Mark Twain am Neckar - Thomas Fuchs - E-Book

Mark Twain am Neckar E-Book

Thomas Fuchs

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  • Herausgeber: 8 Grad
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

1878: Mark Twain hat einen Bestseller, ein Haus in Neu-England, eine Frau, die er liebt, und zwei Töchter, die er vergöttert. Dennoch ist er ein Getriebener. Bei der Arbeit am Nachfolger von Tom Sawyer kommt er nicht weiter, die Kosten für Haus und Hof drohen ihn aufzufressen. Also sticht er samt Familie in See, um auf dem alten Kontinent Ablenkung, Entspannung und Stoff für ein neues Buch zu finden. Twain amüsiert sich prächtig zwischen Heidelberg und Heilbronn, besucht Schlösser und sammelt Sagen. Hier beginnt seine Liebesaffäre mit Deutschland, die bis an sein Lebensende anhalten wird. »Mark Twain ist einer der besten literarischen Landschaftsmaler, den die Menschheit kennt. Und in Heidelberg und Umgebung fand er jede Menge lohnende Motive.«

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Seitenzahl: 166

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Markantes Profil: Diese Büste Mark Twains ist im Foyer seines Hauses in Hartford, Connecticut zu sehen.

Thomas Fuchs

MARK TWAIN AM NECKAR

Zwischen Floß und Fluss

Inhalt

Zur Einleitung

IDer Komet

IITwain und die anderen

IIIBlamage in Boston

IVEin neuer Plan

VEine stürmische Überfahrt

VIDeutschland – ein Sommermärchen

VIIEr hat sein Herz an Heidelberg verloren

VIIIZwischen Nevada und Neckar

IXWagnis Wagner

XDas walte Hugo

XIEine Geist(er)geschichte

XIIDer Poet auf dem Podium

XIIIDer Mark und der deutsche Markt

XIVWas war in Worms?

XVWas Baden-Baden so bad-bad?

XVISchwarzwälder Mist

XVIIAn der Quelle des Humors

XVIIIPanta rhei

XIXHeidelbeere und Huckleberry

XXHeimkehr nach Hartford

Appendix:The Awesome German Language

Literaturtipps

Personenregister

Dank

Geborn 1835; 5 Fuss 8 1/2 inches hoch; weight doch aber about 145 pfund, sometimes ein wenig unter, sometimes ein wenig oben; dunkel braun Haar und rhotes Moustache, full Gesicht, mit sehr hohe Oren und leicht grau practvolles strahlenden Augen und ein Verdammtes gut moral character. Handlungkeit, Author von Bücher.*

* Dies ist der von Mark Twain höchstpersönlich auf Deutsch verfasste Antrag für einen Pass, den er 1878 an Bayard Taylor schickte, damals Gesandter der USA in Berlin. Taylor sprach hervorragend Deutsch, worum Twain ihn beneidete.

Zur Einleitung

Dieses Buch dreht sich um die erste Deutschlandreise des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain, die den Beginn einer innigen Beziehung darstellt; so innig, dass man beinahe von Liebe sprechen kann. Wobei angemerkt sei, dass Twains Beziehung zur deutschen Sprache eher an ein Paar erinnert, das seit Jahren dauernd streitet, sich aber dennoch nicht trennt.

Auch wenn es sich bei dem Ausflug in den Südwesten Deutschlands streng genommen um eine Dienstreise handelte (schließlich war alles Recherche für das Werk Bummel durch Europa); bei dem Trip ging es in erster Linie ums Vergnügen. Und so soll auch dieses Buch vor allem amüsante Lektüre bieten, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Text die eine oder andere nützliche Information enthält.

IDer Komet

Als Mark Twain am 30. November 1835 als Samuel Langhorne Clemens in einem Nest unweit des Westufers des Mississippi geboren wurde, näherte sich der Halley’sche Komet auf seiner Umlaufbahn der Erde. Ein Umstand, der unter anderem deshalb im Gedächtnis blieb, weil Twain ihn immer wieder erwähnte. Desgleichen äußerte er häufig die Vermutung, dass er diesen Planeten verlassen sollte, wenn der Komet auf seinem Rundflug wieder die Nachbarschaft durchqueren würde. In dem Punkt behielt er recht. Der Komet braucht für eine Runde im Mittel um die fünfundsiebzig Jahre. Die nächste Annäherung nach dem November 1835 erfolgte am 20. April 1910; einen Tag später starb Sam Clemens, zu diesem Zeitpunkt besser bekannt unter seinem Pseudonym – eigentlich eher: Markenzeichen – Mark Twain.*

