Macabros 018: Die Gruft - Dan Shocker - E-Book

Macabros 018: Die Gruft E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bearbeitete Original Romane Gruft der bösen Träume Auf einer mysteriösen Insel sollen sich um Mitternacht die Geister der Tiefsee versammeln, die älter sind als die Menschheit. Cathy und Stan lassen sich nicht aufhalten; sie treten die nächtliche Fahrt zur Insel an und erkennen zu spät, was hinter den Warnungen steckt. Sie finden die Gruft der bösen Träume, und der Alptraum bietet kein Entrinnen. Die Gruft zieht alle in ihren Bann. Unter der Dämonenpeitsche Las Vegas - Synonym für Lebensfreude, Trubel und Laster. Im "Puppet House" treten die begehrtesten Frauen auf. Arbeitet der Manager Mike Harrison mit der Mafia zusammen? So heißt es, doch sein Partner ist noch weitaus mächtiger. Die Mädchen, die sich von ihm lossagen wollen, bekommen das am eigenen Leib zu spüren. Harrison macht seine Drohungen wahr - und verwandelt sie in blutsaugende Fledermäuse. Die Mädchen treten unter der Macht der Dämonenpeitsche auf.

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 18

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-718-4

Dan Shockers Macabros Band 18

DIE GRUFT

Mystery-Thriller

Gruft der bösen Träume

von

Dan Shocker

Prolog

Die kleine Frau legte ihren Arm um die Schultern der Gestalt, die in dem altmodischen und verstaubten Korbsessel saß. »Es wird bald alles gut werden, meine liebe Eliza«, sagte sie mit leiser Stimme. In ihren Augen schimmerte es feucht. Mechanisch stieß sie den Korbsessel immer wieder an. Eliza saß in einem Schaukelstuhl.

Der Raum war kahl und klein, und in einer Nische in der Wand stand eine blakende Öllampe, die ärmliches Licht spendete. »Bald werden wir dein Lachen wieder hören und an deiner Fröhlichkeit teilhaben. Du wirst wieder so sein wie früher.«

Um die Lippen der dunkel gekleideten Frau zuckte es, und das Zucken entwickelte sich zu einem leisen, hoffnungsfrohen Lächeln, das das kleine Gesicht verschönte. »Es wird so sein, als wäre nie etwas geschehen ... aber du musst mir eins versprechen, Eliza: du darfst es nie wieder tun.«

Der Schaukelstuhl wippte nach vorn. Es schien, als ob die schmalbrüstige Gestalt nicke. Auch das flackernde Licht der Öllampe trug zu diesem Eindruck bei. Aber der täuschte. Das ausgetrocknete, uralte Wesen mit dem zerknitterten Gesicht, dem spitzen, verkniffenen Mund und den leblosen Augen konnte weder Antworten geben noch nicken.

Es war schon seit dreißig Jahren tot.

1. Kapitel

»Der Wirt ist zwar ein bisschen komisch, aber das haben alle irischen Wirte an sich, die so einsam leben. Ihr werdet dort euren Spaß haben, darauf könnt ihr euch verlassen. Er kann tolle Geschichten erzählen. Er weiß mehr über Geister und Spukerscheinungen, als jemals in der einschlägigen Literatur gedruckt wurde. Es ist unheimlich dort, in dem Haus am Loop Head. Es ist genau das, was ihr verwöhnten Städter sucht. Ein ziegelgedecktes Haus auf der äußersten Spitze des Kaps. Vor euch das Meer, hinter euch Felsen und im Umkreis von fünfzig Kilometern keine menschliche Siedlung. Ihr werdet ein ganz neues Lebensgefühl kennenlernen. Wir kommen auf alle Fälle und besuchen euch während eures Urlaubs. Wir haben uns das kommende Wochenende dafür vorgenommen. Wir freuen uns, euch nach so langer Zeit wiederzusehen.«

Es war, als vernähme er noch jetzt die Stimme seines Freundes Mogdan am Telefon, der vor ein paar Tagen, als sie noch in London weilten, mit ihnen gesprochen hatte.

Es war ihr erster Urlaub auf der Grünen Insel. In weniger als einer halben Stunde würden sie am Kap sein. Es war schon dunkel. Stan Falkner war den ganzen Nachmittag lang angespannt gefahren, um nicht allzu spät in der Pension einzutreffen, die Mogdan ihnen empfohlen hatte.

Mogdan lebte mit seiner Frau unweit der nordirischen Grenze, hatte durch einen Zufall vor Jahren selbst das Haus am Loop Head entdeckt und war mit seinem Aufenthalt dort sehr zufrieden gewesen. Seiner Auskunft nach zu urteilen, war man dort wirklich allein. So weit abseits war der Massentourismus noch nicht gekommen.

Stan Falkner und seine Freundin Cathy Francis, mit der er seit über drei Jahren zusammenlebte, suchten die Abgeschiedenheit. Das Leben in der Großstadt war aufreibend genug. Es war ihnen nur recht, dass die Geschäfte des Wirts in dem Gasthaus am Loop Head so schlecht gingen. Wenn sie Mogdans Worten Glauben schenken durften, dann würden sie die einzigen Gäste sein.

Der Himmel war klar, und die Sterne funkelten über der kargen, tristen Landschaft. Es war ein kalter Vorfrühlingsabend, aber in dem mausgrauen Ford war es angenehm warm.

Stan Falkner spitzte die Lippen und pfiff leise ein Lied vor sich hin. Er warf einen Blick zur Seite und lächelte. Neben ihm saß die rothaarige Cathy. Sie hatte die Augen geschlossen, und es schien ihm, als ob sie schlief. Ihre Züge waren völlig entspannt, und ihre schöngeschwungenen Lippen schimmerten feucht, so dass er sie am liebsten geküsst hätte. Cathy atmete tief und ruhig.

Aus einem plötzlichen Gefühl heraus löste er seine rechte Hand vom Lenkrad und fuhr mit dem Handrücken leicht über die Wangen seiner hübschen Begleiterin. Cathy Francis schlug die Augen auf.

»Müde?« fragte er leise.

