Marion flieht vor ihrer Vergangenheit - Toni Waidacher - E-Book

Marion flieht vor ihrer Vergangenheit E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Als die sechsundzwanzigjährige Marion Winter an diesem Abend auf dem Bahnhof in Rosenheim in den Zug stieg, war sie fest entschlossen, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen und irgendwo in den Bergen ein neues Leben zu beginnen. Ihr Verlobter, mit dem sie seit mehr als drei Jahren zusammen gewesen war, hatte sie betrogen. Nicht mit irgendwem. Es war ihre beste Freundin, mit der er sich eingelassen hatte. Marion wusste nicht, wie lange das schon gegangen war mit den beiden. Zunächst war sie zutiefst enttäuscht gewesen, sie hatte sich gedemütigt gefühlt, war bis in ihr Innerstes verletzt. Jetzt war sie drüber hinweg, es interessierte sie nicht mehr. Sie hatte die beiden in flagranti ertappt, die Situation war eindeutig gewesen, und für sie hatte es nur eine Konsequenz gegeben. Im ersten Moment war sie natürlich am Boden zerstört gewesen. Sie war verzweifelt, hatte geweint, und für kurze Zeit hatte das Leben für sie jeden Sinn verloren. Nach der Trauer aber war der Zorn gekommen, doch auch diese Phase hatte Marion überwunden, und sie war zu kühler Sachlichkeit zurückgekehrt. Drei Wochen waren seitdem vergangen. In dieser Zeit hörte sie weder etwas von Rolf, dem Mann, in den sie verliebt gewesen war, noch von Ines, der sie blind vertraut hatte. Sie war, als sie die beiden ertappte, unverzüglich aus der Wohnung, in der sie mit Rolf lebte, ausgezogen, hatte sich in einer Pension ein Zimmer genommen und sich dort regelrecht verkrochen. Marion hatte niemand auf dieser Welt. Ihren Vater hatte sie niemals kennengelernt, ihre Mutter war vor drei Jahren dem Krebs zum Opfer gefallen, ohne dass sie ihr, Marion, verraten hätte, wer ihr Erzeuger war. Ihre Großeltern lebten auch nicht mehr, Geschwister hatte sie nicht. Hier hielt sie also nichts und sie wollte nur noch weg und Rosenheim aus ihrer Erinnerung löschen. Als der Zug anfuhr, atmete Marion wie erlöst auf. Der letzte Rest von Anspannung fiel von ihr ab.

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Der Bergpfarrer – 477 –

Marion flieht vor ihrer Vergangenheit

Toni Waidacher

Als die sechsundzwanzigjährige Marion Winter an diesem Abend auf dem Bahnhof in Rosenheim in den Zug stieg, war sie fest entschlossen, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen und irgendwo in den Bergen ein neues Leben zu beginnen.

Ihr Verlobter, mit dem sie seit mehr als drei Jahren zusammen gewesen war, hatte sie betrogen. Nicht mit irgendwem. Es war ihre beste Freundin, mit der er sich eingelassen hatte. Marion wusste nicht, wie lange das schon gegangen war mit den beiden. Zunächst war sie zutiefst enttäuscht gewesen, sie hatte sich gedemütigt gefühlt, war bis in ihr Innerstes verletzt. Jetzt war sie drüber hinweg, es interessierte sie nicht mehr. Sie hatte die beiden in flagranti ertappt, die Situation war eindeutig gewesen, und für sie hatte es nur eine Konsequenz gegeben.

Im ersten Moment war sie natürlich am Boden zerstört gewesen. Sie war verzweifelt, hatte geweint, und für kurze Zeit hatte das Leben für sie jeden Sinn verloren. Nach der Trauer aber war der Zorn gekommen, doch auch diese Phase hatte Marion überwunden, und sie war zu kühler Sachlichkeit zurückgekehrt.

Drei Wochen waren seitdem vergangen. In dieser Zeit hörte sie weder etwas von Rolf, dem Mann, in den sie verliebt gewesen war, noch von Ines, der sie blind vertraut hatte. Sie war, als sie die beiden ertappte, unverzüglich aus der Wohnung, in der sie mit Rolf lebte, ausgezogen, hatte sich in einer Pension ein Zimmer genommen und sich dort regelrecht verkrochen.