Zwischen beiden Daten lag eine literarische Karriere, bei der man durchaus von einem kometenhaften Aufstieg sprechen kann. Damit konnte bei Twains Geburt kaum jemand rechnen. Höchstens Freunde der Astrologie – Twain ist am selben Tag geboren wie Jonathan Swift und Winston Churchill –, aber sonst sprachen alle Voraussetzungen dagegen. Die Hütte, in der er das Licht der Welt erblickte, ist von einer solchen Schäbigkeit, dass sich jedes Krippenspiel um sie als Kulisse reißen würde. Twains Schulbildung lässt sich selbst mit größtem Wohlwollen allenfalls als rudimentär beschreiben. Die familiären Verhältnisse waren harsch; dass der Vater von abstrusen Ideen besessen war, wie man schnell zu Reichtum gelangte – ein Spleen, den er seinem berühmten Sohn und dessen nicht ganz so berühmten großen Bruder Orion vererbte –, machte die Sache nicht einfacher.

Es gibt einige Erklärungen für das Pseudonym Mark Twain, aber am wahrscheinlichsten ist diese aus dem Mark Twain Boyhood Home & Museum in Hannibal: zwei Faden Wassertiefe (3,66 Meter), was bedeutet: keine Gefahr, auf Grund zu laufen.

Die Clemenses zogen oft um, immer auf der Suche nach dem Glück, und landeten schließlich in Hannibal, einige Dutzend Meilen oberhalb von St. Louis. Erst war Hannibal ein kleines Nest am großen Fluss, dann ein bedeutender Umschlagsplatz, und schließlich landete der Ort unter dem Pseudonym St. Petersburg auf der Landkarte der Weltliteratur.

Twain verließ die Schule früh, nicht unbedingt traurig, um der früh verwitweten Mutter beim Verdienen des Lebensunterhalts zu helfen. Wie Benjamin Franklin lernte Mark Twain Schriftsetzer. Sein erster Boss war sein Bruder Orion, ein ausgesprochener Gegner der in den Südstaaten verbreiteten Sklaverei. Missouri war ein sklavenhaltender Staat, die Politik des Blattmachers war dem Erfolg seiner Publikationen nicht unbedingt zuträglich.

Twain verband mit seinem Bruder eine Hassliebe, die sich in den späteren Jahren noch steigern sollte. Aber erst einmal war er froh über die Anstellung, auch wenn der Lohn eher sporadisch ausgezahlt wurde. Bald ging Twain auf die Walz, lernte mehr über sein Handwerk und die Welt; dass er jede Menge las, brachte schon sein Job mit sich. Schließlich – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – der große Traum vom Reichtum. Twain wollte nach Südamerika und dort am Amazonas Gold, viel Gold schürfen.

Er kam nur bis New Orleans, wo er bei einem erfahrenen Lotsen in die Lehre ging und sich in den Steuerhäuschen der großen Raddampfer einen Kindheitstraum verwirklichte. Dann brach der amerikanische Bürgerkrieg aus, der bei Licht besehen eher eine Abspaltung als ein Bruderkrieg war, aber man weiß ja, wie blutig so etwas werden kann.

Twain diente kurz in den Truppen der Südstaaten, besser als Heimatmiliz beschrieben; und es gelang ihm erfolgreich, seine Dienstzeit als eine Art Lachnummer darzustellen.

Bruder Orion hatte für Lincoln Wahlkampf gemacht. Und als der von Orion unterstützte Republikaner Chef der Justiz wurde, schickte er Orion nach Ausbruch des Kriegs in den wilden Westen. Washington wollte verhindern, dass die noch formlosen Territorien auf die Seite der Südstaaten wechselten. Twain begleitete seinen Bruder als Sekretär, versuchte sich als Silberschürfer, fand einen neuen Beruf als Journalist und landete in San Francisco, wo er sich einen Namen machte. Und es gab immer und überall Leute, von denen er sich etwas abgucken konnte. Einer von ihnen war Artemus Ward, der nicht nur witzige Texte verfassen, sondern auch vortragen konnte. Für seine Auftritte entwickelte Ward Charaktere, in der Regel verpeilte Hinterwäldler, die selbst gar nicht zu begreifen schienen, wie komisch das war, was sie verzapften.

