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Mit den Fortschritten der künstlichen Intelligenz, der Digitalisierung der Lebenswelt und der Reduzierung des Geistes auf neuronale Prozesse erscheint der Mensch immer mehr als ein Produkt aus Daten und Algorithmen. Wir begreifen uns selbst nach dem Bild unserer Maschinen, während wir umgekehrt unsere Maschinen und unsere Gehirne zu neuen Subjekten erheben. Gegen diese Selbstverdinglichung des Menschen setzt der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs einen Humanismus der Verkörperung: Unsere Leiblichkeit, Lebendigkeit und verkörperte Freiheit sind die Grundlagen einer selbstbestimmten Existenz, die die neuen Technologien nur als Mittel gebraucht, statt sich ihnen zu unterwerfen.
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Seitenzahl: 467
3Thomas Fuchs
Verteidigung des Menschen
Grundfragen einer verkörperten Anthropologie
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Einleitung
A. Künstliche Intelligenz, Transhumanismus, Virtualität
Menschliche und künstliche Intelligenz. Eine Klarstellung
Jenseits des Menschen?. Kritik des Transhumanismus
Der Schein des Anderen. Empathie und Virtualität
Wahrnehmung und Wirklichkeit. Skizze eines interaktiven Realismus
B. Personalität und Neurowissenschaften
Person und Gehirn. Zur Kritik des Zerebrozentrismus
Verkörperte Freiheit. Eine libertarische Position
Hirnwelt oder Lebenswelt?. Zur Kritik des Neurokonstruktivismus
C. Psychiatrie und Gesellschaft
Zwischen Psyche und Gehirn. Zur Standortbestimmung der Psychiatrie
Leiblichkeit und personale Identität in der Demenz
Die zyklische Zeit des Leibes und die lineare Zeit der Moderne
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Denn das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und mit den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.
Karl Jaspers (1974: 50)
Verteidigung des Menschen – dieser Titel bedarf einer Erläuterung. Eine Verteidigung kann einer Kritik oder Anklage gelten, aber auch einer Infragestellung und Bedrohung. Nun gibt es eine lange Tradition, die Menschheit selbst auf die Anklagebank zu bringen, sie der Maßlosigkeit, Gier, Hybris oder Niedertracht zu bezichtigen, ihr die Schrecken des Krieges oder die Zerstörung des Planeten anzulasten. Neuerdings häufen sich sogar Äußerungen, wonach es für die Erde das Beste sei, wenn sie sich von ihrem »Schimmelüberzug« befreien könnte, wie Schopenhauer die Menschheit einmal titulierte.[1] Homo sapiens habe seine Vormachtstellung missbraucht und es daher nur verdient, durch einen Zusammenbruch des Ökosystems oder andere Katastrophen unterzugehen – oder aber einer überlegenen künstlichen Superintelligenz Platz zu machen. In einem Moment, in dem Geologen bereits das neue Erdzeitalter des Anthropozäns ausgerufen haben, um die umfassende Veränderung der Erde durch den Menschen zu bezeichnen, plädieren manche dafür, dieses Zeitalter sollte besser das kürzeste von allen werden.[2]
8Eine Apologie des Menschen gegen solcherart Misanthropie wäre vielleicht angebracht, doch ist sie nicht mein Thema. Es geht mir nicht um die Verteidigung des Menschen gegen eine Anklage, sondern gegen eine Infragestellung. Denn in Frage steht heute, was man – mit unvermeidlicher Unschärfe – als humanistisches Menschenbild bezeichnen könnte. In seinem Zentrum steht die menschliche Person als leibliches oder verkörpertes, als freies, sich selbst bestimmendes und schließlich als konstitutiv soziales, mit anderen verbundenes Wesen. Personen sind nach diesem Verständnis also keine bloßen Geister oder Bewusstseinsmonaden, sondern verkörperte, lebendige Wesen. Und Personen gibt es nicht im Singular, sondern nur in einem gemeinsamen Beziehungsraum. Im Begriff der Menschenwürde, verstanden als der Anspruch auf Anerkennung, den ein menschliches Wesen durch sein leibliches Dasein und Mitsein erhebt, vereinigen sich und gipfeln die Bestimmungen, die ein humanistisches, personales Menschenbild konstituieren.[3] Inwiefern steht dieses Selbstverständnis des Menschen gegenwärtig in Frage?
