigste Person in seinem Leben zu sein.
Interessanterweise spricht sie nicht davon, eine Beziehung zu suchen. Auch nicht davon, einen Mann lieben zu wollen, oder von der Sehnsucht, von einem Mann geliebt zu werden. Sie sehnt sich nach einem ganz bestimmten Gefühl, sie möchte fühlen, für jemand anderen die wichtigste Person seines Lebens zu sein.
Die Frau betont den emotionalen Aspekt ihrer Sehnsucht, der überaus bedeutsam zu sein scheint. Sie möchte für einen Menschen nicht bloß wichtig sein, ihre Erwartung ist sehr viel größer, sie möchte die wichtigste Person für ihn sein. Im Grunde sagt sie: »Ich brauche jemanden, für den ich wichtiger bin als alles andere.«
Mit dieser Sehnsucht, für einen anderen eine derart zentrale Bedeutung einzunehmen, ist die junge Frau nicht allein. So wie ihr geht es den meisten, die eine Beziehung suchen oder eine haben. Ich habe ihr Beispiel gewählt, weil ihre Worte so klar ausdrücken, was heutige Liebespartner generell suchen und woran sie Liebe erkennen.
Es geht im Kern dieser gegenwärtigen Liebe darum, sich gegenseitig etwas fühlen zu lassen, sich das Gefühl zu vermitteln, für den anderen eine ganz bestimmte, nicht zu übertreffende Bedeutung zu haben. Man könnte meinen, das wäre nichts Neues, weil Gefühle immer eine Rolle in der Paarliebe gespielt haben und Partner stets bedeutsam füreinander waren. Doch wie ich zeigen werde, handelt es sich hier um sehr spezifische Gefühle, die nicht durch bewährtes Paarverhalten hergestellt oder aufrechterhalten werden können. Und auch die gesuchte Bedeutung zielt auf etwas anderes ab, als das bisher der Fall war.
Es handelt sich bei den gesuchten Gefühlen um solche, die nicht durch Verlässlichkeit, nicht durch Vertrautheit, nicht durch gemeinsame Werte und geteilte Weltsicht, nicht durch Sex, nicht durch Freundschaft und geteilte Interessen, nicht durch gegenseitige Unterstützung und auch nicht durch Lebensbegleitung hervorgerufen werden – all das reicht nicht aus, um sich heute als ein Liebespaar zu empfinden. Allein durch Verlässlichkeit und wohlgesonnenes Verhalten kann man dem Partner nicht die spezielle Bedeutung signalisieren, die er ersehnt und an der er erkennt, geliebt zu werden. Es gehört mehr dazu, den Zweck der neuen Liebe, der Liebe von heute, zu erfüllen. Schauen wir uns das näher an.
Was heute für eine Liebesbeziehung nicht mehr ausreicht
Was kennzeichnet eine heutige Liebesbeziehung, was erfordert sie, und was ist unverzichtbar ist, damit sie sich bildet? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich von außen nach innen vorgehen. Dazu werde ich näher beschreiben, was ich bereits angedeutet habe: Paare können eine Menge miteinander teilen, ohne dass es für eine Liebesbeziehung ausreicht. Zwei können ein Paar sein, ohne ein Liebespaar zu sein. Um das zu zeigen, möchte ich sozusagen die äußeren Schalen einer Paarbeziehung ablösen, um schrittweise ihren Kern freizulegen, das, worauf es den Liebespartnern mittlerweile ankommt.
Bei der Freilegung des Kerns einer Liebesbeziehung werde ich in Kurzform der geschichtlichen Entwicklung der Paarbeziehung folgen, angefangen bei der Urzeit bis in die Jetztzeit hinein. Nebenbei wird auf diese Weise auch deutlich werden, dass Paarliebe nie über eine feste Form verfügte, sondern dass zu verschiedenen historischen Phasen etwas anderes darunter verstanden wurde. Zudem wird klar werden, dass die Paarliebe sich abhängig von den sozialen Umständen stets veränderte.
Es sind bestimmte Stationen, an denen ich Halt machen werde, und diese Stationen heißen: geschlechtliche, partnerschaftliche, freundschaftliche und schließlich emotional/leidenschaftliche Liebe.