Darüber hinaus war Ward Nonsens nicht fremd, in der Art, wie man es hierzulande etwa von dem Komiker Helge Schneider kennt. So stand Ward leicht abwesend wirkend auf der Bühne und erzählte: »Ich kannte mal einen Mann in Neuseeland, der hatte keinen einzigen Zahn mehr … aber der konnte Schlagzeug spielen wie kein zweiter.«

Artemus Ward blieb witzig bis an sein Ende. Als er im Sterben lag, weigerte er sich, seine Pillen einzunehmen. Ein Angehöriger wollte ihn umstimmen und legte sich mächtig ins Zeug: »Warum nimmst du die Medizin nicht? Wenn nicht für dich, dann für mich. Ich würde alles für dich tun.« Worauf Ward trocken entgegnete: »Dann nimm du sie doch«, sich umdrehte und – starb.

Zuvor aber hatte er einen Text Twains der New Yorker Saturday Post empfohlen. Am 18. November 1865 – natürlich ein Samstag – erschien die erste Version der Geschichte vom berühmten Springfrosch von Calaveras County.

Die Geschichte ist ein harmloser Scherz und lebt im Original von den Dialekten der Akteure, aber sie traf beim Publikum einen Nerv. Der Bürgerkrieg war gerade zu Ende gegangen, und weniges war so gefragt wie Zerstreuung und Unterhaltung.

Da er mittlerweile einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte, durfte Twain Teil einer erlauchten Reisegruppe werden. New Yorker Honoratioren hatten ein Schiff gechartert, mit dem sie über den Atlantik fahren und die heiligen Stätten im Nahen Osten besuchen wollten. Das war seine erste Reise auf den alten Kontinent, weitere sollten folgen, und zehn Jahre später ging es an den Neckar. Aus seinen Reiseberichten machte Mark Twain nach seiner Rückkehr ein Buch. Die Arglosen im Ausland wurde ein großer Erfolg, und durch die Tantiemen fühlte Mark Twain sich reich – bis er erfuhr, wie viel Steuern er zahlen sollte.

Der Satiriker P. J. O’Rourke nannte den Ausflug der Arglosen ins Ausland die erste Pauschalreise und Twains Buch die erste Parodie auf eine. Das kann man so sehen, aber der Erfolg des Buchs beruhte wohl vor allem darauf, dass Twain rundum austeilte und beinahe immer traf. Er machte sich über die schnöseligen Europäer lustig, die auf die wenig weltgewandten Amerikaner herabsahen. Und er lachte über die Amerikaner, die sich etwas Besseres dünkten als ihre daheim gebliebenen Landsleute.

Der Trip veränderte in einem weiteren Punkt Twains Leben. Ein Reisebegleiter zeigte ihm ein Amulett mit dem Bildnis Olivia Langdons, eines fragilen Frauenzimmers aus besten neuenglischen Kreisen. Ob ihn wirklich das Abbild faszinierte oder er im Innern einfach des Herumstromerns müde geworden war, jedenfalls hatte der fahrende Ritter sein Burgfräulein gefunden. Er warf sich mit Hingabe in die Minne. »Livy« sollte ihn erhören, ihn zu einem besseren Menschen machen, auf dass er fortan ein Teil der besten Gesellschaft wurde.

Twain umwarb seine zukünftige Gattin lange. Schließlich erhörte sie sein Flehen. Und als auch Schwiegervater Jervis zu dem Schluss kam, dass Twain zwar ungeschliffen, aber im Grunde seines Herzens gut war, stand der Ehe nichts mehr entgegen. Allerdings durfte die Verlobung erst öffentlich bekannt gegeben werden, nachdem Jervis Twains Leumund gecheckt hatte.

Am 2. Februar 1870 heirateten Livy und Sam. Twain fühlte sich wie der arme Bauernjunge im Märchen, der die Prinzessin zur Frau bekommen hatte und das halbe Königreich dazu. Denn Jervis Langdon gehörte zu den reichsten Männern im Bundesstaat New York. In Elmira war er sogar der reichste. Er handelte mit Steinkohle. Der Unternehmer gehörte zu den großen Gewinnern des Bürgerkriegs. Die beiden Jungvermählten bekamen ein stattliches Haus und Twain mit dem Buffalo Express eine Zeitung, in der er mehr oder weniger veröffentlichen konnte, was er wollte.

