Macabros 061: Herr im Geisterland (Mirakel 03) - Dan Shocker - E-Book

Macabros 061: Herr im Geisterland (Mirakel 03) E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Ein Mann begegnet nach Jahrzehnten seinem toten Freund. Mehrere Gäste einer Westernparty bekommen es mit einem Schlossgeist zu tun, und ein Medium wird ins Geisterreich entführt. Frank Morell, alias Mirakel, versucht der jungen Frau zu helfen - und findet seinen Tod!

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Band 61

Dan Shocker

HERR IM GEISTERLAND

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Illustration: www.ralph-kretschmann.de

Fachberatung: Gottfried Marbler

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-761-0

Als Donald McCasey an diesem Abend sein Geschäft schloss, erblickte er den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das wäre weiter nichts Besonderes gewesen. Aber in der Haltung und im Blick dieses Mannes war etwas, das McCasey schon lange nicht mehr gesehen hatte und das ihn stutzig machte.Er schluckte und presste mehrmals die Augen zusammen, als könne er nicht glauben, was und wen er dort drüben sah. „Harriet!“, rief er heiser in den dunklen Ladenraum hinter sich, wo eine vergrämte Endfünfzigerin die Theke abwusch.

„Ja, was ist denn?“ Donald McCaseys Frau hob nicht einmal den Blick.

„Da drüben, auf der anderen Straßenseite, Harriet …“ Donald McCaseys Stimme war belegt, er wirkte bleich und verschüchtert. „Er lehnt an der Hauswand und starrt herüber. Er trägt einen altmodischen, dunklen Anzug, einen Zweireiher. In der Rechten hält er einen Spazierstock, auf den er sich lässig stützt …“

„McCasey, du spinnst“, sagte sie respektlos, warf das schmutzige Tuch in den kleinen Eimer, wusch und wrang es aus und setzte ihre Arbeit fort. Sie schüttelte heftig den Kopf. „Du sprichst, als ob du James Muligan da drüben sehen würdest …“

„Ich sehe ihn dort stehen, Harriet!“

„Geh zum Arzt und lass dich untersuchen.“ Sie lachte rau. „Du solltest mal anfangen, die Whiskyflaschen zu zählen, die du in einer Woche aussäufst, McCasey.“

Sie nannte seit Jahren schon ihren Mann stets beim Nachnamen, als würde es ihr schwerfallen, ihn mit Donald anzureden. Harriet McCasey machte den Eindruck einer Frau, die von der Ehe und vom Leben enttäuscht war. Tief eingegrabene Nasenfalten, graues, stumpfes Haar und schmale, zusammengekniffene Lippen bewiesen das.

„Du hast es schon lange verlernt. Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie gut das Geschäft noch ging, als du weniger getrunken hast?“, fuhr sie vorwurfsvoll fort. „Du hattest das beste Geschäft in ganz Blairgrownie, McCasey! Aber deine Sauferei hat die Leute vergrault. Du hast sie durch dein Verhalten und vor allem durch deine dummen Bemerkungen vor den Kopf gestoßen. Das lassen sich die Kunden nicht gefallen. Wenn Missis Marklin kommt, dann meckerst du über ihre Frisur, kauft der alte Henderson pfundweise Salatköpfe und Spinat, dann grinst du und erkundigst dich spitz, ob er für ärmere Tage vorsorgen will. Dabei weißt du ganz genau, dass Henderson Rohköstler ist. Missis Gilmore dürfte wohl am Dienstag auch das letzte Mal hier im Geschäft gewesen sein, McCasey. Heute haben wir Freitag. Es war unverschämt von dir, leise vor dich hin zu lachen, als sie drei Rettiche mitnahm, und dabei zu fragen, ob sie wieder einen Freund hätte … Das geht zu weit, McCasey! Du ruinierst deinen Laden, und uns machst du unmöglich. Ich schäme mich noch, über die Straße zu gehen und …“

