Männergespräche in Friedrichshain - Johannes Simang - E-Book

Männergespräche in Friedrichshain E-Book

Johannes Simang

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Beschreibung

Es gibt weit über 1000 christliche Männerkreise in Deutschland, die spannende Gespräche führen. Erst wenn daraus Projekte erwachsen, erfährt die Öffentlichkeit davon; wie in den 50-er Jahren die Seelsorge an Flüchtlingen, in den 60-er und 70-er Jahren die kirchliche Bildungs- und Fortbildungsarbeit, die Genderarbeit in den folgenden 20 Jahren und schließlich die Vater-Kind-Aktivitäten, die heute in jeder KiTa ein Muss sind, aber in Männerkreisen in Gemeinden ihren Anfang nahmen. Es gibt noch unendlich viele andere Beispiele, wie die jüngst erschienene Berlin-Brandenburgische Männerchronik zeigt. Aber auch die Gespräche als solche sind spannend und lehrreich, darum haben wir Friedrichshainer einen Anfang damit gemacht, nicht nur darüber zu sprechen, sondern es auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und wir hoffen damit einen Impuls für die klugen Männer unserer Zeit zu geben.

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Gewidmet:

Meinen Gesprächspartnern:

Johannes Straubing,

Detlef Meyer

Wolfgang Kreidler

Dirk Loell

Inhalt

Kap. 1: Alles dreht sich um die Moral

Der Prozess ‚Erbe-Buntrock‘

Kap. 2: Frühe Denker und das Problem der Ethik

Ein blutiges Drama

Kap. 3: Schönes vereinigt Theorie und Praxis

Der Prozess gegen Liebknecht, Bebel und Hepner

Kap. 4: Eine Ethik für Pflegekräfte

Der Zweikampf zweier nobler Herren

Kap. 5: 10 Gebote für Mitarbeitende in Pflegeheimen

Die falsche Hofdame und der falsche Kammerherr

Kap. 6: Ethische Grundsätze

Eine Leiche im Koffer

Kap. 7: Die Macht der Visionen

Räuberhauptmann Kneißl vor dem Schwurgericht

Kap. 8: Der Weg zur Glückseligkeit

Der Raubmord in einem Eisenbahn-Kupee

Kap. 9: Der Trick mit der Glückseligkeit

Berlin – Der Gönczi-Prozess in Berlin

Kap. 10: Ethische Vielfalt

Kanzler Bismarck gegen Theodor Mommsen

Kap. 11: Wirtschaftsethik fragt nach den Menschen

Das Jüngste Gericht

Anhang:

Ein Ethik-Entwurf

Anhang: Altkirchliche Ethik

Vorwort

Dieses Buch ist ein Lesebuch. Im Gespräch hat sich erst daraus entwickelt, dass eine Art ‚Philosophiegeschichtlicher Blick auf die Ethik‘ - wenn auch aus Laiensicht - geworden ist. Das hat mit der Vorbereitung der Gespräche zu tun, denn natürlich wurde gefragt, worauf wir im nächsten Gespräch den Fokus legen. Das hat sich dann auf die Qualität des Gesprächs niedergeschlagen. Erst hieß die Themenreihe ‚Ethisches und Unethisches‘, aber wir merkten schnell, dass es nicht viel Freude macht, all die Bosheiten dieser Welt zu diskutieren, da war die Idee, juristische Verhandlungen dazustellen und deren Argumente anzuführen, eine gute Möglichkeit, dem zu genügen. Gerichtsverhandlungen gab es immer, die früheren Fälle aus dem 19. Jahrhundert sind sogar noch anschaulicher als heutige Fälle … und gemeinfrei. Hugo Friedländer kann man auf diese Weise in Erinnerung bringen. 1910 veröffentlicht, haben sie manchmal den Charakter wie die frühere Serie vom ‚Königlich-Bayrischen Amtsgericht‘ und wirken skurril, mitunter lassen sie den Lesenden aber auch über die Gewalt erschrecken. Wunderbar ist übrigens die letzte Geschichte der kompromisslos gegen alles Rollendenken agierende Grafentochter Franziska zu Reventlow, die in der Schwabinger Boheme zu Hause war. Auch sie verstarb vor über hundert Jahren, … warum sollen Männer nicht auch einmal einer Frau ein Denkmal setzen.

2015-16 haben wir mit einem Gesprächskreis ‚Lichtblick‘ in der St. Markus-Gemeinde in Berlin-Friedrichshain begonnen, als ich dann pensioniert wurde, haben wir diesen Kreis mit dem Männerkreis zusammengelegt. Einige sind auch verstorben oder weggezogen, aber nach gut 20 Jahren sind wir nicht nur ein Männerkreis, sondern einfach gute Freunde.

Das Ergebnis war dann tatsächlich ein Ethischer Entwurf, sprich eine Satzung für ein christliches Pflegeheim. Mit dem Leiter und den mitarbeitenden Pflegekräften haben wir auch die 10 Gebote für das Pflegepersonal und jene Satzung besprochen. Inwieweit dort diese ethischen Richtlinien Niederschlag fanden, kann ich nicht sagen. Die kurze Präambel ist übrigens als Letztes entstanden.

Die altkirchliche Ethik ist vom Bischof Ambrosius von Mailand, der sich mit seiner Zeit und vor allem mit Cicero auseinandergesetzt hat. Selbst Theologen kennen aus der altkirchlichen Zeit – wenn überhaupt – nur Augustinus-Texte, in diesem Falle ‚Die sittliche Ordnung und ihre Grundlagen‘. Dabei war es Ambrosius, der Kaiser Konstantin im Kampf um das Nicänum unterstützte und letztlich auch eine exemplarische Bestattungspredigt für ihn formulierte, aber eben auch eine genaue Vorstellung davon hatte, wie ein Christ zu handeln hat – manches ist wirklich ‚antik‘, aber an vielem könnten sich politisch aktive Menschen, die das Wort ‚christlich‘ vor sich her, bzw. im Parteinamen tragen, ein Beispiel nehmen. Ambrosius, Bischof von Mailand, sah sich übrigens auch als politischer Christ, hatte aber – anders als viele Politiker heute – einen sichtbaren christlichen Standpunkt.

Es war jedenfalls ein besonderes Erlebnis, die Vorbereitungsunterlagen mit all den Randnotizen noch einmal zu lesen, auch die Randnotizen mit den besonderen Redeimpulsen machten es leicht, das Gespräch nachzuempfinden.

Danke, meine lieben Freunde! Johannes Simang

Kapitel 1: Alles dreht sich um die Moral

Johannes: Wolltest ihr eigentlich auch mal die Welt verändern?

Wolfgang: Wer denn nicht?

Detlef: Findet ihr nicht, dass man es schnell aufgibt, wenn man an die Möglichkeiten denkt, die man hat?

Dirk: Ihr stellt alle nur Fragen. Wer Fragen hat, muss doch auch mal über eine Antwort nachgedacht haben.

Jürgen: Die Antwort haben wir doch alle vor Augen … seht euch doch an – euer Leben ist die Antwort.

Wolfgang: Ob das aber die Welt verändert hat?

Johannes: Wahrscheinlich ja doch. Heißt es nicht, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings den ganzen Kosmos verändert?

Dirk: Das mag sein, aber es ist kaum beweisbar. Aber das mit dem Blick auf mein Leben, das kann ich mir schon vorstellen. Irgendwann habe ich ja bewusst die Entscheidung getroffen, als Christ zu leben.

Jürgen: Es geht also um ethisches Handeln, oder?

Detlef: Damit kann ich mehr anfangen, denn schließlich habe ich ja auch in meinem Beruf als Handwerksmeister Grundsätze.

Wolfgang: Viel Geld ist schon mal ein guter Grundsatz … oder sollte da mehr sein?

Detlef: Die Grundsätze betreffen mehr den Umgang mit Kunden. Schließlich haben Fachleute eine Verantwortung für die ihre Kunden.

Johannes: Die Sicherheit der eingebauten Anlagen zum Beispiel.

Detlef: Es geht auch um Vertrauen. Wenn ich das verspiele, habe ich keine Stammkunden.

Wolfgang: Stimmt, die Sicherheit ist das eine, der Kunde muss aber auch das Gefühl haben, nicht ausgenommen zu werden, sprich: faire Preise sind das A und O.

Jürgen: Stimmt, Vertrauen muss über gute Gründe hinausgehen und Ungewissheit aufheben.

Dirk: Das mag ja im Handwerk relativ einfach zu erklären sein. Da muss am Ende ein funktionierendes Ergebnis sein und man muss das Gefühl haben, man kann sich auf den Fachmann verlassen.

Jürgen: Du denkst wahrscheinlich an deinen Beruf. Gut, lassen wir uns darauf ein. Ethik in Pflegeberufen.

Wolfgang: Irgendwie funktioniert das ja unter den gegebenen Umständen nicht, wo Holdings und Kapitalgesellschaften Krankenhäuser kaufen, um Geschäfte zu machen.

Johannes: Stimmt, umso mehr ein Grund darüber nachzudenken. Denn der eigentliche Zweck der Krankenhäuser ist ja die Volksgesundheit. Damit die gesichtert ist, gehe ich schließlich auch wählen.

Detlef: Da sprechen wir doch bestimmt viele Monate drüber. Eine Bedingung hätte ich daher: Die letzte Viertelstunde stellt einer von uns einen Kriminalfall vor.

Dirk: Warum denn Kriminalfälle?

Detlef: Die finden statt, weil Menschen ‚unethisch‘ handeln. Zum einen wird das nachgewiesen, zum zweiten werden die Konsequenzen aufgezeigt. Das ist doch eine wichtige Ergänzung zu unserem Thema.

Wolfgang: Eine gute Idee, aber woher sollen wir davon Kenntnis erhalten?