Marion hatte niemand auf dieser Welt. Ihren Vater hatte sie niemals kennengelernt, ihre Mutter war vor drei Jahren dem Krebs zum Opfer gefallen, ohne dass sie ihr, Marion, verraten hätte, wer ihr Erzeuger war. Ihre Großeltern lebten auch nicht mehr, Geschwister hatte sie nicht. Hier hielt sie also nichts und sie wollte nur noch weg und Rosenheim aus ihrer Erinnerung löschen.

Als der Zug anfuhr, atmete Marion wie erlöst auf. Der letzte Rest von Anspannung fiel von ihr ab. Sie hatte sich vorgenommen, nicht zurück, sondern nur noch nach vorne zu schauen. Der Zug verließ das Bahnhofsgelände und nahm sehr schnell Fahrt auf. Von der Gegend, durch die er fuhr, war nichts zu erkennen, weil es dunkel war. Ab und zu huschte ein Licht vorbei.

Die junge Frau, die fest entschlossen war, ein neues Kapitel im Buch ihres Lebens zu beginnen, hatte ein Billet bis München gelöst. In der Landeshauptstadt wollte sie dann entscheiden, wohin sie sich wenden würde. Sie hatte mit dem Verlassen Rosenheims ihre Enttäuschung und ihren Frust abgeschüttelt wie eine zweite Haut. Es war ihr gelungen, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Ihre seelischen Wunden würden heilen. Sie war jung und stark …

In München angekommen stand sie eine Weile unschlüssig vor dem Bahnhof. Dann lief sie zum Zentralen Omnibusbahnhof und sah dort den Fernbus stehen, der nach Garmisch-Partenkirchen fuhr. Einer spontanen Eingebung folgend stieg sie in ihn hinein, kaufte eine Fahrkarte und setzte sich auf einen freien Platz.

Es dauerte nur kurze Zeit, dann fuhr der Bus los. Um diese Zeit waren es nur wenige Fahrgäste, die ihn benutzten. Eine gute Stunde später stieg Marion in Garmisch aus dem Bus. Es war kurz vor elf Uhr.

Marion fühlte sich hilflos. Im Moment war sie wohl der einsamste Mensch auf der Welt. Sie hatte so ziemlich alles verloren, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hatte. Sogar ihre finanziellen Mittel waren ziemlich begrenzt. Sie und Rolf hatten ihr Geld in einen Topf geworfen und jede Anschaffung gemeinsam finanziert. Sie hatten gemeinsam ein Restaurant eröffnet, es neu eingerichtet und sich vor einem halben Jahr ein Auto angeschafft. Denn sie hatte es nie bezweifelt, dass sie und Rolf bis an ihr Lebensende zusammenbleiben würden. Für diesen Irrtum musste sie nun bitter bezahlen.

Aber ihr Bruch mit der Vergangenheit war dermaßen endgültig, dass sie von Rolf nicht einmal Schadenersatz fordern wollte.

Sollte er glücklich werden mit dem Restaurant, dem Auto, und mit Ines.

Es war eine fast schon Gleichgültigkeit, mit der Marion das Zurückliegende betrachtete. Sie verspürte keinen Zorn mehr, aber auch keine Trauer oder Enttäuschung. Das sagte ihr, dass weder Rolf noch Ines künftig eine Rolle spielen würden in ihrem Leben; nicht einmal in ihren Gedanken.

Aber wohin jetzt? Es ging auf Mitternacht zu.

Am Rand der Bushaltestelle standen einige Taxis und andere Fahrzeuge. Zu einem dieser wartenden Pkw ging eine Frau mittleren Alters, die ebenfalls in Garmisch aus dem Bus gestiegen war. Marion folgte ihr schnell. Die Frau hörte die Schritte hinter sich und schaute etwas beunruhigt über die Schulter nach hinten.

»Entschuldigen Sie«, rief Marion. »Ich bin fremd hier und hab’ keine Ahnung, wohin ich mich wenden kann. Kennen Sie sich hier aus?«

Die Frau hatte angehalten und sich umgedreht. Im Licht einer Straßenlaterne konnte sie Marions Gesicht sehen. »Sie haben auch im Bus gesessen, gell?«, fragte sie.

