Macabros 055: Der Schattenmann - Dan Shocker - E-Book

Macabros 055: Der Schattenmann E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Flieh, wenn der Schattenmann kommt Mrs Kelling wirft nur einen Blick aus dem Fenster … und plötzlich wächst ein Schatten über die Fensterbank hinweg! Zweidimensional, keine Gestalt aus Fleisch und Blut. Dennoch - zum Schreien kommt sie nicht mehr … Kurze Zeit später ereignet sich Unheimliches in Manhattan. Ein Zeuge behauptet, einen Menschen gesehen zu haben, der nur ein Schatten war. Björn Hellmark verlässt die unsichtbare Insel Marlos, als er von den haarsträubenden Geschehnissen hört. Steckt Rha-Ta-N my hinter der Mord-Serie, die die Polizei in Atem hält? Giftstachel des Skorpion-Dämons Ein Weltenbummler hat eine entsetzliche Begegnung: In einer Hotel-Suite trifft er einen Mann, aus dessen Stirn ein Skorpion wächst! Und in diesem Hotel haben auch Björn und Carminia ihre Zelte aufgeschlagen. Sie werden in entsetzliche Ereignisse hineingezogen. Der Giftstachel des Skorpion-Dämons ist tödlich, und er zielt auf Hellmark …

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 55

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-755-9

Dan Shockers Macabros Band 55

DER SCHATTENMANN

Mystery-Thriller

Flieh, wenn der Schattenmann kommt

von

Dan Shocker

Prolog

»Ich weiß nicht, warum es mich immer wieder hierher zieht«, sagte der Mann. Er saß an einem Ecktisch, von dem aus er das kleine Lokal überblicken konnte. Es war noch früh am Abend. Nur wenige Gäste waren anwesend. Aus der Küche drang der Geruch von Olivenöl und gebackenem Fisch. Im Akropolis gab es die besten Fischspezialitäten.

Der Sprecher zuckte die Achseln und blickte den Gast am Nachbartisch, mit dem er ins Gespräch gekommen war, abwesend an. »Vielleicht ist es die fremde Mentalität, die sich diese Leute erhalten haben, obwohl sie schon so lange in diesem Land leben. Sie sind keine Amerikaner geworden, sondern Griechen geblieben. Und das Land und die Lebensart der Griechen war seit jeher etwas Besonderes. Wenn man von Griechenland spricht, muss man an die Irrfahrten des Odysseus denken, an die Götter und Halbgötter, an Zeus, Herkules, Apollo.«

Der andere, der zuhörte, begann zu grinsen. Er musterte den alten Mann mit dem grauen Haar und dem grauen Bart. Der Alte schien nicht mehr ganz richtig im Kopf zu sein. Er träumte mit offenen Augen.

»Ich muss an so etwas nicht denken«, bemerkte der Gast am Nebentisch. »Griechenland, das ist für mich Sonne, rassige Frauen, Wein, Tanz und Musik. Der Standpunkt richtet sich immer nach dem Alter.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Das hat gar nichts damit zu tun. Auf die Seele und die Lebensart eines Menschen kommt es an, wie er denkt und empfindet. Auch ich liebe das Meer, die Sonne, die Inseln, den rassigen Wein, die Frauen.«

»Na, na, Alterchen!«, warnte der Junge am Nebentisch und hob mahnend den Zeigefinger. »Ich dachte, wenn man so viele Geburtstage hinter sich gebracht hat, ist man jenseits von Gut und Böse.«

»Aber alles zusammen genossen ergibt erst ein vollständiges Bild«, fuhr der alte Mann fort. Er schien die Erwiderung des Jüngeren nicht mitbekommen zu haben. »Die Vergangenheit und die Gegenwart gehören zusammen. Es gab die Götter, glauben Sie mir«, sagte er plötzlich erregt, und seine Augen glänzten wie im Fieber. »Die alten Mythen, das sind nicht bloß Geschichten, die jemand erfunden hat. In ihnen steckt sehr viel Wahrheit, auch wenn es uns Heutigen so schwer fallen will, sie noch zu erkennen. Die Götter wandelten einst auf der Erde. Sie ließen sich mit den Sterblichen ein, zeugten Kinder. Und wenn sie zürnten, dann spielten sie Schicksal, dann wurden die Menschen zu ihren Schachfiguren, schleuderten sie Blitze gegen sie. So.«

Der alte Mann, den der junge Mann am Nebentisch weit jenseits der Siebzig schätzte, sprang plötzlich auf, als hätte ihn eine Tarantel gebissen. Er riss die Augen auf und schien etwas zu sehen, was sein jüngerer Gesprächspartner nicht wahrnahm.

Peter Tail fand das Verhalten des alten Mannes skurril. In theatralischer Gestik stand er da, mit geschwollener Brust, den rechten Arm nach vorn gestreckt, der Bedienung entgegen, die sich in diesem Moment von der Theke löste, ein Tablett mit Gläsern in der Hand.

Aus den gespreizten Fingern des Alten schoss ein Blitz. Er war schwarz, löste sich aus Daumen, Zeige- und Mittelfinger gleichzeitig und spaltete sich auf.

Das Tablett mit den Gläsern wackelte, als würde der Sturm hineinfahren. Das Mädchen schrie unwillkürlich auf. Die Gläser hüpften von der Unterlage, sie waren nicht mehr zu halten! Etwas Unsichtbares riss der Bedienung das Tablett aus der Hand. Es flog im hohen Bogen durch die Luft, klatschte gegen die Seitenwand, und die anwesenden Gäste duckten sich vor den herumspritzenden Scherben.

Nina, die junge Griechin, stand da wie erstarrt ... und mit schreckgeweiteten Augen. Etwas Schwarzes glitt blitzschnell über ihren Körper und sah aus wie ein großer Schatten, der die Form eines Armes, einer Hand hatte. Die Schattenhand legte sich um Ninas weißen Hals. Unter dem Würgegriff wankte die Bedienung zurück, fiel gegen die Theke und kämpfte verzweifelt gegen die schwarze Hand, die sie nicht fassen konnte, die nicht dreidimensional, sondern nur zweidimensional war, eine schwarze, unangreifbare Fläche, die sie zu Boden zwang.