„Harriet!“ Donald McCaseys Stimme hallte dröhnend durch das kleine Ladenlokal. „Halt deinen Mund! Ich hab dich nicht gefragt, wie Henderson seine Rohkostsäfte zubereitet und es interessiert mich auch nicht, warum Missis Gilmore plötzlich wieder Rettichsalat auf den Tisch bringt …“

„Am Dienstag hat es dich noch interessiert!“

„Jetzt interessiert es mich nicht mehr! Komm her! Wirf einen Blick über die Straße und sag mir, ob du siehst, was ich sehe.“ Seine Stimme klang fordernd und gleichzeitig ängstlich. Er knallte die Kiste mit den Apfelsinen und Grapefruits auf die Ladentheke, dass die Früchte in die Höhe hüpften. „Ich sehe James Muligan, Harriet!“ Seine Stimme überschlug sich, und er fuhr sich mit einer hektischen Bewegung durch sein dichtes, aber graues Haar.

„Ich weiß. Du hast ihn mir ja genau genug beschrieben.“

Donald McCasey warf noch einen weiteren Blick aus fiebrig glänzenden Augen durch das nicht ganz saubere Schaufenster, in dem er Konservendosen und Spirituosen aufgestellt hatte.

Der Mann in dem gestreiften Anzug stand noch immer in unveränderter Stellung an der Hauswand gegenüber, hob jetzt die Rechte und grüßte mit dem Spazierstock in das halbdunkle Geschäft, in dem Harriet und Donald McCasey sich aufhielten.

„Seine Geste … Harriet …“

„Du spinnst, McCasey!“ Die verhärmt aussehende Frau seufzte. „Du bist reif für die Trinkerheilanstalt und für den Psychiater. Du hast’s geschafft. Bei anderthalb Liter Whisky pro Tag ist das ja auch kein Kunststück …“ Weiter kam sie nicht. Er griff kurzerhand über die Ladentheke und drehte ihr den Kopf herum.

„Guck aus dem Fenster!“, brüllte er.

Er hielt ihren Kopf fest. Sie starrte über die Hälse der aufgestellten Flaschen und die Pyramiden der Konservendosen hinweg.

„Ich kann nichts sehen, McCasey.“

„Gemeines Weib!“, entfuhr es ihm. Sein Kopf flog herum. Donald McCasey erschauerte. „Da ist … niemand?“, fragte er ebenso tonlos wie verwundert. Er hatte das Gefühl, jemand würde mit großen kalten Händen seine Brust zusammendrücken, fühlte die Kälte, die durch seine Haut drang und sich bis in sein Herz fraß.

„Hast du etwas anderes erwartet?“, reagierte Harriet McCasey beinahe triumphierend, und ein höhnischer Zug spielte um ihre zusammengekniffenen Lippen.

„Es gab nur einen, der immer dort stand, herüberblickte und grüßte, wenn man ihn sah …“

„James Muligan, ich weiß. Aber diesen James Muligan gibt es seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr.“

„Ich habe ihn gesehen, Harriet!“ Wie in Trance taumelte McCasey durch seinen Laden, klammerte sich an der Eingangstür fest und starrte hinüber auf die andere Straßenseite. Doch die Stelle dort war leer.

„Dann ist er jetzt um die neunzig, nicht wahr?“, konnte sich die Frau die Bemerkung nicht verkneifen. „Er muss schon ziemlich klapprig auf den Beinen sein. Oder etwa doch nicht? Er ist ja auch ziemlich schnell wieder verschwunden, wenn man deinen Beobachtungen Glauben schenken kann.“ Sie tauchte hinter ihm auf, stieß ihn absichtlich an und drängte sich hinaus auf die Straße, den nassen Lappen und den kleinen Eimer in der Hand, und schüttete das Abwaschwasser in die Gosse.

„Ich hab ihn leibhaftig vor mir gesehen, Harriet, so wie damals, als er fünfundsechzig war. Seit jenen Tagen … scheint er keine Stunde älter geworden zu sein …“

Harriet McCasey lachte rau und stapfte ohne ihren Mann anzusehen in den Laden zurück. „Red keinen Quatsch und schließ die Tür ab! James Muligan ist seit fünfundzwanzig Jahren tot. Wir waren selbst auf seiner Beerdigung, falls du das nicht mehr wissen solltest.“

McCasey war und blieb an diesem Abend mürrisch.