Detlef: Ich bitte dich, unsere Stadt ist wie jede Stadt ein Haifischbecken und auch das ganze Land hat da einiges zu bieten … Oder lest ihr keine Zeitungen. Es vergeht kein Tag ohne solche Geschehnisse. Sogar unsere Stadtchroniken sind voll davon.

Dirk: Ich höre zwar lieber Geschichten mit gutem Ausgang, aber gut.

Johannes: Ich wäre einverstanden, wenn mich auch das Thema ‚Ethik‘ mehr interessiert.

Jürgen: Abgemacht. Fangen wir also an. Was also ist Ethik?

Johannes: Ethik, grch. εθοσ (Ethos). Das meint ‚Gewohnheit‘, ‚Herkommen‘, „‘Sitte‘.

Detlef: Es hat also mit der Gemeinschaft zu tun. Statt ‚Gewohnheit‘ würde ich ‚Vertrautheit‘ sagen; statt ‚Herkommen‘ vielleicht ‚Identität‘, ‚Sitte‘ meint ja irgendwie ‚sittlich‘, es geht also um ein ‚äußerliches Verhalten‘ in der Gemeinschaft, dass, was ich vorhin mit den Prioritätensetzungen im Handwerk gemeint habe.

Johannes: Genau, Ethik ist die philosophische Wissenschaft vom Sittlichen. Es geht vor allem um das Verhalten gegenüber anderen.

Jürgen: Das ist mir zu ‚humanistisch‘ gedacht.

Wolfgang: Ich dachte, man spricht dann von Moraltheologie?

Dirk: Das ist die katholische Variante, wir Evangelischen sagen einfach Ethik.

Johannes: Gut, fangen wir bei dem humanistischen Begriff an.

Jürgen: Also bei den Vätern der Ethik.

Detlef: Gut, lasst uns mit einem Streit beginnen. Platos Streit mit den Sophisten: Kann man Tugend lehren? Ist sie also erlernbar? … oder angeboren.

Dirk: Müssen wir das jetzt schon entscheiden? Ich würde denken, wir müssen erst einmal darüber nachdenken, was das Ziel des Menschseins ist?

Johannes: Da spricht der Aristoteliker. Durch den ist neben der Logik und Physik die Ethik zur philosophischen Tugend geworden … sein Fragen nach dem höchsten Gut.

Wolfgang: Da fällt mir aber ein ganzer Katalog von Tugenden ein … auch von Untugenden.

Detlef: Das mit den Untugenden können wir uns sparen, dann landen wir doch nur bei dem, was Kirche früher ‚Todsünden‘ nannte: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit. Das habe ich schon meinen Lehrlingen vergeblich auszutreiben versucht.

Jürgen: Immer zu einem Scherz aufgelegt, so kennen wir ihn. Das Wort Tugend selbst sagt ja schon einiges. Es bedeutet ja nicht nur (gute) Eigenschaft, Kraft, Macht, Fertigkeit, Vorzüglichkeit.

Wolfgang: All das, was ein guter Handwerker aufweisen muss.

Detlef: Du meinst ein Meister!

Johannes: Es kommt doch aber auch darauf an, wer Tugenden einfordert: die Kirche, der Philosoph, die Armee, die gerade bei uns ja immer von preußischen Tugenden sprachen.

Jürgen: Lassen wir es erst einmal bei den philosophischen Tugenden. Letztendlich geht es da ja immer darum, dem Leben einen Sinn zu geben. Die höchste Tugend muss also Werte enthalten, die diesen Sinn des Lebens verheißen.

Wolfgang: Da fällt mir auch einiges an: Weisheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit, Standhaftigkeit, … habe ich was vergessen?

Dirk: Glaube, Mäßigung, Güte, Demut, Hoffnung und Liebe.

Johannes: Das ist schon christlich geprägt. Bei Aristoteles waren die Tugend: Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung, und die ihnen übergeordnete Gerechtigkeit.

Jürgen: Aber auch Aristoteles hat den Katalog schon ganz modern erweitert um: Mäßigung, Freigebigkeit, Hilfsbereitschaft, Seelengröße, Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Höflichkeit und Einfühlsamkeit.

Wolfgang: Und was ist nun die höchste Tugend?

Dirk: ‚Geduld‘, bei Aristoteles jedenfalls. Ich würde mich eher für Jesus Christus entscheiden.

Jürgen: Theologisch korrekt. So denken wir als evangelische Männer wohl alle.

Dirk: Gibt es denn keine christlichen Denker in der Frühzeit über Ethik nachgedacht haben?

Jürgen: Durchaus. Man denke nur an einen der bekanntesten Denker nach Augustinus, Ambrosius, Bischof von Mailand. Der hat sich aber eher mit römischen Denkern auseinandergesetzt.

Wolfgang: Lebte der nicht erst im 4. Jahrhundert?

Johannes: Richtig. Ihm war wichtig, dass das moralische Leben im Einklang mit den Lehren der Kirche stand.

Dirk: Das meint doch, dass das Ziel des Lebens darin besteht, Gott zu dienen und seine Gebote zu befolgen.

Johannes: Er stand aber auch für die Idee, dass jeder Mensch für seine Handlungen und Entscheidungen verantwortlich ist.

Detlef: Ein Gehirnforscher würde natürlich sagen, dass das Unsinn ist … aber ich verstehe, du willst damit sagen, dass sich die Ethik auf alle Bereiche des Lebens erstreckt.

Wolfgang: Einschließlich Politik und Wirtschaft.

Jürgen: Im Prinzip ja, ihm ging es aber darum, dass das Christentum für eine gerechte Gesellschaft steht, in der die Menschen in Frieden und Harmonie zusammenleben können.

Detlef: Ein Verfechter dafür, dass man doch mit der Bergpredigt regieren kann.

Johannes: Er überhöht diesen Gedanken sogar noch, in dem er lehrte: Die Liebe zu Gott und zum Nächsten ist das höchste Gebot. In einer solchen Gesellschaft ist das höchste Streben das nach spirituellem Wachstum und geistlicher Reife.

Wolfgang: Genaugenommen ist ethisches Handeln also nicht nur eine Frage des Willens, sondern auch des Verstandes.

Detlef: Also spielt die Vernunft doch eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung.

Jürgen: So steht es zumindest in seiner Schrift ‚Von den Pflichten der Kirchendiener‘.

Detlef: Endlich nennen wir auch mal Quellen. Die Quelle unseres abendlichen Abschlusses ist Hugo Friedländer, ein Sammler der größten Kriminalfälle. Dann bitte ich euch jetzt auch um die aristotelische Geduld, eine Tugend, die ihr ja alle mit mir schon bewiesen habt, ich habe euch nämlich einen Fall mitgebracht:

Der Prozess ‚Erbe-Buntrock‘

Dass niedere Habsucht geeignet ist, jedes menschliche Empfinden zu töten und den Menschen zur Bestie werden zu lassen, dafür lieferten zwei Verbrechen, die so grausig waren, dass zu ihrer Wiedergabe sich Tinte und Feder sträuben, einen traurigen Beleg. Und hätte nicht der Spürsinn eines Hundes einen Fingerzeig gegeben, die entsetzlichen Verbrechen wären vielleicht für immer unentdeckt geblieben. Im Sommer 1890 wurden zwei junge Mädchen, die den besseren Gesellschaftskreisen angehörten, von ihren Angehörigen vermisst. Man wusste, dass sie sich infolge einer chiffrierten Zeitungsannonce als Reisebegleiterinnen gemeldet hatten, man konnte sich aber ihr Verschwinden trotz aller Bemühungen nicht erklären. Im November 1891 durchstreifte ein Waldwärter den in der Nähe von Magdeburg gelegenen Neuhaldenslebener Wald. Plötzlich blieb der Hund des Waldwärters an einer Baumwurzel stehen. Das Tier beschnupperte mit lautem Gebell den Erdboden und war nicht von der Stelle zu bekommen. Der Waldwärter untersuchte die Stelle näher und entdeckte sehr bald einen vollständig nackten menschlichen Rumpf, dessen einzelne Teile bereits stark in Verwesung übergegangen waren. Der Hund beschnupperte laut bellend noch einige andere in der Nähe des ersten Fundes gelegene Stellen. Der Waldwärter grub auch an diesen Stellen nach und entdeckte einen menschlichen Kopf sowie Arme und Beine. Der Waldwärter erstattete sofort von dem grausigen Fund Anzeige. Es wurde festgestellt, dass die gefundenen Körperteile von der dreißig Jahre alt gewesenen Wirtschafterin Emma Kasten aus Minden herrührten.