»Mhm, nein. Ich schalte nur ein wenig ab.«

»Wir sind gleich da.«

»Ich freue mich darauf.«

»Dass du mit mir zusammen sein kannst?«

»Erraten!«

»Das verstehe ich nicht.« Er schüttelte den Kopf.

Die Vierundzwanzigjährige sah ihn aus großen, dunklen Augen an. »Was ist daran so schwer zu verstehen?«

»Wir sind Tag für Tag zusammen, Cathy. Schon seit drei Jahren. Ob wir auch mal zusammen Urlaub machen, kann uns da doch ziemlich egal sein.«

»Findest du?«

»Ja, finde ich. Aber genau das ist eben nicht der Fall. Wir freuen uns beide nach wie vor über jede Stunde, die wir gemeinsam verbringen können. Wenn das so weitergeht, heirate ich dich doch noch.« Sie lachten.

»Lassen wir erst noch ein paar Jahre vergehen, Stan. Vielleicht denkst du dann anders. Ich werde älter ...«

»Ich auch. Es ist schön, an deiner Seite alt zu werden.«

Sie benahmen sich wie zwei junge Menschen, die sich gerade kennen und lieben gelernt hatten. Es war alles noch wie am Anfang. Sie schätzten sich, jeder bemühte sich um den anderen. Aber für den Fall, dass sich das einmal änderte, sollte keiner dem anderen einen Stein in den Weg legen. Sie wollten ihr eigenes Leben so führen, wie sie es für richtig hielten. Sie lebten zusammen, weil sie sich liebten – und sie wollten ohne Schwierigkeiten die Verbindung lösen können, wenn das einmal nicht mehr der Fall sein würde.

Ihre Arbeit hatte sie zusammengeführt. Sie malten und zeichneten beide.

Stan lebte mehr schlecht als recht von seinen Bildern. Die Leute wollten nicht viel bezahlen. Cathy hatte sich auf zarte Illustrationen spezialisiert, von denen eine größere Anzahl in einem Buch erschienen war. Gemeinsam hatten sie sich eine phantastische Welt geschaffen, die sie das Fürstenreich Tamaran nannten. Cathy war die Fürstin, er der Fürst, und beide waren Teil jener Welt der Tamaranen. Ihre Untertanen waren Feen und gute Geister, die stark genug waren, um die Feinde zurückzuschlagen, die ihre erdachte Welt erobern und zerstören wollten.

Der Ford fuhr holpernd über die schlechte Straße, die vor ihnen lag. Links und rechts der Fahrbahn erhoben sich verkrüppelte, knorrige Bäume, die schon manchem Sturm getrotzt hatten. Zwischen den Stämmen hockte die undurchdringliche Dunkelheit wie ein urwelthaftes Tier. Der Wind pfiff draußen. Hier oben in den Bergen war es jetzt mehr als unfreundlich.

Noch zwanzig Minuten bis zum Kap.

»Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen, Fürst Stan«, seufzte die rothaarige Cathy, die Schultern anhebend und sich würdevoll zurücklehnend. Sie spielte ihre Rolle als Fürstin recht überzeugend.

»Oh, warum müssen Sie sich über mich beschweren, Fürstin?«

»Ich hatte gehofft, noch vor Einbruch der Dunkelheit das Lustschloss zu erreichen, um dort in meinem fürstlichen Bett der Ruhe und Entspannung zu frönen.«

»Sie dürfen frönen, Fürstin! Niemand wird Sie daran hindern. Allerdings müssen Sie die kleine Verzögerung in Kauf nehmen. Die Straßen sind hier leider nicht in so gutem Zustand wie in Ihrem Reich.«

»Das muss anders werden.«

»Wir werden unseren ganzen Einfluss geltend machen, damit diese Schweinerei aufhört.«

»Fürst!« sagte Cathy Francis entsetzt. »Drücken Sie sich gewählter aus! Sie reden wie ein gewöhnlicher Mensch.«

»Auch ein Fürst ist in gewissen Lebenslagen nur ein Mensch.«

Was für ein Mensch er war, konnte er genau drei Minuten später beweisen, als er fluchte, wie es einem Fürsten von Tamaran nicht geziemte. Der Ford geriet in ein Schlagloch, in dem sich mehrere Steine verschiedener Größe befanden, die spitz und kantig waren. Einer lag so unglücklich, dass er sich mit einem scharfen Ruck in den Reifen bohrte. Pfeifend entwich die Luft.

Zehn Meter hinter der Kurve hielt Stan Falkner. Er konnte unmöglich weiterfahren. Da er keinen Ersatzreifen zur Verfügung hatte, war er gezwungen, das Rad abzunehmen und den Schlauch zu flicken. Das kostete Zeit.

Cathy blieb im Wagen sitzen, und da Stan den Motor abgestellt hatte, griff sie auf den Rücksitz und zog den eleganten Pelzmantel, der zu ihrem kostbarsten Besitz gehörte, über die Schultern.

Dunkelheit und Stille hüllten sie ein. Sie hatte das Gefühl, dass Stan und sie die einzigen Menschen auf der Welt waren, die einzigen Lebewesen weit und breit.

Das täuschte.

Wären ihre Augen schärfer gewesen, hätte sie vielleicht die drei merkwürdigen Gestalten beobachtet, die in der Dunkelheit zwischen den Bäumen und Büschen am Straßenrand lauerten und denen nichts entging. Es waren furchteinflößende Geschöpfe mit hervorquellenden Fischaugen, grüner, schuppiger Haut, stämmigen Beinen und einem hässlichen Fischmaul. In Form und Gestalt unterschieden sich die drei unheimlichen Geschöpfe nur wenig voneinander. Mit kaltem, starrem Blick beobachteten sie die beiden Menschen, die von allem nichts ahnten.

Falkner atmete tief durch, als er endlich fertig war. Er verstaute das Werkzeug im Kofferraum, nahm hinter dem Lenkrad Platz und startete den Ford. Auf schlechter Wegstrecke ging es weiter bis zum höchsten Punkt der Landzunge, die man das Loop Kap oder den Loop Head nannte.

Die dämonenfratzigen Unwesen, die aus einer anderen, unsichtbaren Welt kamen, verfolgten das sich entfernende Fahrzeug mit ihren Blicken. Ein bösartiges Grinsen lag um die schleimigen Mäuler, ein kaltes Glitzern in den Augen.