Beyond Freedom and Dignity – Jenseits von Freiheit und Würde lautet der Titel eines 1971 veröffentlichten Buches von B.F. Skinner, einem amerikanischen Verhaltenspsychologen. Skinner war der Auffassung, der Glaube an so etwas wie freien Willen und moralische Autonomie sei das Relikt einer mythischen, vorwissenschaftlichen 9Sicht auf den Menschen. Die Zuschreibung von persönlicher Verantwortung und Würde behindere den wissenschaftlichen Fortschritt auf dem Weg, durch eine geeignete Sozialtechnologie das menschliche Verhalten zu konditionieren und so eine glücklichere Gesellschaft ohne Überbevölkerung und Kriege zu schaffen. Skinners behavioristische Vision hat sich nicht durchsetzen können. Doch sein Grundgedanke, die Wissenschaft sei in der Lage, ein rationales Wissen vom Menschen und entsprechende Technologien an die Stelle unseres in Vorurteilen und Mythen befangenen Selbstverständnisses zu setzen, ist aktueller denn je.
Der Historiker Yuval Noah Harari hat in seinem Buch Homo Deus (2017) ein düsteres Zukunftsszenario entworfen, dem zufolge der wissenschaftliche und technologische Fortschritt das liberale und humanistische Menschenbild nach und nach obsolet mache. Wir werden uns, so Harari, zunehmend den Algorithmen,[4] Datenanalysen und Prognosen der künstlichen Intelligenz überantworten, da sie schon jetzt besser über die Zukunft Auskunft geben könnten als unsere beschränkte menschliche Intelligenz:
Die Menschen werden sich nicht mehr als autonome Wesen betrachten, die ihr Leben entsprechend den eigenen Wünschen führen, sondern viel eher als eine Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden. (Harari 2017: 445)
Nachdem Harari unter ständigem Verweis auf die biologischen und kybernetischen Wissenschaften die Fundamente des liberalen Menschenbildes gründlich destruiert hat,[5] will er zwar am Schluss 10die Möglichkeit offenhalten, dass die Wissenschaft sich doch irren könnte: »Gibt es vielleicht etwas im Universum, das sich nicht auf Daten reduzieren lässt?« (532) »Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?« (536) Falls nicht, so Harari, dann könnte vielleicht doch etwas verloren gehen, wenn die Menschen sich von intelligenten Maschinen steuern und am Ende gar ersetzen lassen. Doch nach all seinen fatalistischen Ausführungen ist dies am Ende nicht mehr als eine façon de parler. Für Harari bleibt es dabei: »Homo sapiens ist ein obsoleter Algorithmus.« (516)
Nun ist unstreitig, dass eine Sicht des Menschen, wie Harari sie nachzeichnet, sehr reale Folgen haben kann. In China ist gegenwärtig zu beobachten, wie ein autoritäres Regime mittels künstlicher Intelligenz einen digitalen Überwachungsapparat etabliert. Ein »Sozialkreditsystem« erfasst und bewertet die Konsum- und Beziehungspräferenzen der Bürger, ihr politisches und soziales Verhalten, ihre Bonität und Konformität bis hin zum Strafregister. Gesichtserkennungssoftware, die die öffentliche Videoüberwachung auswertet, lässt sich mit dem System leicht verknüpfen. Hier wird nun doch so etwas wie Skinners Sozialtechnologie realisiert, und digitale Dystopien nehmen Gestalt an.