Nina röchelte, ihr Gesicht verfärbte sich. Der Wirt kam um die Theke herum, ein Gast, der in unmittelbarer Nähe das Drama erlebte, stürzte sich auf das Mädchen, um ihm zu helfen. Gast und Wirt rissen an der Schattenhand, konnten sie jedoch nicht fassen.

Der Alte mit dem grauen Bart stand noch immer da mit ausgestrecktem Arm und versteinertem Gesicht, in dem die Augen wie Kohlen glühten. Dann brach er mit einem dumpfen Laut zusammen.

Im gleichen Augenblick fühlte sich das Mädchen befreit. Es konnte wieder durchatmen und griff mit zitternder Hand an seine Kehle.

»Was ... war das?«, fragte Nina tonlos. In ihren Augen war die Angst zu lesen, die so schnell nicht verging. Sie kam zitternd auf die Beine und wurde von dem Gast und dem besorgten Wirt, einem kleinen, dicken Mann, gestützt.

Sie hatten es alle gesehen. Da hatte sich eine würgende Schattenhand um ihren Hals gelegt, für die niemand eine Erklärung hatte.

»Der Alte ... er hat es ausgelöst, er hat irgendetwas damit zu tun«, sagte eine aufgeregt klingende Stimme hinter ihnen.

Nina erholte sich ebenso schnell von dem Schrecken wieder, wie sie von ihm gepackt worden war.

Peter Tail, ein junger stellungsloser Schauspieler, hockte am Boden neben dem reglosen Fremden.

»Ich hab alles gesehen«, berichtete Tail. »Aber ich kann es nicht glauben. Aus seinen Fingern sind schwarze Blitze geschossen. Sie haben die Gestalt eines Armes und einer Hand angenommen. Es sah gerade so aus, als wäre der Schatten seine verlängerte Hand.«

Die zierliche Griechin trat verwirrt näher. »Aber wenn es so war: Warum wollte er mich töten? Ich kenne ihn doch gar nicht.« Ihre Stimme klang noch immer belegt. Der Hals schmerzte, und die junge Frau war weiß wie ein Leichentuch.

Insgesamt sieben Personen waren in dem Lokal mit einem Mysterium konfrontiert worden, für das niemand eine Erklärung besaß.

In den ersten Minuten nach dem geheimnisvollen Geschehen kam es nun darauf an, sich um den Zusammengebrochenen zu kümmern. Vielleicht hatte der Alte eine Erklärung für alles.

Peter Tail musste an das merkwürdige Gefasel denken, das kurz vor Beginn der Ereignisse über die Lippen des grauhaarigen Mannes gekommen war. Der Fremde glaubte fest an die Mythen und die Macht der Götter des antiken Griechenland. Welch absurde Idee!

Als er den Arm ausstreckte, wollte er etwas demonstrieren. Im ersten Augenblick hielt Peter Tail alles für eine theatralische Geste. Doch im nächsten Moment begann etwas Unheilvolles.

Verstand sich der Alte auf Hypnose oder beherrschte er erstaunliche Zauberkunststücke? Auf diese Frage konnte nur er selbst eine Antwort geben. Aber im Moment war er nicht in der Lage dazu. Gehörte dieser Zusammenbruch auch zu seiner Darbietung?

Tail hatte schon von übersinnlichen Phänomenen gehört. Vielleicht war auch das im Spiel, eine überschießende Kraft, die dem Mädchen Tablett und Gläser aus der Hand wischte. Aber das erklärte noch lange nicht den Angriff auf ihr Leben.

Alles war sehr rätselhaft. Und das verstärkte sich noch, als sie feststellten, dass die Ohnmacht nicht nur gespielt war.

Die Glieder des Alten fühlten sich eiskalt an. Seine Haut war bleich, und eine dünne Schicht kalten Schweißes stand darauf. Sein Atem ging flach, sein Puls war kaum zu fühlen. Der Zustand des Mannes gab zur Besorgnis Anlass.

In fliegender Hast knöpfte Tail die Hemdknöpfe des Mannes auf, um ihm Luft zu verschaffen. Der Wirt brachte ein Glas des schärfsten Metaxas, den er im Lokal hatte.

Der grauhaarige alte Mann konnte nicht schlucken. Der Weinbrand lief ihm die Mundwinkel herunter. Es nutzte nichts, ihn anzurufen und zu schütteln. Er reagierte nicht, er lag in tiefer Bewusstlosigkeit.

Tail hielt Daumen und Zeigefinger unablässig am Puls des Mannes.

»Rufen Sie einen Arzt, schnell!«, forderte der Schauspieler den Wirt auf. »Der Mann stirbt.«

Ein alarmierter Arzt, der nur wenige Schritte von dem Spezialitätenrestaurant entfernt seine Praxis unterhielt, konnte ebenfalls nichts tun. Er verlangte die sofortige Einweisung des Zusammengebrochenen in ein Hospital.

Man hatte inzwischen die Taschen des Ohnmächtigen durchsucht. Er trug eine Geldbörse und eine Brieftasche bei sich, in der der Arzt außer den Ausweispapieren einen Hinweis auf eine eventuelle außergewöhnliche Erkrankung des Mannes zu finden hoffte. War er Diabetiker? Dann musste man mit einem Schockzustand rechnen. Vielleicht eine seltenere Erkrankung, die ihn von Fall zu Fall in tiefe Bewusstlosigkeit stürzte?

Außer den Papieren gab es keinerlei Hinweise auf den Fremden. Er hieß Shawn Addams, war achtundsiebzig Jahre alt und wohnte im New Yorker Stadtteil Greenwich Village, in dem hauptsächlich Maler, Künstler und solche, die es zu sein glaubten und auf Bohemien machten, zu Hause waren.

Dann traf der angeforderte Krankenwagen ein. Addams wurde auf die Bahre gelegt und auf dem schnellsten Weg abtransportiert. Man brachte ihn ins St. Vincent's Hospital.