Geschlechtliche Liebe
Die Singlefrau aus dem Eingangsbeispiel hat, so sagt sie, Sex. Weil sie sogar davon spricht, guten Sex zu haben, wird ihr auf dem Gebiet der Sexualität nichts Wesentliches fehlen. Um guten Sex zu erleben, nimmt sie weder Escortdienste noch professionelle Sexarbeit in Anspruch. Sie hat ab und zu Sex mit Fremden, also: One-Night-Stands. Noch öfter als solche Zufallsgeschichten praktiziert sie, weil ihr ausschließlich One-Night-Stands zu unpersönlich sind, Sex mit besten Freunden. Wenn ihr danach ist, ruft sie bestimmte Personen aus ihrem Freundeskreis an, mit denen sie sich erotisch gut versteht und mit denen sie frei von Komplikationen ihren sexuellen Bedürfnissen nachkommen kann. Die Angelegenheit verläuft komplikationslos, weil beide Parteien sich sympathisch sind und dennoch nur Sex und nichts anderes wollen. Das ist nichts Ungewöhnliches und bei dauerhaften Singles zunehmend verbreitet. Es gibt dafür den Begriff der »friends with benefits«, der Freunde mit Zusatznutzen. Man ist befreundet und hat sozusagen eine freundschaftliche Sexbeziehung, bei der klar ist, dass daraus nicht mehr werden wird.
Menschen, die solchen funktionellen Sex praktizieren, leben eine Verbindungsform, die ich als geschlechtliche Liebe bezeichne. Diese Verbindung dient vorrangig dem Zweck, sexuelle und erotische Bedürfnisse zu befriedigen. Über sexuelle Bedürfnisse verfügen wir Menschen in reichlichem Ausmaß. Die Evolution hat uns, um für die Reproduktion der Art zu sorgen, mit drängenden sexuellen Sehnsüchten ausgestattet, die seit jeher für eine starke Anziehung zwischen den Geschlechtern, teils auch zwischen Partnern des gleichen Geschlechts, sorgen. Die geschlechtliche Liebe stellt damit zweifellos die ursprünglichste Bindungsform zwischen Männern und Frauen dar, die erste Paarbeziehung.
Es gab also, lange bevor sich Familien oder gar Ehen bildeten, bereits Liebespaare. Allerdings war das keine Liebe im heutigen Sinn. Unter dieser ursprünglichen Paarliebe muss man sich aufgrund der damaligen Lebensverhältnisse etwas völlig anderes vorstellen. Wie waren diese Lebensverhältnisse in der Urzeit beschaffen, und wie sah die Paarliebe darin aus?
In Urzeiten lebten Menschen in Sippen oder kleinen Gruppen, in durch Verwandtschaft verbundenen sozialen Gemeinschaften. Die jeweilige Sippe oder Gruppe bot Schutz, Nahrung und soziale Kontakte und sorgte auf diese Weise für das Wohl und das Überleben ihrer Mitglieder. Wurden in den Verbänden Kinder gezeugt, waren diese nicht dem Paar zugedacht, das sie gezeugt hatte. Es gab ja weder die Ehe noch die Familie, und der Anteil des Vaters an einer Zeugung war lange Zeit unbekannt. Zudem existierte keine sexuelle Treueforderung, die eine Zuordnung der Kinder zu einem spezifischen Paar ermöglicht hätte. Daher gehörten die Kinder zu der Frau, die sie geboren hatte, zur Mutter und zur mütterlichen Sippe. Der leibliche Vater hatte ihnen gegenüber weder Pflichten noch Rechte, er war und blieb unbekannt, diente rein als Erzeuger und nahm als dieser in der Sippe der Mutter keine soziale Rolle ein.
Sicherlich gestalteten sich die Verhältnisse in den unzähligen Ethnien sehr unterschiedlich, und später sollten Kinder allgemein einem Paar zugeordnet werden, in der Anfangszeit war das aber offenbar nicht der Fall.
Die Beschaffenheit einer Paarbeziehung unter solchen Lebensumständen lässt sich beispielhaft anhand der Besuchsehe veranschaulichen. Diese ursprüngliche Form der Paarbeziehung existiert noch heute in entlegenen Teilen Chinas und in einigen Gebieten Afrikas.1 In einer Besuchsehe kommt der Mann nach Einbruch der Dämmerung zur Frau und verbringt die Nacht mit ihr. Die beiden lieben sich auf geschlechtliche, also auf körperliche Weise. Emotionen spielen in dieser Paarbeziehung allerdings keine große Rolle, können das auch nicht, da sich kein ausgeprägtes Gefühlsleben im heutigen Sinn entwickelt hat und Paarbeziehungen noch nicht mit viel Bedeutung aufgeladen sind. Vor allem haben sie keine existenzielle Bedeutung – und sollen diese auch nicht haben. Der Mann muss bereits im Morgengrauen das Bett der Frau verlassen und zu seiner eigenen Sippe zurückkehren. Er darf aus einem bestimmten Grund nicht zum Essen bleiben: weil er und die Sippe der Frau sich damit gegenseitig verpflichten würden. Das Verhältnis soll aber nicht materiell und nicht sozial verbindlich werden, es soll rein geschlechtlich und unverbindlich bleiben.