Diese junge Dame befand sich im Frühjahr 1890 bei Verwandten in Magdeburg. Eines Tages las sie eine Zeitungsannonce, in der von einer Grafenfamilie eine Reisebegleiterin bei hohem Gehalt und guter Verpflegung zu sofortigem Antritt gesucht wurde. Die Kasten schrieb sogleich unter angegebener Chiffre an die Expedition der betreffenden Zeitung. Nach wenigen Stunden wurde sie von einer Stellenvermittlerin nach einer Magdeburger Konditorei bestellt. Die Stellenvermittlerin sagte dem Mädchen: das Schloss der Grafenfamilie, die eine Reisebegleiterin suche, liege am Saum des Neuhaldenslebener Waldes. Noch am Spätabend des 21. Mai begab sich die Stellenvermittlerin mit dem jungen Mädchen nach dem Neuhaldenslebener Walde, um angeblich in das gräfliche Schloss zu gelangen. Die Nichte des Fräulein Kasten hatte von ihrer Tante herzlichen Abschied genommen, seit dieser Zeit war Fräulein Kasten spurlos verschwunden. Füchse hatten zweifellos den im Walde verscharrten Leichnam, nachdem er in Fäulnis übergegangen war, gewittert und ihn bloßgelegt, denn das Fleisch der einzelnen Körperteile war abgenagt. Einige Leute erinnerten sich der angeblichen Stellenvermittlerin, die eine Zeitlang in Magdeburg ihr Wesen trieb und oftmals in Gesellschaft eines Mannes gesehen worden ist. Schon nach kurzer Zeit gelang es der Magdeburger Polizei, festzustellen, dass die Stellenvermittlerin die 1856 zu Holzminden geborene Dora Buntrock war, die sich in Osnabrück als Lehrerin der Wäschezuschneidekunst niedergelassen hatte. Die Buntrock wurde sofort verhaftet. Sie leugnete anfänglich mit großer Entschiedenheit. Als man ihr aber nachwies, dass sie die Kleider der Ermordeten trage, gab sie schließlich zu, die Mörderin zu sein. Sie habe aber nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit dem 1855 geborenen Agenten Fritz Erbe gehandelt. Aus Briefen, die bei der Buntrock gefunden wurden, ging im Übrigen die Täterschaft des Erben mit voller Sicherheit hervor. Aus den Briefen war auch zu ersehen, das Erbe sich im Evangelischen Vereinshause in Bielefeld aufhielt. Noch an demselben Abend reiste Kriminalkommissar Schmidt, Magdeburg, von Osnabrück nach Bielefeld und nahm Erbe fest. Dieser, ein ehemaliger Glaser, war verheiratet, aber seit einigen Jahren von seiner Frau geschieden. Er lebte schon seit längerer Zeit mit der Buntrock in wilder Ehe. Diesem Zusammenleben war auch ein Kind entsprossen. Erbe weigerte sich aber, das Kind als das seinige anzuerkennen; er behauptete, ein anderer Liebhaber der Buntrock, namens Karl Behrens, sei der Vater des Kindes. Dieser werde sich wohl auch an der Mordtat beteiligt haben, er sei vollständig unschuldig.

Ein zweiter Mord im Walde.

Als der Mord im Neuhaldenslebener Walde bekannt wurde, machte Hotelier Klages in Hameln der Polizei wiederholt die Anzeige, dass seine siebzehnjährige Tochter Dora im August 1890 von einer angeblichen Stellenvermittlerin in Hannover unter fast genau denselben Versprechungen verschleppt worden und seit dieser Zeit spurlos verschwunden sei. Die Buntrock, ins Verhör genommen, gestand, auch die Klages, in Gemeinschaft mit Erbe, im Walde bei Eschede ermordet und beraubt zu haben. Auf eine Zeitungsannonce in Hannover: „Eine Grafenfamilie sucht eine Reisebegleiterin“, hatten sich vier junge Damen gemeldet. Von diesen habe sie der Klages den Vorzug gegeben, da diese am elegantesten gekleidet war. Die Klages fuhr zunächst noch einmal nach Hameln, um von ihren Eltern Abschied zu nehmen. (Sie nahm für immer Abschied.)

Als die Klages nach Hannover zurückgekehrt war, sei sie (die Buntrock) mit dem Mädchen nach Eschede gefahren. Erbe fuhr in demselben Zuge, aber nicht in demselben Kupee. In Eschede angelangt, habe sie sich mit dem jungen Mädchen in ein Gasthaus begeben, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Bald darauf sei auch Erbe in das Gasthaus gekommen. Er habe aber an einem anderen Tische Platz genommen und getan, als würde er sie nicht kennen. Nach etwa 20 Minuten habe sie mit dem jungen Mädchen den Weg nach dem Grafenschloss, das, wie sie vorgab, am Saum des Waldes gelegen sei, angetreten. Sie hatten sich aber im Walde verirrt. Da habe sie zu dem jungen Mädchen gesagt, sie wollen sich ein bisschen ausruhen. Inzwischen werde wohl jemand kommen, der ihnen den Weg zeigen werde. Sehr bald darauf sei Erbe gekommen. ‚Dieser fremde Herr‘ zeigte bereitwilligst den Weg zum Schloss und führte die Damen durch eine Schlucht. Plötzlich habe sie (Buntrock) der Klages einen Knebel in den Mund gesteckt. Da das Mädchen sich heftig sträubte, hielt Erbe ihr die Hände fest. Alsdann warf Erbe das Mädchen zu Boden. Er hatte sich vorher dem Mädchen als Arzt ausgegeben und ihm den Hals untersucht; er wollte wissen, wo die Schlagader sich befinde. Er habe das Mädchen zunächst vergewaltigt und ihr alsdann, während er auf ihr kniete, mit einem großen, scharfen Messer den Hals abgeschnitten. Erbe habe darauf mit einem Spaten, den er stets mit sich führte, ein Loch gegraben.

Währenddessen habe sie (Buntrock) die Ermordete entkleidet und ihr die Finger- und Ohrringe abgenommen. Da die Ringe zu fest an den Fingern saßen, habe sie der Ermordeten die Finger abgeschnitten. Alsdann habe sie, in Gemeinschaft mit Erbe, die Leiche zerstückelt und stückweise im Walde verscharrt. In ganz ähnlicher Weise haben sie die Kasten im Neuhaldenslebener Walde ermordet.

Die Gerichtsverhandlung. Ende Juni 1892 hatten sich Erbe und Buntrock vor dem Magdeburger Schwurgericht zu verantworten. Erbe bestritt mit größter Entschiedenheit, von den Mordtaten etwas zu wissen. Die Buntrock, die jedenfalls mit ihrem anderen Liebhaber, einem Manne namens Carl Behrens, die Morde begangen, bezichtige ihn, weil sie sich an ihm rächen wolle. In der Verhandlung erschien ein junges Mädchen, Fräulein Gerecht (Wirtstochter aus Eschede) als Zeugin. Diese bekundete: Sie erinnere sich ganz genau, das die Buntrock eines Vormittags im August 1890 mit einem jungen, bildhübschen Mädchen in der Gastwirtschaft ihres Vaters eingekehrt sei. Kurz darauf sei ein Mann in die Gaststube getreten und habe an einem anderen Tische Platz genommen. Die Buntrock und das junge Mädchen haben Kaffee, der Mann, in dem sie mit voller Bestimmtheit Erbe wiedererkenne, ein Glas Bier getrunken. Erbe sei etwa zehn Minuten später als die Buntrock und das junge Mädchen aus dem Gasthause weggegangen. Sie (Zeugin) habe dem Erbe lange Zeit nachgeschaut, dabei sei ihr der eigentümliche Gang des Mannes aufgefallen. Auf Auffordern des Vorsitzenden, Landgerichtsdirektors Polte, ahmt die Zeugin den Gang nach. Alsdann befahl der Vorsitzende dem Erbe, einige Male im Gerichtssaal auf und ab zu gehen. „Das ist der Mann, jeder Zweifel ist ausgeschlossen,“ versetzte das Mädchen.

Vorsitzender: Was veranlasste Sie, sich den Mann so genau anzusehen und seinen Gang zu beobachten? Zeugin: Der Mann und auch die Buntrock machten auf mich einen unheimlichen Eindruck. Mir schien es, als gehörten Erbe und Buntrock zusammen und ich konnte den Gedanken nicht loswerden, dass diese beiden das nette junge Mädchen im Walde ermorden und berauben wollten.

Die Buntrock bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Die Kasten sei groß und stark gewesen, sie habe sich furchtbar gewehrt. Da konnte Erbe nicht lange nach der Schlagader suchen, sondern musste schnell dem Mädchen den Hals abschneiden.

Vorsitzender: War denn die Kasten, nachdem ihr der Hals durchschnitten war, sofort tot? Buntrock: Nein, sie zappelte noch etwa zehn Minuten.

Vorsitzender: Schrie sie denn nicht? Buntrock: Sie konnte ja nicht schreien, wir hatten ihr zunächst einen Knebel in den Mund gepresst und sie alsdann zur Erde geworfen.

Vorsitzender: Was taten Sie, als Erbe der Kasten den Hals durchschnitt? Buntrock: Ich habe der Ermordeten den Kopf festgehalten, sie suchte sich zu wehren.

Vorsitzender: Sie müssen doch dabei beide stark mit Blut bespritzt gewesen sein? Buntrock: Jawohl.

Vorsitzender: Das war im Mai 1890 und im August 1890 haben Sie in genau derselben Weise die siebzehnjährige Dora Klages im Escheder Walde geschlachtet? Buntrock: Jawohl.

Vorsitzender: Sie hatten sich das Mädchenschlachten geradezu als Handwerk auserkoren, denn Ihr Verdienst ist es nicht, dass Sie nicht noch mehrere Mädchen ermordet haben? In Dortmund haben zwei Mädchen es abgelehnt, mit Ihnen durch den Wald zu gehen, weil Sie ihnen zu aufdringlich schienen. Ein anderes Mädchen ist der Ermordung entgangen, weil die Großmutter es nicht rechtzeitig geweckt hatte. Wenn noch mehrere Mädchen Ihre Vermittlung in Anspruch genommen hätten, dann würden Sie wohl noch mehrere Morde begangen haben? Buntrock: Das kann ich nicht sagen.

Vorsitzender: Hat sich die Klages auch gewehrt? Buntrock: Jawohl, die Klages war aber bedeutend schwächer als die Kasten, wir konnten sie daher schneller überwältigen.

Vorsitzender: Hat sie denn nicht geschrien? Buntrock: Sie versuchte es, obwohl ihr auch ein Knebel in den Mund gepresst worden war, ich deckte aber, als sie zu schreien begann, meinen Mantel über ihr Gesicht.

Vorsitzender: Starb die Klages schnell? Buntrock: Die Klages hat noch sehr lange gezappelt, wir schnitten ihr deshalb die Beine ab. (Ausrufe des Entsetzens im Zuhörerraum.)

Vorsitzender: Der Kasten haben Sie, außer ihren Kleidern, goldene Uhr, Kette, die Ringe, die sie an den Fingern trug und 60 Mark bares Geld geraubt? Buntrock: Jawohl.