Gleichwohl darf sich eine Verteidigung des Menschen, seiner Freiheit und Würde, nicht darauf beschränken, düstere Zukunftsvisionen auszumalen. Es muss ihr vielmehr darum gehen, die grundlegenden Voraussetzungen eines szientistischen Menschenbildes zu kritisieren, die Autoren wie Harari unkritisch übernehmen. Zu diesen Voraussetzungen gehören vor allem folgende Annahmen:
Naturalismus: Aus der Sicht des reduktionistischen Naturalismus gibt es keine Phänomene, die sich einer vollständigen naturwissenschaftlichen Erklärung entziehen. Insbesondere lassen sich Subjektivität, Geist und Bewusstsein auf physikalische be11ziehungsweise physiologische Vorgänge zurückführen, das heißt als Produkte determinierter neuronaler Prozesse betrachten. Ihnen kommt keine eigenständige Wirksamkeit in der Welt zu.
Eliminierung des Lebendigen: Die Biowissenschaften betrachten Organismen prinzipiell als biologische Maschinen, die von genetischen Programmen gesteuert werden. Selbstsein, Erleben oder Subjektivität tauchen in diesem Paradigma nicht mehr auf. Dass eine Katze eine Maus jagt, lässt sich dann als Wirkung biochemischer oder evolutionärer Mechanismen erklären – ihren Hunger oder ihren Jagdtrieb zugrunde zu legen, gilt nur noch als ein naiver Anthropomorphismus.
Funktionalismus: Bewusstseinsphänomene werden auf Prozesse neuronaler Informationsverarbeitung zurückgeführt, die einen Input nach algorithmischen Regeln in geeigneten Output umwandeln. Diese digitalen Prozesse können prinzipiell auf beliebigen Trägern (»Hardware«) ablaufen, ja sie lassen sich auch durch künstliche Systeme simulieren. Denn nicht das subjektive Erleben, sondern allein die Funktion, also Datenverarbeitung und entsprechender Output, machen den Geist aus.
Träfen diese miteinander verknüpften Annahmen zu, dann wäre der Mensch in Form neuronaler Prozesse, genetischer Algorithmen und digitalisierter Verhaltensmuster, kurz, als Summe seiner Daten weit besser zu erfassen als durch hermeneutisches Verstehen, Selbstreflexion und Selbstbesinnung. Das »Erkenne dich selbst« des Orakels von Delphi wäre überholt – die Google-Algorithmen kennten uns besser. Der moderne Chorgesang der materialistischen Neurophilosophie verkündet, unsere subjektive Erfahrung sei nur die bunte »Benutzeroberfläche eines Neuro-Computers und somit eine user illusion« (Slaby 2011) – real seien allein die neuronalen Rechenprozesse im Hintergrund. Subjektivität, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung werden aus dieser Sicht zu Epiphänomenen, an die wir zwar im Alltag noch glauben mögen, die als Realität zu betrachten aber nur noch von Naivität und Nostalgie zeugt.
Eine Verteidigung der humanistischen Sicht des Menschen, wie 12der vorliegende Band sie unternimmt, wäre nun allerdings schlecht beraten, würde sie sich darauf beschränken, Bewusstsein und Subjektivität als irreduzibel zu erweisen. Sie würde damit nur vorgezeichneten dualistischen Pfaden folgen – hier Geist, da Körper, hier qualitative Innerlichkeit, dort messbare objektive Fakten. Eine solche Verteidigung einer »Zitadelle des Subjekts«[6] könnte sich angesichts der Fortschritte der Neurobiologie, aber auch angesichts von zunehmender Digitalisierung und Virtualisierung bald als wirkungslos erweisen – wenn nämlich Subjektivität und ihre Äußerungen immer überzeugender simuliert werden. Die Simulation von humaner durch künstliche Intelligenz und die Simulation von leiblicher Gegenwart durch Roboter oder virtuelle Avatare könnten sich zunehmend an die Stelle der menschlichen Wirklichkeit setzen. Wann beginnen wir beispielsweise, Alexa oder Siri so etwas wie Bewusstsein zuzuschreiben, weil sie so überzeugend Gefühle ausdrücken und unsere eigenen Gefühle so gut verstehen können?
