Macabros 003: Die Schreckensgöttin - Dan Shocker - E-Book

Macabros 003: Die Schreckensgöttin E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bearbeitete Original Romane Die Schreckensgöttin Edgar Laughton ist dreißig Jahre lang verschollen gewesen, hat aber keine Erinnerung daran wo er gewesen ist. Plötzlich taucht er in London wieder auf, nicht ahnend, dass mittlerweile Jahrzehnte vergangen sind. Doch Laughton ist nicht der Einzige, dem dieses Schicksal wiederfuhr. Laughton wird Zeuge, wie ein Leidensgenosse von einer Vampirkatze getötet wird. Kurz darauf gerät Laughton selbst ins Visier eines Dämons. Horror-Trip "Ich glaube ich lebe nicht mehr lange", eröffnet George Beard seiner Frau Raquel. Und er soll recht behalten. Dämonen, die nur er sehen kann, hetzen ihn zu Tode. Niemand glaubt an etwas Unnatürliches, außer seiner Frau. "Gehe nicht zu Ajit Lekarim", hat er sie vor seinem Tod noch gewarnt. Doch Raquel gibt sich damit nicht zufrieden. Sie will wissen, was Georg den Tod brachte. Im Nachlass ihres Mannes findet sie einen mysteriösen Hinweis auf ein HAUS AUF DEM HÜGEL. Dort haben ihr Mann und Ajit Lekarim viel Zeit verbracht. Aber warum? Gemeinsam mit ihrem Freund Oliver Turborgh will sie das Geheimnis des Hauses ergründen ... Das ist der Beginn eines horrormäßigen Trips in bizarre und fantastische Welten jenseits von Gut und Böse! Kurzbeschreibungen: © www.gruselromane.de

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 3

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-703-0

Dan Shockers Macabros Band 3

DIE SCHRECKENSGÖTTIN

Mystery-Thriller

Die Schreckensgöttin

von

Dan Shocker

Prolog

Kein Mensch ahnte etwas Böses.

Warum auch?

Die Sonne schien, der Himmel war blau wie selten über London. Zur Mittagspause bevölkerten unzählige Menschen in hellen und bunten Kleidern den Trafalgar Square. Und neben den Steinlöwen hockten Tierfreunde zu Füßen der Nelson-Säule und fütterten Tauben mit Körnern und Brotkrumen. Alles wirkte wie in einer heilen Welt.

Da kam ein Mann. Er war der einzige, der einen dunklen Anzug trug und wie ein schwarzer Käfer, der über eine blühende Wiese kroch, wirkte. Der Dunkelgekleidete stieg die Treppe der Untergrundbahnstation herauf und überquerte den Trafalgar Square Richtung National Gallery.

Plötzlich zerriss ein lauter Schrei die Luft. Die Köpfe der Menschen flogen herum.

Der Mann warf die Arme hoch und schrie wie am Spieß. Ein großer, zottiger Hund hatte ihn angefallen und zu Boden geworfen. Sein Gebiss bohrte sich in die Kehle des Passanten.

Die Menschen liefen zusammen.

Eine Frau kreischte: »Den Hund! Schaut euch den Hund an! Mein Gott ... wie furchtbar.«

Viele sahen den Hund. Und sie wollten nicht glauben, dass das, was sie erblickten, Wirklichkeit war.

Die Bestie hatte als Kopf einen menschlichen Totenschädel!

Das Blut des Opfers troff aus dem Knochenmaul.

Wie ein Gespenst huschte das große, zottige Tier über den Trafalgar Square. Die Tauben stoben auseinander, die Menschen liefen schreiend davon. Einige wagten es, dem Ungeheuer nachzujagen.

Ohne Erfolg.

Der Hund mit dem menschlichen Totenschädel war wieder verschwunden.

Zeugen sagten später aus, dass sie ihn zuletzt auf dem Bürgersteig vor der National Gallery gesehen hätten. Auch ein Pflastermaler, der mit Farbstiften ein Porträt der Königin auf den Bürgersteig zeichnete, machte eine Aussage. Er war vor Schreck auf die kleine Mauer vor der Galerie gesprungen und hatte gesehen, wie der zottige Hund links an dem Gebäude vorbeigerannt und in die Whitcomb Street eingebogen war. Dort verlor sich die Spur des ungewöhnlichen Tieres. Der Mann, um den sich sofort zahlreiche Passanten gekümmert hatten, wurde mit einem Ambulanzwagen weggebracht. Er lebte noch, aber sein Zustand war bedenklich. Die Papiere, die er bei sich trug, lauteten auf den Namen James Fleet.

Die Zeitungen berichteten am Abend von dem ungeheuerlichen Vorkommnis. Im Evening Star gab es sogar Bilder des Hundes.

Niemals zuvor hatte jemand ein ähnliches Tier gesehen. Viele Leser riefen in der Redaktion und bei der Polizei an und erkundigten sich, ob der Bericht wirklich auf Wahrheit beruhe oder ob sich ein Reporter eine neue Masche ausgedacht habe, Horrorgeschichten als Tatsachen aufzumachen.

Ein Scherzbold behauptete, er hätte mit Sicherheit das Muttertier des ungewöhnlichen Hundes gesehen. Es sei dreimal so groß und hätte ein langes, rostbraunes Fell. Der Kopf bestünde aus einem riesigen Gebiss. Auf einem der größten Londoner Friedhöfe treibe es sich herum.

Die Polizei ging dem Anruf nach. Von vornherein wusste man, dass sich der anonyme Anrufer einen Spaß erlaubte. Aber die Beamten erfüllten ihre Pflicht. Sie durchkämmten den Brompton Friedhof von einem Ende bis zum anderen und fanden nicht die geringste Spur.

Es gingen mehrere solcher Hinweise ein. Bis zum Abend waren die Streifenfahrzeuge unterwegs.