Vorsitzender: Hatte die Klages auch Geld bei sich? Buntrock: Nicht einen Pfennig.

Vorsitzender: Das war Ihnen vorher bekannt? Buntrock: Ich fragte sie in Eschede, ob sie Geld habe, da antwortete sie: nicht einen Pfennig.

Vorsitzender: Das Reisegeld von Hannover nach Eschede und den Kaffee in Eschede haben Sie für das Mädchen bezahlt?

Buntrock: Jawohl.

Vorsitzender: Sie wussten, dass die Klages kein Geld bei sich hatte, und trotzdem ermordeten Sie sie? Buntrock: Die Klages hatte aber sehr schöne Sachen.

Vorsitzender: Der bloßen Sachen wegen haben Sie das Mädchen wie ein Stück Vieh geschlachtet? Buntrock: Sie hatte ein sehr hübsches Kleid.

Vorsitzender: Ihre Wirtin in Osnabrück hat erzählt: Sie haben nachts häufig geweint? Buntrock: Das geschah wegen des vielen Totmachens.

Heftig weinend betrat Hotelier Klages aus Hameln als Zeuge den Gerichtssaal. Er bekundete mit tränenerstickter Stimme: Die Dora sei sein Liebling gewesen. Als sie von Hannover nach Hameln kam, um noch einmal Abschied zu nehmen, sei er nicht zu Hause gewesen, er habe mithin sein Kind nicht mehr sehen können. Seitdem seine herzensgute Dora verschwunden sei, habe er keine glückliche Stunde mehr.

Auch der Bruder der Buntrock, ein wohlhabender Tischlermeister, der eine große Möbelhandlung in Holzminden hatte, erschien als Leumundszeuge. Als die Buntrock des Bruders ansichtig wurde, fiel sie in einen heftigen Weinkrampf. Der Bruder der verruchten Mörderin weinte ebenfalls bitterlich. Auf Erbe machte all dies nicht den geringsten Eindruck. Er leugnete beharrlich, an den Mordtaten beteiligt zu sein, er sei der bestimmten Ansicht, dass der frühere Liebhaber der Buntrock, Carl Behrens, der vor einigen Monaten nach Amerika gegangen, der Mörder sei; der von Erbe angetretene Alibibeweis misslang aber vollständig. Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme blieb auch nicht der leiseste Zweifel, das Erbe der Mittäter war, es konnte auch niemand bekunden, das die Buntrock jemals einen anderen Liebhaber gehabt habe. Die Angeklagte: wurden beide zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Kap. 2: Frühe Denker und das Problem der Ethik

Johannes: Wir waren beim letzten Treffen bei den Tugenden der klassischen Philosophie.

Detlef: … und bei der höchsten Tugend: der ‚Geduld‘.

Wolfgang: Die brauchten wir auch für deine etwas skurrile Geschichte.

Detlef: In früheren Zeiten, ging es halt etwas gewalttätiger zu.

Dirk: Das stimmt, aber bevor wir und jetzt mit aristotelischen Ethiken beschäftigen, würde ich doch gern darüber nachdenken, wie das Gedankengebäude der Ethik weiter gebaut wurde.

Jürgen: Da kommst du voll auf deine Kosten, denn es geht philosophisch-theologisch weiter. Kein geringerer als Thomas von Aquin hat das Gebäude weiter gebaut. Er hat nämlich eine Neugliederung vorgenommen: Glückseligkeitsethik, Vollkommenheitsethik, Güter-, Vernunft- und Gesetzesethik.

Wolfgang: Unter all den Begriffen kann ich mir ja etwas vorstellen, aber was ist denn eine Güterethik?

Dirk: Ein Gut ist in der Ethik ein mögliches Ziel des menschlichen Strebens.

Johannes: Das Problem ist nur, es kann ein anderes Gut beeinträchtigen.

Detlef: Dann findet eine Güterabwägung statt. Das Problem stellt sich bei jeder Scheidung.

Wolfgang: Danke, das kann ich mir jetzt vorstellen: auch wenn mich einer überfällt, fällt nicht jede Gegenwehr unter Notwehr.

Jürgen: Genau, denkt nur an Dresden, Berlin und Köln, die wurden zum Ende des Krieges völlig zerbombt. Das waren Kriegsverbrechen, aber den Sieger belangt keiner.

Johannes: Aber tröste dich, die Geschichtsschreibung wird unbarmherziger, je weiter ein Ereignis entfernt ist. Irgendwann werden solche Rachefeldzüge auch richtig eingeordnet. Du siehst ja, bei den Türken hat es fast 100 Jahre gedauert, bis der Völkermord an den Armeniern benannt wurde, was er war.

Dirk: Das ist gut, das heißt: gut ist, dass Untaten irgendwann auch richtig benannt werden. Lieber wäre mir, es hätte solche furchtbaren Dinge nie gegeben.

Detlef: Da sind wir auch gleich beim nächsten Baumeister am Gedankengebäude der Ethik. Habt ihr schon mal von ‚Hobbes‘ gehört?

Wolfgang: „Der Mensch ist des Menschen Wolf.“

Jürgen: Genau, ein klassisches Zitat von Plinius, das Hobbes bei einem Widmungsschreiben für sein Hauptwerk ‚Der Leviathan‘ benutzt hat.

Johannes: Es fehlt aber das Gegenstück: „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott“, denn es ging ihm ja darum, das friedliche und zivilisierte Leben einer idealen Gesellschaft mit moralischen und politischen Regeln dem tierischen Leben gegenüberzustellen. Das war das, was man ‚hypothetischen Naturzustand‘ nennt, in dem es permanent Feindseligkeit und Misstrauen gab. So hat er die Ethik unter dem Gesichtspunkt des Naturrechtes des Menschen formuliert.

Wolfgang: Recht ist also von Natur aus gegeben. Da gibt es doch gar keine Entwicklung!

Dirk: Deshalb ist Kant ja auch zu anderen Lösung gekommen. Kant formulierte den „kategorischen Imperativ“ - sprich: Handlungsmaximen müssen sich überprüfen lassen auf ihre Verallgemeinerbarkeit, also: handle so, dass dein Handeln jederzeit allgemeines Gesetz werden kann.

Detlef: Das ging mir jetzt ein bisschen zu schnell. Das hört sich ja an, als gelte das als Handlungsnorm, es geht doch aber um das Überprüfen von Handlungen.

Dirk: Genau, deshalb hat Kant ja auch Beispiele formuliert. Er hat über die Zehn Gebote nachgedacht und gesagt: Unter dem Aspekt der Lehre vom Kategorischen Imperativ hat er die nämlich nicht als ‚Willen Gottes‘, sondern als ‚Selbstverpflichtung der menschlichen Vernunft‘ aufgefasst.

Wolfgang: Das heißt also, was Kant unter Maxime versteht, würde ich als moralischen Kompass betrachten, als Leitsatz für mein persönliches Handeln.

Jürgen: Das erinnert mich an einen deutsch-amerikanischen Philosophen, den ich in den achtziger Jahren gelesen habe, der in kantischer Tradition sagt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit dem bestehenden Leben / menschlichen Leben auf Erden.“

Dirk: Genau, seine Verantwortungsethik war mir auch sehr nachvollziehbar.

Johannes: In gewisser Weise hatten ja die Existentialisten auch eine solche Verantwortungsethik.

Detlef: Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus, die habe ich schon als Jugendlicher gern gelesen, weil sie ihre Philosophie in Romane verpackten.

Jürgen: Mir ging es genauso: Ihre Maxime war in jeder Geschichte erfahrbar.

Wolfgang: Die Freiheit des Menschen zwingt ihn zum Handeln, weil er nur so Selbstbestimmung erlangt.

Dirk: Heute aber anders verhandelt: Im Angesprochen sein durch den Anderen wird man aufgerufen zur Übernahme von Verantwortung. Aber Gabriel Marcel war so eine Art christlicher Existentialist, den fand ich auch spannend.

Johannes: Genau, der Kierkegaard des 20. Jahrhunderts, der schon vor Sartre Existentialist war, und dem es darum ging, die ‚Entfremdung des Menschen‘ in einer Welt zu überwinden, in der das Haben wichtiger als das Sein war.

Jürgen: Viele sehen heute deshalb die ‚teleologische Ethik‘ als Maßstab und Ausgangspunkt jeglicher Politik und Moral von Rechtsgemeinschaften: Es geht da um Ehrfurcht vor dem Leben, z.B. vor dem Hintergrund der Erhaltung der bewohnbaren Welt entgegen dem totalen Handeln i. S. Gut ist, alles zu tun, was möglich ist.

Wolfgang: ‚Teleologisch‘ meint?

Johannes: Das meint: Jedes Lebewesen verfolgt naturgegebene ‚Ziele‘. Denk man an unser Ernährung, dann wären diese Ziele, mich gesund zu ernähren, aber eben auch kostengünstig, alles sollte naturbelassen sein, Nahrung sollte also umweltschonend produziert werden und zeitsparend in der Vorbereitung sein.

Dirk: Da würde ich auch Willi Marx nennen wollen. Auf dem Hintergrund der Erfahrung der Sterblichkeit galt ihm als Maß für die Unterscheidung von Gut und Böse: Mitleid, Nächstenliebe und menschliche Anerkennung. Das stand gegen Absolutheitsansprüchen von Wissenschaftlern, Massenstatistiken, hinter denen das Subjekt in seiner Einzigartigkeit verschwindet. Als Ziel sah er vielmehr das ‚Verantwortungsbewusstsein‘, dem Werte wie ‚Frieden‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Recht auf Leben‘ zugeordnet sind.

Wolfgang: Mein Ziel ist es jetzt allerdings, euch meine Geschichte nahezubringen.