Was werden diese ersten Liebespartner miteinander gemacht haben? Sie werden sich geküsst haben, sie werden gelacht haben, sie werden zärtlich zueinander gewesen sein, sie werden Sex gehabt und vielleicht sogar Orgasmen erlebt haben. Das alles, aber nicht mehr. Denn für eine über die geschlechtliche Anziehung hinausgehende Verbindung wurde kein sozialer Raum zur Verfügung gestellt. Das hätte keinen Sinn ergeben. Die Liebespartner teilten weder den Lebensalltag miteinander noch trugen sie Verantwortung füreinander. Den über das Sexuelle hinausgehenden Bedürfnissen, seien sie sozialer oder materieller oder emotionaler Art, wurde getrennt vom Liebespartner in der eigenen Sippe nachgegangen.
Für Frauen barg diese Variante geschlechtlicher Paarliebe einige Vorteile. Sie waren weitaus autonomer, weil sie nicht in eine materielle Abhängigkeit zu ihrem jeweiligen Liebespartner gerieten, auch mussten sie sich nicht allein um ihre Kinder kümmern. Deren Versorgung übernahm ihre Sippe, zu der neben weiteren Frauen auch ihre Väter, ihre Brüder, ihre Onkel und alle anderen Männer gehörten. Die spezielle Besuchsbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau diente allein der geschlechtlichen Liebe und der Kindeszeugung, und sie hielt, wie es eine chinesische Ethnologin in Bezug auf die Besuchsehe ausdrückte, »solange es der Liebe gefällt«. Es war sogar erlaubt, mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig zu führen, und jeder Partner konnte eine Verbindung jederzeit auf eigenen Wunsch hin auflösen.
Auch in den Ethnien, die keine Besuchsehe kannten, waren die Paarbeziehungen meist nicht starr, sondern frei gewählt und auflösbar, und sie boten keine existenzielle Grundlage. Der Grund, warum Mann und Frau ein Paar bildeten, lag in den sexuellen und emotionalen Bedürfnissen, im Bedürfnis nach Sex und einer gewissen Intimität.
Die geschlechtliche Liebe stellte die erste Paarliebe dar. Als Liebesmotiv ist sie auch heute nicht aus der Welt, vielmehr erfüllt sie in Paarbeziehungen weiterhin ihre wesentlichsten Aufgaben. Neben ihrer Zeugungsfunktion dient sie nach wie vor der Erfüllung sexueller Bedürfnisse. Sexuelle Bedürfnisse haben beim modernen und aufgeklärten Menschen keineswegs nachgelassen, sie scheinen unter heutigen, oft als entfremdet bezeichneten Lebensverhältnissen, sogar noch wichtiger geworden zu sein. Sex ist für den naturfernen Menschen eine Quelle unmittelbar sinnlichen Erlebens, eine gute Möglichkeit, »aus dem Kopf« zu kommen, ins Hier und Jetzt zu gelangen und sich körperlich und emotional zu erholen.
Auf die Erfüllung sexueller Bedürfnisse und erotischer Leidenschaft wollen jedenfalls weder Singles noch Paare verzichten. Davon können Paarberater und Therapeuten ein Lied singen, da sie nicht selten damit beauftragt werden, zur Belebung einer abgeflachten oder zur Reanimation einer zum Erliegen gekommenen Paarsexualität zu verhelfen.
Geschlechtliche Liebe ist nach wie vor unverzichtbar, und ein heutiges Paar mag Sex haben, es mag sogar guten Sex haben. Aber fest steht auch: Sex allein macht noch kein Liebespaar. Ansonsten würden alle friends with benefits nicht Freunde bleiben, sondern einander Liebespartner werden. Und gute One-Night-Stands würden sich zu Paarbeziehungen entwickeln. Das ist aber nicht so. Im Gegenteil.