»Ja. Haben Sie eine Ahnung, ob ich hier um diese Zeit noch irgendwo ein Zimmer bekommen kann?« Marion zögerte ein wenig, dann fügte sie hinzu: »Es sollt’ net allzu teuer sein …«

»Es gibt hier einige Hotels und Pensionen«, antwortete die Frau. »Aber was Näheres kann ich Ihnen auch net sagen. Ich stamm’ aus St. Johann. Das liegt im Wachnertal. Ich war in München bei meiner Tochter zu Besuch, und dort in dem Wagen wartet mein Mann, um mich abzuholen.«

»Können S’ mich mitnehmen?«, fragte Marion spontan.

Die Frau musterte Marion forschend. Sie sah ein gleichmäßiges, etwas blasses Gesicht, das von einer Flut blonder Haare eingerahmt wurde und in dem die blauen Augen auffielen. »Was ist denn los mit Ihnen?«, fragte die Frau spontan. »Haben Sie denn kein Ziel?«

»Nein. Es war mehr oder weniger Zufall, dass ich in den Bus nach Garmisch gestiegen bin.«

»Ich kann mir net vorstellen, dass Sie von daheim ausgerissen sind«, murmelte die Frau. »Das tun nur missverstandene Teenager. Dazu sind S’ aber zu alt. Sind S’ vielleicht Ihrem Mann davongelaufen? Oder vor was sonst sind S’ auf der Flucht?«

»Das ist keine schöne Geschichte«, antwortete Marion. »Am Ende war ich die Dumme, und ich will irgendwo einen Neuanfang machen. Keine Sorge, niemand ist hinter mir her. Aber dort, wo ich herkomme, wär’ die Erinnerung immer wieder lebendig geworden, und ich will einen Schlussstrich ziehen.«

»Wahrscheinlich möchten S’ darüber auch gar net reden. Nun ja, so hat jeder sein Packerl zu tragen. Meinetwegen können S’ schon mitfahren nach St. Johann. Aber um diese Zeit kriegen S’ dort auch nirgendwo mehr ein Zimmer. Wie heißen S’ denn?«

»Marion – Marion Winter.«

»Mein Name ist Karla Hallmoser. Wenn S’ möchten, können S’ bei uns die Nacht verbringen, nämlich im Zimmer meiner Tochter, die in München arbeitet und nur noch unregelmäßig heimkommt.«

Marion war von diesem Angebot geradezu überwältigt.

Sie spürte es heiß in sich aufsteigen. »Das – würden Sie wirklich tun, Frau Hallmoser. Das – das wär’ ja … Ich weiß net, was ich sagen soll.«

»Was soll ich denn mit Ihnen machen? Mir scheint, Sie sind ein armes Hascherl, das irgendeine schlechte Erfahrung ein bissel aus der Bahn geworfen hat. Man rennt net einfach mir nix dir nix davon. Also war’s was Gravierendes. Sie sind mir im Bus schon so verloren, so in sich gekehrt vorgekommen. Irgendwie hab’ ich geahnt, dass mit Ihnen war net stimmt.«

Von dem parkenden Auto her erklang eine besorgte männliche Stimme: »Was ist denn los, Karla? Warum kommst du net? Gibt’s irgendein Problem?«

»Das ist mein Mann«, sagte Karla Hallmoser. »Kommen S’, Marion. Gehen wir zu ihm hin. Er hat sicher nix dagegen, wenn Sie die Nacht bei uns verbringen.«

*

Marion fasste es als eine Fügung des Schicksals auf, dass sie nach ihrer Ankunft in Garmisch Karla Hallmoser angesprochen hatte. Sie ging neben Karla her zu dem VW, der von der Gestalt eines hageren Mannes überragt wurde.

Johann Hallmoser hatte in der Tat nichts dagegen. Und Marion konnte im Fond des Fahrzeugs Platz nehmen. Ihre Reisetasche hatte er zusammen mit der Tasche seiner Frau im Kofferraum verstaut.