Ein blutiges Drama

Eine Bluttat, die den Psychologen vor ein unlösbares Rätsel stellt, ereignete sich im Oktober 1905 in der Herzoglichen Residenzstadt Braunschweig. Ein den Knabenschuhen gerade entwachsener Mensch, Sohn sehr anständiger Eltern, hatte zwei bildschöne junge Mädchen, denen er Musikunterricht erteilte, wie er versicherte, auf deren ausdrückliches Verlangen, in einer Weise erschossen, dass, als der junge Mann die Tat im Gerichtssaale schilderte, selbst ergraute Kriminalisten ein Schaudern überkam. Die Tat des achtzehnjährigen Banklehrlings Paul Brunke erregte in ganz Deutschland und auch im Ausland ein furchtbares Aufsehen. Als Brunke am 21. März 1906 sich vor der ersten Strafkammer des Braunschweiger Landgerichts zu verantworten hatte, wurde der Zuhörerraum von Damen und Herren der besten Gesellschaft geradezu gestürmt. Brunke war verhältnismäßig klein, bartlos, hellblond. Er hatte ein selten schönes Gesicht und machte den Eindruck eines gebildeten jungen Mannes. Er verstand sich sehr gewählt auszudrücken, sein ganzes Auftreten war durchaus vornehm zu nennen. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Roßmann. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Reinking. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Dr. Robert, Braunschweig.

Der Vorsitzende bemerkte nach Eröffnung der Verhandlung: Ehe wir in die Verhandlung eintreten, wird zu erwägen sein, ob im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit auszuschließen ist. Es werden in der Verhandlung die hässlichsten Laster zur Erörterung gelangen, deren ein Mensch nur irgend fähig ist. Es wäre doch wohl geboten, die Öffentlichkeit auszuschließen.

Staatsanwalt Reinking: Ich bin der Meinung, dass die Verhandlung öffentlich geführt werden kann. Die Sache hat die weite Öffentlichkeit in einem Maße beschäftigt, dass die Öffentlichkeit auch ein Recht hat, von der Verhandlung volle Kenntnis zu erhalten. Ich halte es auch für erforderlich, dass das Publikum die einzelnen Vorgänge erfährt. Ich halte es für möglich, die Verhandlung so zu führen, dass die öffentliche Sittlichkeit nicht verletzt wird. Allerdings wäre es den im Zuschauerraum befindlichen Damen anzuraten, sich zu entfernen. Ich werde daher einen Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit nicht stellen, sondern gebe die Entscheidung dem Gerichtshof anheim.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Robert: Ich kann mich den Ausführungen des Herrn Staatsanwalts nur anschließen. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung ist die höchste Errungenschaft der Neuzeit. Die vorliegende Sache hat weit über die Grenzen Deutschlands das größte Aufsehen gemacht, ich halte es daher für dringend notwendig, die Verhandlung öffentlich zu führen. Aber auch der Angeklagte hat ein Interesse, dass die Verhandlung öffentlich geführt wird. Es sind in der Öffentlichkeit solch unsinnige Gerüchte verbreitet worden, dass es im dringenden Interesse der Sache liegt, die Verhandlung öffentlich zu führen.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Eröffnungsbeschluss in öffentlicher Sitzung zu verlesen.

Nach dem Eröffnungsbeschluss war der Angeklagte der vorsätzlichen Tötung im Sinne des § 216 des Strafgesetzbuches und der Unterschlagung und des Diebstahls beschuldigt.

Der Vorsitzende verkündete alsdann: Der Gerichtshof hat beschlossen, nunmehr die Öffentlichkeit auszuschließen, da durch die Öffentlichkeit der Verhandlung der öffentlichen Sittlichkeit Gefahr droht. Die Vertreter der Presse sind zugelassen, der Zuhörerraum ist zu räumen.

Der Vorsitzende ließ hierauf den Angeklagten vor den Richtertisch treten. Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei am 27. Juli 1887 als Sohn eines Schlossermeisters in Braunschweig geboren, lutherischer Konfession. Er habe die Oberrealschule bis zur Untersekunda besucht und sei am 4. Juli 1904 in das Braunschweiger Bankgeschäft von Spanjer-Herford als Lehrling eingetreten. Er hatte sich vorher bei der Kaiserlichen Marine gemeldet, wurde aber als zu schwach befunden und deshalb nicht angenommen. Sein Vater sei tot. Er habe noch einen Bruder und zwei bereits verheiratete Schwestern. Seine Mutter habe in der Monumentstraße 1 in Braunschweig parterre und erste Etage eine Wohnung zwecks Abvermietens gehabt. Von dem Plus des Abvermietens habe seine Mutter gelebt. Der Angeklagte sei außer von seiner Mutter von einzelnen Wohltätern und von seinen Schwestern unterstützt worden. Er habe, nachdem er in das Bankgeschäft eingetreten war, Geschichte und Philosophie getrieben. Ganz besonders habe er ‚Kritik der reinen Vernunft‘ von Kant, sämtliche Werke Schopenhauers, die Gedichte von Heine u.a. gelesen.

Vorsitzender: Haben Sie dies alles, insbesondere Schopenhauer und Kant, denn auch verstanden?

Angeklagter: Jawohl.

Vorsitzender: Na, hören Sie einmal, das fällt manchem gebildeten Erwachsenen schwer.

Angeklagter: Ich habe alles verstanden.

Vorsitzender: Sie haben sich auch mit dramatischer Poesie beschäftigt?

Angeklagter: Jawohl.

Vorsitzender: Sie haben selbst mehrere Dramen verfasst und diese dem hiesigen Hoftheater, dem Deutschen Theater und dem Lessing-Theater in Berlin zur Aufführung eingereicht?

Angeklagter: Jawohl.

Vorsitzender: Das erste Drama betitelte sich ‚Ein Sonderling‘, der Sonderling waren Sie?

Angeklagter: Jawohl.

Vorsitzender: Ein zweites Drama betitelte sich ‚Elternlos‘.

Angeklagter: Jawohl.

Vorsitzender: Wie kamen Sie auf den Gedanken, Theaterstücke zu schreiben?

Angeklagter: Ich hatte die Absicht, Schriftsteller zu werden.

Vorsitzender: Sie hatten doch aber die Absicht, das Bankgeschäft zu erlernen?

Angeklagter: Es gefiel mir in dem Bankgeschäft nicht, ich wollte daher Schriftsteller werden.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte, er sei bereits als Achtjähriger von einem Erwachsenen zum unnatürlichen Geschlechtsverkehr verführt worden. Nachdem er größer wurde, habe er mit gleichaltrigen und auch erwachsenen Mädchen unzüchtigen Verkehr in sehr erheblichem Maße unterhalten, sodass seine Gesundheit eine wesentliche Beeinträchtigung erfahren hatte. Die Unterschlagung bei seinem Prinzipal gebe er zu, er sei aber der Meinung gewesen, er werde aus dem Honorar, das er für seine Dramen erhalten werde, in die Lage kommen, den Schaden zu ersetzen. Er habe auch den Versuch gemacht, für Musikzeitungen und die ‚Gartenlaube‘ zu schreiben, er sei aber auch dort mit seinen Anerbietungen abschlägig beschieden worden. Er sei infolge seines ausschweifenden Lebens so geschwächt gewesen, dass er genötigt war, stärkende Sachen zu sich zu nehmen. Deshalb habe er sich verleiten lassen, bei seinem Prinzipal die Unterschlagung zu begehen. Die Geschwister Haars halten in den ‚Braunschweiger Neuesten Nachrichten‘ einen Klavierlehrer gesucht. Er habe sich daraufhin gemeldet. Honorar habe er nicht erhalten.

Vorsitzender: Es handelte sich wohl dabei mehr um eine Liebelei?

Angeklagter: Ganz recht, Herr Präsident: es handelte sich in der Hauptsache um eine Liebelei. Brunke bemerkte weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe mit der jüngeren, der Alma Haars, ein Liebesverhältnis angeknüpft, obwohl ihm die ältere, Martha, besser gefiel. Diese hatte aber einen Bräutigam. Unzüchtigen Verkehr habe er mit keinem der beiden Mädchen gehabt. Er hatte sehr bald eingesehen, dass beide Mädchen vollständig unschuldige, anständige Mädchen waren, bei denen ein unzüchtiger Verkehr ausgeschlossen war. Martha erhielt nach einiger Zeit einen Brief von ihrem Bräutigam, in dem dieser schrieb: Er müsse die Beziehungen zu ihr abbrechen, da sein Vater in eine Verehelichung mit ihr nicht willigen wolle. Martha wurde daher sehr niedergeschlagen und ersuchte ihn (den Angeklagten), ihr Morphium zu verschaffen, damit sie sich vergiften könne. Es sei ihm aber nicht gelungen, Morphium zu erhalten. Darauf habe Martha ihn gebeten, sie zu erschießen. Er habe zunächst abgelehnt. Infolge der steten Ablehnungen seiner Dramen hatte er aber beschlossen, ebenfalls aus dem Leben zu scheiden. Dies habe er der Alma mitgeteilt. Da habe Alma gesagt: Wenn ihr aus dem Leben scheidet, dann will ich auch sterben. Dies habe er Martha erzählt. Letztere sei sofort mit dem Plan, dass sie alle drei gemeinsam sterben, einverstanden gewesen. Martha habe ihm alsdann 20 Mark gegeben, damit er einen guten Revolver und Patronen kaufen könne. Auf Ersuchen der Mädchen habe er sich zunächst im Schießen geübt. Am Abend des 17. Okt. 1905 sollte die Tat ausgeführt werden.