Aber die Vertreibung aus dem Paradies kam schnell. Am 6. August 1870 verstarb Jervis. Nun war Mark Twain das Oberhaupt der Familie, und er musste den Laden am Laufen halten. Twain legte sich in die Sielen und schuftete, laut Selbstbeschreibung, wie kein anderer Weißer auf dem Kontinent. Er veröffentlichte Glossen in allen möglichen Zeitungen, es erschienen Sammlungen seiner humoristischen Kurzgeschichten und mit Durch dick und dünn ein weiteres Reisebuch, in dem er diesmal seine Zeit im Westen literarisch ausbeutete.

Daneben schrieb er mit dem Kollegen Charles Dudley Warner den Roman The Gilded Age (Das vergoldete Zeitalter), in dem er den Gründerzeitboom der frisch wiedervereinigten Staaten aufs Korn nimmt. Von dem Buch sind heute nur noch zwei Dinge bekannt. Der Titel, der gemeinhin als passender Name für die gesamte Ära gilt und deshalb gern verwendet wird. (Die vor einigen Jahren gestartete Fernsehserie gleichen Namens hat nichts mit der Koproduktion der beiden Autoren zu tun.) Und die in dem Buch auftauchende Gestalt des Colonels Seller, eines Typen, der immer wieder von schnellem Reichtum träumt und genauso regelmäßig scheitert. Um besagten Colonel baute Twain ein Stück, das recht gut lief. Es wurde über tausend Mal gespielt. Ein Dramatiker wurde aus Mark Twain trotzdem nicht.

1876 erschien dann endlich sein erster »richtiger« Roman, Tom Sawyers Abenteuer. Das Buch ist bis heute sein bekanntestes und wohl auch beliebtestes Werk. Die Geschichte, wie Tom seine Freunde dazu bringt, für ihn den Zaun zu weißeln, dürfte auch Leuten vertraut sein, die noch nie eine Zeile von Twain gelesen haben.

Und am Ende des Jahres 1877 sollte, wenn alles nach Twains Erwartungen lief, schließlich die Krönung erfolgen, sozusagen die Aufnahme in den literarischen Olymp.

* Deshalb ist es eigentlich nicht korrekt, »Mark Twain« wie Vor- und Nachnamen zu behandeln. Amerikanische Autoren reden in der Regel von Sam Clemens. Das würde aber hierzulande verwirren. Deshalb tun wir so, als handelte es sich um einen richtigen Namen. Nachname: Twain, Vorname: Mark.

IITwain und die anderen

In der Antike sagte der griechische Philosoph Platon über die siedlungsfreudigen Griechen, sie säßen um das Mittelmeer wie Frösche um einen Teich. Gleiches könnte man auch über die Angelsachsen im 19. Jahrhundert sagen. Sie saßen wie die Frösche um den großen Teich (Atlantik), aber egal was sie taten, in kulturellen Fragen blieb der Blick lange auf London gerichtet wie bei den Hellenen auf Athen.

Die Anfänge der amerikanischen Literatur waren bescheiden: Aufzeichnungen der Pilger über ihr hartes und entbehrungsreiches Leben und die Prüfungen, die ihnen das Schicksal auferlegte. Die Romane James Fenimore Coopers mit ihren gewitzten Waldläufern, die an einem Fußabdruck nicht nur Alter und Gewicht, sondern auch Jahreseinkommen und Musikgeschmack erkennen konnten, spielten zwar auf amerikanischem Boden, waren jedoch in ihrer Machart noch durch und durch europäisch.

Doch die klugen Geister an den Küsten Neuenglands dachten weiter. Sie ahnten, je mehr sich ihr Staat ins Landesinnere ausbreitete, desto mehr würde sich die amerikanische Literatur verändern, kontinentaler werden. Sie grübelten, wie die Literatur der Zukunft wohl aussehen würde. Und sie fragten sich das auch noch, als diese längst begonnen hatte.

Twains literarischer Nachlassverwalter Bernard DeVoto war wohl der Erste, der aufzeigte, dass das, was gemeinhin als typisch amerikanisch vergöttert oder bekrittelt wird, im 19. Jahrhundert mit einem Doppelschlag die Weltbühne betrat. Auf politischer Ebene kam Abraham Lincoln, der in Stil, Auftreten und Rhetorik mit keinem europäischen Staatsmann zu vergleichen war. Für die Literatur erledigte diesen Job Mark Twain.