Ohne Ergebnis.

Auch Scotland Yard nahm sich des Falles an. Inspektor Henry Gloaster wurde damit betraut. Anfangs bestand der Verdacht, dass die Erscheinung des Totenkopfhundes, der von der Presse den unsympathischen Namen Höllenhund erhalten hatte, auf eine Massenpsychose zurückzuführen war. Dagegen sprach, dass der Hund an verschiedenen Orten gesehen wurde. Der Weg des Tieres war verfolgt worden, und die Aussagen verschiedener Personen deckten sich, ohne dass sie zuvor Kontakt miteinander gehabt oder sich abgesprochen hatten.

Henry Gloaster war der Meinung, dass man nur über diesen James Fleet weiterkam. Zu seinen Mitarbeitern sagte er: »Es ist doch offensichtlich, dass der Angriff nur diesem Fleet gegolten hat. Viele andere Menschen standen herum, die der Hund nicht beachtet hat.« Er kratzte sich im Nacken und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Vom kriminalistischen Standpunkt aus gesehen liegt hier ein Mordversuch vor. Ich habe zwar genügend Fälle erlebt, wo maskierte Gangster ihr Opfer überfallen haben. Aber in meiner langjährigen Praxis ist dies der erste maskierte Hund, der mir begegnet.«

Er blickte über den Rand der Brillenfassung hinweg, und auf seinem Gesicht zeigte sich der Anflug eines verunglückten Grinsens. Es fiel ihm einfach schwer, diesen Fall ganz ernst zu nehmen.

Der Zustand von James Fleet war ernst. Aber die schnelle ärztliche Hilfe, die Bluttransfusion und herz- und kreislaufstabilisierenden Mittel ließen die Hoffnung zu, dass er durchkam.

Er lag allein in seinem Zimmer und schlief.

Als gegen halb acht Uhr abends der Inspektor in das Somerset Hospital kam, konnte er nur einen Blick in das Krankenzimmer werfen. Es war unmöglich, ein Wort mit dem Verletzten zu wechseln. Henry Gloaster unterhielt sich eingehend mit dem Chefarzt.

»Was meinen Sie, wann er vernehmungsfähig sein wird?«, wollte er wissen.

Es kam ihm darauf an, mehr zu erfahren, ehe möglicherweise James Fleets Herz seinen Dienst versagte und er nicht mehr dazu kam, eine wichtige Aussage zu machen.

Dies war der erste Fall. Doch es gab keine Garantie dafür, dass es auch der letzte war.

Die Sache mit dem Höllenhund beschäftigte den Inspektor mehr, als er sich eingestehen wollte.

Er verließ nach einer halben Stunde das Krankenhaus, nicht ohne zuvor noch einmal einen Blick auf James Fleet geworfen zu haben.

Der Patient lag noch immer im Medikamentenschlaf und rührte sich nicht.

Henry Gloaster sah sich sorgfältig um.

Das Zimmer lag im ersten Stock. Die Balkontür war fest verschlossen. Am Fenster war nur eine Klappe geöffnet, durch die kühle und angenehm frische Luft einströmte.

Henry Gloaster ging in Gedanken versunken zu seinem schwarzen Bentley. Er sah nicht nach oben. Daher bemerkte er den Schatten nicht, der auf dem Dach des Krankenhauses herumkroch. Dort oben schlich eine Katze.

Es war kein gewöhnliches Tier. Henry Gloaster startete seinen Wagen und fuhr nach Hause.

Als sich der Wagen entfernte, blieb jemand zurück, der das Krankenhaus beobachtete.

Der Mann stand hinter Sträuchern versteckt.

Er trug eine alte, abgetragene Hose und einen dunkelroten Pullover. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Das Gesicht war bleich und unrasiert.

Edgar Laughton, der hier auf einem Spazierweg des Hospitals auf der Lauer lag, machte den Eindruck eines Mannes, dessen Geisteszustand nicht der beste ist. Er sah verhärmt und abgehetzt aus, als befinde er sich ständig auf der Flucht.

Laughton war dreiundfünfzig Jahre alt. Aber das Alter sah man ihm nicht an. Sein drahtiger, schlanker Körper bewegte sich flink und ohne große Anstrengung.

Laughton sah den Wagen abfahren und beobachtete den um diese Zeit minimalen Betrieb in seiner näheren Umgebung.

Hinter sämtlichen Fenstern brannte Licht. Der Himmel war wolkenlos und mondhell.

Laughtons Augen waren in ständiger Bewegung. Nichts entging ihnen.

In der Zeitung hatte er gelesen, dass James Fleet von einem unheimlichen Hund mit Totenschädel angefallen worden war. Der Bericht war ihm unter die Haut gegangen. Er war wahrscheinlich der einzige in London und Umgebung, der wusste, was hier vorging. Aber er konnte es niemandem erklären. In seinem Bewusstsein klaffte ein großes Loch. Die Erinnerung fehlte.

Nur eines war ihm klar: Es bestand Gefahr. Er war seines Lebens nicht mehr sicher.

Edgar Laughton leckte sich über die schmalen, spröden Lippen.

Er sah Patienten in den Gängen des hellerleuchteten Krankenhauses spazieren gehen. Andere saßen an Tischen in der Halle und unterhielten sich, lasen in Magazinen oder spielten Karten.

Auf dem Parkplatz neben dem Haupteingang standen zwei Autos. Es handelte sich um die Wagen von Ärzten. Verbotsschilder wiesen darauf hin, dass jeder andere Parker kostenpflichtig abgeschleppt würde.

Edgar Laughton war ein aufmerksamer Beobachter. Er nahm diese Dinge beiläufig wahr, ohne sich darauf zu konzentrieren.

Sein Hauptaugenmerk aber galt dem Zimmerfenster, hinter dem der verletzte Fleet mit dem Tod kämpfte.