Am Montag, den 15. Oktober, sei er mit den beiden Mädchen noch ausgegangen. Am folgenden Tage, den 16. Oktober, habe er mit den beiden Mädchen Klavier gespielt. Am 17. Oktober, abends gegen 8 Uhr, seien die beiden Mädchen zu ihm in die Wohnung gekommen. Er hatte seiner Mutter ein Billett zu einer Spezialitätentheatervorstellung gekauft, damit er mit den Mädchen in der Wohnung allein sein konnte. Alma machte zunächst den Vorschlag, in ihre elterliche Wohnung zu fahren und sich der Korsetts zu entledigen, da die Kugeln an den Korsetts abprallen könnten. Sie seien nun alle drei in einer Droschke in deren elterliche Wohnung gefahren. Er habe unten gewartet. Die beiden Mädchen haben an ihre Eltern einen Brief geschrieben, in dem sie diese um Verzeihung baten, dass sie beschlossen hätten, aus dem Leben zu scheiden. Alsdann entledigten sie sich der Korsetts und zogen weißseidene Blusen an. Hierauf fuhren sie in seine Wohnung zurück. Auf Ersuchen der Mädchen holte er zwei Flaschen Champagner à 15 Mark; das Geld habe ihm Martha gegeben. Nachdem sie den Champagner ausgetrunken hatten, ersuchte ihn Alma, zunächst einen Probeschuss abzugeben. Er schoss auf eine Photographie, der Schuss traf vortrefflich. Alsdann setzte er die Mädchen auf einen Sessel dicht nebeneinander. Er schoss zuerst auf Martha. Die Kugel traf mitten ins Herz. Martha röchelte noch einige Augenblicke und war gleich darauf tot. Nun sagte Alma: „Jetzt erschieße mich.“ Er zielte auf Alma und traf auch diese sofort tödlich ins Herz. Jetzt wollte er sich erschießen, allein angesichts der beiden Leichen fehlte ihm der Mut dazu. Er lief zur Polizei und erzählte, was geschehen war.

Vorsitzender: Sie sollen zunächst mit den Mädchen auf einem Bett gesessen haben. Dadurch sei das Bett in Unordnung gekommen. Sie haben das Bett in Ordnung gebracht, damit man nicht auf den Gedanken komme, es seien Unsittlichkeiten begangen worden.

Angeklagter: Das ist richtig.

Vorsitzender: Hielten Sie es denn nicht für ein Verbrechen, zwei Menschen zu erschießen?

Angeklagter: Die Mädchen baten mich doch, sie zu erschießen.

Vorsitzender: Das durfte Sie aber doch nicht veranlassen, ein solch furchtbares Verbrechen zu begehen, dachten Sie denn nicht an das Herzeleid, das Sie den Eltern der Mädchen bereiteten?

Angeklagter: Ich dachte wohl daran, aber die Mädchen baten mich doch so sehr.

Vorsitzender: Sie sind konfirmiert worden. Da haben Sie doch die Lehren des Christentums empfangen?

Angeklagter: Jawohl.

Vorsitzender: Da wissen Sie doch auch, dass der Mord und auch der Selbstmord eine schwere Sünde ist? Es heißt doch in der Heiligen Schrift: Du sollst nicht töten, und ferner heißt es in der Lehre des Christentums: Das Leben ist ein von Gott verliehenes Geschenk, das, wenn es auch noch so schwer ist, man sich nicht selbst nehmen darf. War Ihnen das bekannt?

Angeklagter: Jawohl.

Vorsitzender: Und trotzdem haben Sie die Mädchen erschossen!

Angeklagter: Die Mädchen baten doch so.

Vorsitzender: Alma hatte doch aber gar keinen Grund zu einem Selbstmord?

Angeklagter: Alma hatte einmal ein Liebesverhältnis mit einem Soldaten; da der Soldat von Alma nichts mehr wissen wollte, so hatte sie sich das auch sehr zu Herzen genommen.

Auf Antrag des Sachverständigen, Geh. Medizinalrats Dr. Gerlach, wurde ein Brief verlesen, den der Angeklagte am 16. November 1905 aus dem Untersuchungsgefängnis an seine Mutter geschrieben hatte. Der Brief lautete etwa: „Geliebte Mutter! Die Untersuchung gegen mich scheint sich etwas lang auszudehnen. Ich befinde mich wohlauf, nur, dass ich meiner Freiheit entbehre. Mein Klavier und meine Gitarre fehlen mir. Zu lesen habe ich genug. Das Essen ist schmackhaft und bekommt mir sehr gut. Ich bin keineswegs ein an Geist und Körper gebrochener Mensch. Wenn ich herauskomme, dann werde ich vom unreifen Knaben zum reifen Manne herangewachsen sein. Ich bin keine Verbrechernatur, ich habe nichts Entehrendes begangen.“ Der Brief schloss mit der Bitte an die Mutter, ihm eine Nagelschere und ein Buch zu schicken.

Geh. Rat Dr. Gerlach: Haben Sie den Brief geschrieben, damit ihn Ihre Mutter bekommen sollte oder damit er abgefangen werde?

Angeklagter: Ich habe den Brief allerdings geschrieben in der Absicht, dass er allgemein gelesen werde. Ich wollte mich gegen die Beschuldigung verwahren, da ich ein Verbrecher sei. Herr Staatsanwalt Peßler nannte mich nämlich von vornherein eine Bestie, das wollte ich zurückweisen.

Geh. Rat Dr. Gerlach: Ist es richtig, dass Sie schon, als Sie noch in der Untersekunda saßen, Dramen geschrieben haben?

Angeklagter: Jawohl.

Staatsanwalt: Haben Sie nicht auch Abschiedsbriefe geschrieben?

Angeklagter: Jawohl.

Staatsanwalt: Wo schrieben Sie die Abschiedsbriefe?

Angeklagter: Im Kontor.

Auf Antrag des Geh. Med.-Rats Dr. Gerlach wurden einige Stellen aus den Dramen verlesen.

Das dritte Drama, das Brunke auch. dem Königlichen Schauspielhause in Berlin eingereicht hatte, betitelte sich: „Aus dem Leben der Prinzessin Luise“.

Nach Vernehmung des Angeklagten beschloss der Gerichtshof, die Öffentlichkeit wiederherzustellen.

Es wurde darauf Ober-Realschuldirektor Dr. Wernicke als Zeuge aufgerufen: Er habe den Angeklagten in der Untersekunda selbst unterrichtet. Der Angeklagte sei sehr begabt und ein durchaus fleißiger Schüler gewesen. Die Lehrer seien sämtlich mit ihm zufrieden gewesen. Er habe niemals die Beobachtung gemacht, dass der Angeklagte anormal sei.

Nunmehr erschien der unglückliche Vater der getöteten Mädchen, Kaufmann Heinrich Haars, augenscheinlich von Gram erfüllt, als Zeuge. Er bekundete: Seine Töchter seien sehr sittsame, ordentliche Mädchen gewesen. Die Martha sei allerdings sehr niedergeschlagen gewesen, als ihr Bräutigam ihr abgeschrieben hatte, beide Mädchen hatten aber niemals Selbstmordgedanken geäußert.

Dr. med. Bauermeister bekundet als Zeuge und Sachverständiger: Die Schädelbildung des Angeklagten sei normal. Der Angeklagte sei aber stark hysterisch veranlagt. Er sei sowohl mütterlicher – als auch väterlicherseits erblich belastet.

Bankier Spanjer-Herford: Der Angeklagte sei ein sehr brauchbarer Mensch gewesen; aufgefallen sei es ihm nur, dass er oftmals über Dinge sprach, von denen er nichts verstanden habe.

Es wurden alsdann noch mehrere Zeugen vernommen, die die erschossenen Mädchen als höchst achtbar schilderten; sie machten einen vollständig sittenreinen Eindruck.

Frau Mushake: Martha Haars habe ihr einige Tage vor der Tat einen Brief ihres Bräutigams gezeigt, in dem dieser mitteilte, dass er alle Beziehungen mit ihr abbrechen müsse. Das Mädchen war furchtbar aufgeregt und sagte: „Ich muss mich erschießen. Meine Schwester Alma will mit mir sterben.“

Der Ehemann der Vorzeugin bestätigte diese Bekundung.

Der Vorsitzende zeigte alsdann den Prozessbeteiligten zwei auf dem Richtertische liegende Photographien, die die Stätte des Verbrechens und die Leichen veranschaulichten. Auf dem Richtertisch stand außerdem ein dem Angeklagten gehörender Apparat. Der Zweck dieses Apparates kann aus Schicklichkeitsgründen auch nicht andeutungsweise mitgeteilt werden.

Polizei-Inspektor Bussenius: Der Angeklagte habe ihm am Abend des 17. Oktober 1905 seine furchtbare Tat in so ruhiger Weise geschildert, dass er sofort zu der Ansicht kam, der Angeklagte sei geistesgestört. Zum mindesten habe er sich gesagt, der junge Mensch müsse die Tat im Rausch getan haben, zumal er nach Spirituosen roch. Der Zeuge hatte auch sofort festgestellt, dass der Angeklagte mit seinen Opfern vor der Tat Champagner getrunken hatte. Auf seine Frage, wie er denn dazu gekommen sei, die Mädchen zu erschießen, sagte Brunke: „Sie wollten es ja haben.“

Sanitätsrat Dr. Roth: Die Mutter des Angeklagten sei stark nervös, ob der Vater ein Trinker war, stehe nicht fest. Der Bruder des Angeklagten sei von derselben geistigen Beschaffenheit wie er. Der Angeklagte sei nicht unbegabt, seine frühzeitige geschlechtliche Ausschweifung habe ihn jedoch geistig und körperlich geschwächt. Das Lesen von Schopenhauer und Kant habe ihn zu der Geringschätzung des Lebens geführt. Er habe während seiner ganzen Untersuchungshaft nicht eine Spur von Reue gezeigt. Dafür spreche auch der verlesene Brief, in dem er u.a. schrieb: ‚Ich bin keineswegs eine geknickte Lilie, sondern eine trotzige Eiche.‘ Der Angeklagte gab verschiedene Ursachen für den Selbstmord an. Der Hauptbeweggrund war wohl, dass er jede Möglichkeit ausgeschlossen sah, aus seinen literarischen Arbeiten finanzielle Einnahmen zu erhalten und damit den von ihm begangenen Kassendefekt zu decken. Der Angeklagte sei weder geisteskrank noch geistesschwach, aber infolge erblicher Belastung, Selbstüberschätzung und seines ausschweifenden Lebenswandels körperlich und geistig degeneriert.