Der Zustand des Patienten ließ sich nicht beeinflussen. Herz und Kreislauf anregende Mittel zeigten keine Wirkung. Ein Schnelltest erbrachte, dass die Blutzuckerwerte des Mannes normal waren. Auch als Folge übermäßigen Alkoholgenusses war der Zusammenbruch nicht zu erklären. Die Alkoholmenge, die Addams zu sich genommen hatte, war minimal. Organisch fanden die Ärzte nichts, was den lebensbedrohlichen Zustand des Alten begründet hätte.

Er wurde auf die Intensivstation gebracht, an sauerstoff- und funktionsüberwachende Geräte angeschlossen. Der Herzschlag verlangsamte sich weiter, obwohl massiver Medikamenteneinsatz erfolgte. Shawn Addams schwebte auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Die behandelnden Ärzte erwarteten jede Minute sein Ableben. Aber dann blieb sein Herzschlag konstant, in einer geringen Geschwindigkeit allerdings, die gleichbedeutend war mit dem Tod. Shawn Addams' Herz schlug nur noch einmal in der Minute, und das war zu wenig, um die Lebensfunktionen der Organe und vor allem des Hirns aufrecht zu erhalten.

Dr. Stan Bogart, der Stationsarzt, hätte normalerweise um sieben das Hospital verlassen, um nach Hause zu fahren. An diesem Abend rief er jedoch seine Frau an und teilte ihr mit, dass er die Nacht wahrscheinlich im Krankenhaus bleiben werde. »Tut mir leid, Darling! Aber besondere Umstände zwingen mich dazu, hierzubleiben.«

»Aber Stan!«, klang es enttäuscht aus dem Hörer. »Wir sind bei den Georgens eingeladen. Sie haben alles vorbereitet. Hast du das vergessen?«

»Natürlich nicht, Darling.« Bogart fuhr sich wie abwesend durch das gewellte, dunkelblonde Haar. »Ich versuche auch mein möglichstes, um noch zu kommen, aber ich kann es nicht versprechen, verstehst du?«

»Nein, das verstehe ich nicht, Stan. Was hält dich denn so Wichtiges?«

»Ein außergewöhnlicher Fall, Brenda.«

»Kann den nicht der Notdienst überwachen? Musst du da unbedingt anwesend sein?«

»Ja. Es hat etwas mit meinen Forschungen zu tun, Brenda. Der Mann liegt in tiefer Bewusstlosigkeit. Ob er je wieder zu sich kommt, ist zu bezweifeln.«

»Dann verstehe ich nicht, was das mit deinen Forschungen zu tun hat. Nur einer, der über das sprechen kann, was er möglicherweise drüben gesehen und erlebt hat, ist wichtig für dich. Wenn der Patient aber keine Chance mehr hat, noch mal aufzuwachen ...«

»Das ist genau das, was ich nicht weiß, Brenda. Sein ganzer Fall ist rätselhaft. Es gibt keinen plausiblen Grund für seinen Zustand. Der Mann ist organisch vollkommen gesund, dennoch ringt er mit dem Tod. Alle Körperabläufe sind auf ein unerträgliches Minimum abgesenkt. Der Mann ist mehr tot als lebendig, er atmet nur noch zwei Mal in der Minute. Ebenso plötzlich und unerklärlich kann es sich wieder ins Gegenteil verkehren. Wir wissen heute vieles, Brenda, aber noch nicht alles. Der menschliche Organismus stellt uns immer wieder vor neue Rätsel. Und ich setze mich dafür ein, etwas vom Zipfel dieses Geheimnisses zu lüften. Ob es mir gelingt, bleibt dahin gestellt. Fahr zu den Georgens, Brenda.«

»Stan – doch nicht allein.«

»Doch, wenn es sein muss, auch allein. Auf meine Gesellschaft werden sie heute Abend verzichten müssen. Das tut mir aufrichtig leid. Aber als wir die Zusage machten, konnte ich diesen Fall nicht vorausahnen. In jeder anderen Situation, Brenda, würde ich einen Kollegen bitten, das weißt du.«

Brenda Bogart seufzte. »Ja, das weiß ich.«

»Aber hier kann ich keinen Kompromiss eingehen. Es geht um etwas ganz Persönliches. Ich fühle, dass es mit diesem Mann etwas Außergewöhnliches auf sich hat. Wenn du mich allerdings danach fragst, was es ist, kann ich es dir nicht begründen.«

»Okay, Stan, es ist mir zwar nicht recht, aber ich hab Verständnis dafür.«

»Danke. Das ist der Grund, weshalb ich dich liebe.«

»Auch ich liebe dich, Stan.«

Bogart verabschiedete sich und legte auf. Er wirkte nachdenklich und müde und kämpfte gegen die Zweifel, die in ihm aufstiegen. Er wäre an diesem Abend lieber mit seiner jungen Frau ausgegangen. Sie waren seit zwei Jahren verheiratet und Brenda musste wegen seines Berufes und vor allem wegen der Besonderheiten seines Hobbys oft zurückstecken.

Bogarts Hobby war die Erforschung des Todes. Gerade in letzter Zeit gab es sehr viele, die versuchten, das Tor in die Dunkelheit aufzustoßen und die Rätsel zu lösen, die die Menschheit seit Beginn ihrer Existenz beschäftigten.

Was geschah wirklich im Augenblick des Todes? Von Betroffenen, die bereits klinisch tot gewesen waren und wieder ins Leben zurückgerufen wurden, gab es erstaunlicherweise übereinstimmende Berichte, die ihn nachdenklich werden ließen.

Unwillkürlich musste er an den Fall eines Mannes denken, der vor fünf Tagen eingeliefert worden war. Während einer Party war der Betreffende plötzlich zusammengebrochen. Mit allen Anzeichen eines Herzinfarktes wurde er ins Krankenhaus geschafft. Das Herz des Mannes hatte ausgesetzt, während der Fahrt versuchte ein Notarzt, durch Massage den Muskel wieder anzuregen. Zwei Minuten dauerte der Zustand des Todes. Dann setzte die Herztätigkeit wieder ein.