Der Kaufmann ging unruhig durchs Haus, nahm öfter als sonst einen Schluck aus der stets bereitstehenden Whiskyflasche und machte gegen acht Uhr noch einen Spaziergang durch die engen Gassen von Blairgrownie. Er inspizierte die Stelle genau, an der er den alten Muligan gesehen hatte, der ihm früher von diesem Punkt aus immer zugewinkt hatte.

Donald McCasey bewegte sich unsicher auf den Beinen. Andere hätte der reichlich genossene Alkohol längst umgehauen. McCasey jedoch fühlte sich selig. Er konnte schon etwas vertragen. Und darauf war er stolz. Die meisten seiner Kunden hätten auf Anhieb bestätigen können, dass sie dem Lebensmittelhändler, der auch tagsüber nicht von der Flasche loskam, überhaupt nichts ansahen und anmerkten.

McCasey ging die Straße hinunter und kam an ein altes, windschiefes Haus mit kleinen quadratischen Fenstern und einer niedrigen Tür. Die Tür war dunkelgrün gestrichen.

Der Lebensmittelhändler stand eine Zeit lang davor und starrte die Hausfassade an. In diesem Haus hatte James Muligan vor fünfundzwanzig Jahren gewohnt. Hinter den kleinen Fenstern in den winzigen Zimmern hatten er und Muligan oft zusammengesessen, manche Flasche miteinander geleert und bei ihren abendlichen Begegnungen über die Legenden und Gespenstergeschichten gesprochen, die man sich über die Bewohner der Stadt und dieses Landstriches und vor allem der geschichtsträchtigen Gegend hier in den Grampian Mountains erzählte.

Genau das war James Muligans Lieblingsthema gewesen. Er war überzeugt davon gewesen, dass es Hexen gegeben hatte und noch immer gab, dass einst Druidenpriester ihren Fuß auf das Land setzten, dass vor undenklichen Zeiten hier Geister und Dämonen umgingen, die durch die Blutopfer der Druiden gerufen wurden. Diese Geister existierten heute noch genauso, zumindest Muligans Ansicht nach. Er hatte sich mit okkulten Dingen abgegeben und eine Bibliothek besessen, um die jeder Forscher ihn beneidet hätte.

In dem Haus, in dem James Muligan einst gelebt hatte, wohnte jetzt ein älteres Ehepaar, das angeblich von Perth, der nächstgrößeren Stadt, zugezogen war. Die Fremden ließen sich kaum sehen. Es war ihnen nicht gelungen, Kontakt zur einheimischen Bevölkerung zu finden. Und die Einheimischen wiederum legten keinen großen Wert darauf, sich mit den Fremden einzulassen. Da waren sie eigen.

McCasey überlegte, was er nun tun sollte.

Durch die geschlossenen Fensterläden sah er schummriges Licht und erblickte durch die Ritzen der Läden schattenhafte Bewegungen. Der Lebensmittelhändler gab sich einen Ruck und ging auf die Tür zu. Der reichlich konsumierte Whisky machte ihm die Entscheidung leicht. McCasey betätigte die altmodische, mechanische Klingel. Hinter der Tür pflanzte sich das Geräusch laut fort.

Er hörte, wie ein Stuhl gerückt wurde und sich gleich darauf schlurfende Schritte der Tür näherten. „Ja?“, hörte er eine Frauenstimme fragen. „Wer ist da?“

„McCasey, Donald McCasey vom Gemischtwarenladen.“ Obwohl er sich bemühte, seiner Stimme besondere Festigkeit zu verleihen, gelang ihm das nicht recht. „Ich hätte Sie gern mal kurz gesprochen, Missis Fently.“