Staatsanwalt: Wie erklären Sie die Ruhe, mit der der Angeklagte sogleich nach der Tat diese erzählt hat?

Sanitätsrat Dr. Roth: Der Angeklagte glaubte, er habe nichts Böses begangen; er ist der Meinung, er wollte nicht feige sein, er musste das den Mädchen gegebene Versprechen einlösen. Der Angeklagte ist auch jetzt noch dieser Ansicht, er bereut auch jetzt noch nicht die Tat. Als ich gestern den Angeklagten besuchte, fragte er mich, ob, wenn er bestraft werde, er Soldat werden könnte, er habe große Lust, Soldat zu werden.

Geh. Medizinalrat Irrenhausdirektor Dr. Gerlach: Ich kann mich im Großen und Ganzen dem Gutachten des Herrn Sanitätsrats Dr. Roth anschließen. Der Angeklagte ist in physischer Beziehung eine normale Natur. Der Hauptbeweggrund für den Angeklagten war zweifellos, dass er keine Möglichkeit sah, den von ihm begangenen Kassendefekt zu decken. Er sagte mir: Wenn ihm noch am 17. Oktober jemand 1000 M. gegeben hätte, sodass er in der Lage gewesen wäre, den Kassendefekt zu decken, dann würde er den Mädchen etwas gepfiffen haben; er hätte sie alsdann nicht erschossen. Dass der Angeklagte seine Tat in keiner Weise bereut, sondern sogar der Meinung ist, er habe eine heroische Tat begangen, geht aus dem Umstande hervor, dass er einmal äußerte: Wenn er herauskomme, dann werde er das Zimmer, in dem er die Mädchen erschossen habe, schwarz dekorieren lassen. (Bewegung im Zuhörerraum.) Der Angeklagte erzählte mir ferner, als er sich bei mir zur Beobachtung befand: Er sei einmal in einer recht fröhlichen Gesellschaft gewesen, bei ihm sei es aber bald sehr öde und leer geworden. Er musste sich sehr schnell aus der Gesellschaft entfernen, da er nur dann einen moralischen Halt habe, wenn ihm der ganze Ernst des Lebens in die Erscheinung trete. Es sei deshalb gut, dass er in meiner Anstalt zur Beobachtung sei. Sollte er für krank erklärt werden, dann müsse er abwarten, was aus ihm werde. Sollte er für gesund erklärt werden, dann bleibe ihm nichts weiter übrig als der Selbstmord. Der Angeklagte ist wohl geistig und körperlich degeneriert, die freie Willensbestimmung ist aber weder dauernd noch zur Zeit der Tat bei ihm ausgeschlossen gewesen.

Staatsanwalt Reinking führte im Schlussvortrag aus: Das Drama, das uns heute beschäftigt, hat weit über die Grenzen Braunschweigs, ja Deutschlands, berechtigtes Aufsehen erregt. Ich gebe zu, der Angeklagte ist erblich belastet. Er ist durch Selbstüberschätzung, sexuelle Verirrung und unverdautes Studium philosophischer Werke geistig und körperlich degeneriert, seine freie Willensbestimmung ist aber weder dauernd noch zur Zeit der Tat ausgeschlossen gewesen. Ich will auch zugeben, dass die Mädchen erschossen werden wollten und dass Martha Haars wiederholt den vergeblichen Versuch machte, sich zu töten. Andererseits muss dem Angeklagten klargemacht werden, dass er nicht derartig gegen die staatliche Ordnung handeln darf. Der Staatsanwalt erörterte alsdann die vom Angeklagten in dem Bankgeschäft verübten Straftaten und beantragte eine Gesamtstrafe von neun Jahren sechs Monaten Gefängnis. Er gebe sich der Hoffnung hin, dass die Strafe zur Besserung des Angeklagten beitragen werde.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Robert: Die Tat des Angeklagten ist zweifellos eine furchtbare. Die erschossenen Opfer schreien gewiss nach Sühne. Aber andererseits müssen doch bei Beurteilung der Tat die gesamten Umstände in Betracht gezogen werden. Wenn hier auch der römische Grundsatz: „Volenti non fit injuria“ (dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht) nicht zur Anwendung kommen kann, so muss doch in Betracht gezogen werden, dass der Angeklagte unter einem gewissen Zwange gehandelt hat und dass er zum mindesten geistig degeneriert ist. Wenn man sich das noch knabenhafte Gesicht des Angeklagten ansieht, dann steht man wie vor einem unlösbaren psychologischen Rätsel. Der Angeklagte ist sich bis heute der Tragweite seiner Handlungsweise nicht bewusst. Er sagte mir mit voller Seelenruhe: ‚Ich habe doch kein Verbrechen begangen! Die Mädchen wollten doch erschossen werden, für das Erschießen bin also nicht ich, sondern die Mädchen verantwortlich.‘ Der Verteidiger verlas den von Martha Haars geschriebenen Abschiedsbrief, in dem es hieß: „Lieber Oskar! Ich gehe Deinetwegen in den Tod. Alma kommt aus Liebe zu mir mit.“ Der Verteidiger schloss: Eine lange Strafe sei bei dem Angeklagten nicht angebracht. Er sei kein schlechter Mensch. Der Verteidiger habe die Überzeugung, aus dem Angeklagten könne noch etwas werden. Er ersuche, auf die niedrigste zulässige Strafe zu erkennen.

Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden, dass er nichts weiter zu sagen habe.

Nach etwa einer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Roßmann: Der Gerichtshof hat den Angeklagten der zweifachen vorsätzlichen Tötung im Sinne des § 216 des Strafgesetzbuches und des Diebstahls in 20 Fällen für schuldig erachtet und deshalb den Angeklagten zu einer Gesamtstrafe von acht Jahren Gefängnis verurteilt. Der Gerichtshof erblickt in den Tötungen zwei selbständige Handlungen. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass der Angeklagte geistig gesund, aber in sittlicher Beziehung minderwertig ist. Es geht ihm das Bewusstsein für sittliches Gefühl vollständig ab.

Bei der Strafzumessung hat der Gerichtshof die Scheußlichkeit der Tat und den Umstand in Erwägung gezogen, dass der Angeklagte über zwei Familien furchtbares Unglück gebracht hat. Strafmildernd ist die große Jugend und die sittliche Minderwertigkeit des Angeklagten in Betracht gezogen worden. Fünf Monate sind dem Angeklagten auf die Untersuchungshaft angerechnet und außerdem die Kosten des Verfahrens ihm auferlegt worden. Der Angeklagte, der auch das Urteil mit der größten Gleichgültigkeit anhörte, sprach noch kurze Zeit mit seinem Verteidiger. Er folgte alsdann einem Gerichtsdiener willig in seine Zelle. Einige Wochen darauf hatte sich Brunke in seiner Zelle erhängt.

Kap. 3: Schönes vereinigt Theorie und Praxis

Detlef: Nach so viel Theorie würde ich mir wünschen, dass wir über Umsetzungsmöglichkeiten von Ethiken reden.

Johannes: Das gibt es zuhauf. Sogenannte ‚Hausethiken‘, die auf das Prinzip der 10 Gebote basieren.

Dirk: Das kenne ich aus dem Pflegebereich, da macht man sich auch Sätze, die helfen sollen, dass alle als Pflegegemeinschaft am gleichen Strang ziehen.

Jürgen: ‚Normative Ethiken‘, eine Art praktische Philosophie, die eine Art ‚Philosophie des Guten‘ ist. Weil sie auf Erfahrungen der langjährigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beruhen, nennt man sie auch ‚Empirische Ethik‘.

Wolfgang: Das habe ich immer ‚Sozialethik‘ genannt.

Dirk: Klar, wenn es sich im eine soziale Einrichtung handelt, ist es die Grundlage immer eine ‚Sozialethik‘, weil es als Ziel um den fairen Umgang miteinander geht … also wieder das, was wir schon besprochen haben: eine teleologische Ethik.

Johannes: Damit haben wir zwei Problemfelder von Ethiken. Die Frage nach dem höchsten Gut und die Frage nach dem richtigen Handeln. Wenn wir das schon festgestellt haben, sollten wir über weitere Problemfelder nachdenken, die den Ethiker interessieren.

Detlef: Mir fällt da als erste die Frage nach dem freien Willen ein. Ich glaube, damit hat es sich schon, sieht man von vielen Einzelproblemen ab.

Jürgen: Das sehe ich genauso. Als Theologe denke ich natürlich an Luther und sein wissenschaftliches Streitgespräch, die ‚Heidelberger Disputation‘, wo er sagte: „Der freie Wille nach dem Sündenfall ist nur noch eine Bezeichnung, und wenn er tut, soviel ihm möglich ist, tut er Todsünde. Der Wille ist ein Gefangener und ein Sklave der Sünde. Er ist nur frei zum Bösen.“

Johannes: Der Briefwechsel zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam zeigt ja deutlich, dass humanistisch geprägte Theologen doch noch einen freien Willen postulieren.

Detlef: Ich habe das mehr als einen Vermittlungsversuch des Erasmus zwischen den Konfessionen empfunden. Nietzsche finde ich aber spannender, der die Freiheit des Willens definiert als Fähigkeit eines Subjekts, zwischen Alternativen zu wählen.

Wolfgang: Schopenhauer sagt aber, dass Freiheit im Sein begründet ist, nicht im Handeln. Das heißt, ‚es kommt darauf an, was einer ist, nicht was einer tut … alles andere ergibt sich dann von selbst‘.