Bogart war dabei, als der Mann wieder zu sich kam. Das Erste, was sie als Ärzte zu hören bekamen, war die gehauchte Bemerkung: »Warum – warum habt ihr das getan?«

Der Mann war darüber, dass man ihn gerettet hatte, alles andere als glücklich.

Ich wäre gern drüben geblieben, erinnerte Stan Bogart sich an die Worte. Sie klangen in ihm nach, während er durch den weiß gekachelten Gang Richtung Intensivstation lief, um den Neuen noch mal zu beobachten. Ich habe alles mitbekommen. Die ganze Aufregung, die Schreie der Menschen, die sahen, wie ich zusammenbrach. Ich ging durch einen Tunnel, der am Ende hell erstrahlte, und von dem Licht wurde ich beinahe magnetisch angezogen. Ich fühlte mich seltsam leicht und beschwingt. Ja, ich glaube, ich schwebte sogar. Es war wunderbar. Ich merkte, dass in dem Licht vor mir Personen standen, die mir zuwinkten. Bekannte, Freunde, Verwandte. Ich sah die Menschen wieder, die bereits gestorben waren. In dieses unendliche, unbeschreibliche Glücksgefühl hinein mischte sich plötzlich ein furchtbarer, alles durchdringender Schmerz.

Es war der Augenblick, in dem das Herz des klinisch Toten wieder zu schlagen begann. Er wurde ins Leben zurückgeholt. Und das beschrieb er als eine Gewalttätigkeit. Wie von riesigen Händen sei er gepackt und zurückgerissen worden. Aus einer angenehmen Geborgenheit, einer Atmosphäre der Harmonie, der Stille und des Friedens sei er hineingestoßen worden in eine abstoßende Helligkeit und Kälte, die ihm geradezu körperliche Schmerzen verursacht habe.

Andere, die zurückgeholt worden waren, äußerten sich ähnlich. Auch sie wussten von dem Tunnel, von dem Licht am Ende des Weges und jenem unvergleichlichen, unirdischen Frieden zu berichten, den sie empfunden hatten.

Bogart sammelte solche Fälle und hielt auch Kontakt zu jenen Menschen, die über ihre Todeserlebnisse berichtet hatten. Alle, die aus dem Jenseits zurückgekehrt waren, hatten ihr Leben von Grund auf verändert. Sie lebten bewusster, nicht mehr so hektisch, engagierten sich oft in sozialen Institutionen. Der Tod schreckte diese Menschen nicht mehr. Sie hatten ihn erfahren, im wahrsten Sinn des Wortes, und schienen auf den Tag zu warten, da ihr irdisches Leben zu Ende ging.

War das, was da geschah, wirklich eine Erfahrung und eine Begegnung mit dem Jenseits, dem geistigen Bereich des Lebens oder beruhte alles nur auf Einbildung, Trugbildern, die der Sterbende empfing?

Es gab Mediziner, die behaupteten, dass bestimmte Stoffe im Sterbenden frei gesetzt würden, um den Sterbevorgang zu erleichtern. Diese Substanzen bewirkten Halluzinationen.

Bogart wollte diese Widersprüche klären, wollte wissen, was hinter dem Leben und Sterben wirklich steckte. Das, was er bis jetzt darüber wusste, was er auf der Universität und in der praktischen Arbeit gelernt hatte, genügte ihm nicht.

Da war dieser Neue, Shawn Addams. Etwas stimmte nicht mit diesem Mann. Bogart fand, dass es der ungewöhnlichste Mensch war, dem er je begegnet war. Dabei kannte er ihn kaum. Es war das, was mit ihm geschehen war, und ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte.

Der Arzt betrat das Einzelzimmer, in dem die Pumpe leise und rhythmisch zischte, um dem Patienten das Atmen zu erleichtern. Bleich und in Lethargie lag Shawn Addams in seinem Bett. Er hatte die Augen geschlossen, der mächtige graue Bart umrahmte sein Gesicht, das nicht minder graue Haar fiel ihm leicht in die Stirn.

Addams bewegte die Lippen!

Im ersten Moment hielt Bogart dies für eine Sinnestäuschung. Rasch trat er näher und musste feststellen, dass seine Wahrnehmung stimmte. Der Ohnmächtige schien zu sich zu kommen, wollte sich mitteilen!

Mit raschem Blick auf die Instrumentenanzeigen und den Oszillographen wollte sich Bogart einen objektiven Eindruck vom Zustand des Eingelieferten machen. Die Werte waren unverändert.

Aber in Addams' Verhalten war eine Veränderung erkennbar. Die Lippen öffneten sich leicht, der Zeigefinger der rechten Hand zuckte.

Addams wollte mit dieser Geste etwas andeuten. Obwohl nur einmal pro Minute ein Herzschlag erfolgte und er nur zweimal in diesen sechzig Sekunden atmete, war die Erregung zu spüren, die von ihm ausging. Die schnellen Bewegungen der Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern ließen den Schluss zu, dass Shawn Addams träumte. Er sah etwas, erlebte mit allen Fasern seines Körpers etwas mit, das ihn intensiv beschäftigte.

Dr. Stan Bogart hätte zu gerne gewusst, was es war, was dieser Mann im Traum sah. Vielleicht erlebte er auch in diesen Sekunden den Übergang in die andere Welt: in das Reich des Jenseits.

1. Kapitel

Shawn Addams blickte an sich herunter.

Im ersten Moment wusste er nicht, wo er sich befand und wie viel Zeit vergangen war. Er trug eine blaue, abgewetzte Hose, einen beigefarbenen Pullover und einen Rucksack. Er war von Bergen umgeben, über die sich ein blassblauer Himmel spannte. Totenstille herrschte ringsum, weit und breit war kein Mensch, keine Siedlung. Addams hatte das Gefühl, das einzige Lebewesen auf der Insel zu sein.

Die Insel lag rund zwanzig Meilen vom Festland entfernt, war bergig und bewaldet, ein kleines Eiland, das unbewohnt war. Im Volksmund wurde dieser winzige Fleck Erde nur Insel der Götterwesen genannt. Sie war so klein, dass sie auf keiner Landkarte verzeichnet war.