Die unheimlichen Beobachter schienen genau zu wissen, dass es für das Paar keine Wiederkehr mehr gab. Dass es ins Verderben fuhr ...

Das Wirtshaus lag auf der Spitze des Kaps. Es war einstöckig und hatte ein hohes Dach mit kleinen, eckigen Dachgauben. Einsam und irgendwie verloren lag es zwischen den steil aufragenden und nicht minder steil abfallenden Felsen.

Der Wind pfiff hier oben erstaunlicherweise weniger stark als auf dem letzten Rest der Straße, die sie gefahren waren.

Es war eine wildromantische Gegend, von der sie unter den kaltglitzernden Sternen schon genügend wahrnahmen, um sagen zu können, dass sie ihnen gefiel. Auf der einen Seite war das Grundstück von einer gewaltigen Mauer begrenzt. Hier waren schwere, aus dem Fels gehauene Quadersteine fest aufeinandergefügt und bildeten eine massive Wand, an die sich der baufällige Schuppen schmiegte, in dem allerlei Gerät untergebracht war.

Unmittelbar neben dem Schuppen gab es eine primitive Garage. Diese Garage bestand eigentlich nur aus vier massiven Pfosten, über die ein flaches Dach gebaut war. Unter diesem stand ein uralter Tieflader. Auf den ersten Blick würde man vermuten, dass dieses Fahrzeug aus dem Verkehr gezogen sei. Doch Nummernschild und Zulassungsstempel zeugten davon, dass der Tieflader noch benutzt wurde.

Ein verrostetes Schild hing an klirrenden Ketten über dem Eingang. Loop Head Inn stand in verschnörkelten Buchstaben darauf. Unter dem Namen des Gasthauses, das einst bessere Zeiten erlebt hatte, war das Haus selbst noch einmal in dunkler Farbe gemalt.

An der Seite des Hauses stand ein mit einer Plane abgedecktes Motorrad. Ob die Maschine jüngeren oder älteren Datums war, konnte man nicht erkennen. Die Reifen zumindest, die unter der Abdeckung hervorschauten, schienen in bestem Zustand zu sein.

Cathy Francis verließ das Auto zuerst. Hinter den zugezogenen Vorhängen der Wirtschaft und Pension war anheimelnder Lichtschein zu erkennen. Öllicht, wie sie wenig später feststellten.

Donald Mogdan hatte nicht übertrieben, als er behauptete, dass man im Loop Head Inn das Gefühl hätte, die Zeit wäre stehengeblieben. Es gab keine Musikbox, dafür ein altes verstimmtes Klavier mit vergilbten Tasten. Es gab keinen elektrischen Strom und kein Telefon.

Der Gastraum war urgemütlich: dunkles Holz, getäfelte Wände, ein offener Kamin, in dem Buchenscheite knisterten. Es roch nach Rauch und selbstgebranntem Whisky. Der Wirt war nicht da. Das wunderte sie. Mogdan hatte ausdrücklich erwähnt, dass der Inhaber des Loop Head Inn sie sicher mit seinem Gratis-Drink empfangen würde, wenn sie dort eintrafen. Das gehöre zu seiner Begrüßungszeremonie.

Als sie den dunklen Schankraum betraten, hatten sie zunächst das Gefühl, dass überhaupt niemand anwesend sei. Angenehme Wärme lullte sie ein – und eine Stille, die man schon als unnatürlich bezeichnen konnte.

»Hallo, ist da jemand?« rief Stan Falkner. Seine Stimme dröhnte durch die Stille.

Plötzlich ging eine Hintertür auf. Im gleichen Augenblick nahm Cathy Francis eine Bewegung auf der Treppe wahr. Die junge Künstlerin aus London wandte rasch den Kopf. Es schien ihr, als würde dort oben in der Dunkelheit hinter dem Geländer jemand blitzschnell zurückweichen.

Sie wollte ihren Freund darauf aufmerksam machen, unterließ es dann aber und vergaß es schließlich, weil aus einem Hinterzimmer eine kleine schmale Frau mit grauem Haar und bleichem Gesicht kam.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie sofort und breitete die Arme aus. Ein freundliches Lächeln hellte ihre Miene auf. »Ich heiße Sie herzlich willkommen. Sie sind das Paar aus London, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Stan Falkner.

Die Frau atmete tief durch und reichte jedem die Hand. Sie war eine flinke, sympathische Person und entschuldigte sich erneut, dass sie die Ankunft verpasst hatte. »Ich muss wohl eingeschlafen sein«, sagte sie achselzuckend. »Mir passiert das häufig in der letzten Zeit, wenn ich handarbeite. Um ehrlich zu sein, hatte ich Sie auch früher erwartet. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dass Sie heute überhaupt noch kommen würden.«

»Wir sind aufgehalten worden«, sagte Cathy schnell. »Wir hatten eine Panne.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Zum Glück konnten wir sie selbst beheben. Es war halb so schlimm.«

Cathy und Stan blickten sich um.

Cynthia O'Donell meinte: »Sie haben sicher damit gerechnet, von meinem Mann begrüßt zu werden.« Sie wartete erst gar keine Antwort auf ihre Bemerkung ab, sondern fuhr fort: »Ich muss ihn leider entschuldigen. Er musste heute Abend geschäftlich weg, wissen Sie.« Ihre Worte klangen nicht überzeugend, aber darüber machten sich die beiden Besucher nicht die geringsten Gedanken.

Man kam sofort ins Gespräch. Die Besitzerin erzählte von der Tradition des Hauses und davon, dass sie eigentlich schon lange den Betrieb hatten einstellen wollen. Ein echter Publikumsbetrieb fände schon seit Jahren nicht mehr statt. Sie waren alt und forcierten die Geschäfte nicht mehr. Höchstens zwei oder drei Personen gleichzeitig nähmen sie hier auf. Sie spielten ernsthaft mit dem Gedanken, das Haus zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen.