Laughton wusste genau, wo Fleet war. Bei der Anmeldung hatte er sich erkundigt, in welches Zimmer man den Verletzten gelegt hatte.

Man hatte es ihm gesagt und ihn gebeten, vorerst von einem Besuch abzusehen. Ob er ein Verwandter von James Fleet sei?

»Nein, ein Freund«, hatte er geantwortet. Aber das stimmte nicht. Er hatte James Fleet nie zuvor in seinem Leben gesehen.

Und doch interessierte er sich für ihn.

Laughton ahnte, dass es zwischen ihm und dem angefallenen Mann eine Verbindung gab, die er sich noch nicht erklären konnte.

Das Auftauchen des Höllenhundes hatte es bewiesen.

Wie hypnotisiert wanderte sein Blick hinauf zu den Fenstern im ersten Stockwerk. Absichtlich hatte er hier Stellung bezogen. Der Gedanke, dass sich der Überfall mit dem Höllenhund wiederholen könnte, erfüllte ihn mit einer derartigen Macht, dass er an gar nichts anderes mehr denken konnte.

Bei James Fleet wusste die andere Seite nun Bescheid, dachte er angestrengt. Sie war davon unterrichtet, dass er noch lebte, dass der Angriff des Höllenhundes keinen Erfolg gehabt hatte. Dies alles musste unweigerlich zu einer neuen Attacke führen.

Aber niemand wusste das. Nur er kannte die Zusammenhänge. Er musste mit dem Arzt sprechen. James Fleet durfte nicht hierbleiben. Er musste an einen Ort geschafft werden, den niemand kannte und der auch nicht öffentlich bekanntgegeben wurde. Nur weil Laughton niemandem verriet, wo er derzeit wohnte, lebte er überhaupt noch.

Aber würde man ihm glauben, würde man ihn überhaupt anhören?

Er musste es versuchen! Für ihn bedeutete es ein Risiko. Er musste damit rechnen, dass seine Widersacher dadurch wieder auf ihn aufmerksam wurden. Sich in der Nähe des gefährdeten Fleet aufzuhalten, bedeutete eine Bedrohung für sein Leben. Er gab sich einen Ruck. Er musste es wagen. Es geschah auch in seinem eigenen Interesse. Wenn Fleet davonkam, hatte Edgar Laughton die Chance, zu beweisen, dass er nicht verrückt war, dass es noch jemanden außer ihm gab, der sich vor der Schreckensgöttin in acht nehmen musste.

Edgar Laugthon zuckte plötzlich zusammen, sein Körper wurde steif wie ein Stock. Gebannt starrte er auf den Schatten, der sich auf der Balkonbrüstung des zweiten Stockwerkes zeigte.

Es war der einer Katze. Einer Riesenkatze.

Sie sprang eine Etage tiefer, kam lautlos auf dem Balkon des ersten Stocks auf.

Laughtons Lippen begannen zu zittern. Er öffnete den Mund, wollte etwas rufen, unterließ es aber dann. Wie gebannt wurde er Zeuge, wie die Katze das Fenster beobachtete, lauernd auf dem Balkon herumlief und plötzlich wie ein schwereloser Schatten in der oberen linken Ecke des Fensters zu James Fleets Krankenzimmer hing und sich wie eine Schlange durch die Klappe drückte.

Die Katze verschwand im Zimmer.

Edgar Laughton stand noch drei Sekunden da, als wäre er zu Stein geworden.

Dann riss er sich aus der Erstarrung ...

... und tat etwas sehr Merkwürdiges. Er lief nicht etwa auf das Krankenhaus zu, um dort eine Warnung abzugeben, nein, er lief geradewegs über den gepflegten Rasen, huschte geduckt an Büschen und Sträuchern vorbei und rannte durch das Hauptportal auf die Straße, als würde er von Furien gejagt.

Niemand auf der Station merkte, dass ein unheimlicher Besucher in das Krankenzimmer von James Fleet Eingang gefunden hatte.

Nicht einmal der Patient selbst registrierte es.

Die große Katze mit dem rauen, langhaarigen Fell und den glühenden Augen sprang mit einem Satz auf sein Bett.

Sie riss das Maul auf. Zwei überlange, kräftige Zähne ragten wie Messer aus dem Oberkiefer. Es war eine Vampirkatze. Sie brachte das zu Ende, was der makabre Hund mit dem Totenschädel nicht hatte vollenden können. Die Katze bohrte ihre rasiermesserscharfen Zähne in die Halsschlagader von James Fleet.

Ein Ruck ging durch dessen Körper. Seine Haut wurde merklich weißer.

Die Vampirkatze leckte einen Teil des Blutes auf, der Hauptstrom aber ergoss sich über das weiße Bettzeug und wurde von dem Leinen und der Matratze aufgesogen.

Mit dem Blut floss auch das Leben aus dem Körper von James Fleet.

Die Katze verschwand wieder durch die Fensterklappe nach draußen. Niemand sah sie, als sie in der Dunkelheit der Nacht untertauchte.

Edgar Laughton rannte durch die Wellington Street zur King Street, überquerte Charing Cross und eilte in den alten Stadtteil von Soho.

Hier hatte er schon oft Trost und Unterschlupf gesucht.

Man hatte die Leiche im Krankenzimmer noch nicht gefunden, als Edgar Laughton bereits die Dean Street erreichte.

Er lief durch eine schmale, dunkle Gasse. Seit seiner Flucht aus dem Hof des Hospitals hatte er sich keine Sekunde Pause gegönnt.

Hatte ihn die Vampirkatze aufgespürt?

Mehr als einmal blickte er sich um, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken.

Er huschte in einen dunklen Hinterhof. Am Torbogen hing eine schmutzige Neonreklame mit der Aufschrift Bar.