Partner, die sich gerade kennenlernen und die sich im Bett hervorragend verstehen, sind meist sehr enttäuscht, sobald sie feststellen, dass sonst nichts läuft. Zwei können sich im besten Sinne miteinander befriedigen, sie mögen sexuelle Sehnsüchte miteinander ausleben, aber wenn sie außer Sex nichts verbindet, fühlt sich ihre Beziehung alsbald leer an. Paarbeziehungen, die vorwiegend oder ausschließlich auf der Befriedigung sexueller Bedürfnisse aufbauen, halten meist nur kurze Zeit. Wenn sich keine weitere Bindung als die sexuelle einstellt, schwindet das Interesse aneinander.
So viel zur geschlechtlichen Liebe. Halten wir an dieser Stelle für unser Thema fest: Geschlechtliche Liebe ist möglich, sie kann wichtiger Teil einer Paarbeziehung sein, aber sie allein macht (heute) längst noch kein Liebespaar. Sex reicht dazu einfach nicht aus.
Partnerschaftliche Liebe
Geschichtlich ist die Paarbeziehung nicht bei der geschlechtlichen Liebe stehen geblieben. Im Laufe sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen entstand eine weitere Bindungsform zwischen Männern und Frauen, der neue Aufgaben zukamen.
Zu den wichtigsten Veränderungen der Lebensumstände gehörte, dass die Menschen sesshaft wurden und allmählich größere Sozialverbände entstanden. In diesen großen und – verglichen mit vormaligen Verhältnissen – sehr viel anonymeren Gemeinschaften bildete sich in einem langen Prozess privates Eigentum. Dieses geriet aus verschiedenen Gründen2, die ich hier nur streifen kann, unter die Kontrolle der Männer.
Den Männern fiel im sozialen Gefüge eine besondere Aufgabe zu. Sie vertraten die sozialen Verbände nach außen hin, sie führten bewaffnete Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen, und sie waren es auch, die Frieden schlossen. Damit hatten sie eine politische Schlüsselposition inne, denn die Außenbeziehungen wurden in den großen Gesellschaften immer bedeutsamer, über sie wurde Handel getrieben und Wohlstand geschaffen. So gelang es den Männern, die Verfügung über Eigentum zu erringen – und in der Folge davon mehr politische Macht innerhalb der sozialen Verbände an sich zu reißen.
Die Männer verfolgten dabei eigene Interessen. Sie waren wenig am Erhalt von Sippenstrukturen und der bisherigen, an der mütterlichen Linie ausgerichteten sozialen Ordnung interessiert. Ihr vorwiegendes Interesse bestand darin, das erworbene Eigentum für ihre eigene Zukunft abzusichern. Wenn Kinder jedoch weiterhin der mütterlichen Sippe zugeordnet blieben, würde deren Erbe auch dieser Sippe zufallen, und der Vater wäre im Alter um den Genuss seines erbeuteten oder erworbenen Vermögens gebracht.
Es gab für Männer nur eine Möglichkeit, ihren Besitz zu behalten. Er musste der männlichen Erblinie übertragen werden. Dazu musste das Kind dem Vater und nicht länger der Mutter zugeordnet werden. Nur wenn Kinder zu ihrem Vater gehörten und diesen beerbten, konnte dieser im Alter weiterhin an der von ihm erworbenen Macht und dem von ihm erworbenen Reichtum teilhaben. Aufgrund der Stellung der Männer, im Speziellen aufgrund der ihnen übertragenen Aufgaben der Kriegsführung und der Ordnung der politischen Außenverhältnisse, wurden die sozialen Verhältnisse nach und nach patriarchalisch.
Diese tief greifenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen führten zur Aufwertung der Paarbeziehung, der fortan die Existenzsicherung übertragen war. Die Sippen verloren an Bedeutung, sie verloren auch ihre direkte Aufgabe des Lebenserhalts. Die einst rein geschlechtlichen Paarbeziehungen verwandelten sich in familiäre Versorgungsgemeinschaften, in denen eine Frau an einen Mann gebunden war. In der ehelichen Versorgungsgemeinschaft bildete sich die Rollenteilung zwischen Mann und Frau aus. Die Partner übernahmen ihre ihnen zugedachten Pflichten. Der Mann war fortan für die Außenbeziehungen, die Frau für die Innenbeziehungen der Familie zuständig.
Das neue Beziehungsgefüge erhielt schließlich die rechtliche Form einer Ehe. Mit der Ehe verbunden war eine strikte Treueverpflichtung für die Frau, denn nur wenn man die Kinder einem konkreten Paar zuordnen konnte, war es möglich, Ansprüche seitens unehelicher Kinder – also anderer Familien – auszuschließen.