»Dabei weiß ich nicht mal, ob mir die Stadtluft bekommt.« Die kleine, charmante Frau lächelte gedankenverloren. »Wenn man fünfzig Jahre seines Lebens in der Einsamkeit verbracht hat, wird man menschenscheu.«

Sie zeigte ihnen das Haus. Es war alt und verwinkelt und verbreitete jene Atmosphäre, die eine moderne Wohnung selbst durch den besten Innenarchitekten nie erhielt. Sie sahen die alte Küche, die Wohnräume der O'Donells und gingen kurz hinaus auf die Terrasse, deren Boden aus blankem Felsgestein bestand. Ein rostiges Gitter begrenzte die Terrasse. Dahinter begann die Steilküste. Tief unten gab es eine Bucht.

An den Felsen brachen sich die Wellen. Auf dem steinigen Ufer lagen deutlich erkennbar zwei Ruderboote, die von dem zurückfließenden Wasser nicht mitgerissen werden konnten.

Von der Terrasse aus führte eine steile Treppe nach unten.

Eine wildromantische Landschaft, wie man sie am ehesten noch auf den Bildern alter französischer und holländischer Meister fand. Dass es so etwas auch in Wirklichkeit noch gab, faszinierte das junge Künstlerpaar, und Cathy Francis ertappte sich bei dem Gedanken, dass man doch einmal ganz unverbindlich nachfragen könne, was das Haus hier am Kap kosten solle. Das wäre doch eine ungewöhnliche und romantische Unterkunft. Genau das liebten sie. Mit der kleinen Dreizimmerwohnung in Soho, die sie ihr Fürstenreich getauft hatten, war es nicht weit her. Das hier war ein Palast dagegen ... und was man alles daraus machen konnte! Cathy Francis durfte gar nicht darüber nachdenken; schon ging die Phantasie mit ihr durch. Sie musste unbedingt mit Stan sprechen.

Aber jetzt ging das nicht. Es fiel ihr schwer, den weiteren Ausführungen der Einundsiebzigjährigen zu folgen, die man glatt auf Mitte fünfzig schätzen konnte. Die gute Luft und das ruhige, ausgeglichene Leben hier in der Abgeschiedenheit hatten ihren Einfluss wirken lassen.

Cynthia O'Donell führte sie die Treppe hinauf, um ihnen die Zimmer zu zeigen, die für sie reserviert waren. Sie ging voraus und ließ die Gäste dabei wissen, dass es eine besondere Auszeichnung war, wenn zum Wochenende ein weiteres Paar für zwei Tage hierblieb. Das waren Donald und Sioban Mogdan, die diese Herberge von früher her kannten und Erinnerungen auffrischen wollten.

»Wir sind nicht darauf eingerichtet, mehrere Gäste gleichzeitig zu bewirten«, kam es lebhaft über die Lippen von Cynthia O'Donell. »Wir haben nur fünf Gerichte zur Auswahl, eine Biersorte und eine hausgemachte Whiskysorte – damit kann man keine Ehre einlegen.«

Als sie die oberste Treppenstufe erreichten, wurde Cathy Francis an ihre Beobachtung von vorhin erinnert. »Sind wir im Moment die einzigen Gästehier im Haus, Mrs. O'Donell?« Sie blickte die kleine Frau an, die die Öllampe in der Rechten hielt. Das flackernde Licht ließ das bleiche Gesicht der Wirtin noch heller erscheinen und warf einen vergrößerten, bizarren Schatten ihres Körpers an die Wand.

Diese nickte. »Ja, natürlich. Warum fragen Sie danach, Miss?«

»Nur so eine Routinefrage. Nichts von Bedeutung.« Demnach hatte sie sich also vorhin getäuscht. In einem Haus, wo es keinen elektrischen Strom gab und stattdessen Öllampen verwendet wurden, konnte man schließlich einen Schatten für eine Bewegung halten. Aber darüber sagte sie jetzt nichts mehr.

Cynthia O'Donell zeigte die Zimmer. Da die Wirtin die beiden unterschiedlichen Namen mitgeteilt bekommen hatte, ließ ihre Moral es nicht zu, dem unverheirateten Paar ein Doppelzimmer zur Verfügung zu stellen. Sie hatte zwei hübsche, gemütlich eingerichtete Einzelzimmer gewählt, die direkt nebeneinanderlagen.

Dass die Moral im Loop Head Inn zu untergraben war, bewies die Tatsache, dass es eine Verbindungstür gab, die nicht verschlossen, sondern lediglich mit einem Riegel gesichert war. Cynthia O'Donell wies nicht ausdrücklich darauf hin. Stan und Cathy hatten gute Augen. Das Paar blickte sich kurz an und wechselte ein stilles, einvernehmliches Lächeln.

»Dann werde ich Sie jetzt mal für ein paar Minuten alleinlassen«, sagte die Wirtin fröhlich. »Bis Sie sich frischgemacht und Ihre Koffer ausgepackt haben, bin ich unten in der Küche fertig. Ich nehme an, Sie werden nach der langen Fahrt ordentlich Hunger haben ...«

Weder Stan noch Cathy hatten ans Essen gedacht. Aber jetzt, da Mrs. O'Donell davon sprach, spürten sie, dass sie tatsächlich Appetit hatten. Die letzte Mahlzeit hatten sie um zwei Uhr heute Mittag zu sich genommen. Seitdem waren sie auf Achse.

»Ich habe einen kräftigen Irish Stew zubereitet, nach einem Rezept meiner Mutter. Einen solchen Stew bekommen Sie sonst nirgendwo auf der Insel, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« Mit diesen Worten ging sie.

Kaum dass sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, musste Cathy leise lachen, deutete auf die Zwischentür und fiel Stan um den Hals. Der schlang die Arme um sie. »Sie ist eine wundervolle Frau«, sagte er leise. »Ich könnte ihr stundenlang zuhören. Sie hat eine ganz eigene Art zu erzählen.« Er löste sich von ihr und schob die Öllampe, die Cynthia O'Donell bei ihrem Eintritt angezündet hatte, auf dem Tisch weiter nach hinten, um sie nicht aus Versehen umzustoßen.

Cathy wollte etwas sagen, als sie ein unterdrücktes Knarren hörte.

Das waren nicht die hölzernen Stufen – das war eine Tür.