Es gab zwei Eingänge, und die beiden Türen lagen dicht nebeneinander. Die eine führte direkt in das Etablissement, aus dem Lachen und Stimmen erschollen. Die Fenster waren giftgrün gestrichen.

Edgar Laughton wählte den zweiten Eingang, hinter dem eine steile Treppe zu einem muffigen, nach Rauch, Alkohol und verbranntem Fett riechenden Flur hinaufführte.

Laughton atmete stoßweise. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn.

Er blieb einen Moment an dem schrägen Flurfenster stehen, das vielleicht vor Jahren zum letzten Mal mit Wasser in Berührung gekommen war. Durch die fast blinde Scheibe konnte Laughton in die Wohnung der Animiermädchen sehen, die in speziell für sie reservierten Räumen ihrer steuerfreien Nebenbeschäftigung nachgingen. Gleich gegenüber lag ein Trümmergrundstück. Auf einer einsamen Mauer klebte ein riesiges Plakat, das für eine Sexzeitschrift warb.

Das indirekte Licht aus den umliegenden Häusern reichte aus, um die roten und schwarzen Buchstaben auf dem weißgründigen Plakat lesen zu können.

›Erleben Sie den Supersex Ihres Lebens in Explosive, dem Magazin für harte Männer. Sehen Sie sich das Girl an! Ist es nicht fabelhaft?‹ Mit dem Girl war eine vollbusige Schönheit gemeint, die Laughton direkt ins Gesicht zu blicken schien. Ihr Bild nahm zwei Drittel des Riesenplakates ein. Ihr Busen stach spitz hervor. Wäre er dreidimensional gewesen, hätte ein ausgewachsener Mann bequem darauf Platz nehmen können.

Edgar Laughton atmete tief durch und stieg die restlichen Stufen hinauf, betrat einen lichtlosen Gang und klopfte an eine Tür. »Millie?«, fragte er. »Bist du da?«

»Ja, was ist?«, meldete sich sofort eine Stimme. Rauchig, ein wenig verrucht.

»Ich bin's, Edgar.« Er wartete erst gar nicht ihr Komm rein ab und öffnete stattdessen die Tür.

Ein handtuchschmaler Korridor führte direkt in ein Wohnzimmer mit weichen, vornehmen Polstermöbeln. In einer Ecke stand ein breites französisches Bett, darauf hockten Donald Duck und seine Mannschaft in Plüsch.

Millie Shunner liebte Comicfiguren über alles.

Sie saß in einem Sessel und sah beinahe wie eine gepflegte Dame aus. Die Beine weit von sich gestreckt, saß sie neben einer hellen Stehlampe und legte das Magazin auf ihren nackten Bauch, als Laughton erschien. Außer einem knappen BH und Slip trug sie kein weiteres Kleidungsstück.

Sie hatte feste, lange Beine und einen prallen Busen. Millie war als Fotomodell ebenso begehrt wie als Stripperin. Sie hatte viele Freunde – die genau nach Terminbuch kamen. Nur Laughton machte darin eine Ausnahme.

Der durfte kommen, wann immer er wollte. Millie hatte einen Narren an ihm gefressen. Es war ihr noch niemals einer begegnet, der so treu, so doof und so bemitleidenswert gewesen wäre.

»Na, was ist los, mein Lieber?«, fragte sie mit ihrer dunklen Stimme. Damit konnte sie einem Mann einen Schauer über den Rücken jagen.

Millie Shunner fegte das aufgeschlagene Magazin auf den flauschigen Teppichboden, mit dem der Dielenboden ausgelegt war. Sie reckte sich, zog dann die Beine an und richtete sich auf. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig wie die einer Raubkatze. Sie hatte überhaupt etwas Katzenartiges an sich.

Fehlte nur noch, dass sie anfing zu schnurren. Laughton wischte sich über seine schweißnasse Stirn.

»Bist du in Schwierigkeiten? Hat man dich nicht in Ruhegelassen?« Millie Shunner wusste Bescheid. Wenn Laughton so aufgebracht hier auftauchte, dann saß ihm wieder die Angst im Nacken.

Sie erhob sich.

Er seufzte und kam auf sie zu. Sie legte ihre nackten Arme um seinen Hals, drückte ihn an sich und streichelte seinen grauhaarigen Kopf, wie eine Mutter ihr Kind tröstet. »Wo drückt der Schuh? Du zitterst ja am ganzen Körper.«

Laughton schluckte. Er legte seinen Kopf an ihre Wange und schloss die Augen. Millies Nähe tat ihm gut. »Es ist aus, ich fühle es. Ich kann mich nicht länger verbergen.«

»Unsinn«, warf sie ein, ehe er sich näher erklären konnte. Er öffnete die Augen. Sein Blick fiel auf die zusammengefaltete Zeitung auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster. Der Evening Star!

»Hast du das gelesen, Millie?«

Sie wusste im ersten Moment nicht, was er meinte, folgte aber seinem Blick.

»Die Story von dem Höllenhund! Die Sache, die ganz London in Atem hält! Du hast es bestimmt gelesen.«

»Aber natürlich, Eddy.« Sie lachte, bückte sich und griff nach der Zeitung. »Ganz London muss verrückt sein.«

»Nein, Millie, kein Mensch ist verrückt.«

»Das ist doch der dickste Hund, den sich die Schreiberlinge erlauben konnten. Die brauchen mal wieder was Neues. Sensationen werden rar. Die Kriege werden langweilig, Raketenstarts sind zu perfekt geworden, obwohl jeder damit gerechnet hat, dass so eine Blechröhre mal in die Luft geht.« Sie holte weit aus, um ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken.