Damit komme ich zum Untertitel des Bandes, zur »verkörperten Anthropologie«. Der eigentliche Gegenentwurf zu einem naturalistisch-reduktiven Bild des Menschen besteht nämlich, so meine These, in der für die Person konstitutiven Leiblichkeit und Lebendigkeit. Nicht eine abstrakte Innerlichkeit, körperloses Bewusstsein oder reiner Geist sind die Leitideen einer humanistischen Sicht des Menschen, sondern seine konkrete leibliche Existenz. Nur wenn sich zeigen lässt, dass die Person in ihrem Leib selbst gegenwärtig ist, dass sie mit ihrem ganzen Leib fühlt, wahrnimmt, sich ausdrückt und handelt, entgeht sie der Einschließung in einen verborgenen Innenraum des Bewusstseins, in eine unzugängliche Zitadelle, aus der nur Signale an die Außenwelt dringen, die sich von den Signalen einer künstlichen Intelligenz grundsätzlich nicht mehr unterscheiden lassen. Und nur wenn die Person über eine verkörperte Freiheit verfügt, sich also im Entscheiden und Handeln als Organismus selbst bestimmt, wird Subjektivität mehr als ein Epiphänomen, nämlich in der Welt real wirksam.
13Nur als verkörperte, leibliche Wesen sind wir aber auch füreinander wirklich. Eine Kommunikation oder Empathie zwischen Gehirnen gibt es nicht, auch wenn Neurowissenschaftler das gerne behaupten.[7] Empathie erlernen wir nur im leiblichen Kontakt mit anderen, in der »Zwischenleiblichkeit«, wie Merleau-Ponty sie nannte. Und wir verstehen andere nicht erst durch eine »Theorie des Geistes« (Theory of Mind), wie die gegenwärtige Entwicklungspsychologie annimmt, sondern bereits intuitiv anhand ihres leiblichen Ausdrucks, ihrer Gesten und ihres Verhaltens. Bereits wenige Wochen nach der Geburt erkennen Babys die emotionalen Äußerungen der Mutter oder des Vaters, nämlich indem sie deren Melodik, Rhythmik und Dynamik in ihrem eigenen Leib mitvollziehen und mitspüren. Theorien über das Innenleben anderer müssen sich nur autistische Menschen bilden, weil ihnen diese soziale Intuition, gewissermaßen die Musikalität für die Resonanzen der Zwischenleiblichkeit, von Geburt an fehlt.[8]
Man mag einwenden, dass wir uns doch immer mehr in virtuellen Räumen bewegen und kommunizieren, in denen unsere Verkörperung zunehmend obsolet wird. Angesichts der weltumspannenden digitalen Vernetzung kann die menschliche Leiblichkeit zunehmend als ein Atavismus erscheinen, von dem Transhumanisten uns durch mind uploading gerne befreien möchten.[9] Doch abgesehen davon, dass der spürende Leib sehr wohl an den virtuellen Räumen Anteil hat – schon jedes Mitfiebern im Kino legt davon Zeugnis ab –, setzt jede digital vermittelte Online-Kommunikation voraus, dass wir es jenseits aller Vermittlungen immer noch mit einem lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut zu tun haben.[10] Mit anderen Worten: Sie beruht auf dem Ausgangs- oder Endpunkt der konkreten, leibhaftigen Begegnung. Auch in einer primär virtuellen Interaktion nehmen wir diese Begegnung zumindest als Möglichkeit immer schon vorweg.
14Was der vorliegenden Verteidigung zugrunde liegt, ist also weniger der klassische Humanismus des Geistes als ein Humanismus des lebendigen, verkörperten Geistes. Als solcher bedient er sich nicht nur der philosophischen, insbesondere der phänomenologischen Analyse, sondern auch der Konzeptionen des embodiment, des extended mind und der enactive cognition, also der handlungsbezogenen Kognition, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben.[11] Dass der Mensch kein dualistisch zweigeteiltes Wesen aus Geist und Körper ist, sondern vor allem ein Lebewesen aus Fleisch und Blut, als solches aber zugleich erlebend und seiner selbst bewusst – diese bereits aristotelische, heute aber wieder neu zu denkende Einsicht wird den Leitfaden der folgenden Essays bilden. Die genannten Konzepte erlauben es nämlich, die aktuellen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen nicht nur kritisch zu analysieren, sondern auch produktiv zu integrieren, ohne in einen rückwärtsgewandten Kulturpessimismus zu verfallen. In diesem Sinn ist die vorliegende Verteidigung des Menschen durchaus als eine »Verteidigung nach vorne« zu sehen – nämlich hin zu einer neuen, verkörperten Anthropologie. Auch eine ökologische Neubestimmung unseres Verhältnisses zur irdischen Umwelt wird nur gelingen, wenn in ihrem Zentrum unsere Leiblichkeit und Lebendigkeit – als Verbundenheit mit der natürlichen Mitwelt – steht. Nur wenn wir unseren Leib bewohnen, werden wir auch die Erde als bewohnbar erhalten können.
