Lilly und der verlorene Sohn - Helmut Exner - E-Book

Lilly und der verlorene Sohn E-Book

Helmut Exner

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Beschreibung

Vor vielen Jahren ereilt Lilly Höschens Kollegen und Freund Casper ein Schicksalsschlag, der sein Leben verändert: Seine Frau und sein fünfjähriger Sohn kehren von einem Einkaufsbummel nicht zurück. Alle Nachforschungen der Polizei bleiben erfolglos. Nach sechsunddreißig Jahren erhält Casper eine E-Mail aus Paraguay. Deren Inhalt deutet darauf hin, dass der Absender der verschwundene Sohn ist. In seiner Ratlosigkeit wendet sich Casper an Lilly, die Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um die Wahrheit herauszufinden.

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Helmut Exner

Lilly und der verlorene Sohn

HARZKRIMI

Impressum

Lilly und der verlorene Sohn

ISBN 978-3-96901-042-6

ePub Edition

V1.0 (06/2021)

© 2022 by Helmut Exner

Abbildungsnachweise:

Umschlag © Photojail_by_Dom | #331889534 | depositphotos.com

Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bei den Schauplätzen dieses Romans handelt es sich um reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Über den Autor

Mehr von Helmut Exner

Eine kleine Bitte

Kapitel 1

»Ich bin der blödeste Idiot, den ich kenne!« Es war Lillys Großneffe Amadeus, der diese Selbsterkenntnis formulierte. Und prompt bekam er von ihr zur Antwort: »Ich hätte es nicht treffender verbalisieren können.« Amadeus war ganz aufgewühlt in das Haus seiner Großtante gestürmt, weil er sich große Sorgen gemacht hatte. Heute Morgen um sieben hatte er eine SMS von seiner Frau Marie erhalten: Lilly ist positiv auf Corona getestet. Wann kommst du nach Hause? Er hatte die Nacht in Wernigerode verbracht, wo er mit einem kleinen Kreis erlauchter Geschäftsfreunde zusammen gewesen war. Es war spät geworden. Und als er die Nachricht gelesen hatte, dachte er natürlich an seine fast neunzigjährige Großtante. Er hatte das Schlimmste befürchtet. Seine Frau konnte er, nachdem die Nachricht eingegangen war, telefonisch nicht erreichen, und Lilly wollte er nicht anrufen, weil er annahm, es ginge ihr schlecht oder sie sei gar in der Klinik. Deshalb hatte er sich ins Auto gesetzt und war losgefahren. Und nun stand er in Lillys Wohnzimmer und musste sich von dieser aufklären lassen, dass nicht sie, sondern seine sechsjährige Tochter, die ebenfalls Lilly hieß, positiv getestet war. Inzwischen hatte Marie bei ihr angerufen und gesagt, dass die kleine Lilly fast keine Symptome hätte.

»Mein Gott, Tante Lilly, und ich dachte, es hätte dich erwischt. In deinem Alter! Mir ist fast das Herz in die Hose gerutscht.«

»Amadeus, darf ich dich darauf hinweisen, dass du gar keine Hose an hast?«

Jetzt schaute er an sich herunter und sagte ganz verdattert: »Und ich überlege schon den ganzen Morgen, warum es unten herum so kühl ist. In meiner Eile habe ich doch glatt die Hose vergessen. Kein Wunder, dass der Mensch an der Hotelrezeption mich so blöd anguckt und fragt, ob alles in Ordnung ist.«

Nun betrat Lillys Freundin Gretel das Zimmer mit einem lauten »Guten Morgen, Amadeus.«

»Oh, Gretel, du bist ja auch da. Guten Morgen.« »Ist das jetzt die neueste Mode unter Managern, mit Jackett, Maske und Unterhose herumzulaufen?«

»Äh, nein, Gretel. Mir war gar nicht bewusst, dass ... Ach, Scheiße.«

»Allerdings passt die Unterhose nicht zum Jackett. Weiße Punkte auf blauem Untergrund. Ich hole gerade mal mein Handy, um ein Foto zu machen.«