Der Begriff »Ehe« bedeutet in seinem Ursprung »Vertrag«. Eine Ehe ist eine vertragliche, partnerschaftliche Vereinbarung und Bindung zwischen Mann und Frau. Diese Verbindung wurde ebenfalls als Liebe empfunden und bezeichnet, jedoch nicht als die ehemals sexuelle und »wilde«, sondern als eine partnerschaftliche und »kultivierte« Version der Liebe. Die partnerschaftliche Liebe beruhte auf Verlässlichkeit und auf der Erfüllung der Pflichten, die sich aus der Rollenzuweisung ergaben. Der Mann hatte die Familie zu ernähren und zu beschützen, die Frau hatte die Familie zu betreuen; und wenn beide das füreinander taten, liebten sie sich.
Wiederum zeigt sich, das unter Paarliebe damals etwas ganz anderes verstanden wurde als zuvor und erst recht, als wir es heute tun. Mit der partnerschaftlichen Liebe war die geschlechtliche Liebe natürlich nicht aus der Welt. Die sexuelle Verbindung wurde in der Ehe zwar auch gebraucht, allerdings nur zur Fortpflanzung, nicht zur Erfüllung sexueller und erotischer Bedürfnisse. Sexuelle und leidenschaftliche Liebe war in ehelichen Verbindungen sogar ungern gesehen, lange Zeit war sie moralisch und teilweise sogar rechtlich aus den Ehen verbannt. Das hatte seinen guten Grund. Denn Ehen waren als Versorgungsgemeinschaften auf Stabilität und Dauer ausgerichtet, und die geschlechtliche Liebe bestand allein, wie es die chinesische Ethnologin hinsichtlich der Besuchsehe ausdrückte, »solange es ihr gefiel«. Es war aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit schlicht unmöglich, eine langfristig angelegte Paarbindung und die dahinter stehende soziale Ordnung auf geschlechtlicher Liebe und sexuellen Bedürfnissen aufzubauen.
Ehen – und damit das materielle und soziale Überleben der Familien – wurden von der launischen sexuellen Liebe gefährdet.
Nur – wohin mit den sexuellen Bedürfnissen? Die Lösung war pragmatisch. Die sexuelle Liebe wurde quer durch die Zeit außerhalb der Ehe gelebt.3 Natürlich war das für Männer einfacher zu praktizieren, weil man ihren Ehebruch nicht an ihrem Bauchumfang ablesen konnte. Frauen hingegen wurden oft brachial am Seitensprung gehindert. Sei es, indem man sie durch Einschnüren der Füße im Wortsinn ans Haus band, sei es, indem man ihnen durch Beschneidung der Klitoris die Lust nahm oder sie auf andere Weise kontrollierte.
Geschichtlich hatte sich jedenfalls die partnerschaftliche Liebe durchgesetzt, und damit hatten Paarbeziehungen ihre ehemalige Unverbindlichkeit verloren, sie waren verpflichtender und zugleich anspruchsvoller geworden. Auch heute besteht das partnerschaftliche Liebesmotiv weiterhin, die partnerschaftliche Liebe spielt sogar eine wichtige Rolle im Leben der Menschen. Es geht dabei zwar kaum noch ums materielle Überleben und um die gegenseitige Versorgung, vielmehr führen Ehepartner heute gemeinsame Projekte durch, von denen die Gründung einer Kleinfamilie eines der größten darstellt. Andere Projekte, die durch partnerschaftliche Liebe ermöglicht werden, sind beispielsweise gemeinsame Firmen, gemeinsame Kunstaktionen, gemeinsame wissenschaftliche Forschungen etc. Im Vordergrund steht vor allem aber das Projekt gemeinsamer Alltagsbewältigung und verlässlicher Lebensbegleitung.
Ein heutiges Paar mag daher eine gute Partnerschaft führen, die Partner mögen sich aufeinander verlassen können, sich vertrauen, sie mögen ohne Streit und Konflikte in tiefster Harmonie miteinander leben und im besten Sinn zusammenarbeiten. Sie mögen sich als Partner lieben. Das ist sicher eine ganze Menge. Nur: Selbst eine solch starke Bindung macht aus einem Paar noch kein Liebespaar! Davon zeugen jene zahllosen Paare, die in der Beratung folgende resignierte Aussage treffen: »Wir verstehen uns gut, wir streiten nie, wir ziehen am gleichen Strang, wir sind ein super Team. Aber mehr auch nicht.« Etwas fehlt. Das Viele genügt nicht, es muss heute schon mehr sein.
Halten wir an dieser Stelle für unser Thema fest: Selbst eine partnerschaftliche Bindung macht (heute) längst noch kein Liebespaar. Harmonie und gute Zusammenarbeit sind dafür einfach nicht genug.