Von innen drehte sich der Schlüssel. Mrs Fently zog die Tür zurück. Vor McCasey stand eine alte, kleine Frau mit einem verschrumpelten Gesicht. Mrs Fently versuchte zu lächeln. Die Falten um ihren Mund gruben sich noch tiefer ein. „Guten Abend, Mister McCasey!“ Die Frau war sichtlich erstaunt, Besuch zu bekommen. Das brachte sie offenbar so durcheinander, dass sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Missis Fently.“

„So kommen Sie doch herein. Bitte.“

Die Frau trat zur Seite. McCasey konnte in den beinahe handtuchschmalen Korridor sehen. Ein alter, wurmstichiger Kleiderschrank engte den ohnehin schon schmalen Korridor so weit ein, dass man sich zwischen Wand und Schrank durchzwängen musste. Das fiel McCasey mit seinem aufgetriebenen Bauch weitaus schwerer als der dürren Alten.

„Ist Ihr Gatte nicht zu Hause?“ McCasey wusste selbst nicht, warum er das fragte. Eigentlich beschäftigten ihn ganz andere Probleme, die er erörtern wollte. Aber er sagte sich, dass er nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen konnte.

„Er macht noch einen kleinen Spaziergang. Ich hatte keine Lust mitzugehen.“

McCasey nickte. Seiner Meinung nach blickte er sich unauffällig um und nahm die Umgebung in sich auf. Er konnte nicht fassen, dass über zwanzig Jahre vergangen waren, seitdem er das letzte Mal in diesem Haus gewesen war.

Es hatte sich seit damals kaum etwas verändert. Die dunklen Holzwände waren noch dunkler geworden; die Wände in Küche und Wohnzimmer trugen allerdings eine andere Farbe. Die mystischen Bilder, zum Teil von Muligan selbst gemalt, hingen noch an den gleichen Stellen und selbst die Möbel standen noch so da, wie McCasey sie vor über zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.

Hier in diesem Haus schien seit einem Vierteljahrhundert die Zeit stillzustehen.

McCasey zog scharf die Luft durch die Nase. Es roch nach fremdartigen Gewürzen, nach Moder und nach alten Büchern. Dieser Geruch haftete den Wohnräumen schon seit eh und je an. Die neuen Bewohner, die seinerzeit nach Muligans plötzlichem Tod eingezogen waren, schienen praktisch das gesamte Mobiliar und sogar die Bilder und Bücher übernommen zu haben.

James Muligan hatte keine Frau und keine Nachkommen hinterlassen und während der letzten Jahre hauptsächlich von der Unterstützung gelebt, die ihm die Gemeinde gewährt hatte. Zudem hatte auch ein gleich gesinnter Freund – dessen Namen Muligan nie genannt hatte – kleine, regelmäßige Zahlungen geleistet.

Die alten Möbel waren schon damals so vergammelt, dass niemand in Blairgrownie Interesse dafür gezeigt hatte. Die Gemeinde hätte sie normalerweise abtransportiert und das verbrannt, was sich nicht absetzen hätte lassen, doch da waren die Fentlys gekommen. Es hieß, sie hätten ihren eigenen kleinen Haushalt in Perth aufgelöst und seien bereit gewesen, den Hausrat zu übernehmen. Da der gebotene Preis die Kosten des Abtransportes und der Vernichtung der Möbel durch die Gemeinde gerade gedeckt hatte, gab man von höchster Stelle aus seinen Segen und ließ die Fentlys einziehen.

McCasey folgte Mrs Fently mit unsicheren Schritten in das Wohnzimmer. Er fand die vertraute Umgebung Muligans vor, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn James Muligan jetzt in dem großen, gemusterten Ohrensessel gesessen und ihn über den Brillenrand hinweg angesehen hätte.

Der Sessel stand noch immer neben dem eisernen Ofen. Unterhalb der Fensterbank lief das selbst gebastelte Bücherregal entlang und erweiterte sich an der Wand neben dem Fenster um sieben Regalreihen in die Höhe, wo es bis zur Decke emporreichte. Die alten Folianten reihten sich dicht an dicht wie die Glieder einer Kette.

Der Geruch nach altem Leder und Moder war im Wohnzimmer besonders intensiv.