Diese Insel, so erzählte man, spiele auch in der Odyssee und der griechischen Mythologie eine Rolle. Die Götter und Halbgötter sollten sich in grauer Vorzeit hier zu nächtlicher Stunde getroffen und wilde Feste gefeiert haben.

Die griechische Mythologie spielte in Shawn Addams' Leben eine große Rolle. Schon als Junge las er die Irrfahrten des Odysseus, liebte Sagen und Märchen über alles und verkroch sich in eine stille Ecke, sobald er ein Abenteuerbuch entdeckt hatte, das er noch nicht kannte.

Was war es, das ihn an diesen ungewöhnlichen Dingen so reizte? Er träumte stundenlang von den merkwürdigsten Lebewesen, stellte sie sich im Geist bildlich vor und wünschte sich mehr als einmal, jene Wesen zu sehen, zu beobachten, wie sie lebten und was sie taten.

Er sparte sich Geld zusammen, und als er dreiundzwanzig war, finanzierte er aus seinen Ersparnissen eine Reise nach Griechenland. Er sah die großen Städte und die kleinen verträumten Dörfer, suchte die weltberühmten Sehenswürdigkeiten auf und schloss Freundschaften mit Menschen, die sich in der griechischen Geschichte und Mythologie auskannten.

Aus einem Bildungsurlaub in Griechenland wurde ein Aufenthalt von fünf Jahren. In dieser Zeit lernte er jene Orte und Stellen kennen, die nicht unbedingt in den großen Büchern über die außergewöhnliche und ihn faszinierende Göttergeschichte genannt wurden.

Er erfuhr immer noch neue Dinge, über die kein Text berichtete, und eines Tages erhielt er durch einen alten Mann den Hinweis, dass es eine Insel gäbe, die von jedem Griechen gemieden würde und deren Existenz man am liebsten verschweige. Damit meinte er die Insel der Götterwesen.

Der Alte wusste zu berichten, dass zu Lebzeiten seines Großvaters zwei Jungen und ein Mädchen, die die Warnungen in den Wind schlugen, zur Insel hinausfuhren und nie wieder zurückkamen. Sie fuhren am Morgen los und wollten der rätselhaften Insel einen Besuch abstatten und beweisen, dass die Angst der Bewohner auf dem Festland und der anderen Inseln unbegründet war. Sie konnten den Beweis nie erbringen.

Ungelöst war die Frage, was damals – vor mehr als hundertundfünfzig Jahren – wirklich geschehen war. Um die Mittagszeit hatte damals ein starkes Unwetter getobt, und es wurde vermutet, dass die drei Bootsfahrer im Sturm gekentert und ertrunken waren. Die meisten aber glaubten, dass sie auf der Insel den Kräften der Götter- und Zauberwesen zum Opfer gefallen waren.

Shawn Addams atmete tief durch. Er war jung, kräftig und voller Lebensmut. Er war jetzt neunundzwanzig, ein Mann im besten Alter und bereit, das Risiko auf sich zu nehmen.

Mit einem Motorboot war er losgefahren und in einer kleinen Bucht vor Anker gegangen. Dichtes Gebüsch und undurchdringliches Unterholz säumten das Ufer. Er hatte sich förmlich durchkämpfen müssen, um ins Hinterland zu gelangen.

Die Sonne stand schon tief, aber das störte ihn nicht. Er hatte nicht die Absicht, vor Einbruch der Dunkelheit das unbewohnte Eiland zu verlassen. Wenn er das täte, würde er am Ende genau so schlau sein wie alle anderen, die nur weitergaben, was sie einmal gehört hatten. Er aber wollte es genau wissen. Er war überzeugt davon, dass alles nur Aberglaube war.

Dennoch musste er sich im Stillen eingestehen, dass die Atmosphäre auf dem Eiland, das nur wenige hundert Meter lang und breit war, ihn in eine seltsame, bisher unbekannte Stimmung versetzte. Es war eine Mischung von Beklemmung, Bedrohung, Neugier und Erwartung.

Er durchwanderte bis zum beginnenden Abend die Insel von einem Ende zum anderen, ohne auf etwas Außergewöhnliches zu stoßen. Der weiße Sand unmittelbar am Uferrand war übersät mit seinen eigenen Fußabdrücken. Das winzige Eiland war durch zahlreiche Buchten zerklüftet. Hinter dichtem Grün gab es die phantastischsten Landformen, skurril gewachsene Bäume und Büsche, bei denen man annehmen konnte, jeden Augenblick würde ein seltsames Tierwesen, ein Gott der alten Griechen oder eine Zauberin hervortreten, um ihn zu verwandeln. Mit zunehmender Dunkelheit verstärkte sich der merkwürdige Eindruck noch, den die verrufene und gemiedene Insel auf ihn machte.

Die Sonne versank glutrot im Westen, die Schatten der Bäume und bewaldeten Hügel wurden endlos lang und wanderten wie selbstständige Lebewesen über Sand, Moos und Gras, als wären sie auf der Suche nach einem Opfer.

Shawn Addams richtete sich sein Lager für die Nacht her. Er wählte dazu einen günstigen Platz in der Nähe der Bucht, wo er das Motorboot vertäut hatte und es jederzeit erreichen konnte, wenn ein unvorhergesehenes Ereignis ihn zwang, schnellstens zu verschwinden. Dass ihm diese Gedanken überhaupt kamen, ärgerte ihn bereits. Er hatte sich von dem Geschwätz schon anstecken lassen. Er sammelte trockenes Holz, zündete sich ein Lagerfeuer an und wärmte eine Konserve mit Speckbohnen, die er aus der Dose löffelte.

Der Wind säuselte zwischen den dicht belaubten Zweigen und Ästen, und das Rauschen der Brandung brach sich in den Buchten, die er durch den grünen Blättervorhang jedoch nicht mehr wahrnehmen konnte. Nur zwei Schritte entfernt begann ein kleiner Wald. Dahinter lagen die Berge, die er am Nachmittag schon durchwandert hatte.