»Untersteh dich!«

»Gut, dann setz dich erst mal hin und trinke eine Tasse Kaffee. Wie ich dich kenne, hast du bestimmt auch vergessen, zu frühstücken. Aber nimm vorher die Maske ab, dann trinkt es sich besser.«

»Ich bin ja nicht blöd.«

Gretel schaute ihn nachdenklich an und sagte: »Nein, blöd bist du nicht. Du vergisst nur, dass deine Tochter auch Lilly heißt, dann vergisst du, dir eine Hose anzuziehen, und wahrscheinlich vergisst du auf der Fahrt nach Hause, wo du eigentlich hin wolltest. Aber blöd bist du wirklich nicht, nein.«

»Nun lass doch den armen Jungen in Ruhe, Gretel«, schaltete sich jetzt Lilly ein. »Er hat sich solche Sorgen um mich gemacht. Da kann man schon mal vergessen, sich richtig anzuziehen. Außerdem, so schrecklich finde ich die weiß gepunktete Unterhose auch wieder nicht.«

»Könnt ihr vielleicht mal aufhören, euch über meine Unterwäsche zu unterhalten. Das ist ja peinlich.«

Während die beiden Frauen grinsten, setzte Amadeus sich an den Esstisch und nahm die Maske ab. Gretel ging in die Küche, um für ihn ein Frühstück zuzubereiten. Das war halt Amadeus. Ständig stießen ihm irgendwelche Missgeschicke und Peinlichkeiten zu. Lilly, die ihn seit seinem zwölften Lebensjahr aufgezogen hatte, war das gewöhnt. Und Amadeus hatte sich mit den Schrullen seiner Großtante abgefunden, auch wenn sie ihm manchmal höllisch auf die Nerven ging. In Kürze stand ihr 90. Geburtstag an. Ihre Freundin Gretel, die fünfzehn Jahre jünger war und in Braunlage wohnte, war in letzter Zeit immer öfter bei Lilly anzutreffen. Beide hatten nicht viele Freunde, da jede auf ihre Art etwas speziell war. Lilly steckte ihre Nase gern in anderer Leute Angelegenheiten, besonders, wenn sie irgendwo ein Verbrechen witterte. Und wenn ihr jemand dumm kam oder sie einen Menschen partout nicht leiden konnte, ließ sie schon mal die eine oder andere spitze Bemerkung los – bis hin zur handfesten Beleidigung. Gelegentlich wurde sie sogar handgreiflich. Einen Nachbarn hatte sie mit Obst beworfen und einen Mann, der Kinder beschimpft hatte, schubste sie kurzerhand in den Springbrunnen auf dem Markt. Gretel kam mit dieser Art gut zurecht. Sie selbst hatte eine barsche Art von Humor und schaute meist ziemlich missmutig drein – selbst wenn sie gute Laune hatte. Aufgrund ihres stets finsteren Blickes und ihrer tiefen Stimme konnte man nie wissen, wie sie gerade drauf war.

 

Als Amadeus gefrühstückt hatte, holte Gretel für ihn eine Hose aus seinem Wagen. Dann fuhr er zu seiner Familie nach Goslar. Nachdem der Tisch abgeräumt war, setzten sich die beiden Frauen auf den Balkon. Endlich war der Frühling eingezogen in dem kleinen Städtchen Lautenthal und sie konnten den Blick auf die nun wieder grün bewaldeten Berge genießen. Der spontane Besuch von Amadeus hatte sie für eine halbe Stunde aus ihren Gedanken gerissen. Aber nun versanken sie wieder darin.

Schließlich fragte Lilly: »Was hältst du von Caspers Geschichte? Meinst du, wir sollten da eingreifen?«

»Wie stellst du dir das denn vor? Ich besuche dich nicht, um wieder irgendwelche Räuberpistolen zu erleben«, war Gretels schroffe Antwort.