Dann ging die Fahrt los. Über den Bergen war der Himmel sternenklar. Mond- und Sternenlicht tauchten die Gipfel der Felsgiganten in silbriges Licht. Die Landstraße nach St. Johann war kurvenreich, der Verkehr war um diese Zeit sehr, sehr mäßig.

»Wenn S’ vielleicht länger in St. Johann bleiben möchten, Frau Winter«, sagte Karla Hallmoser, »dann könnt’ ich die Ria Stubler fragen, ob s’ net eine günstige Unterkunft für Sie hat. Die Ria betreibt eine Pension, und jetzt, da die Saison fast zu Ende ist, kann sie Ihnen sicher was Vernünftiges bieten. Wir kennen uns gut, die Ria und ich, müssen S’ wissen. Jemand wie sie trifft man nur noch selten auf dieser Welt. Sie ist ein herzensguter Mensch. Die will an ihren Gästen net nur verdienen, sie ist auch immer für sie da.«

»Das werd’ ich morgen entscheiden«, antwortete Marion. »Ich weiß net, wo meine Reise enden wird. Vielleicht geh’ ich hinüber nach Österreich, oder sogar nach Südtirol. Ich muss zusehen, dass ich irgendwo eine Arbeit find’. Ich hab’ nämlich net allzu viel Geld. Und ich muss ja schließlich von was leben. Mein Geld steckt …« Sie brach abrupt ab. Zum einen wollte sie nicht darüber reden, zum anderen würde es Karla Hallmoser und ihren Mann wohl auch kaum interessieren.

Dem war nicht so. Natürlich hätte Karla zu gern erfahren, was Marion veranlasst hatte, ohne Geld und ohne irgendein Ziel den Platz zu verlassen, der bisher ihren Lebensmittelpunkt dargestellt hatte. »Wo kommen S’ denn überhaupt her?«, fragte sie schließlich, um die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen.

»Aus Rosenheim.«

»Da war ich schon einmal. Das ist eine schöne Stadt.«

»Wenn man ein Leben lang dort verbracht hat, sieht man die Schönheiten nimmer«, versetzte Marion.

»Ja, das stimmt«, pflichtete ihr Johann Hallmoser bei. »Wenn ich morgens das Haus verlass’, dann registrier’ ich die Berge rund ums Wachnertal zwar, aber ich verschwend’ keinen einzigen Gedanken an ihre Schönheit und die Faszination, die von ihnen ausgeht. Die sind einfach da – basta.«

»Wenn Rosenheim Ihre Heimat ist«, ergriff wieder Karla das Wort, »dann kommt sicherlich auch irgendwann das Heimweh. Und dann kehren S’ eines Tages auch wieder dorthin zurück.«

»Im Moment hab’ ich ganz und gar net das Bedürfnis.«

»Das kommt noch«, prophezeite Karla. »Haben S’ denn keine Verwandten in Rosenheim? Eltern, Geschwister …«

»Ich hatte eine Freundin«, murmelte Marion, und nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu: »Sind S’ mir bitte net bös’, aber ich möcht’ darüber net reden. Um zu vergessen, hab’ ich Rosenheim verlassen. Aber wie soll das gehen, wenn ich ständig drüber red’?«

»Ist schon gut«, murmelte Karla. »Ich will Sie net drängen. Aber ich kann Ihnen einen Rat geben, Frau Winter: Machen S’ aus Ihrem Herzen keine Mördergrube. Und sollten S’ auf jemand treffen, dem S’ Vertrauen schenken können, dann schütten S’ ihm Ihr Herz aus. Glauben S’ mir’s, es wird sie erleichtern.«

»Ich werd’ an Ihre Worte denken, wenn ich jemand treffen sollt’, dem ich vertrauen kann. Ob ich allerdings so jemanden find’, ist fraglich.«

»Ich garantier’ Ihnen, dass sie net glücklich werden können, wenn S’ die Last, die Sie mit sich rumschleppen, net loswerden. Ich bin vierundfünfzig Jahr’ alt, hab’ einige Erfahrungen gesammelt und weiß, wovon ich red’.«

Von jetzt an herrschte Schweigen im Auto.