Addams reckte sich und fuhr sich über das glatt rasierte Gesicht. Er fühlte schon die ersten Stoppeln sprießen. Heute Morgen hatte er sich zuletzt rasiert. Solange er sich auf der Insel aufhielt, war Rasieren für ihn tabu, er wollte die Zeit sparen und sich einen Bart wachsen lassen.

Er legte die leere Konservendose neben das herunterbrennende Feuer. Die Dunkelheit außerhalb des Lichtkreises wirkte undurchdringlicher als die Schwärze auf dem Festland. Oder bildete er sich das nur ein?

Er kontrollierte sein Denken und Fühlen sehr genau, um sich auf jede Veränderung sofort einzustellen. Hier auf diesem winzigen Eiland also hatten sie sich getroffen, die Götter, die Halbgötter, Zauberinnen und Zwitterwesen, um geheimnisvolle Feste zu feiern, an denen nie ein Normalsterblicher teilgenommen hatte.

Leise knisternd brannte das Feuer herunter. Vom Meer wehte ein warmer Wind. Es war Sommer. Die Temperaturen wurden tagsüber oft unerträglich. In der Ferne vernahm er ein leises Grollen und sah das Wetterleuchten am Firmament. Ein Gewitter zog über die Ägäis.

Shawn Addams errichtete sein Zelt und stellte es so auf, dass es auf leicht geneigtem Boden stand. Er zog einen Graben rings um das Zelt und warf dann seinen Schlafsack nach innen.

Plötzlich hörte er leises Kichern.

Im ersten Moment glaubte er, sich verhört zu haben.

Dann tönte das Lachen erneut. Addams hielt den Atem an und starrte in die Finsternis, die ihn umgab.

Er wusste es sofort. Er war nicht mehr allein auf dem Eiland.

Shawn Addams umklammerte einen dicken Knüppel und richtete sich langsam auf.

»Ist da jemand?«, fragte der junge Mann aus New York leise und blickte gespannt um sich.

»Natürlich ist hier jemand«, antwortete eine weibliche Stimme. Ein leises, unangenehm klingendes Lachen folgte.

Gefahr! Eine Alarmglocke in Addams' Hirn schlug an.

Die Blätter teilten sich. Aus dem Dunkeln löste sich eine Gestalt. Sie trug ein blauschwarzes Gewand, das so dünn gewebt war, dass er ihren wohlgeformten, makellosen Körper sehen konnte. Die Frau, die auf Addams zukam, war wie eine Offenbarung. Sie hatte flammend rotes Haar, eine weiße Haut und meergrüne Augen. Sie bewegte sich aufreizend, und um ihre roten Lippen spielte ein vielsagendes Lächeln.

»Es kommt nicht oft vor, dass mich jemand auf meiner Insel besucht«, sprach sie.

Addams registrierte in ihrer Rechten einen dünnen, goldfarbenen Stab, der die Form und das Aussehen einer Schlange hatte.

»Aber manchmal passiert es eben doch«, fuhr sie fort, ehe der junge Amerikaner zu einer Erwiderung kam.

»Wer bist du?«, fragte Shawn Addams rau. Ihm kam alles vor wie ein Traum. Entweder er schlief wirklich oder seine Erwartungshaltung, die er diesem Eiland entgegengebracht hatte, bewirkte, dass er Halluzinationen wahrnahm.

Seit Jahren beschäftigte ihn ein Gedanke mit einer geradezu krankhaften Intensität. Er wollte den Nachweis erbringen, dass an der Göttermythologie der Griechen mehr dran war als eine farbige, erfundene Geschichtenwelt.

Atlantis, die legendäre Insel, kam ihm in diesem Zusammenhang ebenfalls in den Sinn. Wer daran glaubte, wurde belächelt, dabei wurde die Insel schon in Platons Schriften erwähnt. Waren die Götter einst von Atlantis gekommen? Mit dieser Insel fielen oder standen viele Theorien.

Atlantis war einer der sagenhaften Urkontinente wie Lemuria oder Xantilon. Gerade auf Atlantis und Xantilon sollte es hoch entwickelte Kulturen gegeben haben, Kulturen, die schon die Atomkraft und Sonnenenergie gekannt hatten. Es war die Rede von Energiekristallen und fliegenden Wagen.

Addams schien überzeugt davon, dass schon vor Jahrtausenden vieles bekannt und alltäglich war, was durch Kriege und Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes wieder verloren ging.

Jene Geschöpfe, die Macht hatten, die Blitze schleuderten oder durch die Lüfte fliegen konnten, die die Erde verließen, Sterbliche mitnahmen und manchmal nach Jahren oder Jahrzehnten wieder zurückbrachten, bezeichnete man als Götter. Woher waren sie gekommen? Warum offenbarten sie sich manchen Völkern und anderen nicht? Was war ihre wirkliche Absicht? Waren die Menschen für sie nur lebende Spielzeuge, Schachfiguren, die man nach Bedarf hin und her rückte, über deren Leben und Schicksal man nach Gutdünken bestimmte?

Es lag so viel im Verborgenen, das hervorgekramt und neu überdacht werden musste. Shawn Addams war einer der Unentwegten, die bereit waren, unbekannte und nicht ausgetretene Wege zu gehen. Auch dann noch, wenn er sich den Spott seiner Zeitgenossen zuzog.

Wenn er mit seinen Überlegungen richtig lag, dann musste auch irgendwo der Schlüssel zu den Rätseln und zum Verständnis der Vergangenheit liegen. Er glaubte an die Götter, ihre Intrigen, an ihr Dasein auf der Erde, im Himmel und in Zwischenbereichen, verglich einige ihrer Aktivitäten mit dem, was man heutzutage seiner Meinung nach wiederzuentdecken begann. Gewisse geistige Kräfte im Menschen, parapsychische Anlagen, die sich unbewusst oder bewusst zeigten.

Es gab auch Orte, denen durch gewisse vergangene Ereignisse eine geistige Ausstrahlung anhaftete. Man wusste von Medien, dass sie solche Orte genau spürten und auch ganz normale, aber doch sehr sensible Menschen konnten angeben, wenn sie sich in einer bestimmten Umgebung unwohl fühlten. Sie konnten in den meisten Fällen keinen Grund dafür angeben und erfassten dies alles nur rein gefühlsmäßig.