Gestern Abend war Lillys alter Kollege Casper Brombacher unverhofft vorbeigekommen. Er musste unbedingt etwas loswerden, was ihn zutiefst bedrückte. Er war ein paar Jahre jünger als Lilly. Sie hatten einige Zeit zusammen an demselben Gymnasium in Clausthal-Zellerfeld unterrichtet. Eines Tages geschah etwas Furchtbares, was sein Leben veränderte. Und nach einiger Zeit zog er weg. Erst viele Jahre später kehrte er zurück in den Harz. Lilly war die Einzige aus seinem alten Bekanntenkreis, mit der er wieder Kontakt aufnahm. Allerdings waren die meisten Menschen aus seinem Umfeld auch längst verstorben. Sie trafen sich vielleicht zwei oder drei Mal im Jahr. Und gestern nun kam er, um sie mit einer ungeheuerlichen Geschichte zu überraschen.

Kapitel 2

Clausthal-Zellerfeld 1986

Casper Brombacher war ein lebenslustiger Mann von Anfang fünfzig. Hoch gewachsen, gut aussehend und immer zu einem Scherz aufgelegt, war der Oberstudienrat bei seinen Schülern recht beliebt. Er war mit der zwölf Jahre jüngeren Klavierlehrerin Annemarie verheiratet. Sie hatten einen fünfjährigen Sohn: Matthias. Es war an einem Mittwoch, als Casper nicht in der Schule erschien. Die Direktion hatte einen Ersatz-Lehrplan erstellt, da Casper vor Unterrichtsbeginn angerufen hatte, dass er heute krank sei. Am nächsten Tag kam er auch nicht. Erst nach einer Woche erschien er wieder in der Schule. Er war das reinste Nervenbündel und man hatte den Eindruck, dass er unter Beruhigungsmitteln oder sonstigen Drogen stand. Fragen nach seinem Befinden wehrte er ab. In der dritten Stunde verließ er mitten im Unterricht das Klassenzimmer, sagte kurz dem Direktor Bescheid, dass er jetzt nach Hause gehen würde, und verschwand. Am nächsten Morgen war in der Zeitung zu lesen: Mutter und Sohn aus Clausthal-Zellerfeld verschwunden. Dazu ein Bild von Caspers Frau und dem kleinen Matthias.

Folgendes war passiert: Als Casper vor einer Woche am frühen Nachmittag nach Hause gekommen war, fand er einen Zettel auf dem Tisch: Bin mit Matthias nach Goslar gefahren. Wir kommen ca. 16.00 Uhr zurück. Essen zum Aufwärmen steht auf dem Herd. Annemarie

Er dachte sich nichts dabei. Warum sollte seine Frau nicht mal einen Einkaufsbummel machen? Als sie um 19.00 Uhr immer noch nicht zu Hause war, fing er an, sich Sorgen zu machen. Er wusste auch nicht, wen er in Goslar anrufen sollte. Sie hatten weder Freunde noch Verwandte dort, die sie hätte besuchen können. War vielleicht etwas passiert? Er schaute in die Garage. Das Auto war weg. Dann saß er eine Stunde lang neben dem Telefon. Aber es tat sich nichts. Schließlich rief er das Clausthaler Krankenhaus an, danach das in Goslar. Nichts. Er telefonierte mit seiner Schwiegermutter, die in Braunschweig wohnte. Vielleicht hatte Annemarie es sich ja anders überlegt und war dorthin gefahren. Aber da war sie auch nicht. Und die Schwiegermutter hatte ebenfalls keine Idee, wo sie sein könnte. In der Nacht war an Schlaf nicht zu denken. Er zermarterte sich den Kopf. Morgens rief er in der Schule an, um sich krank zu melden. Dann ging er zur Polizei.