In seinen Texten konnte sich jeder Amerikaner wiederfinden, egal wo er lebte, was auch damit zu tun haben dürfte, dass Twain beinahe jeden Winkel seines Vaterlands aus eigener Anschauung kannte. Und seine Kindheit hatte er gewissermaßen am Schnittpunkt aller amerikanischen Welten verbracht. Der Mississippi – oder, wie Twain sagte, »der amerikanische Nil« – trennte den Osten vom Westen, die Gegend um St. Louis den Norden vom Süden.

Ein weiterer Punkt war der Humor, der respekt- und schnörkel- und daher zeitlos ist. Das ist eine kaum zu überschätzende Leistung, denn gerade in der Weltliteratur ist die Haltbarkeit von Witz begrenzt, zu viel unterliegt Moden und Konventionen.

Shakespeares Tragödien werden dank ihres Einblicks in die Abgründe der menschlichen Seele wohl auch noch in fünfhundert Jahren packen, was jedoch seinen Humor betrifft … Sicher, es hat seinen Reiz, sich durch endlose Fußnoten zu arbeiten, um zu verstehen, dass es sich bei einem Vers um eine äußerst geistreiche Anspielung auf irgendeine Missernte 1609 handelt. Und ja, wer Vergleiche zwischen Gemüse und Geschlechtsorganen liebt, der wird beim Schwan von Stratford oft fündig.

Aber Humor ist ja nicht alles, und der althergebrachte Begriff von hoher Literatur verschwand nicht von heute auf morgen. Und so weigerte sich der etablierte Literaturbetrieb lange Zeit, Mark Twain als einen »richtigen« Schriftsteller zu sehen, als einen der ihren.

Das beruhte über weite Strecken auf Gegenseitigkeit. Es gab nicht viele Autoren, deren Werk Mark Twain wirklich schätzte. Meist waren es Freunde wie William Dean Howells. Im Alter kam dann noch Bewunderung für Rudyard Kipling dazu, aber der hatte es sich auch nicht nehmen lassen, Twain bei einer US-Reise persönlich seine Aufwartung zu machen. Zu Fuß hatte sich Kipling auf den Weg zur Quarry Farm gemacht, die hoch über der Stadt Elmira liegt, um den verehrten Schriftsteller zu sehen, den Kipling »groß und göttlich« nannte. Dabei war Twain an diesem Tag gar nicht auf der Farm. Erst später sollte es mit einem Treffen klappen. Zwar wusste Twain anfangs nicht, wer Kipling war, aber nachdem er etwas von ihm gelesen hatte, war der Amerikaner voll des Lobes über Stoff und Stil des Engländers. Wenn Twain sich später an Tierfabeln versuchte, borgte er sich Namen aus dem Dschungelbuch, was Kipling dem Vernehmen nach nicht sonderlich störte. Schließlich war dessen Roman Kim in mehr als einem Punkt eine Verbeugung vor Huckleberry Finn. So etwas fließt dann schon in die Beurteilung ein.

Charles Dickens war nicht Twains Fall, aber dieser ertrug ihn, weil Livy, Twains Frau, ihn mochte. Sonst überwogen die harschen Töne. Besonders Jane Austen hatte unter seinem Urteil zu leiden. Twain zufolge hätte Austen es verdient, aus ihrer letzten Ruhestätte wieder ausgegraben zu werden – aber nur, um sie mit ihrem eigenen Oberschenkelknochen erneut zu erschlagen. Äußerungen wie diese finden sich natürlich selten in öffentlichen Statements, sondern vor allem in Briefen und Journalen, wo dann aber auch mehr oder weniger unverhohlen Neid und durchaus Bewunderung geäußert werden. Das Motiv »Ich mag es nicht und ich mag mich nicht, weil es mir nicht gelingt, diese Sachen zu mögen« findet sich bei Twain öfter, wenn es um künstlerische Fragen geht.

Auch das Werk Walter Scotts wurde ob seiner Romantik gern geschmäht und James Fenimore Cooper ob seiner Einfallslosigkeit gescholten. Immer wenn Cooper nicht mehr weiterwisse, trete irgendjemand auf einen Zweig, monierte Twain – der diesen Kniff in seinen eigenen Geschichten nur allzu gern benutzte.

Als sein Bruder Orion einen Roman im Stil von Jules Verne schreiben wollte, war Twain anfangs begeistert – bis er erkannte, dass Orion Verne nicht durch den Kakao ziehen wollte, sondern ernsthaft bewunderte. Da entzog er ihm erbost die zugesagte Unterstützung.