Addams' Ziel war es gewesen, Orte, denen man bestimmte Dinge nachsagte oder andichtete, unter die Lupe zu nehmen. Die sogenannte Insel der Götterwesen war ein solcher Ort. Deshalb war er aus dem fernen New York gekommen und versuchte jene winzige, gemiedene und verrufene Welt zu ergründen. Und kaum war er da, passierte auch schon etwas, womit er nicht gerechnet hatte.

Er versuchte ganz ruhig zu bleiben, die Geschehnisse logisch und sachlich zu erfassen und sich nicht noch mehr emotional zu engagieren. Er begann sich zu fragen, ob er sich diese Begegnung nur wünschte und massiv vorstellte, dass sie Form und Gestalt annahm, oder ob hier wirklich etwas geschah, das über den sogenannten gesunden Menschenverstand hinausging?

Er nahm sich fest vor, nicht mehr an das Bild zu glauben, das sich ihm bot. Aber es verwischte nicht.

Und die Antwort auf seine Frage erfolgte auch.

»Ich bin Caliko, die Zauberin.«

Egal, wie merkwürdig ihm das alles auch vorkam, er spielte das Spiel weiter. Irgendeinen Sinn musste es irgendwann ergeben. So setzte er den Dialog fort. »Wie kommst du hierher?«

»Das könnte ich eher dich fragen. Ich bin hier zu Hause. Aber du bist der Eindringling.«

»Wie lange weißt du schon, dass ich hier bin?«

»Seit deiner Ankunft.«

»Dann hast du mich die ganze Zeit über beobachtet?«

»Ja.«

»Und warum machst du dich erst jetzt bemerkbar?«

»Weil ich dich erst studieren wollte, Menschenmann.«

»Warum nennst du mich so? Bist du denn keine Menschenfrau?«

Ihr Lachen klang aufreizend und gefährlich zugleich. Caliko kam furchtlos auf ihn zu. Die goldene Schlange in ihrer Hand pendelte wie eine Peitschenschnur hin und her, und ein herbsüßer Duft ging von ihr aus.

Addams brachte es nicht fertig, seinen Blick von der Schönen zu wenden. Wie eine Flut umspülte das rote Haar Kopf und Nacken und rahmte ein Gesicht von überirdischer Schönheit.

War Caliko wirklich aus Fleisch und Blut? Oder bildete er sich ihre Erscheinung nur ein? Er wollte es genau wissen und handelte blitzschnell. Er streckte die Hand nach ihr aus und wollte ihren Arm berühren.

Doch Caliko war schneller. Die Bewegung erfolgte so rasch aus ihrem Handgelenk, dass er sie gar nicht mitbekam.

Es knisterte. Er sah einen Blitz und fühlte den Schlag gegen die Finger. Shawn Addams schrie überrascht auf und flog zurück, als hätte ein Pferdehuf ihn getroffen. Der junge Amerikaner landete neben dem heruntergebrannten Feuer und zog seine Hand zurück, mit der er fast in die noch vorhandene Glut gegriffen hätte.

»Begreifst du nun, weshalb ich dich Menschenmann genannt habe?«, fragte die Zauberin mit maliziösem Lächeln. »Uns trennen Welten, denn ich habe nichts mit der Welt zu tun, aus der du kommst. Ich bin eine Hexe und Zauberin.«

»Dann stimmt es also, was man sich über diese Insel erzählt«, stieß Addams hervor und richtete sich wieder auf. Seine Hand, in die der Blitz geschlagen hatte, zitterte noch und fühlte sich taub an. Er betrachtete sie und begann, sie zu massieren.

»Du machst mich hellhörig«, erwiderte die Zauberin und spielte mit dem goldenen Stab, der den Kopf einer Schlange hatte, zwischen ihren Fingern. Mit diesem Stab hatte es seine besondere Bewandtnis. Shawn Addams hatte eine erste Erfahrung mit ihm gemacht und sich vorgenommen, keine falsche und unbedachte Bewegung mehr zu machen. »Was erzählt man sich denn in der Welt der Menschen von meiner Insel?«

»Hier sollen sich Götter und Halbgötter zum Gespräch treffen.«

Die Rothaarige nickte. »Das tun sie manchmal, in der Tat. Gelegentlich kommen sie auch hierher, um sich meinen Rat zu holen. Weiter, was erzählt man sich noch?«

»Dass die Insel verflucht sei. Dass jeder, der es wage, sie zu betreten, mit dem Tod rechnen müsse.«

»Mhm, interessant. Obwohl du das gewusst hast, bist du hierhergekommen? Ich bewundere deinen Mut. Aber vielleicht ist es auch nur Leichtsinn?«

»Ich habe nicht an das geglaubt, was man sich erzählt«, berichtete er wahrheitsgemäß.

»Oh, du hast die Warnungen in den Wind geschlagen und nicht an Calikos Existenz geglaubt?«

»Der Name Caliko ist nie gefallen. Niemand weiß von dir.«

»Weil es bisher keinen gab, der zurückkam und über Caliko sprechen konnte«, sagte sie triumphierend. »Alles, was auf meiner Insel passiert, kommt mir zu Ohren, und nichts entgeht meinen scharfen Augen, Menschenmann. Ich bin eine Botin und Beraterin der Götter, ich bin ausgestattet mit der Macht der Hexerei und Zauberei. Das alles erfährst du in diesen Sekunden, und doch wirst du nie die Gelegenheit haben, mit Außenstehenden darüber zu sprechen. Du bist freiwillig auf die Insel gekommen und du wirst hierbleiben, wie mein Gesetz es verlangt.«

»Ich werde gehen, wann es mir passt.«

Er tat einen etwas zu schnellen Schritt nach vorn, und Caliko schien ihn als Angriff auszulegen. Die Hand mit der goldenen Schlange zuckte in die Höhe, und Shawn Addams blickte in das aufgerissene Maul des Reptils.