Unwillkürlich fiel ihr Blick auf die Tür des Zimmers, in das Cynthia O'Donell sie gemeinsam geführt hatte, obwohl es nur ein Bett enthielt.

In dem schummrigen Licht starrte sie auf die Türklinke. Hatte diese Tür eben gequietscht – oder eine andere?

Aber das konnte doch nicht sein!

Cynthia O'Donell hatte das Zimmer verlassen, und ihre Schritte waren deutlich auf der knarrenden Treppe zu hören. Schnell war Cathy an der Tür, zog sie spaltbreit auf und sah die Wirtsfrau mit der Öllampe in der Hand auf der Treppe, die jetzt eine Biegung machte.

Atemlos starrte die junge Zeichnerin in den dunklen, schmalen Korridor.

Außer ihrer eigenen zählte sie sieben Türen, die in den Korridor mündeten. Drei links, drei rechts – die letzte ganz hinten lag ihr genau gegenüber.

Nichts war zu hören, alles blieb ruhig.

Da drückte Cathy die Tür wieder ins Schloss. Im gleichen Augenblick wurde auch die Tür ihr gegenüber im dunklen Schlund des Korridors zugedrückt.

Es war noch jemand im Haus, dessen Anwesenheit Cynthia O'Donell verschwiegen hatte.

Die sichtbare Welt ist vielschichtig. Sie zeigt uns dennoch nur ein Gesicht.

Die unsichtbare Welt unterscheidet sich in ihrer Vielschichtigkeit kaum von der sichtbaren. Nur höchst selten jedoch schauen menschliche Augen in jene andere Seite der Welt. Wenn es geschieht, sind Geister oder kosmische Kräfte am Werk. Wenn es geschieht, kann es Zufall sein, Schicksal oder Absicht.

In einem Teil der unsichtbaren Welt waren Björn Hellmark und Rani Mahay gefangen. Durch eine heimtückische Falle stolperten sie ins Pandämonium, dem Versammlungsort der Geister, kämpften sich durch den Geistersumpf und fanden eine geheimnisvolle Burg. Die Würfel des Schicksals rollten, und sie wurden zu lebendigen Spielfiguren in einem rätselhaften Spiel, das die Götter einst begonnen und das von abtrünnigen, ehrlosen Priestern entwendet und unrechtmäßig weitergespielt worden war.

In diesem Spiel wurde das Schicksal eines auserwählten weisen Volkes entschieden. Durch Mut und Entschlossenheit, aber auch mit jenem Quäntchen Glück, ohne das jedes Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, konnten Hellmark als der Abenteurer Lavan und Rani Mahay als Kapitän der Geistergaleere eine Entscheidung herbeiführen, die ein Volk befreite und geistig wieder freimachte.

Es handelte sich um das Volk der Kaythen, deren Land auf Boden wiedererstand, den einst die Götter mit ihren Füßen berührten. Die Tatsache, dass die gewaltige Insel inmitten des Pandämoniums zu einem Ort des Friedens und der Zuflucht geworden war, konnte in der nahen Zukunft schon entscheidende Bedeutung erhalten.

Molochos, der oberste der schwarzen Priester, der sich zum Führer über eine Legion von Dämonen, bösen Geistern, Monstern und Wiedergängern aufgeschwungen hatte, war zum ersten Mal ernsthaft in seinem Expansionstrieb gestört worden. Durch die Veränderungen im Zentrum des Pandämoniums war das Volk der weisen Kaythen, jener kleinen Menschen, denen die Götter wohlgesinnt waren, neu erwacht, und im Schutz der Insel und der Burg, die einem gigantischen Palast glich, lebten Hellmark und Mahay seitdem. Sie brauchten hier keine Gefahr zu fürchten, aber sie lebten wie in einem goldenen Käfig. Und das behagte ihnen nicht.

Auf sie wartete eine ungelöste Aufgabe. Sie hatten eine Schlacht gegen den Herrn der Dämonen gewonnen – aber nun stellte sich heraus, dass eigentlich der, den sie bekämpft hatten, frohlocken konnte.

Die beiden schärfsten Widersacher, jene Männer, die mit Hilfe geistiger Waffen und abwehrender Dämonenbanner seine Kreise gestört hatten, saßen in einem Bereich der unsichtbaren, vierdimensionalen Welt fest. Von außen her konnten sie keine Hilfe erwarten, denn niemand wusste, wo sie waren.

Am ehesten noch hatte Hellmark damit gerechnet, dass Al Nafuur, der geheimnisvolle Geistführer aus einem Reich zwischen Diesseits und Jenseits, ihm Rat oder Hilfe zukommen ließ. Wieder einmal musste er jedoch die Erfahrung machen, dass der unsichtbare Freund keine Hilfe schicken konnte und nicht in der Lage war, Raum und Zeit zu überbrücken, um Kontakt zu ihm aufzunehmen. Es gab Gesetze, die auch diejenigen nicht übertreten konnten, welche in einem einigermaßen sicheren Zwischenreich als Geister weiter existierten.

Die Rettung konnte nur von innen heraus kommen, aus dem Reich der Kaythen selbst. Es musste ein Tor in die dritte Dimension gefunden werden.

Die Weisen studierten daraufhin die Schriften der Alten. Es gab Anhaltspunkte für eine solche Möglichkeit, doch war die Kraft des auserwählten Volkes noch nicht wieder so weit erstarkt, dass sie die Götter selbst anrufen konnten.

Amana, die letzte der Kaythen-Prinzessinnen, mit den Kenntnissen der weißen Magie erfüllt, glaubte einen Weg gefunden zu haben. Sie war bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Für den Übergang in die andere Dimension, für den sie ihre ganze magische Kraft einsetzen wollte, war alles vorbereitet.

Amana stand vor der dunkelroten Tür, die mit zahllosen fremdartigen Zeichen und Fabelwesen bedeckt war. Schwer ruhte ihre zarte kleine Hand auf der goldfarbenen Klinke.

Aus dem roten Dunkel des Raumes trat wie ein Schatten eine Gestalt.

»Antor«, sagte Amana leise.

Der Weise beriet sie seit langer Zeit und suchte gemeinsam mit ihr nach einem Ausweg, jenen zu helfen, die Beistand benötigten.