»Es ist alles wahr, die Geschichte hat sich niemand aus den Fingern gesogen.« Er wankte um den Tisch herum, als würde ihm plötzlich schwindelig, und ließ sich in einen Sessel plumpsen. An der Wand dahinter hingen zwei Bilder. Eine in zarten Farben gehaltene Ansicht der Themse mit der Tower Bridge in Nebelstimmung, und die dunkle Darstellung eines romantischen Schlosses in Schottland. Zwei sehr gute Arbeiten. Beide von Edgar Laughton gemalt.

Laughton war in keinem der zahlreichen Londoner Künstlerbünde Mitglied, denn er war ein Einzelgänger. Als junger Mann hatte er in Paris und New York studiert und war Meisterschüler bei Jean Ruleone gewesen. Laughtons Landschaftsbilder waren von einem magischen Naturalismus, der sofort gefangen nahm.

Doch er verkaufte nur wenig, dachte nicht an den materiellen Gewinn und lebte sein eigenes Leben – zurückgezogen und in sich versunken. Oft malte er wochen- und monatelang kein Bild. Dann packte es ihn plötzlich, und er arbeitete fieberhaft bis zum Exzess. In drei, vier Stunden war dann ein Bild vollendet.

Von Anfang an saß jeder Pinselstrich. Aus seinen Bildern sprach Liebe zur Natur und eine Art von Traurigkeit, die mit Worten nicht zu beschreiben war, die sich aber in Farben und Formen stark ausdrückte.

Millie Shunner war keine große Kunstkennerin. Aber seine Bilder liebte sie. Durch diese war sie auch mit Edgar Laughton bekanntgeworden. Rund zwei Jahre war es her, dass er durch Soho gelaufen war und in den Geschäften und Restaurants einige seiner Bilder angeboten hatte. Er hatte wieder einmal dringend Geld gebraucht. Zwar lebte er nicht auf großem Fuß, aber ohne Miete, Strom und ein Stück Brot kam auch der bescheidenste Mensch nicht aus.

Laughton war in die Bar geraten, in der Millie Shunner als Serviermädchen, Stripperin und Animierdame arbeitete. Sie war nicht das einzige weibliche Wesen, das Butch, der Wirt, angestellt hatte. Aber sie war das sympathischste. Und sie war die einzige Frau gewesen, die sich wirklich für Laughtons Bilder interessiert hatte.

Sie hatte ihn mit auf ihr Zimmer genommen und dort die Themse-Ansicht gekauft. Von diesem Tag an war Laughton immer wieder zu Millie gekommen. Eine seltsame Gemeinsamkeit verband die beiden ungleichen Menschen. Bei Millie bekam er kostenlos manchen Drink und auch mal eine warme Mahlzeit.

»Ich geb' dir einen Drink«, sagte sie besorgt. Sie ging zum Barschrank, nahm eine Ginflasche heraus und musste feststellen, dass sie bis auf einen winzigen Rest geleert war. Millie nahm ein kasackähnliches Kleidungsstück vom Haken hinter der Tür und warf es sich um.

»Ich bin gleich wieder da«, rief sie. »Ich hol' nur rasch eine neue Flasche.«

»Nicht nötig. Bleibe bei mir! Ich möchte mit dir sprechen. Ich mag nicht allein sein.« Seine Augen blickten ängstlich.

»Ein Gin tut dir gut. Lass mich nur machen!« Mit diesen Worten war sie schon aus der Tür und eilte die knarrenden Stufen hinunter. Im Gang brannte kein Licht. Es war finster. Aber Millie kannte hier jeden Fußbreit Boden.

Sie passierte eine Verbindungstür und gelangte in den Flur, der in die Türen zu den Toiletten mündete.

Der Lärm aus der Bar drang an ihr Ohr. Das würde sich beim ersten Auftritt legen. Dann wurde es immer mucksmäuschenstill.

Butch, der Inhaber der Bar, ließ ab halb neun sein Programm laufen. Bis dahin zeigte er einige Sex- und Pornofilme aus Dänemark. Die Streifen wurden als Unterhaltung gern hingenommen. Aber die Besucher waren anspruchsvoller geworden. Nur mit Filmen allein lockte man keinen müden Krieger mehr in eine Bar von Butchs Klasse. Rassige, lebendige Frauen zum Anfassen mussten ran.

Durch den Hintereingang, an der noch leeren Bühne vorbei, erreichte Millie die Theke, hinter der Evelyne bediente. Sie trug einen handbreiten Rock und darüber eine winzige weiße Schürze, bei der man zweimal hingucken musste, um sie überhaupt zu sehen. Evelynes strammer Busen schien den weichen Pullover, den sie zwei Nummern zu eng gekauft hatte, zu sprengen.

»Butch hat schon nach dir gefragt«, meinte sie.

Sie war fast so groß wie Millie. Butch war überzeugt davon, dass er es seinen langbeinigen Girls zu verdanken hatte, dass der Betrieb in der letzten Zeit wieder einigermaßen florierte.

»Ich bin erst ab neun Uhr im Dienst«, entgegnete Millie.

»Butch weiß das.«

»Aber der Laden ist gut besucht. Wir könnten dich gebrauchen.«

»Ich hab' Besuch.«

»Sorry, das hab' ich nicht gewusst.« Evelyne zuckte die Schultern. Sie sah gut aus. Schmollmund, rassiges Gesicht, große, verträumte Augen.

»Ich werd' mich auch nach meinem Auftritt heute Abend rar machen, meine Liebe«, wisperte Millie, während sie aus dem Glasregal hinter der Theke eine Flasche Gordons nahm. »Ich muss mich um jemanden kümmern.«

Evelyne verdrehte die Augen. »Ich ahne Furchtbares. Der verrückte Maler. Ist er wieder da?«

»Ja.«

»Du vergraulst dir die ganzen Kunden mit diesem Kerl.«

»Er braucht meine Hilfe.«

»Er hat 'nen Lütütü, verstehst du?«, meinte Evelyne und bohrte schraubend Daumen und Zeigefinger in ihre Schläfe.