Johannes: Gut gebrüllt, Löwe. So erlebt man es ja oft, wenn man sich Biographien ansieht. Mancher lebt im Slum auf, aber geht unbeirrbar seinen Weg. Sicher geht es nicht ohne Handeln, aber es scheint nur eine Art Booster zu sein, eine Art Verstärker.

Dirk: Ich habe mal gelesen, dass Hirnforscher sagen, der freie Wille sie nur eine Illusion, die das Gehirn aus gutem Grund erzeugt. Das Interesse des Gehirns ist natürlich auf Lebenserhaltung programmiert.

Jürgen: Andere warnen aber auch vor solchen Aussagen, wir wissen doch noch viel zu wenig vom Gehirn. Es ist viel spannender, als wir es heute einschätzen können. Wenn Forschungen noch in Kinderschuhen stecken, ist es doch geradezu fahrlässig, solche Aussagen zu machen, wahrscheinlich sind es ja auch noch Uraltüberzeugungen von Vater Freud. Man sollte sich viel mehr mit dem beschäftigen, was man seit Menschengedenken kennt … das ist die Beurteilung unseres Umfeldes. Und wie wir uns darin bewegen können ist – ob frei oder unfrei ist eben auch Thema der Freiheit.

Johannes: Als Hauptgegenstand der Ethik gelten doch die meisten menschliche Handlungen und die sie leitenden Handlungsregelungen. Da geht es um selbstgesetzte Maximen oder vorgegebene Normen, die entweder auf die ‚Gesinnung‘ sehen, dann nennen wie es ‚Gesinnungsethik‘, oder: auf die ‚Wirkungen‘, die diese erzeugt, also eine Verantwortungsethik / Erfolgsethik).

Wolfgang: Es geht also um Ordnungen und eine Vorstellung vom Gemeinschaftsleben, die dabei oft in den Vordergrund gestellt werden

Dirk: Mit Gemeinschaftsleben meinst du Familie, Betrieb, Rechtsordnung, Staat. Führt das nicht zu weiteren Fragen?

Johannes: Genau, die nämlich, ob die zum Gemeinschaftsleben nötigen regeln ‚angeboren‘ oder ‚allgemein-menschlicher‘ Natur sind. Die andere Variante wäre: Es gelten die aus ‚Erfahrung gewonnenen Regeln‘, die über lange Zeiträume entwickelt wurden.

Detlef: Ich bin zwar eher Praktiker, aber daraus ergeben sich ja fast selbstverständlich drei Arten von Theorien, nämlich eine, die empirisch untersucht, die die Normen und Moralvorstellung, sie setzt diese aber nicht.

Johannes: Genau, die ‚Deskriptive Ethik‘.

Detlef: … und die Frage danach, was ich tun soll – sprich: sie entwickelt ein Prinzip sittliches Handeln und zeigt es auf.

Johannes: Genau, die ‚Normative Ethik‘.

Detlef: … und schließlich muss es eine Theorie geben, die die Bedingungen der Normen bedenkt. Da spielen dann solche Dinge wie ‚Gewissen‘ und ‚Handeln‘ hinein – letztlich geht es um die Bedeutung ethischer Begriffe wie ‚richtig‘ oder ‚falsch‘.

Johannes: Das ist die Meta-Ethik, die ein Versuch ist, moralische Prinzipien, Regeln und Normen zu begründen.

Wolfgang: Das heißt doch, dass jeder all das, was damit verbunden ist, erlebt haben muss.

Dirk: Durchaus nicht, denn das gibt es ja in besonderen Fällen. Ein Architekt entwirft ja auch ein Haus nach den Bedürfnissen. Das Prinzip funktioniert auch in der Ethik. Das nennt man dann eine ‚a priori-Ethik‘, also vor der Erfahrung. Ist die Erfahrung einbezogen, ist es eine ‚empirische Ethik‘. Bezieht man den geschichtlichen Wandel ein, spricht man von einer „Situationsethik“, bezieht man ihn nicht ein, von einer ‚Wesensethik‘.

Johannes: Es geht aber noch weiter. Wird die Weite des Feldes der ethischen Bedeutsamkeit einbezogen, geht es also ‚um mich selbst‘ oder ‚um die Gesellschaft‘, spricht man von ‚Individualethik‘ oder von ‚Sozialethik‘.

Jürgen: Und da schließt sich wieder der Kreis. Fragt man nach der Ausrichtung des Handelns, so sind Handlungen, die durch das Ziel begründet sind, Teil der teleologischen Ethik - geht es um Handlungsmaximen, ist es eine deontologische Ethik. Dirk: Also wieder Kant: Es geht darin um eine Regel, die unser Wollen und Handeln bestimmt.

Detlef: Das kann ja auch alles heißen. Sag doch: Diese Theorien beschreiben Handlungen, erkennen sie als schlecht und leiten daraus ab, dass sie verboten sind, selbst wenn es Lügen braucht, um sie als verboten zu erklären.

Wolfgang: Mein Kopf raucht. Wer hat denn eine Geschichte mitgebracht?

Jürgen: Leider haben wir ja Detlefs Hoffnung nicht erfüllt und sind zur Praxis gekommen. Aber ihr wisst ja, Ernst von Feuchtersleben hat einst gesagt: „Die Theorie ist nicht die Wurzel, sondern die Blüte der Praxis“. Aber das nächste Mal packen wir das Thema bei der Wurzel. Hier mein Kriminalfall:

Der Hochverratsprozess gg. Liebknecht, Bebel und Hepner

vom 11. bis 26. März 1872 vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht

In meiner langen Berufstätigkeit habe ich keinem zweiten Prozess als Berichterstatter beigewohnt, der auch nur entfernt an die politisch-historische Bedeutung herangereicht hat, wie dieser Hochverratsprozess, der am 11. März 1872, also 40 Jahren vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgerichtprozess begann.

Im Jahre 1870 war die sozialdemokratische Partei noch in zwei feindliche Lager gespalten. Zwischen dem Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein unter dem Präsidium des ehemaligen Frankfurter Rechtsanwalts Dr. jur. Jean Baptiste v. Schweitzer und den sogenannten „Eisenacher Ehrlichen“ herrschte grimmige Fehde. Im Norddeutschen Reichstag saßen bei Ausbruch des Krieges Dr. v. Schweitzer, der Zigarrenarbeiter Fritzsche, der Lohgerber Wilhelm Hasenclever aus Halver, Westfalen; der frühere Lehrer Fritz Mende, der Kupferschmied Försterling und der Vertreter für Altona, Zigarrenarbeiter Reimer (sämtlich Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins). Die sozialdemokratische Partei der Eisenacher Richtung war durch Liebknecht und Bebel vertreten.

Am 19. Juli 1870 erfolgte von dem damaligen Kaiser der Franzosen Napoleon III. die Kriegserklärung. Dies Ereignis hatte die sofortige Einberufung des Norddeutschen Reichstages zur Folge. Die Regierung verlangte eine Kriegsanleihe von 120 Millionen Talern. Der Reichstag, einschließlich der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins, bewilligten die Anleihe, nur Liebknecht und Bebel enthielten sich der Abstimmung mit folgender schriftlicher Begründung: „Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern. Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebenso wenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischer Politik Bonapartes aufgefasst werden. Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, dass die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbelund Klassenherrschaft als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen.“

Berlin, den 21. Juli 1870

A. Bebel. W. Liebknecht.

Diese Erklärung entfesselte einen kaum zu schildernden Sturm der Entrüstung nicht nur in allen bürgerlichen Parteien, sondern auch unter den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins. Selbst der Ausschuss der sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Eisenacher Richtung war mit diesem Vorgehen nicht einverstanden. „Landesverräter“ war die mildeste Bezeichnung für Liebknecht und Bebel. Die Sozialdemokraten Eisenacher Richtung wurden allerorten aufs schmählichste beschimpft. Obwohl in dem damaligen Wohnort von Liebknecht und Bebel, in Leipzig, die Eisenacher Sozialdemokraten verhältnismäßig zahlreich waren, wurden Liebknecht und Bebel in Leipzig auf offener Straße behelligt und eines Nachts, als Liebknecht sich gerade in einer Versammlung befand, in der Liebknechtschen Wohnung die Fenster eingeschlagen. Ein großer Stein, der durchs Fenster geflogen kam, hätte beinahe dem ältesten Sohn Liebknechts, den Frau Natalie Liebknecht gerade an der Mutterbrust hatte, den Kopf zertrümmert. Bebels Wohnung blieb verschont, da dieser in der Petersstraße im Hofe wohnte. Die Erregung wuchs, als nach der Schlacht von Sedan, der Gefangennahme Napoleons und der Proklamierung der Republik in Paris im ‚Volksstaat‘, dem von Liebknecht redigierten Zentralorgan der Eisenacher Sozialdemokraten, an der Spitze jeder Nummer zu lesen war: „Ein billiger Friede mit der französischen Republik! Keine Annexion! Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen.“ Am 5. September 1870 erließ der zu Braunschweig domizilierte Ausschuss der sozialdemokratischen Partei Eisenacher Richtung ein Manifest in demselben Sinne. Am 6. September erfolgte die Veröffentlichung, und am 9. September wurde der gesamte Ausschuss, Kaufmann Wilhelm Bracke jr., Oberlehrer Spier, Ingenieur Leonard v. Bornhorst, Gralle und Kühn nebst dem Druckereibesitzer Sievers und einem Braunschweiger Sozialdemokraten, namens Ehlers, auf Befehl des Höchstkommandierenden der Armee in den deutschen Küstenländern auf Grund des proklamierten Kriegszustandes verhaftet und in Ketten geschlossen nach der ostpreußischen Festung Lötzen abgeführt. Sehr bald darauf traf das gleiche Schicksal den Vorsitzenden der Kontrollkommission der ‚Eisenacher‘, den Hamburger Buchhändler August Geib und den Vertreter des zweiten Berliner Landtagswahlbezirks, Abgeordneten Dr. med. Johann Jacoby in Königsberg in Preußen, der in der Königs