Haben Sie alle Verwandten, Freunde und Bekannten angerufen? Haben Sie sich mit Ihrer Frau gestritten? Wie steht es um Ihre Ehe? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch – ich muss das fragen: Könnte Ihre Frau Sie vielleicht mit dem Kind verlassen haben? Er hätte schreien können. Schließlich nahm man eine Vermisstenanzeige auf, dies aber auch nur, weil das gemeinsame Kind ebenfalls verschwunden war. Und man gab eine Suchmeldung nach dem Auto heraus. Die Kollegen in Goslar sollten mal schauen, ob sie den Pkw vielleicht auf einem der Parkplätze fänden, wo sie ihn gewöhnlich abstellte.

An dem Tag, als der Zeitungsartikel erschien, war in der Schule die Hölle los. Es gab kein anderes Thema. Im Kollegium, unter den Schülern, in den Elternhäusern. Jeder mutmaßte, was geschen sein könnte. Als Mehrheitsmeinung setzte sich durch, dass Frau Brombacher ihn wohl verlassen hatte. Vielleicht war der smarte Lehrer ja im Privatleben ein Tyrann. Außerdem war seine Frau wesentlich jünger und hatte möglicherweise eine Affäre. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Und Casper ging es von Tag zu Tag schlechter.

Lilly kotzte das Gerede an. Nach dem Unterricht kaufte sie schnell etwas ein. Dann ging sie zu Casper. Als er die Tür öffnete, traute sie ihren Augen nicht. Er sah aus wie das heulende Elend. Sie mochte ihn, war ihm aber bisher privat nicht sonderlich nahegekommen. Jetzt musste sie jedoch feststellen, dass der Mann offenbar niemanden hatte, der sich um ihn in dieser fürchterlichen Situation kümmerte. Offenbar hatte er keine Verwandten oder Freunde, die ihm zur Seite standen. Als Erstes nahm Lilly die Küche in Beschlag und bereitete eine warme Mahlzeit zu. Sie war zwar keine gute Köchin, aber Casper haute ordentlich rein, nachdem er mehrfach geäußert hatte, er würde nichts herunter kriegen. Offenbar war er völlig ausgehungert. Dann kochte sie Kaffee und ließ sich alles von ihm erzählen. In der Ehe gab es nach seiner Aussage keine besonderen Probleme. Sein Sohn Matthias war sein Augenstern. Bis vor ein paar Tagen war er ein glücklicher Mann gewesen. Diesen Eindruck hatte Lilly auch. Er war ein Mensch mit einer positiven Ausstrahlung, der gute Laune verbreitete.

Schließlich sagte sie: »Casper, gib mir ein Bild deiner Frau und deines Sohnes. Ich klappere in Goslar sämtliche Geschäfte ab, ob sie jemand gesehen hat.«

»Lilly, genau das tut die Polizei seit gestern. Ohne Erfolg.«

Es folgten schlimme Tage und Wochen. Aufgrund der Pressemeldung, die auch von anderen Zeitungen übernommen wurde, kamen einige Hinweise, dass man die Vermissten gesehen hätte, sich jedoch nicht mehr an den Tag erinnern könne. Die meisten Anrufer wollten in Wirklichkeit nur in Erfahrung bringen, ob sie wieder aufgetaucht waren. Jemand meldete, dass er Mutter und Kind am Frankfurter Flughafen gesehen hätte. Aber alle Nachforschungen verliefen im Nichts.

Ein Kriminalkommissar beschäftigte sich ausführlich mit dem Leben von Annemarie Brombacher, vor allem um Beziehungen vor oder während ihrer Ehe. Dazu führte er auch ein intensives Gespräch mit ihrer Mutter in Braunschweig. Sie berichtete, dass es mal einen Partner gegeben hatte, mit dem sie mehr als zwei Jahre zusammengewesen war.