»Immer wenn er 'nen Hammer hat, rennt er dir die Bude ein. Und du bist dann die Trösterin. Mir ginge der auf die Nerven.«

»Mir nicht. Ich mag ihn.«

»Warum eigentlich? Kannst du mir das sagen?«

»Nein, das kann ich nicht. Ich mag ihn einfach, das ist alles. Vielleicht sind es auch meine Mutterinstinkte, die sich hier bemerkbar machen, wer weiß.«

»Mutterinstinkte?«, äffte Evelyne nach. »Lass das ja nicht Butch hören, der kriegt 'nen Nervenzusammenbruch.«

Nach dem dritten Gin wurde Edgar Laughton zugänglicher und erzählte von dem Höllenhund und der Vampirkatze, die er gesehen hatte.

»Vor ihnen bin ich auf der Flucht, verstehst du?«, sagte er mit schwerer Zunge. Er konnte nicht viel Alkohol vertragen. »Sie wollen auch mich haben. Bisher konnte ich ihnen immer ein Schnippchen schlagen. Aber sie haben diesen Fleet erwischt, und sie werden auch mich aufspüren. Verstehst du nun meine Unruhe?«

»Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist niemand hinter dir her.«

»Vielleicht hat mich die Katze gesehen?«, fragte er unvermittelt, als hätte er Millies Bemerkung gar nicht gehört. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Sie war nur darauf aus, in Fleets Krankenzimmer zu kommen.«

Edgar Laughton litt unter Depressionen und Verfolgungswahn. Das wusste Millie schon lange. Aber er war nicht gefährlich. Und stets, wenn er von hier wegging, war er aufgemuntert und guter Dinge. Der geringste Anlass konnte genügen, um ihn in Panikstimmung zu versetzen. Das bewies der Fall mit dem komischen Hund und der Katze, die er im Krankenhaus gesehen hatte. Er glaubte, dass alle Geschehnisse irgendetwas mit ihm zu tun hatten. In allem und jedem Ereignis vermutete er irgendwelche imaginären Feinde.

Sie konnte ihn beruhigen. Der Gin trug dazu bei, seine Gedanken in eine andere Richtung zu bringen und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er nicht gefährdet war.

Mit leeren Augen saß er da und starrte vor sich hin.

Dann musste Millie ihn alleinlassen. Ihr Auftritt stand bevor, aber sie versprach ihm, zwischendurch immer wieder mal hochzukommen. Und wenn er es für richtig hielt, könne er die Nacht hierbleiben.

Edgar Laughton nickte, ohne zugehört zu haben.

Dann war er allein.

Die Lampe brannte, spendete anheimelndes, warmes Licht.

Draußen regnete es ein wenig.

Aber davon spürte man nichts in dem warmen, trockenen Zimmer.

Laughton lehnte sich zurück und ließ den Tag noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren.

Er fühlte sich hier in diesem Raum frei, weniger von Sorge und Angst erfüllt als in seiner Wohnung. Er musste die Wohnung wieder wechseln, er musste umziehen, schoss es ihm durch den Kopf.

Die Zeit tropfte dahin. Eine Stunde verging.

Millie schaute einmal für zehn Minuten zu ihm herein und stellte fest, dass er in der Wärme und durch den Alkoholgenuss schläfrig geworden war.

Doch Laughton wollte sich nicht hinlegen.

Er lehnte sich in seinen Sessel zurück, und als Millie wieder nach unten gegangen war, schaltete er das Radio ein und lauschte der Musik.

Um zweiundzwanzig Uhr brachte BBC Nachrichten.

Laughton dämmerte vor sich hin. Er vernahm die monotone Stimme wie aus weiter Ferne, begriff nicht den Sinn der Sätze, die gesprochen wurden. Doch plötzlich war er hellwach. Der Name James Fleet war gefallen.

»... die Polizei steht weiterhin vor einem Rätsel. James Fleet wurde am Mittag des heutigen Tages beim Verlassen der Untergrundstation am Trafalgar Square von einem mysteriösen Hund angefallen und verletzt. Augenzeugen des Geschehens berichteten, dass es sich bei dem Hund um eine bisher unbekannte Rasse mit einem totenkopfähnlichen Aussehen gehandelt haben soll. Zoologen konnten hierzu keine plausible Erklärung finden. Die Hunderasse ist unbekannt. James Fleet wurde in das Somerset-Hospital eingeliefert, wo die Ärzte hofften, sein Leben zu retten. Ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, ist James Fleet dort gegen acht Uhr verstorben. Der Tod ist durch das Platzen seiner Halsschlagader eingetreten.«

»Das ist nicht wahr!«, rief Laughton, und sein Gesicht lief zornesrot an. Er schaltete mit einer heftigen Bewegung das Radiogerät aus. »Die Katze war's! Sie hat ihm die Schlagader geöffnet, sie hat sein Blut getrunken!« Die Worte sprudelten über seine Lippen, als gelte es, den Nachrichtensprecher zu übertönen und die Wahrheit in die Welt hinauszuschreien. »Eine Vampirkatze hat ihm die Ader geöffnet!«

Er sprang auf, ließ sich jedoch gleich wieder in den Sessel sinken.

»Es ist aus«, sagte er. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass das Fenster und die Tür verschlossen waren. »Sie werden mich holen. Ich kann mich nicht länger verbergen. Die Uhr läuft ab.«

Das große Geheimnis seines Lebens griff nach ihm.

1. Kapitel

Die Sonne ging glutrot über dem Genfer See auf. Der Schein spiegelte sich auf der Wasserfläche, wanderte über die Parkanlagen und die weißen Bungalows, die in dem grünen Landschaftsgürtel verstreut lagen.