Caliko konnte mit diesem Gegenstand Blitze schleudern! Wie die Götter der Mythologie. Stammte sie von ihnen ab? War sie eine Halbgöttin?

Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und er stellte sich schon vor, wie es wohl wäre, wenn er seinen Freunden und Bekannten von dieser Begegnung berichtete. Kein Mensch würde ihm glauben.

Aber da war Calikos Drohung. Sie sah ihn als Gefangenen an, und sie hatte die Macht dazu, ihn festzuhalten.

Noch immer war das Taubheitsgefühl in seiner Hand nicht verschwunden. Es erinnerte ihn daran, wozu sie fähig war. Und sicher war dies nur eine kleine Kostprobe ihrer Macht. Sie konnte ihren Blitz verstärken und in jeden Teil seines Körpers schicken.

Die Zauberin schüttelte den Kopf. »Du wirst nicht mehr gehen können, Menschenmann.«

»Ich werde es dir beweisen.« Und noch während er sprach, tat er einen weiteren Schritt auf Caliko zu.

Da zuckte der Blitz erneut auf. Gleißende Helligkeit warf Shawn Addams zurück. Benommen lag er einige Sekunden am Boden. Addams' Kopf brummte, in seinen Ohren rauschte das Blut. Er meinte, ein Zentnergewicht läge auf seiner Brust, als er versuchte, in die Höhe zu kommen.

Caliko stand direkt vor ihm. Im Abendwind bewegte sich leise raschelnd der dünne Stoff ihres Gewandes, durch das ihr vollendet schöner Körper wie eine verführerische Silhouette schimmerte. Sie triumphierte, und ihre Augen leuchteten.

»Du hast Mut«, sagte sie leise. »Das gefällt mir. Bei dir werde ich mir etwas Besonderes einfallen lassen.«

Das Letzte sagte sie so leise, dass er die Worte kaum verstand.

Er kam kaum auf die Beine. Sein Oberkörper schien unendlich schwer geworden zu sein, und er wankte wie ein Schilfrohr im Wind. Das Atmen wurde ihm zur Qual und strengte ihn an. »Wieso ...«, entrann es seinen Lippen, »... habe ich dich nicht früher bemerkt? Ich habe die ganze Insel durchwandert, mir hätte deine Anwesenheit doch viel früher auffallen müssen.«

»Ich befand mich ständig in deiner Nähe.«

»Wieso habe ich dich nicht gesehen?«

»Du hast mich gesehen. Eine Frau, die andere verzaubert kann, ist auch imstande, für sich die perfekte Tarnung zu schaffen. Hast du auf die Büsche, Blumen und Bäume in deiner Nähe geachtet? Auf die Gestalt der Erdhügel? Einmal war ich Baum, ein andermal Blüte, Busch oder Hügel.«

»Das gibt es doch alles nicht!«, schrie Addams da heraus. »Ich phantasiere! Mein Verstand hat gelitten!«

»Irrtum! Du erlebst die Wirklichkeit und alles sehr bewusst mit. Du hast die Gefahr gesucht und gefunden. Es wäre besser gewesen, du hättest auf die Warnungen gehört. Nun ist es zu spät. Du wirst mein Sklave. Ich werde dir eine Sonderbehandlung zukommen lassen. Jetzt bin ich mir ganz sicher. Die anderen können dir nicht das Wasser reichen. Ich fühlte, dass du anders bist. Außerdem gefällst du mir. Ich möchte dich ständig in meiner Nähe haben. Ich hoffe, du weißt diese Auszeichnung zu schätzen.«

Caliko stand so nahe vor ihm, dass er ihren erregenden Körper fühlte.

»Ich gefalle dir doch auch, nicht wahr?«

Und da kam etwas über seine Lippen, was er eigentlich nicht sagen wollte. »Ja, sehr.«

Sie lachte verführerisch. Es hörte sich an wie das Gurren einer Taube. »Na also, dann tu ich dir doch sogar einen Gefallen. Wie heißt du?«

»Shawn Addams«, antwortete er mechanisch, immer noch in der Hoffnung, dass sich alles zum Guten wendete und er erfuhr, welches Geheimnis diese Insel barg. Wegen der mysteriösen Berichte darüber war er schließlich hierhergekommen.

»Shawn – ein seltener und schöner Name.« Sie streckte die linke Hand nach ihm aus, jene Hand, in der nicht der Schlangenstab lag. Mit sanfter Hand streichelte sie seinen Arm, seine Brust, ihre duftenden Fingerkuppen bewegten sich über seine Wangen und zogen zuerst die Linien seiner Lippen, dann die seiner Augen nach. »Der Name passt zu dir. Du bist ein stattlicher Mann und du wirst ein stattlicher Rabe sein.«

»Rabe? Was meinst du damit?«

»Caliko hat stets ihre Opfer verzaubert. Es gibt tausend Möglichkeiten, aus einem Menschen etwas anderes zu machen. Ich könnte dich in einen Frosch verwandeln oder in einen Fisch. Das wäre ganz lustig, findest du nicht auch? Ich könnte auch eine Maus oder eine Katze aus dir werden lassen. Oder einen Busch, irgendeine Pflanze. Ich muss darüber nachdenken. Nein, die Idee mit dem Raben ist gut. Shawn, du wirst ein Rabe!«

Die Hand mit dem Schlangenstab tauchte plötzlich vor seinem Gesicht auf. Diesmal löste sich aus dem goldenen Maul kein Blitz. Das Licht umfloss ihn wie Sternenstaub und rieselte auf ihn nieder. Die sanften leuchtenden Punkte nahmen sein ganzes Blickfeld ein, und sie verstreuten sich nicht in der Umgebung, sondern versanken in seiner Haut.

Dann kamen die Schmerzen. Überall in seinem Körper zupfte und brannte es, als würde er von tausend glühenden Nadelspitzen gleichzeitig gepiesackt.

Addams stöhnte, ging in die Knie und konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Er wollte noch nach Caliko greifen, sie mit zu Boden reißen und ihr den schlangenförmigen Zauberstab entwinden. Doch er griff ins Leere.