»Du bist also fest entschlossen?« fragte Antor, und seine klugen Augen suchten ihren Blick. »Hast du es dir auch genau überlegt?«

»Was gibt es noch zu überlegen, wenn es gilt, Freunden die Freiheit zu schenken?«

»Ist es wirklich die Freiheit?«

Sie presste die Lippen zusammen. »Ich hoffe es. Es gibt Anzeichen dafür, dass alles gutgeht. Etwas muss geschehen. Sie sind hier Gefangene. Sie klagen nicht, aber ich weiß, was in ihnen vorgeht. Nachdem alle anderen Maßnahmen ergebnislos verliefen, gibt es nur noch diesen Weg.«

»Ich weiß. Aber denke auch an dich, Amana!« Antors Worte klangen nicht vorwurfsvoll, eher besorgt.

»Ich tue, was ich tun muss. Hier zähle nicht ich, sondern die Fremden, denen wir die Freiheit verdanken. Was zählt da mein Leben, Antor?«

»Du bist die letzte, die das magische Wissen besitzt.«

»Wenn die Götter uns gnädig gesinnt sind, werden Sie es mir auch erhalten.«

»Eben das wissen wir nicht.«

»Ich muss die Grenze überschreiten – so oder so. Wir stehen in der Schuld jener Männer, nicht sie in unserer. Mein Schicksal bewahrt mich nicht vor dem, was eventuell eintreten kann; ich fürchte mich auch nicht vor dem Tod, wenn die Götter ihn beschlossen haben. Mein Schicksal ist nicht das Schicksal meines Volkes. Das beruhigt mich. Was mich wirklich beunruhigt, Antor, ist etwas anderes. Ich habe bis zu dieser Minute noch keine Klarheit darüber, wie und wo sie in jener Welt ankommen werden, wenn ich den magischen Ritus in Gang setze. Es gibt einen dunklen Punkt, den ich nicht ausleuchten kann. Abgesichert ist, dass sie auf keinen Fall in eine andere Parallelwelt oder in ein Geisterreich gelangen, das von den bösen Mächten beherrscht wird. Doch Molochos, der Dämonenfürst, liegt auf der Lauer. Er wartet auf seine Chance. Und darin liegt meine große Sorge. Der Ritus erfordert, dass diejenigen, an denen er ausgeführt wird, sich in tiefem Schlaf befinden, dass sie den Übergang wie im Traum erleben – und wenn Schlaf und Traum enden, sie in der Tat auch am Ende der Reise sind. Molochos, der sie hasst und vernichten will, kann den Übergang lenken, ohne dass ich das erkennen kann. Das bedrückt mich. Ich vermag nicht den Ort und Zeitpunkt anzugeben, wo die Materialisation erfolgen wird. Das Risiko für unsere Freunde ist groß. Ich muss sie auf die Gefahr aufmerksam machen.«

2. Kapitel

Sie lagen in dem dämmrigen Raum. Aus verborgenen Quellen an den Wänden und der Decke sickerte sanftes, warmes Licht und tauchte alles in einen bernsteinfarbenen Schimmer.

Björn Hellmark und Rani Mahay lagen ausgestreckt auf den breiten, mit dunkelroten Tüchern bezogenen Liegen.

Die beiden Freunde vermochten nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie hierher beordert worden waren und man ihnen zu verstehen gegeben hatte, dass es Amana, der Kaythen-Prinzessin, gelungen war, einen Weg für ihre Rückkehr zu finden.

Amana selbst wollte ihnen alle Einzelheiten mitteilen. Und da kam sie nun. Ihre Füße unter dem weichfließenden, silbern schimmernden Gewand schienen den Boden der in magisches Licht getauchten Halle kaum zu berühren.

Björn Hellmark und Rani Mahay trugen wieder die Kleidung, mit der sie in das Pandämonium gekommen waren. Die Freunde waren zuvor mit kostbar duftenden Essenzen und Ölen eingerieben worden. Dass diese Dinge äußerst selten waren, hatte sich darin gezeigt, dass der Vorrat kaum ausreichte, um ihre Körper ganz zu benetzen.

Diese Vorarbeit, so hatte man ihnen erklärt, sei jedoch dringend erforderlich, um das magische Ritual, das nur Amana durchführen könne, mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg anzugehen. Amana blieb zwischen den beiden Liegen stehen, wandte ihren Blick beim Sprechen einmal Hellmark zu, ein andermal Rani Mahay. Sie wies auf die Gefahr hin.

»Ich wollte euch nicht im unklaren lassen«, beendete sie ihre Ausführungen. »Ihr sollt wissen, worauf ihr euch einlasst. Es ist trotz allem ein guter und aussichtsreicher Weg. Vielleicht erhalte ich während des magischen Rituals noch die Eingebungen, die mir jetzt fehlen, so dass ich das Risiko mildern kann. Aber das ist etwas, das ich euch nicht versprechen kann.«

Björn wandte den Kopf. Die Bewegung fiel ihm schwer. Die Essenzen und wertvollen, wohlriechenden Öle, mit denen sein Körper behandelt worden war, verursachten eine gewisse Schwere, eine Art Betäubung. Er spürte seine Glieder nicht; seine Muskeln waren wie gelähmt. Als er den Kopf drehte, hatte er kein Gefühl dafür. Seine Zunge fühlte sich sogar taub an, als er sprach. »Das Ritual wurde bereits eingeleitet, Amana«, bemerkte er leise. Er glaubte, hier einen gewissen Widerspruch entdeckt zu haben.

»Das hat nichts zu bedeuten, Björn-Lavan«, nannte sie ihn wieder mit dem Namen des Abenteurers. »Es geschah, um die günstigste Zeit auszunutzen und um Zeit zu gewinnen. Entscheidet ihr euch, dass das Ritual nicht durchgeführt wird, so ist nichts verloren. Wollt ihr aber trotz meiner Bedenken die Durchführung, so ist die wichtige Vorarbeit geleistet, und die Atmosphäre, in der die weiße Magie sich zur vollen Wirksamkeit entfalten kann, ist zum denkbar besten Zeitpunkt aufgeladen. Nun überlegt wohl!«

Björn und Rani wechselten einen Blick.