Die hier versammelten Texte, teils neu verfasst, teils in den letzten Jahren im Hinblick auf eine solche verkörperte Anthropologie geschrieben, gelten im Einzelnen folgenden Themen:
Die Fortschritte der Künstlichen Intelligenz und der Robotik stellen die Unterscheidung zwischen Simulation und Realität der menschlichen Person zunehmend in Frage. Sie suggerieren einerseits ein computeromorphes Verständnis menschlicher Intelligenz, andererseits eine Anthropomorphisierung der KI-15Systeme. Mit anderen Worten: Wir betrachten uns selbst immer mehr wie unsere Maschinen und umgekehrt unsere Maschinen wie uns selbst. Was also unterscheidet menschliche und künstliche Intelligenz?
Der Transhumanismus sieht den Menschen in seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand als grundsätzlich unvollkommen an. Das Resultat der Evolution ist demnach nur ein blindwüchsig entstandenes und daher schlecht konstruiertes, fehlerhaftes Produkt. Unser Ziel sollte es sein, einen »Homo optimus« zu schaffen oder unseren Geist ganz vom biologischen Körper zu befreien. Gibt es einen sinnvollen Begriff des Posthumanen?
Auch die zunehmende Ausbreitung der Virtualität und der digitalen Medien führt dazu, dass die Differenz von Leiblichkeit und Simulation tendenziell aufgehoben wird. Wenn der »Schein des Anderen« an die Stelle realer Begegnung tritt, wird es umso wichtiger, die Potenziale und Grenzen der virtuellen Welten zu analysieren. Was unterscheidet reale und virtuelle Begegnung?
Eng verknüpft mit den bisher genannten Entwicklungen ist die weit verbreitete These des Konstruktivismus, nach der unsere Wahrnehmung grundsätzlich nur eine illusionäre und täuschungsanfällige Konstruktion subjektiver Wirklichkeiten sei. Diese These untergräbt das primäre Vertrauen in die gemeinsame Lebenswelt. Wie lässt sich die Wahrnehmung als eine intersubjektive Konstitution der Realität rehabilitieren?
Die Fortschritte der Neurowissenschaften haben wesentlich dazu beigetragen, menschliche Subjektivität als ein Epiphänomen von Hirnprozessen erscheinen zu lassen und die Idee personaler Freiheit zu unterminieren. Sind wir also nur Geschöpfe unserer Neuronen? Konzeptionen verkörperter Subjektivität und verkörperter Freiheit sind in der Lage, solche reduktionistische Sichtweisen zu korrigieren.
In der Psychiatrie haben naturalistische Konzepte zu einer reduktionistischen, »zerebrozentrischen« Sicht psychischer Krankheit geführt, die den Patienten in ihrem Erleben und ihren Beziehungen nicht gerecht wird. Geht seelisches Leiden wirklich in 16Hirnprozessen auf? Solchen Auffassungen lässt sich eine verkörperte und ökologische Sicht der Psyche gegenüberstellen, die die Psychiatrie als Beziehungsmedizin neu begründen kann.