Freundschaftliche Liebe
Schreiten wir in den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen bis nahe an die Jetztzeit voran. Naturgemäß wirken sich gesellschaftliche Entwicklungen, das haben die vorigen Abschnitte gezeigt, auf die Aufgaben von Paarbeziehungen und auf ihre Form aus. Die erste der Paarbeziehung zugewiesene Aufgabe war die Zeugung und Befriedigung damit verbundener sexueller Bedürfnisse. Die zweite Aufgabe war eine der Versorgung. Angestoßen durch soziale Veränderungen sollte eine weitere hinzukommen.
Die Entwicklung hin zur industriellen Produktion und zur globalen Wirtschaft hat die Welt verändert. Moderne Gesellschaften nehmen riesige Ausmaße an, es leben Millionen Menschen darin. Diese Sozialverbände sind so komplex, so unüberschaubar, dass sie nicht mehr zentral gesteuert werden können. Weil feudale Verhältnisse die Ökonomie und soziale Entwicklung behinderten, warf man diese über Bord und versucht es seither mit der Demokratie. Das heißt, die Gesellschaft wird nicht mehr durch Könige oder andere Herrscher gesteuert, sie steuert sich jetzt selbst, ähnlich wie ein Organismus das macht, wie es beispielsweise der menschliche Körper tut, indem seine einzelnen Bestandteile in Eigenregie miteinander kooperieren.
In den zahlreichen Bereichen der modernen Gesellschaft tauchen Individuen auf, die je nach ihrer Bedürfnislage darin tätig werden oder daraus verschwinden. Alle wichtigen Entscheidungsprozesse sind somit auf Individuen und deren Zusammenarbeit in Gruppen übertragen. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft ist individualisiert. Es kommt auf den Einzelnen an. Dieser kann sich nicht mehr vorrangig zu einer Gruppe, Schicht oder Klasse zugehörig fühlen. Er ist auch nicht mehr an deren Verhaltensvorlagen gebunden, er muss sich vielmehr selbst orientieren.
Der moderne Mensch ist ein Selbst geworden. Er hat ein Selbstbewusstsein, er ist selbstverantwortlich, er muss selbstbestimmt sein, er muss sich ständig selbst optimieren, um sich selbst zu verwirklichen.
Es liegt auf der Hand, dass eine starre Struktur wie die bürgerliche Kleinfamilie unter diesen sozialen und wirtschaftlichen Umständen immer schwerer mithalten kann. Die Wirtschaft fordert Flexibilität, und da Männer und Frauen unabhängig voneinander bezahlte Arbeit annehmen können und das meist auch tun müssen, hat die arbeitsteilige Kleinfamilie ihre ursprüngliche Aufgabe als Versorgungsgemeinschaft längst eingebüßt. Jetzt versorgt sich jeder selbst, und der Staat sorgt für in Not geratene Einzelne und organisiert darüber hinaus die Kranken- und Altersversorgung der Individuen.
Das ist bemerkenswert, denn damit ist die Kleinfamilie von genau der zentralen Aufgabe befreit, für die sie einst geschaffen wurde! Eine Kleinfamilie ist zwar noch möglich, aber sie ist nicht mehr nötig, sie ist im Grunde verzichtbar geworden. Sie verfügt auch nicht mehr über die Kraft, Paare dauerhaft zusammenzuhalten. Selbst wenn ein Paar eine Familie gründet, stellt diese oft nur eine Episode im Leben der Einzelnen dar, weil die Familie nicht selten aufhört, wenn die Kinder aus dem Haus gehen. Nicht wenige gründen im Laufe ihres Lebens zwei oder gar drei Familien. Es gibt Patchworkfamilien und jede Menge Alleinerziehende.
Die Erosion der Kleinfamilie führt allerdings nicht zu einem Bedeutungsverlust von Paarbeziehungen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Paarbeziehungen werden in Zeiten zunehmender Individualisierung stark aufgewertet, denn sie werden unbedingt gebraucht – wenn auch zu anderen Zwecken als vorher.
Schaut man sich die Literatur zu Paarbeziehungen an, die vor oder kurz nach 1960/1970 verfasst wurde, wird diese neue Aufgabe recht exakt beschrieben. Den Paaren wird nun gesagt, geschlechtliche und partnerschaftliche Verbundenheit stünden nicht länger im Vordergrund. Jetzt müssten sie sich gegenseitig in ihrem »persönlichen Wachstum« unterstützen, sich dabei helfen, »persönliche Reife« zu erlangen. Es geht in der Paarliebe jetzt also um den Einzelnen, um sein Wohl und um seine Vervollkommnung als Individuum.