Eine knappe halbe Stunde, nachdem sie Garmisch verlassen hatten, passierten sie das Ortsschild von St. Johann. Nur in wenigen Häusern war noch Licht zu sehen. Der Großteil der Einwohner und der wenigen Urlauber, die um diese Zeit noch hier weilten, schliefen.

Johann Hallmoser und seine Frau besaßen ein eigenes Haus etwas abseits von der Hauptstraße. Karla zeigte Marion das Zimmer, in dem übernachten konnte, und auch das Badezimmer. Dann ließ sie ihren Gast, den ihr der Zufall beschert hatte, allein. Sie stellte keine Fragen mehr.

Als Marion bald darauf im Bett lag, fand sie zunächst keinen Schlaf. Sie begann darüber nachzudenken, wohin die Reise, die sie vollkommen planlos angetreten hatte, gehen sollte. Im Moment war es so, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatte, ins Ungewisse führte. Aber sie brauchte ein Ziel. Sie stand gewissermaßen vor dem Nichts. Diesen Zustand musste sie so schnell wie möglich beenden. Als ihr das alles in diesen Minuten so richtig bewusst wurde, erschütterte sie diese Erkenntnis, und sie spürte wie der Schreck in langen, heißen Wogen durch ihren Körper pulsierte.

Wie es schien, hatte sie, als sie sich entschloss, Rosenheim zu verlassen, eine ganze Menge nicht bedacht.

Der Körper forderte immer vehementer sein Recht, die Müdigkeit wurde überwältigend. Mit ihrem letzten Gedanken sagte sich Marion, dass sie sich am kommenden Tag, wenn es hell sein würde und sie sehen konnte, wo sie gelandet war, entscheiden würde, ob sie bleiben oder ihre Flucht in die Ungewissheit fortsetzen wollte.

Die Zukunft lag genauso dunkel vor ihr wie die Finsternis, in die sie der Schlaf entführte.

*

Marion wurde aus dem Schlaf gerissen, als jemand gegen die Tür des Zimmers klopfte. Ihre Lider zuckten hoch, sie starrte hinauf zur Decke, ihr Blick wanderte und die Verständnislosigkeit wich dem Begreifen. Sie befand sich im Haus von Johann und Karla Hallmoser, lag im Bett der Tochter, und wusste nicht, was der Tag bringen würde.

Es war hell im Zimmer. Auf dem Tisch stand ihre Reisetasche und über einen Stuhl hingen die Kleidungsstücke, die sie am Tag zuvor getragen hatte.

Es klopfte erneut, und Karlas Stimme erklang: »Frau Winter, sind S’ wach? Es geht auf acht Uhr zu, und ich hab’ mir gedacht, ich schau’ mal nach Ihnen.«

»Einen Augenblick, Frau Hallmoser!«, rief Marion, schlug die Zudecke zurück und setzte sich auf. »Ich komm’ schon!« Sie erhob sich und öffnete die Tür und sie stand vor der Hausherrin.

Karla lächelte. »Ich hoff’, Sie haben schlafen können in dem fremden Bett.«

»Wie eine Tote«, antwortete Marion. »Ich hab’ wohl viel zu lange geschlafen. Natürlich will ich Ihre Gastfreundschaft net ausnützen. Ich zieh’ mich gleich an und …«

»Lassen S’ sich Zeit, Frau Winter. Duschen S’ sich und machen S’ sich in aller Ruhe zurecht, und dann kommen S’ runter. Ich koch’ Ihnen einen Kaffee und bereit’ ein Frühstück vor. Dann bring’ ich Sie zur Ria. Mit der hab’ ich schon gesprochen, und sie wird ein Zimmer für Sie herrichten. Von der Ria hab’ ich Ihnen ja vergangene Nacht schon erzählt.«

»Sie sind so gut zu mir, Frau Hallmoser«, sagte Marion geradezu gerührt und ein Gefühl tief empfundener Dankbarkeit ergriff von ihr Besitz. »Ich bin Ihnen ja so dankbar, dass ich bei Ihnen schlafen hab’ können. Machen S’ Ihnen mit dem Frühstück keine so große Mühe. Ich weiß ja gar net, wie ich das wieder gutmachen kann.«