Beschleunigungs- und Digitalisierungsprozesse schließlich führen in den westlichen Gesellschaften zu einer Zurückdrängung zyklisch-leiblicher Eigenzeiten zugunsten der monolinearen Zeit von Wachstum und Beschleunigung – mit den bekannten psychischen und ökologischen Folgen wie etwa Burn-out oder Klimawandel. Inwiefern leistet die Zeit des Lebendigen Widerstand gegen ihre Vergesellschaftung und Beschleunigung? Diese Zeitformen und Zeitkonflikte gilt es zu analysieren, um sowohl gesellschaftliche Dynamiken besser zu verstehen als auch Strategien des Ausgleichs zwischen zyklischer und linearer Zeit zu entwickeln.
Damit sind die wichtigsten Themen der nachfolgenden Essays benannt. Es bleibt zu hoffen, dass sie ihr Ziel erreichen, zu einer Verteidigung des Menschen beizutragen – und zwar nicht zuletzt gegen seinen eigenen Voluntarismus. Denn das Bestreben der Moderne, alles »Gegebene in ein Gemachtes zu verwandeln« – so die treffende Formulierung von Gernot Böhme (2010: 143) –, ist heute an einen Punkt gelangt, an dem die Konstitution und die Freiheit des Menschen selbst in Frage steht. Und es wird nicht nur eine Frage der theoretischen Vernunft, sondern eine ethische und schließlich politische Frage sein, ob sich in dieser Situation eine humanistische Sicht des Menschen verteidigen und zugleich neu bestimmen lässt. Denn wie Karl Jaspers schrieb, entscheidet das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, letztlich über unseren Umgang mit uns selbst und mit anderen – heute wäre zu ergänzen: und mit der Natur. Humanismus im ethischen Sinn bedeutet daher Widerstand gegen die Herrschaft technokratischer Systeme und Sachzwänge ebenso wie gegen die Selbstverdinglichung und Technisierung des Menschen. Fassen wir uns selbst als Objekte auf, sei es als Algorithmen oder als neuronal determinierte Apparate, so liefern wir uns der Herrschaft derer aus, die solche Apparate zu manipulieren und 17sozialtechnologisch zu beherrschen suchen. »Denn die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet […] die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.« (Lewis 1943/2007: 63) Die Verteidigung des Menschen ist insofern nicht nur eine theoretische Aufgabe, sondern auch eine ethische Pflicht.
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Mein Dank gilt zunächst allen, mit denen ich in den letzten Jahren über die genannten Themen diskutieren konnte und von denen ich wertvolle Anregungen zu den Aufsätzen erhalten habe; namentlich genannt seien Barbara Pieper, Andreas Draguhn, Matthias Jung, Stefan Kristensen, Magnus Schlette und Christian Tewes. Das Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg hat uns ermöglicht, von 2013 bis 2019 das Projekt »Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie« durchzuführen; den Direktoren des Kollegs Thomas Rausch und Bernd Schneidmüller, vor allem aber seinem Geschäftsführer Tobias Just sei für alle Unterstützung herzlich gedankt. Philipp Hölzing und Jan-Erik Strasser vom Suhrkamp Verlag danke ich für die angenehme Zusammenarbeit bei der Planung und Erstellung des Bandes. Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich Daniel Vespermann, Damian Peikert, Lukas Iwer und Mailin Hebell-Dowthwaite für die sorgfältige Redaktion und umsichtige Vorbereitung der Texte zum Druck.
Heidelberg, im November 2019Thomas Fuchs
Literatur
Böhme, G. 2010. »Das Gegebene und das Gemachte«. In: Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung. Hg. von M. Großheim, S. Kluck. Freiburg: Alber, S.140-150.
18Bostrom, N. 2018. Die Zukunft des Menschen. Berlin: Suhrkamp.
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Ettinger, R. C. 1989. Man into Superman. New York: Avon.
Fingerhut, J., R. Hufendiek, M. Wild (Hg.) 2013. Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Berlin: Suhrkamp.
Fuchs, T. 2015. »Pathologies of Intersubjectivity in Autism and Schizophrenia«. In: Journal of Consciousness Studies 22: S.191-214.
Fuchs, T. 2017. Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. 5. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.
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Harari, J. N. 2017. Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. Übers. von A. Wirthensohn. München: Beck.
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