Diese Logik folgt der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Da sich in der Gesellschaft mittlerweile alles ums Individuum und sein Selbst dreht, kann das in einer Paarbeziehung nicht anders sein. Sinn und Zweck der Paarliebe besteht fortan darin, dass ein Individuum ein anderes in seiner Individualität fördert und es dabei unterstützt, sein Selbst zu optimieren. Wenn zwei das machen, gilt das als Ausdruck von Paarliebe.
Nach der geschlechtlichen und der partnerschaftlichen Liebe war damit eine weitere Liebesform entstanden, die man als freundschaftliche Liebe bezeichnen kann. Wodurch zeichnet sich freundschaftliche Liebe aus? Freunde tun sich gegenseitig Gutes, und Partner, die sich freundschaftlich lieben, tun das auf einer sehr persönlichen Ebene. Diese persönliche Unterstützung ist von großer Bedeutung für den Einzelnen, denn der Partner wendet sich individuellen Belangen zu, die sonst kaum jemand interessieren, und lässt sich auf eine nahe Verbindung ein. In der freundschaftlichen Liebe teilen die Partner Interessen, führen gemeinsame Unternehmungen durch, bereichern sich und regen sich an. Sei es, indem sie Hobbys teilen oder sich für kulturelle, geistige, religiöse oder spirituelle Dinge begeistern.
Die freundschaftliche Paarliebe begegnet somit der Gefahr individueller Vereinsamung. Der aus Gruppen und festen sozialen Bezügen herausgefallene Einzelne soll eine innere Heimat im »Wir« finden, er soll sich psychisch in der »Nische der Paarbeziehung« einrichten. Gemeinsame Lebensbereiche, gemeinsame Freunde, eine gemeinsame Weltsicht und geteilte Werte setzen den Rahmen für diese Nische.
Die Aufgabe der Paarliebe ist damit eine psychische Aufgabe geworden. Die Partner verhelfen sich gegenseitig zu einem vollständigeren Selbst. Sie sind, das ist ein Begriff aus der Zeit um 1980, »Seelenpartner«. Ihr Auswahlkriterium setzt an der Persönlichkeit an, am Wesen des Partners. Der Partner soll andersartig sein, er muss über Eigenschaften verfügen, über die man selbst nicht ausreichend verfügt, damit man aneinander »wachsen« kann.
Typische Beispiele für solche komplementären Wesenszüge sind: ein bodenständiger Partner und einer, der das Leben leicht nimmt. Beide können voneinander profitieren, wenn sie sich zusammentun. Oder: ein tatkräftiger Partner und einer, der die Fähigkeit der Gelassenheit beherrscht. Beide können sich ergänzen, wenn sie sich verbinden. Freundschaftliche Liebe baut auf der Faszination auf, die vom Wesen des Partners ausgeht, auf seiner Andersartigkeit und den Möglichkeiten, sich psychisch aneinander zu bereichern.
War es das jetzt? Sind die Aufgaben der Paarliebe damit hinreichend beschrieben? Nein, denn seit einiger Zeit gilt: Auch die beste freundschaftliche Liebe macht längst kein Liebespaar mehr aus. Selbst wenn gemeinsame Interessen gelebt werden, wenn Weltsicht und Werte geteilt werden, wenn sich die Partner gegenseitig bei psychischer Reifung und persönlichem Wachstum unterstützen, indem sie ihre Stärken und Schwächen ausgleichen, reicht das für die neue Liebe nicht aus. Etwas fehlt dann immer noch.
Was fehlt?
Was fehlt dann noch? An dieser Stelle möchte ich auf das Eingangsbeispiel der Singlefrau zurückkommen. Diese Frau hat alles zur Verfügung, was bisher zusammen mit einer Paarbeziehung gedacht wurde. Sie hat einen tollen Job, ist materiell versorgt – und braucht dafür keine Beziehung. Sie hat Bekannte, mit denen sie viel unternimmt – ein Partner ist nicht zwingend notwendig, um ihren Interessen nachzugehen. Sie hat guten Sex und könnte, wenn sie wollte, auf diesem oder einem anderen Weg ein Kind bekommen – auch dafür benötigt sie keinen Partner. Sie hat beste Freunde, mit denen sie über alles reden kann, die sie in ihrer psychischen Entwicklung unterstützen – ein Partner ist hierfür ebenfalls nicht erforderlich. Sie spricht auch nicht davon, ein »Wir« aufbauen zu wollen, sie sehnt sich nicht nach der Zweisamkeit der Paarnische. Wozu braucht sie dann noch eine Beziehung? Ich erinnere an ihre Worte:
Was mir fehlt … ist jemand, der mir das Gefühl gibt, die Frau für ihn zu sein, die einzige Frau. Ja, mir fehlt ein Mann, der mich fühlen lässt, die wichtigste Person in seinem Leben zu sein.