McCasey nahm dankend den angebotenen Platz an.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Mister McCasey? Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Sie sind der erste Besucher aus Blairgrownie, seit wir hier sind.“

Das war ein trauriges Kapitel. Es war den Fentlys nie gelungen, hier heimisch zu werden. Sie wurden gemieden wie die Pest. Keiner hatte eine Erklärung dafür. Umso erstaunlicher war es, dass dieses Paar in seinem hohen Alter das verkraftete und einfach hierblieb und nicht wieder wegzog. Es war, als halte sie irgendetwas in diesem Haus mit beinahe magnetischer Kraft fest.

McCasey hatte die Fentlys hin und wieder in seinem Laden gesehen. Sie kauften nicht viel. Sie lebten sehr bescheiden, und er fragte sich, wie ein Mensch von dem wenigen, das die Fentlys einkauften, überhaupt leben konnte.

Noch ehe der Lebensmittelhändler etwas sagen konnte, nahm Mrs Fently aus einer Vitrine eine grüne Flasche ohne Etikett. Die Flasche war noch gut zur Hälfte voll.

Mrs Fently goss die dunkelbraune Flüssigkeit in ein hohes, schmales Glas und schenkte auch sich einen kleinen Schluck ein. Sie lächelte. „Damit Sie nicht allein trinken müssen. Das wäre unhöflich. Es ist kein Whisky aus Ihrem Geschäft. Wir haben ihn selbst gebrannt. Nach einem alten Rezept meines Mannes.“

McCasey zog die Augenbrauen in die Höhe und schnupperte an dem Glas. „Nicht übel.“

„Good Health.“ Mrs Fently hob ihr Glas in die Höhe. „Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.“

Im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit nahm McCasey einen kleinen Schluck. Der Whisky war strenger als die Marken, die er sonst trank. Er meinte, den Moder und das Leder herauszuschmecken, die den Geruch hier im Wohnzimmer ausmachten. Ob die Flasche nicht immer richtig verkorkt war, sodass der Whisky den Geruch der Luft annehmen konnte?

„Schmeckt ausgezeichnet“, bemerkte McCasey. Er nahm einen großen Schluck, damit er den penetranten Geschmack nicht mehr merkte. Außerdem funktionierten seine Geschmacksnerven in seinem alkoholseligen Zustand ohnehin nicht mehr richtig. Jetzt kam es ihm nur noch auf die Wirkung an. Und für die sorgte dieser hochprozentige Tropfen.

„Es ist die Erinnerung, Missis Fently“, sagte McCasey unvermittelt. Er blickte sich in der Runde um und seufzte. „Es hat mich gepackt, ein Gefühl von Romantik, von Nostalgie. In diesem Haus lebte einst ein guter Freund von mir, James Muligan. Sie können nicht wissen, wie eng wir befreundet waren, wie viele Stunden meines Lebens ich hier, gerade in diesem Raum, gemeinsam mit James verbracht habe. Er war ein wunderbarer Mensch.“

Sie blickte ihn an und neigte den Kopf ein wenig schief. „Aber wenn das so ist, warum sind Sie dann nicht schon längst mal hierhergekommen, Mister McCasey?“

Er zuckte die Achseln. „Weiß nicht …“

„Wir hätten uns gefreut, mein Mann und ich.“

Ihm fiel auf, dass sie immer mein Mann sagte und nicht Fred, Henry oder Stan – oder wie immer Mr Fently heißen mochte. Auch an der Tür stand nur der Name Fently. In ganz Blairgrownie kannte niemand die Vornamen des ältlichen Paares, wusste niemand etwas über dessen Vergangenheit und Herkunft, außer dass es aus der großen Nachbarschaft Perth kam.