»Er hieß Christian Bienert und war in ihrem Alter. Er war ein gut aussehender Mann, der sie auf Händen trug, wie man so schön sagt. Das Problem war, dass er über alle Maßen eifersüchtig war. Er verdächtigte Annemarie ständig, sich für andere Männer zu interessieren. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und machte Schluss. Aber er wollte das nicht akzeptieren und stellte ihr nach. Dann zog sie weg und lernte Casper kennen. Was aus Christian geworden ist, weiß ich nicht.«

Als der Kommissar Casper zu dieser Sache befragte, kam eine alte Erinnerung wieder hoch: »Ja, dieser Christian muss ein seltsamer Typ gewesen sein. Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen, weiß also nur, was Annemarie mir berichtet hat. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass es aus war. Er fand schließlich heraus, dass Annemarie mich geheiratet hatte und wo wir lebten. Und kurze Zeit, nachdem unser Sohn geboren wurde, kreuzte er hier auf. Ich war in der Schule. Annemarie war allein mit dem Baby. Sie hat ihn nicht hereingelassen, sondern vor der Tür abgefertigt. Da hörte er das Kind schreien und hat behauptet, dass es seines wäre. Kurz danach hat er nochmal angerufen und gesagt, dass er um sein Kind kämpfen würde. Da haben wir ihn angezeigt. Aber das ist im Sande verlaufen. Immerhin haben wir dann nichts mehr von ihm gehört.«

Der Kriminalkommissar hatte versucht, diesen Christian ausfindig zu machen, aber ohne Erfolg. Seine Verwandten sagten, er sei nach Südamerika ausgewandert. Aber niemand wusste, wo genau er abgeblieben war. Es gab keinen Kontakt.

Die zwei Monate bis zu den Sommerferien konnte Casper nicht arbeiten. Der Arzt attestierte ihm einen nervlichen Zerrüttungszustand. Dann zog er weg. Er verabschiedete sich von niemandem außer von Lilly, weil er die Fragen und das Mitleid der Leute nicht ertragen konnte. Er ging nach Hamburg. In der fremden Umgebung gelang es ihm, ganz allmählich ein neues Leben anzufangen. Natürlich hatte er noch jahrelang gehofft, dass Frau und Sohn eines Tages wieder auftauchen würden. Aber irgendwann hatte er sich damit abgefunden und die Hoffnung aufgegeben. Allerdings hinterließ dies ein Loch in seiner Seele. Erst im Jahr 2015, inzwischen längst Pensionär, zog er zurück in den Harz.

Kapitel 3

Gestern Abend nun war Casper zu Lilly gekommen. Er hatte ihr etwas zu berichten und wollte ihre Meinung dazu hören. Sie fragte ihn, ob Gretel, die er noch nicht so gut kannte, dabei sein dürfe. Er hatte nichts dagegen. Sie hatten es sich in Lillys Wohnzimmer gemütlich gemacht. Gretel, die sich immer bemüßigt fühlte, alle zu bedienen, hatte für jeden etwas zu trinken geholt, und nun begann Casper zu erzählen: »Lilly, du weißt ja, was 1986 passiert ist.«

»Allerdings. Das plötzliche Verschwinden deiner Familie hat mir einen Schock versetzt, der bis heute nachwirkt. Ich habe ja schon viel erlebt. Aber irgendwie hat sich immer alles aufgeklärt, ob nun zum Guten oder zum Schlechten. Es ist einfach unerträglich, so im Dunkeln zu tappen und rein gar nichts zu wissen,« sagte Lilly.

»Tja, für mich war das damals so unerträglich, dass ich nicht mehr in meinem Haus wohnen konnte, nicht mehr in der gewohnten Umgebung leben und arbeiten wollte. Ich musste weg. Das Haus habe ich noch fast zwei Jahre leerstehen lassen, damit Frau und Kind ein Zuhause hätten, wenn sie zurückgekommen wären. Aber die Hoffnung wurde immer kleiner. Schließlich habe ich es verkauft. In Hamburg habe ich ganz neu angefangen. Einige Zeit schwankte ich zwischen neuem Aufbruch und Suizid. Schließlich hat mein Lebenswille gesiegt. Und nach vielen Jahren konnte ich auch wieder an den Ort kommen, wo ich eine Zeit lang glücklich gewesen war, bevor das Drama begann.«

»Und was ist jetzt passiert?«, wollte Lilly wissen. »Warum sitzen wir hier? Wie kann ich dir helfen?«