Was ihr fehlt, ist ein Gefühl. Das Gefühl, für jemand anderen die wichtigste Person zu sein. Diese Sehnsucht mag im ersten Moment wenig bedeutsam anmuten, ist es aber keineswegs.
Was in der Paarliebe dazugekommen ist
Zuvor habe ich gezeigt, dass sich die Funktionen der Paarliebe im Laufe der Geschichte beträchtlich gewandelt haben und dabei immer anspruchsvoller geworden sind. Der Paarliebe war zuerst eine geschlechtlich-sexuelle, dann eine partnerschaftlich-materielle und schließlich eine psychisch-freundschaftliche Aufgabe zugewiesen worden. Dabei ist die Entwicklung aber nicht stehen geblieben. Mittlerweile ist eine weitere Aufgabe hinzugekommen.
Einen Hinweis, um welche es sich dabei handelt, gibt bereits das Eingangsbeispiel der Singlefrau, die scheinbar alles hat und der dennoch etwas zum echten Glück fehlt. In ihrer wichtigsten Aussage sagt sie: Mir fehlt ein Mann, der mich fühlen lässt, die wichtigste Person in seinem Leben zu sein.
Es mag niemanden verwundern, wenn ein Single das Gefühl vermisst, für jemanden wichtig zu sein. Allerdings können auch Partner, die sich in einer Beziehung befinden, das gleiche Gefühl vermissen, und sie tun das gar nicht so selten. Wenn solche Paare eine Paarberatung aufsuchen, beklagen sie, sich »auseinandergelebt« zu haben. Das heißt nichts anderes als: Wir sind unwichtiger füreinander geworden, wir können uns nicht mehr das Gefühl geben, füreinander die wichtigsten Personen im Leben zu sein. Das Gefühl, für den Partner unwichtig oder zumindest unwichtiger geworden zu sein, macht sie unglücklich, und sie stellen die Beziehung infrage, weil sie keinen Sinn mehr darin sehen. Die Beziehung scheint auch dann sinnlos beziehungsweise zwecklos, wenn partnerschaftliche und freundschaftliche Verbindungen bestehen.
Singles, die für eine Person der wichtigste Mensch im Leben sein wollen, und Partner, die den Verlust dieses Gefühls beklagen – welcher besondere Sinn verbindet sich mit dieser Sehnsucht, für jemand anderes der wichtigste Mensch zu sein?
Geht man der Klage von Krisenpaaren nach, findet man stets die gleiche Begründung für das Unglück. Diese lautet in aller Regel: Mein Partner sieht mich nicht, wie ich bin!
Was der Singlefrau zum echten Glück fehlt und was Krisenpaare unglücklich werden lässt, ist im Grunde dasselbe. Weder Singlefrau noch die frustrierten Partner fühlen sich »gesehen«. Sich gesehen zu fühlen, so wie man ist, muss für die Einzelnen eine große Bedeutung haben. Das zeigt sich, wenn man die Frage umdreht. Was gäbe es der Singlefrau, wenn sie einen Mann hätte, der sie fühlen lässt, die wichtigste Person in seinem Leben zu sein? Und was gäbe es den Partnern in der unbefriedigenden Beziehung, wenn jeder so gesehen würde, wie er ist?
Beide, Singles auf Partnersuche und Partner in einer Krise, beschreiben das Ersehnte mit denselben Worten: »Dann könnte ich mich ganz geliebt fühlen.«Ebenso könnten sie sagen: »Dann würde ich mich ganz gesehen fühlen.« Oder: »Dann würde ich mich ganz gemeint fühlen.«
Diese Aussagen erscheinen auf den ersten Blick wenig spektakulär. Der Eindruck täuscht allerdings. Denn hier wird von den Menschen ein bedeutsamer Unterschied zwischen »Liebe« und »Ganzliebe« gemacht. Die hoch individualisierten Menschen unserer Zeit wollen sich nicht einfach geliebt, begehrt und gewollt fühlen. Sie wollen sich ganz geliebt, ganz begehrt und ganz gemeint fühlen.