»Du siehst mich so verschleiert an«, konnte sich Hellmark nicht verkneifen zu flachsen.

»Wahrscheinlich hat man mir ein paar Liter der Essenz mehr in die Bindehaut geschüttet als dir«, knurrte der Koloss aus Bhutan, der auf der rotbezogenen Liege wie ein gefällter Riese aussah.

»Hast du schon eine Entscheidung getroffen, Schleiereule?«

»Ich denke noch nach. Hörst du's nicht?«

»Doch, mir war, als hörte ich was. Es hat geklickt. Hoffentlich ist da kein falsches Rädchen in die Brüche gegangen.«

Björn sah Amana an. »Warum hat man sich erst jetzt entschlossen, uns diesen Weg zu nennen, Amana?« Er war ein feinfühliger Mensch und merkte, dass da irgendetwas nicht stimmte.

Amana wich aus. Ihre Worte klangen nicht so überzeugend, als sie davon erzählte, dass man diese Möglichkeit eben nur in Betracht ziehen wolle, wenn sich alles andere als unbrauchbar erwiesen hätte.

»Ist da wirklich nichts anderes, Amana?«

»Nein.«

»Die weiße Magie – du hast es mir selbst gesagt, Amana – wurde dir in die Wiege gelegt. Um sich ihrer zu bedienen, bedarf es gewisser Hilfsmittel, die dir nicht immer in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen.«

»Das hat nichts zu bedeuten, Björn-Lavan. Wo die Mittel fehlen, tritt der Geist in Aktion.«

»Geistige Kräfte zehren an der Psyche und am Körper.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du machst dir unnötige Gedanken«, sagte sie, und diesmal klang ihre Stimme überzeugend.

Er hatte sie durchschaut und würde noch begreifen, was sie riskierte, wenn sie dieses Gespräch fortsetzte und er Gelegenheit bekam, über gewisse Dinge nachzudenken.

»Wie sieht euer Entschluss aus?«

»Ich bin einverstanden«, sagte Rani Mahay. »Wenn sicher ist, dass wir tatsächlich drüben ankommen ...«

»Daran besteht nicht der geringste Zweifel!«

»... dann gibt es keinen Grund, es nicht zu versuchen«, fuhr Mahay fort. Die Stimme des Inders klang belegt. Seine Stimmbänder waren von den betäubenden Präparaten angegriffen.

Die Blicke Hellmarks und Amanas begegneten sich. »Riskieren wir's. Drüben kennen wir uns aus. Wenn Molochos uns tatsächlich über den Weg laufen sollte, werden wir Mittel haben, ihm den Spaziergang zu vermasseln. Führe durch, was du uns vorgeschlagen hast, Amana! Wir haben nichts zu verlieren, aber wir können alles gewinnen, vorausgesetzt, dass wir nicht mitten im Atlantischen Ozean materialisieren. Dann allerdings dürfte es kritisch werden ...«

Amana machte eine kaum merkliche Handbewegung. Aus der Dämmerung näherten sich schattengleiche Gestalten.

Zu Björn und Rani kamen zwei junge Kaythen-Frauen, die grüne Becher in der Hand hielten, die zur Hälfte gefüllt waren. Amana gab das Zeichen. Die Becher wurden dem Deutschen und dem Inder an die Lippen gesetzt, und sie tranken die etwas säuerlich schmeckende Flüssigkeit. Die Mädchen verschwanden, und Amana kam wieder in ihr Blickfeld.

»Ihr werdet nun schnell einschlafen«, sagte sie mit leiser Stimme. Sie versuchte zu lächeln, aber Björn hatte das Empfinden, als ob es ihr nicht recht gelänge. »Ihr werdet noch eine Weile meine Stimme hören. Die Worte, die ihr vernehmt, werden keinen Sinn für euch ergeben. Wirklichkeit und Traum werden sich mischen. Vielleicht werdet ihr den Wunsch haben, euch zu äußern. Es wird euch nicht gelingen; der Trank hält euch in tiefer Umklammerung. Wenn ihr erwacht, werdet ihr nicht mehr hier sein. Ihr werdet auf der anderen Seite der Welt zu euch kommen. Ich wünsche euch von Herzen eine gute Ankunft und möchte mich nochmals für all das bedanken, was ihr an meinem Volk und mir getan habt ... lebt wohl ... ein Wiedersehen ... wird es nicht geben ...«

Wie aus weiter Ferne vernahmen die Freunde die letzten Worte. Der Trank begann zu wirken.

Björn Hellmark fühlte eine wohlige Müdigkeit in seinen Gliedern emporsteigen. Er schwebte zwischen Wachsein und Traum, nahm Schatten und Silben wahr und hatte das Gefühl, auf Wolken zu schweben. Jemand beugte sich über ihn. Er sah ein Gesicht. Amana? Er vermutete es; er wusste es nicht. Sie lächelte ihn an, berührte seine Wangen und flüsterte etwas.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen.

Stimmengemurmel drang wie von weither an seine Ohren. Amanas Bild erlosch und wurde wieder klarer. Er sah sie wie in einem Spiegelkabinett vervielfacht wieder.

Hunderte von Amana-Gesichtern geisterten um ihn.

»Amana ... maii samo laan«, wisperten tausend Amana-Stimmen. Weiche, wohlklingende Worte, die wie eine geheimnisvolle, sphärische Melodie den Äther erfüllten. Und er wurde zu einem Teil dieses Äthers, und die schönen Worte durchdrangen ihn bis tief in sein Inneres.

Er sah Amanas tausend Gesichter vor sich. Qual und Anstrengung verzerrten ihre Miene. Der Schweiß rann in Strömen über ihre Wangen und vermischte sich mit Tränen.

Da ergriff ihn Angst. »Amana!« wollte er schreien. Aber seine Lippen blieben stumm; sein Körper war wie gelähmt. »Was ist geschehen, Amana? Warum weinst du – warum zeichnet Qual dein Antlitz?«

Die Worte aus ihrem Mund wurden schwingender und versetzten die Luft in Bewegung.