Bedient hat sich Twain dennoch gern bei den großen Stoffen der Weltliteratur. Als Huck auf Jacksons Eiland Jims Fußabdruck in der Asche seines Feuers sieht, reagiert er wie Robinson Crusoe, der am Strand mit (s)einem Fußabdruck konfrontiert wird. Und Ein Yankee an König Artus’ Hof ist ganz unverhüllt ein Versuch, das Mittelalter so lächerlich zu machen, wie es Cervantes mit seinem Don Quijote für das Rittertum besorgte.

Ein weiterer Grund für Twains Außenseiterstellung war die Art, wie er seine Bücher verbreitete. Twains Werke wurden lange Zeit nicht in Buchhandlungen verkauft, sondern von Vertretern unters Volk gebracht. Man könnte hier von einer frühen Form des Crowdfundings sprechen. Vertreter schwärmten aus, klopften an die Türen von Farmen und sonstigen Gehöften (»Guten Tag. Wir möchten mit Ihnen über Mark Twain sprechen«), präsentierten einen Prospekt, in dem das Werk detailliert – Einband, Umfang, Illustrationen und so weiter – beschrieben wurde. Erst dann, wenn eine genügend große Anzahl subskribiert war – das Ziel waren hunderttausend Vorbestellungen, später träumte man sogar von einer Million –, wurde das Buch in Angriff genommen, geschrieben und gedruckt.

Diese Methode hatte kommerziell ihre Vorteile. Die Margen waren höher als im üblichen Handel, und Twains Vertreter erreichten ein Publikum, das normalerweise nie einen Buchladen betreten hätte.

Inhaltlich jedoch hatte diese Form der Produktion zuweilen zweifelhafte Folgen. Da Twains Bücher laut Vorankündigung einen bestimmten Umfang haben mussten (meist in 8-Seiten-Sprüngen), kam der Meister öfter in Nöte, denn der Stoff reichte für den angekündigten Umfang nicht immer aus. Wenn es darum ging, die Lücken zu füllen, hatte Twain wenig Skrupel. Er schaufelte dann in den Text, was ihm in die Finger geriet. Exzerpte von Zeitungsartikeln, Anekdoten, Schnurren. Das bekam dem Endprodukt nicht immer gut.

Hinzu trat eine ausgesprochene Wurschtigkeit dem eigenen Werk gegenüber. Je nach Tagesform wechselten literarische Passagen abrupt ins Burleske oder Triviale. Manchmal auf einer Seite oder sogar in einem Absatz.

Twain misstraute Verlegern, weil er glaubte, sie würden ihn um seine Tantiemen betrügen und nicht genug für seine Werke tun, außerdem litt er unter Raubdrucken, die er immer wieder vergeblich zu verhindern suchte. Doch sowie eines seiner Bücher auf den Markt kam, fuhren Bootlegger mit einem Exemplar über die Grenze nach Kanada, um es dort nachzusetzen und Billigdrucke in die USA zu schmuggeln. Twain versuchte zwar, diesen Diebstahl zu verhindern, indem er seine Bücher immer zuerst in Großbritannien zum Copyright anmeldete, aber das britische Imperium war einfach zu groß, um alle Missetäter zu fassen.

Zu Twains Klarsicht in Bezug auf alles Gekünstelte im Zwischenmenschlichen gesellte sich ein tiefes Misstrauen gegen alles Künstlerische in der Literatur. Seine Romane sind in den seltensten Fällen »gut konstruiert«, und wenn doch, dann schlampig durchgeführt. Nur als Beispiel: Der Doppel-Showdown von Tom Sawyer, wo einerseits Tom und Becky versuchen, aus der Höhle herauszufinden, und andererseits Huck das Leben der Witwe retten will, würde heute noch jeden Actionfilm schmücken. Aber dann hatte Twain beim Schreiben offenbar keine Lust mehr, Szenen zu erfinden, und er lässt Huck dem alten Waliser seinen ganzen Strang einfach in endlosen Absätzen erzählen.

Im letzten Jahrhundert, als man viktorianischen Autoren gern ihre Prüderie vorwarf, wurde bei Twain oft moniert, dass seine Frauengestalten seltsam farblos blieben, es gab im Wesentlichen nur tugendhafte Jungfern und überforderte Tanten.