Eine Stunde nach Sonnenaufgang war Carminia Brado bereits im Haus tätig. Sie erledigte nicht nur die anfallende Hausarbeit, sondern war auch im Büro tätig.

Björn Hellmark, der junge deutsche Millionär, dessen Leben ein Geheimnis umgab, hätte es sich leisten können, Personal anzustellen. Doch ganz bestimmte Gründe hielten ihn davon ab, dies zu tun. Er wollte und musste in diesem Haus allein sein. Es gab Dinge und Geschehnisse, von denen Außenstehende nichts mitbekommen durften.

Es war nichts Ungesetzliches, was hier geschah. Björn Hellmark war kein Gesetzesbrecher. Ein ungewöhnliches Schicksal hatte ihm ein Geheimnis aufgebürdet, das außer seinem Vater nur Carminia Brado, die rassige Brasilianerin, kannte.

Carminia stellte die Kaffeemaschine an.

Während das Wasser kochte, stellte sie Musik an. Sekunden später durchzogen feurige südamerikanische Rhythmen das Haus. Zum Klang der Rumbarasseln und Trommeln wirbelte Carminia in einem einfachen weißen Hauskleid durch die Wohnung, als käme es darauf an, bei einem Samba-Wettbewerb den ersten Platz zu gewinnen. Sie fuhrwerkte mit dem Staubsauger durch die große Halle und sang die Melodie mit, obwohl diese im Lärm des laufenden Gerätes unterging.

»Diesen Krach kann ja kein Mensch ertragen! Wie soll man da noch schlafen können?!« Die Stimme Björn Hellmarks übertönte den Geräuschpegel von Musik, Staubsauger und Gesang.

Carminia drehte den Kopf flüchtig in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte. Der junge Deutsche stand oben auf der die ganze Halle umlaufenden Galerie, wirkte wie immer so natürlich wie ein großer Junge, den man einfach liebhaben musste, ohne zu wissen, woran das nun lag.

»Was hast du gesagt?«, brüllte Carminia Brado nach oben.

»Ich kann dich so schlecht verstehen.«

»Dann schalte den Staubsauger und die Musik aus. Es ist zu laut hier.«

»Ich kann dich nicht verstehen, Björn. Es ist zu laut hier.« Lachend wirbelte sie weiter über den riesigen Teppich und führte den Staubsauger vor sich her.

Björn verdrehte die Augen. Er schlang den Gürtel seines Morgenmantels enger um die Taille und rannte die Treppen herab, nahm zwei, drei Stufen auf einmal, mit einer federnden Leichtigkeit, so dass man glaubte, er berühre überhaupt nicht den Boden.

Björn Hellmark erreichte die Steckdose und zog den Stecker heraus. Mit einem Jaulen verstummte das Gerät.

Carminia riss die Augen auf. Dann strahlte sie Björn an. »Ich habe schon gedacht, es ist ein Defekt. Es ist nett, dass du so fröhlich aus den Federn steigst.« Die Musik lief noch immer. Björn stellte sie leiser. »Ich bin nicht fröhlich, ich bin verärgert. Dein Krach hat mich aus dem Bett geworfen, um es respektvoll zu sagen.«

Die Brasilianerin sah ihn erstaunt an und machte einen Schmollmund. »Du bist verärgert?«, wunderte sie sich. »Krach? Ich habe Musik gemacht. Außerdem ist es gleich acht Uhr. Um diese Zeit bist du immer wach.«

»Dein Gesang hat mir den Rest gegeben.«

Carminia gab einen leisen Piepser von sich. »Mein Gesang?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Das hat mir noch niemand gesagt, weißt du das?«

»Dann wird es höchste Zeit.«

»Du bist unfair! Jedermann sagt, ich hätte eine silberhelle Stimme.«

»Wer ist jedermann?«

»Oh? Du willst streiten? Du hast schlechte Laune?«

»Bei der Musik ist das kein Wunder.«

»Das ist ein herrlicher Samba! Du weißt, wie sehr ich diese Musik liebe.«

»Du aber hast eine Rumba gesungen.« Carminia Brado legte die Stirn in Falten.

»Ja, eine Rumba!«, fuhr Björn Hellmark fort und strich sich mit der rechten Hand durch sein dichtes blondes Haar. »Und das hat mir den Rest gegeben. Da läuft ein Samba, du singst eine Rumba, und der Staubsauger hat überhaupt keinen Rhythmus. Das bringt ja einen Heiligen in Rage.«

Er schnaufte wie ein Stier und kam mit sich öffnenden und schließenden Fäusten auf die Brasilianerin zu.

»Moment, einen kleinen Moment«, wisperte Carminia und legte den Finger an die Lippen. Sie lauschte. Björns Körper spannte sich sofort.

Was hatte sie gehört?

Er richtete den Blick in die Runde und hielt den Atem an. Dann schaute er auf Carminia.

Sie stand dicht vor der leiser gestellten Musikanlage. Aus den verborgenen Stereoboxen erklang ein Stück im Sambarhythmus.

Carminia wippte mit dem Körper, mit dem Kopf. »Es stimmt. Du hast recht. Das ist tatsächlich ein Samba. Komisch. Aber begonnen hat es mit einer Rumba!«

Björn Hellmark griff blitzartig zu. Carminia aber tauchte eine Zehntelsekunde vorher unter seinen Armen hindurch.

»Na warte, Schoko! Ich kriege dich. Mich an der Nase herumzuführen! Dass der Song eben ein Samba war, habe ich sogar bis oben gehört.«

Er jagte ihr nach.

Flink sprang sie über den Staubsauger hinweg. Ihr Ziel war die Diele, um dort durch eine der zahlreichen Türen in irgendein Zimmer zu verschwinden und sich dort zu verbarrikadieren.

Aber da machte Björn ihr einen Strich durch die Rechnung. Mit zwei schnellen Schritten stand er neben ihr, und ehe sie es sich versah, riss er sie vom Boden hoch und lief mit ihr auf die weitoffenstehende Balkontür zu.