Was er nicht sehen konnte, war das, was sich wirklich abspielte. Die Kaythen-Prinzessin kniete mitten in dem dämmrigen Raum. Unablässig sprudelten die Beschwörungsformeln über ihre Lippen. Die Kräfte, die Amana mobilisierte, waren beachtlich, und sie fühlte bereits, wie die Kraft sie verließ. Ihre Glieder begannen zu zittern; kalter Schweiß bedeckte ihre Haut. Ihr Teint war kalkig weiß. Ihr Herz schlug schwach und wurde immer schwächer.

Sie musste die Formeln zu Ende bringen.

Sie durfte das Ritual nicht unterbrechen. Eine zweite Chance, es durchzuführen, gab es nicht.

Ein greller Blitz spaltete die Dämmerung vor ihr.

Er zerriss die Düsternis und die gewölbte Decke über ihr und überflutete die beiden Körper mit gleißender Helligkeit.

Amanas Leib wurde wie von unsichtbarer Hand in die Höhe gerissen. Die Kaythen-Prinzessin blieb stumm. Kein Schrei kam über ihre Lippen, als sich ihr Körper verkrampfte, sich mehrere Male in der Luft drehte und dann zu Boden stürzte, wo sie zuckend liegenblieb. Brüllend stürzte Schwärze auf sie ein und erfüllte ihr Bewusstsein.

Aus, war der letzte Gedanke, der sie durchfuhr. Sie hatte sich überfordert. Sie hoffte nur eins: dass das vollbracht war, was sie sich vorgenommen hatte.

Waren Sekunden oder Ewigkeiten vergangen?

Gefühl für Raum und Zeit waren verloren, als sie plötzlich Bewegung bemerkte.

Jemand beugte sich über sie. Ein vertrautes Gesicht. »Antor?« Amana hörte ihre eigene Stimme. Die klang ruhig und fest.

»Prinzessin!« Freude und Erleichterung schwangen in diesem Wort mit, das Antor über seine Lippen brachte.

»Ich lebe – Antor?« Keine Spur von Schwäche. Sie konnte sich erheben, fühlte sich kräftig und zufrieden und erkannte die vertraute Umgebung wieder, in der sie das magische Ritual durchgeführt hatte.

Der Ritus war über ihre Kräfte gegangen, aber die Mächte, denen sie diente und denen sie sich ganz hingab, hatten sie nicht im Stich gelassen. Die Götter, denen sie vertraute und denen sie ihr Leben hinzugeben bereit gewesen war, erwiesen ihr unendliche Gnade.

»Ich fühle es, Antor«, sagte Amana zufrieden und glücklich, »ich habe die Gabe nicht verloren. Im Gegenteil! Sie wurde gestärkt. Wer bereit ist, viel zu säen – wird noch mehr ernten, Antor ...« Und noch während sie sprach, wandte sie den Kopf zu den rotbezogenen Liegen.

Die waren leer. Björn Hellmark und Rani Mahay, zwei Besucher aus einer anderen Welt, waren wie vom Erdboden verschluckt – so, als hätte es sie nie gegeben.

Die finsteren Mächte, die danach strebten, ihre Herrschaft auch auf der sichtbaren Welt auszubauen, schliefen nie. Molochos und seine Schergen lagen auf der Lauer.

Die Kraft, die Amana in ihr Ritual gelegt hatte, war größer, als sie erwarten konnten. Sie vermochten den Übergang nicht aufzuhalten oder zu verhindern. Doch Molochos mobilisierte Kräfte, die die Elemente in Raum und Zeit beeinflussten.

Er konnte nichts mehr an der Ankunft in jener Welt ändern, der Björn und Rani angehörten. Aber er konnte den Ort bestimmen.

Und das tat er.

Die beiden Freunde merkten von alledem nichts. Tiefer Schlaf umfing sie, der andauerte, als sie ihr Ziel erreicht hatten.

Es war ihre erste Nacht im Loop Head Inn. Die Verbindungstür stand offen.

Cathy Francis und Stan Falkner machten sich einen Spaß daraus, in der Tat getrennt zu schlafen. Cathy fand, dass dies einmal ein ganz neues Urlaubsgefühl sei und man die freiwillige Abstinenz genießen müsse. Sie lagen noch lange wach und unterhielten sich leise. Im Haus war es still.

Sie merkten beide nicht, wie sie einschliefen. Cathy glaubte, es wäre schon Morgen, als sie unten vor dem Haus ein Geräusch vernahm. Räder rollten knirschend über harten Untergrund. Aus weiter Ferne vernahm sie das gleichmäßige Knattern eines Motorrades. Das Geräusch verebbte in der Ferne. Später vermochte sie nicht mehr zu sagen, ob sie das Motorengeräusch wirklich vernommen oder nur davon geträumt hatte.

Sie standen auf, als die Sonne durch die Fenster schien. Strahlendblauer Himmel breitete sich über dem Kap aus. Der Wind säuselte sanft. Die Luft war noch kalt.

Sie hatten vortrefflich geschlafen.

Es war neun Uhr, als sie gemeinsam nach unten gingen. Der Frühstückstisch war schon gedeckt. Es roch nach Tee, frischem, selbstgebackenem Brot, nach Eiern und Speck. An einem Tisch, auf dem eine rotweiß karierte Decke lag, nahmen sie Platz.

Cynthia O'Donell trug ein dunkelblaues Kleid mit Spitzenkragen. Sie grüßte freundlich, war bestens aufgelegt und schleppte auf einem großen Holztablett alles heran, was das Herz begehrte.

»Mein Mann wird um die Mittagsstunde zurück sein, hoffe ich jedenfalls«, erwiderte sie auf eine diesbezügliche Frage Stan Falkners. »Versprochen hat er's zumindest.«

Sie frühstückten eine Stunde lang. Es war halb elf, als sie das Haus verließen. Da erst tauchte Cynthia O'Donell wieder aus der Küche auf, in der sie die ganze Zeit hantiert hatte.

»Wir sehen uns die Gegend ein wenig an«, verabschiedeten sich Stan und Cathy wenig später. Sie gingen ums Haus herum. Cathys Blick lag auf der Hauswand, der offenen Garage gegenüber, und sie stellte fest, dass das Motorrad nicht mehr da war.

»Komisch«, sagte sie nur.