Casper schaute erst Lilly an, dann Gretel, bevor er weiter erzählte: »Ich habe eine Nachricht erhalten. Lies selbst.«

Er reichte Lilly eine ausgedruckte E-Mail. Sie las laut vor:

 

»Entschuldige, dass ich dich unbekannterweise anspreche. Mein Name ist Mateo Schumann. Ich lebe im Distrikt Independencia in Paraguay. Ich wurde in Deutschland geboren und kam als kleines Kind hierher. Mein Vater hat mir nur wenig über meine frühe Kindheit erzählt. Die ersten Jahre meines Lebens waren wir auch gar nicht zusammen. Und meine Erinnerungen an Deutschland sind sehr lückenhaft. Ich erinnere mich nur an eine Stadt mit zwei großen Kirchen. Die eine war aus Holz gebaut, die andere aus Stein. Ich habe im Internet recherchiert und glaube, dass diese Stadt Clausthal-Zellerfeld ist. Ich habe dort mit meiner Mutter und einem Mann gelebt, der Casper hieß. An seinen Nachnamen oder auch an den Nachnamen meiner Mutter erinnere ich mich nicht. Eines Tages bin ich mit meiner Mutter in ihrem Auto weggefahren. Wir waren in einer Stadt in der Nähe. Dort trafen wir meinen Vater. Er fuhr mich mit seinem eigenen Auto weit weg. Ich weiß nicht, wohin. Nach ein paar Tagen stiegen wir in ein Flugzeug. Wir mussten zweimal umsteigen, bis wir schließlich in Paraguay landeten. Meine Mutter war nicht dabei. Offenbar war sie in Deutschland geblieben. Das sagte mir jedenfalls mein Vater. Er heißt Walter Schumann. Er erzählte mir Jahre später, dass dieser Casper meine Mutter umgebracht hätte. Mich konnte er retten und hier in Paraguay verstecken. Im Laufe der Jahre kamen aber Zweifel bei mir auf, weil mein Vater immer mal widersprüchliche Dinge erzählte, wenn er überhaupt bereit war, über die Vergangenheit zu reden. Meistens schwieg er. Und heute redet er gar nicht mehr über Deutschland. Nun habe ich aber Unterlagen gefunden, die etwas zu tun haben mit Clausthal-Zellerfeld und einem mir unbekannten Namen: Brombacher. Es ist für mich wie ein Mosaik, meine frühe Kindheit durch viele kleine Teile zusammenzusetzen. Vielleicht kannst du mir helfen. Bist du der Casper Brombacher, mit dem meine Mutter zusammen war? Hast du meine Mutter umgebracht? Oder lebt sie noch? Wollte sie mich nicht mehr haben? Oder wurde ich vielleicht von meinem Vater entführt? Rätsel über Rätsel. Wenn möglich, hilf mir bitte bei der Lösung. Über eine Antwort wäre ich sehr froh.«

»Ich bin selten sprachlos«, sagte Lilly. »Aber das ist so unglaublich, dass mir die Worte fehlen. Wenn ich das richtig deute, hat dein Sohn dir geschrieben. Der Kerl, ob er nun Christian oder Walter heißt, hat ihn und deine Frau entführt, nach Paraguay gebracht, einen anderen Namen angenommen und Matthias zu seinem eigenen Sohn gemacht. Aber was ist mit deiner Frau?«

Nun schaltete Gretel sich ein: »Dafür, dass du sprachlos bist, sabbelst du ganz schön viel. Nun lass doch mal den armen Casper erzählen, was er davon hält.«

»Danke, Gretel«, sagte dieser. »Also, Matthias war fünf, als er verschwand. Jetzt ist er einundvierzig. Dieser Christian, der sich nun wohl Walter Schumann nennt, müsste jetzt einundsiebzig sein. Jedenfalls vermute ich, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Ich gehe davon aus, dass er Matthias entführt hat. Er hat ihm eingetrichtert, dass er sein Vater sei. Und dass ich seine Mutter umgebracht hätte. Was bleibt einem kleinen Kind anderes übrig, als sich damit abzufinden?«

»Hast du ihm geantwortet?«, fragte Lilly.