„Ich konnte nicht einfach so hereinschneien.“ McCasey winkte ab. „Aber heute, da war mir plötzlich alles egal. Man hat manchmal solche Momente. Und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich einfach so hereingelassen haben …“

„Das ist doch selbstverständlich.“

„Nein, das eben ist es nicht.“ Donald McCasey fuhr sich über die Augen. „Man hat manchmal seltsame Stimmungen. Stellen Sie sich vor, ich …“ Er unterbrach sich plötzlich und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, es ist wohl nicht richtig, dass ich das sage.“

„Was sage, Mister McCasey?“

„Ach, nichts. Ich würde mich nur lächerlich machen. Ich habe getrunken, Missis Fently. Da hat man Gefühle, über die man sonst anders denkt. Und in einem solchen Zustand sagt man dann auch Dinge, die man nüchtern nicht sagen würde.“

„Sie sind doch nicht betrunken, Mister McCasey!“

Er lachte leise, griff in seine Hosentasche und kramte ein groß kariertes, zusammengeknülltes Stofftaschentuch hervor, in das er sich kräftig schnäuzte. „Das sagen Sie! Erzählen Sie das mal meiner Frau. Die ist da ganz anderer Ansicht. Nein, es ist so, wie ich anfangs sagte: Ich wollte nur mal wieder hier in das Haus, sehen, wie alles noch aussieht, an die schönen Stunden mit James Muligan zurückdenken. Bitte entschuldigen Sie mich!“

„Sie wollen schon wieder gehen?“ Es klang direkt enttäuscht. Mrs Fently riss ihre faltigen Augenlider auf. McCasey hatte das Gefühl, dass eine Mumie vor ihm saß. Die Haut und die Adern seines Gegenübers waren hart und ausgetrocknet, als befänden sich keine Lebenssäfte mehr in diesem Körper. Die herabgezogenen Mundwinkel und die schmalen Lippen von Mrs Fently erinnerten ihn ebenso an seine Frau wie die spitze, graue Nase. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf, als er daran denken musste, dass Harriet dieser Frau eines Tages wohl sehr ähnlich sein würde.

„Ja, es ist besser, wenn ich …“

„Aber nein! Sie stören überhaupt nicht! Ich freue mich, dass ich Besuch habe. Trinken Sie noch ein Glas, Mister McCasey.“

Ehe er es verhindern konnte, schenkte sie ihm schon wieder randvoll ein.

Er trank.

Es blieb nicht bei einem zweiten und auch nicht bei einem dritten Glas. McCasey fühlte sich in einer seltsam beschwingten Stimmung, und so kam der Moment sehr schnell, dass er Dinge sagte, die er nicht mehr überprüfen konnte. Er sprach von James Muligan und seiner Vision, und er gab ehrlich zu, dass er eigentlich nur gekommen sei, um festzustellen, ob Muligan nicht doch wieder hier wohne. Es könnte auch ein Traum gewesen sein, dass er annahm, Muligan könne vor fünfundzwanzig Jahren gestorben sein.

Er schraubte sich langsam in die Höhe, schwankte beachtlich und hatte einen schalen Geschmack im Mund. McCasey streckte die Rechte aus und deutete auf den mächtigen, geblümten Sessel. „Da hat er immer gesessen … nie habe ich ihn ohne Buch in der Hand gesehen …“ Er schwankte auf das Regal zu. „Er wollte die Welt ergründen und das, was dahinter steht … Missis Fently …“ Er machte jetzt Gedankensprünge. „Und mit einem Buch in der Hand starb er. Eines Morgens fand man ihn tot in seinem Sessel …“

„Ein schöner Tod!“

„Gewiss, aber etwas ist merkwürdig daran.“

„Weshalb? War es Selbstmord?“

„Ich weiß nicht … vielleicht. Monate vorher sagte James mal zu mir: Eines Tages werde ich in diesem Sessel sitzen und tot sein, und der Arzt wird einen Herzschlag feststellen. Aber eswirdkein natürlicher Herztod sein. Er hat gewusst, dass er sterben würde. Ich glaube, er … er stand mit den Geistern in Verbindung, mit denen er sich so intensiv beschäftigte. Was in diesen Büchern dort stand, das befand sich auch in seinem Kopf.“

McCasey führte die Hand über die Lederrücken der alten Bücher und nahm eines heraus.