»Du brauchst eine kleine Erfrischung, Schoko. Du bist ja ganz außer Atem.«

»O nein, nicht ins Wasser!« Sie ahnte, dass er sie zum Swimming-pool tragen wollte. Aus diesem Grunde hatte sie schon vorsorglich die andere Richtung als Fluchtweg eingeschlagen.

Sie strampelte und zuckte und trommelte auf seine Schultern. Aber ebenso gut hätte sie gegen eine Betonwand schlagen können. Björn gab nicht nach. Er spazierte bis zum Eingang, drückte mit der einen Schulter gegen einen großen flachen Schalter, und die große Abdeckplatte, die den Swimming-pool vor Verschmutzung schützte, glitt langsam und lautlos zurück.

Björn spazierte auf die Terrasse hinaus, ging zielstrebig auf die sich öffnende Poolabdeckung zu.

»Björn ...«, zeterte die Südamerikanerin. »Nicht ins Wasser! Ich warne dich, ich ...« Björn Hellmark lachte.

»Du, Björn«, flötete sie plötzlich, als er schon am Rande des Beckens stand. »Da rauscht's so merkwürdig. Das Kaffeewasser! Es kocht. Du magst doch deinen Kaffee immer sehr heiß. Bitte, sieh' doch mal nach.«

»Mich stimmst du nicht mehr um«, entgegnete Björn gespielt unnachgiebig.

»Aber sie hat recht«, sagte da die Stimme in seinem Bewusstsein. Das war die Stimme Al Nafuurs.

Es darf nicht wahr sein!, dachte Björn Hellmark, und fast wäre er versucht gewesen, es laut vor sich hinzusagen, doch im letzten Moment fiel ihm ein, dass Carminia ja diesen geistigen Kontakt zu Al Nafuur nicht hören konnte. Der Kontakt fand lautlos und auf telepathische Art und Weise statt.

Das schlägt dem Fass den Boden aus. Du sollst mich vor Gefahren warnen und vor anderen bösen Einflüssen, aber dass dich auch noch mein Kaffeewasser interessiert, das ist die Höhe, Al Nafuur. Kommt doch so ein Geist aus dem Jenseits und will mir einen Ratschlag geben, wie und was ich ... Björn dachte den Gedanken nicht zu Ende.

Er wurde von den Geschehnissen überrumpelt. Plötzlich stolperte er und konnte den Fall nicht mehr auffangen.

Carminia schrie auf, Björn Hellmark zuckte zusammen, als sie beide in das kalte Wasser klatschten.

Die Brasilianerin schwamm sofort mit kräftigen Schwimmstößen davon und lachte. »Wer andern eine Grube gräbt«, rief sie, während sie das Wasser von ihrem Gesicht pustete. »Einfach stolpern und selbst hineinfallen, das hättest du dir nicht träumen lassen, wie?«

Über Björn Hellmark schlug das Wasser zusammen.

Al Nafuur!, dachte er ernst. Das war sein Werk. Björn Hellmark fand keinen Grund, weshalb er ins Straucheln hätte geraten sollen.

Aber wie hatte Al Nafuur das vollbracht?

»Von wegen Geist aus dem Jenseits«, maulte die vertraute Stimme in seinem Bewusstsein. »Und dann noch in abfälliger Bedeutung!« Ein leises Lachen folgte den Worten. »Spaß muss sein, mein Junge. Was wäre das Leben ohne Spaß, nicht wahr?«

Björn tauchte auf. Er prustete. Carminia erreichte eben die andere Seite des Beckens. Ihr dünnes Kleid klebte wie eine zweite Haut an ihr. Ebenso gut hätte sie nackt herumlaufen können.

»Du musst dich umziehen«, rief Björn Hellmark. »Das Kleid ist nass geworden.« Er lachte. Und dann dachte er: Al Nafuur? Wie hast du das angestellt. Vorhin, das Stolpern?

Wieder das leise, ferne Lachen jenes Mannes, dessen Stimme nur er kannte. »Es gibt noch manches, was du nicht von mir weißt. Ich habe eben eine ausgesprochen humorvolle Ader, mein Junge!«

Und noch während die letzten Worte in Björn Hellmarks Bewusstsein verklangen und sich Al Nafuur wieder endlos weit zu entfernen schien, tauchte Björn noch einmal unfreiwillig unter. Es war, als würde ihn eine unsichtbare Hand nach unten drücken.

Beim Frühstück waren sie beide heiter und ausgeglichen.

Björn und Carminia unterhielten sich. Sie sprachen über Professor Bert Merthus, den Sprachwissenschaftler, der die letzten drei Wochen hier im Hause verbracht hatte.

Gestern erst war er abgereist. Zuvor hatte konzentriert mit Björn Hellmark am Text des Buches der Gesetze gearbeitet.

Aber obwohl sie alle Vorkehrungen getroffen hatten, damit böswillige Kräfte sie nicht stören konnten, waren sie nicht viel weitergekommen.

Deshalb hatte Björn vorgeschlagen, die Arbeit an dem Buch eine Zeitlang ruhen zu lassen. Professor Merthus sollte sich nach den harten und anstrengenden Wochen erst einmal eine Pause gönnen.

Der Professor war daraufhin abgereist. Das Buch befand sich jedoch noch im Hause.

In einem Kellerraum seines Bungalows hatte Björn Hellmark eine Art Tresor eingerichtet. Dieser war durch die Dämonenmaske, die er dem Menschenfrosch hatte abspenstig machen können, gesichert.

Zum rechten Zeitpunkt war damit ein Mittel in seiner Hand, mit dem er wirkungsvoll Dämonen von sich fernhalten konnte.

Bert Merthus hatte auch im Buch der Gesetze