»Ja, ich habe ihm alles bis ins Detail geschildert. Unser gemeinsames Leben in den ersten fünf Jahren. Ganz viele Einzelheiten über seine Mutter, über unser Haus, den Kindergarten, unsere Wanderungen. Die Geschichten, die ich ihm als Kind erzählt habe, alles, was mir einfiel. Und dann natürlich über den Tag, als er und Annemarie verschwanden. Ich werde euch diese Antwort jetzt nicht zeigen. Aber ich zeige euch, was er mir gestern geantwortet hat.«

Damit reichte er Lilly eine weitere ausgedruckte E-Mail, die sie laut vorlas:

»Danke für deine ausführliche Antwort. Bei mir sind viele Erinnerungen wieder hochgekommen, die seit Jahrzehnten nicht mehr da waren. Vieles war mir allerdings auch völlig unbekannt. Was du über die Entführung durch Walter Schumann schreibst, der immer noch mein Vater ist, kann ich kaum glauben. Er war stets ein guter Vater. Deine Informationen sind so haarsträubend, dass sich das alles erst einmal bei mir setzen muss. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Deshalb sage ich im Moment lieber gar nichts dazu. Ich habe das Gefühl, dass gerade die Welt zusammenbricht. Aber lassen wir das. Du wolltest ein paar Informationen über mich. Die kann ich dir gern geben: Ich bin hier auf die deutsche Schule gegangen, später auf eine andere deutsche Schule in Asunción, wo ich Abitur gemacht habe. Studiert habe ich in Wien. Ich bin Arzt und arbeite hier im Krankenhaus. Ich bin unverheiratet und wohne noch im Haus meines Vaters.

Wir haben ein schönes Haus mit einem großen Grundstück. Meinem Vater gehört die Apotheke in unserem Städtchen. Das soll fürs Erste genügen. Ich denke, ich sollte dich kennenlernen. Ich möchte das Loch in meiner Erinnerung füllen. Ich will die Wahrheit erfahren. Ich will wissen, was mit meiner Mutter ist. Aufgrund deiner Darlegung weiß ich nicht, was ich glauben soll. Aber Vorsicht! Sollte ich herausfinden, dass du meine Mutter umgebracht hast, weiß ich nicht, was ich tue. Wenn du mich sehen willst, besteht dazu demnächst die Möglichkeit. Ich nehme bald an einer medizinischen Fortbildung in Freiburg teil. Danach habe ich noch zwei Tage Zeit bis zu meiner Rückreise. Wenn du Interesse hast, mich zu sehen, müsstest du nach Freiburg kommen.«

Als Lilly zu Ende gelesen hatte, war es für eine Minute mucksmäuschenstill. Dann sagte Gretel: »Du hast die Chance, Klarheit in dein Leben zu kriegen.«

»Ja, aber ich habe auch Angst. Und vor allem: Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Aus Matthias ist ein erwachsener Mensch geworden. Er hat Lebenserfahrungen, mit denen ich absolut nichts zu tun habe. Sein Entführer hat ihm seine Sicht der Dinge eingeredet. Und seine Lügen, die für den Jungen die Wahrheit sind. Trotzdem muss ich diese Chance natürlich nutzen.«

»Wenn wir dich nach Freiburg begleiten sollen«, brachte nun Lilly heraus, »musst du es sagen.« Damit fing sie sich einen scharfen Blick ihrer Freundin ein, was sie zu einer Bemerkung verleitete: »Gretel, dein stockbrandfinsterer Blick wird mich nicht daran hindern, meinem alten Freund in dieser dramatischen Lebenslage zur Seite zu stehen.«

»Oh, das ist sehr ehrenwert von dir. Aber ich erahne, wie du die ganze Sache verkomplizierst. Am Ende wird Casper gar nicht mehr wissen, worum es eigentlich ging. Aber mach nur. Du bist schließlich die Oberklugscheißerin.«

»Das stimmt doch gar nicht. Ich weiß nur alles besser.«

»Eben.«

Casper verfolgte den kleinen Disput der beiden Frauen zunächst verständnislos, aber dann musste er lächeln. Innerlich hatte er gehofft, dass er nicht allein nach Freiburg fahren müsste.

Kapitel 4

»Tante Lilly, das kommt überhaupt nicht infrage.«

Amadeus war, wie so oft, wenn es um die Eskapaden seiner Großtante ging, ganz aufgeregt. Sie hatte ihm über die Sache ihres Freundes Casper berichtet und längst für sich entschieden, ihn nach Freiburg zu begleiten. Auch Gretel wollte mitkommen, um, wie sie es ausdrückte, ›als Mensch mit Vernunft und Bodenhaftung› auf ihre Freundin aufzupassen. Amadeus konnte sich gar nicht beruhigen: »Außerdem hast du bald Geburtstag. Neunzig Jahre und du benimmst dich wie eine Berufsjugendliche. Es kommen bestimmt viele Gratulanten.«

»Glaubst du etwa, ich setzte mich in den Sessel und warte darauf, dass Bürgermeister, Pastor und Co. mir ihre Floskeln herunterleiern? Womöglich kommt noch jemand auf die Idee, mir eine geschmacklose ›90‹ aus Pappmaché in einen Blumentopf mit Alpenveilchen zu stecken. Ich denke ja gar nicht daran, mich solchen pudelnärrischen Hanswurstiaden auszusetzen.«

»Tante Lilly, diese Reise kann gefährlich werden.«

»Ich bin selbst gefährlich.«

»Tante Lilly, wer weiß, wie dieser Matthias auf seinen Vater reagiert. Vielleicht glaubt er wirklich, dass er seine Mutter auf dem Gewissen hat, und nimmt Rache. Schließlich ist er in Südamerika aufgewachsen. Denk nur an diesen mexikanischen Auftragsmörder, der bei Ferdinand in Braunlage aufgetaucht ist.«

»Amadeus, erstens ist Matthias kein Auftragsmörder, sondern Arzt. Und zweitens – nur zu deiner Erinnerung: Dieser Typ hat in Braunlage niemanden abgemurkst. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Ganz im Gegenteil. Er selbst wurde vom Kronleuchter erschlagen, und dann hat Rita Sauschläger ihn auf ihrem Grundstück entsorgt. Von dem Apfelkuchen, den Gretel und ich ihr als Belohnung gebacken haben, schwärmt sie heute noch.«

»Erinnere mich bloß nicht daran. Statt die Polizei zu rufen, lässt du deine Leichen einfach auf anderer Leute Grundstücke verbuddeln und fängst in aller Seelenruhe an, Apfelkuchen zu backen.«

»Du sprichst im Plural. Es handelte sich aber nur um eine Leiche, mein Junge.«

»Ach, sei doch nicht so spitzfindig. Mit dir und deinen Eskapaden hat man nur Ärger. Steck doch deine Nase nicht immer in anderer Leute Angelegenheiten.«

»Dein Knastern wird mich nicht davon abhalten, auch fürderhin für liebenswerte honorable Menschen da zu sein.«

Jetzt musste Amadeus erst mal eine Pause einlegen, weil er merkte, dass er so nicht weiterkam. Dann sagte er mit leicht resigniertem Tonfall: »Deine geschwollene Ausdrucksweise wird mich nicht dazu verleiten, dein Vorhaben gutzuheißen.«

»Amadeus, ich danke für deine Fürsorge. Aber diese ist hier völlig unnötig. Ich habe es geschafft, neunzig Jahre durchs Leben zu kommen und alle Gefahren zu meistern. Ich werde jetzt nicht anfangen, mit eingezogenem Schwanz durch die vorletzte Etappe meines Lebens zu schleichen.«