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Gefühle gelten nach herrschender Auffassung als mentale Zustände, die in einer verborgenen Innenwelt des Subjekts beziehungsweise in dessen Gehirn zu lokalisieren sind. Dem steht eine Konzeption der Verkörperung gegenüber, die Gefühle als Phänomene begreift, welche Selbst und Welt in leiblicher Resonanz miteinander verbinden. Auch Intersubjektivität beginnt aus dieser Perspektive nicht mit einem isolierten Ich, das den Weg zu anderen erst finden muss, sondern mit Interaffektivität. Diese stiftet die primären, zwischenleiblichen Beziehungen ebenso wie die dauerhaften Bindungen zu anderen Menschen. Am Beispiel zahlreicher Gefühle wie Empathie, Vertrauen, Scham, Hass und Trauer entwickelt Thomas Fuchs in seinem Buch eine neue Sicht auf unsere affektive Verbindung mit der Welt.
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Seitenzahl: 574
3Thomas Fuchs
Verkörperte Gefühle
Zur Phänomenologie von Affektivität und Interaffektivität
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2454
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-78102-9
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einführung: Verkörperte Affektivität
I
. Gefühl und Verkörperung
1. Das Gefühl des Lebendigseins
2. Phänomenologie der Stimmungen
3. Verkörperte Emotionen
4. Wert und Wertfühlen Skizze einer verkörperten Werttheorie
II
. Interaffektivität
5. Vertrautheit und Vertrauen Zur affektiven Grundlage gemeinsamer Realität
6. Stufen der Empathie
7. Grenzen der Empathie Gruppenidentität und die Mechanismen der Ausgrenzung
III
. Spezifische Gefühle, Stimmungen und Atmosphären
8. Phänomenologie des Ekels
9. Scham, Schuld und Leiblichkeit Zur Phänomenologie und Psychopathologie reflexiver Emotionen
10. Die Enge des Lebens Phänomenologie der Angst
11. Das Unheimliche Anmutung und Atmosphäre
12. Abwesende Gegenwart Die Ambivalenz der Trauer
13. Kränkung, Rache, Vernichtung Phänomenologie des Hasses
14. Phänomenologie der Verzweiflung
15. Glück und Zeit
Textnachweise
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Wir sagen sowohl, daß wir etwas für schrecklich, lieblich und anderes hielten, und betonen damit, daß die Gefühle von der Person abhängen, als wir auch sagen, daß etwas schrecklich, lieblich oder anderes sei […], womit wir betonen, daß der Ursprung unserer Gefühle wie eine Eigenschaft in den Dingen und Geschehnissen wurzle. Diese Zweiseitigkeit, ja amphibische Zweideutigkeit der Gefühle unterstützt den Gedanken, daß sie nicht nur im Innern, sondern auch in der äußeren Welt zu beobachten sind.
Robert Musil[1]
Gefühle scheinen in unserer gegenwärtigen Kultur etwas zutiefst Persönliches, Privates und Innerliches zu sein. Das gilt besonders in Zeiten, in denen man sich zur eigenen Legitimation gerne auf sein Gefühl beruft, als unmittelbar »gefühlte Wahrheit«, die sich der intersubjektiven Überprüfung und dem Abgleich verschiedener Perspektiven entziehen zu können glaubt. Wer sich nur auf seine eigenen Gefühlsbezeugungen stützt, der untergräbt, so bereits Hegels Kritik, das Fundament der Gemeinschaft:
Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muss erklären, dass er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle. (Hegel 1970: 64f.)
Man kann nun eine solche Verabsolutierung der Gefühle auch als die Konsequenz einer Verinnerlichung ansehen, die die Verkörperung und Intersubjektivität der Gefühle ausblendet und übergreifende räumliche Gefühlsphänomene wie Stimmungen und Atmosphären gänzlich aus dem Blick verloren hat. So ordnen auch die 8herrschenden Emotionstheorien in Philosophie und Psychologie die Gefühle einer inneren »Psyche« zu, die sowohl vom Körper als auch von der Welt getrennt ist. Dazu passt die dominierende Auffassung der gegenwärtigen Sozial- und Kognitionspsychologie, wonach die subjektive Innenwelt der Gefühle für andere grundsätzlich unzugänglich sei. Was andere empfinden oder fühlen, das können wir demzufolge nur indirekt erschließen, nämlich aus ihrem äußeren Verhalten oder körperlichen Signalen – etwa nach dem Muster: »Er lächelt, also freut er sich«. Dazu dienen uns kognitive Strategien wie die »Theory of Mind«, das »Mind Reading« oder »Mentalisieren«, die die behauptete Kluft zum anderen nicht aufheben, aber notdürftig überbrücken.[2]
Die Verinnerlichung, Privatisierung und Subjektivierung der Gefühle ist allerdings kein neues Phänomen. Sie geht letztlich zurück auf die neuzeitliche »Entzauberung des Kosmos«: Die naturwissenschaftliche Umdeutung der Welt verlagerte nach und nach alle qualitativen und affektiven Erfahrungen in das Innere des Subjekts und ließ nur eine rein physikalische, quantifizierbare Außenwelt zurück. Besonders seit der cartesianischen Trennung von res cogitans und res extensa wurde alles Gefühlshafte, also alles, was Menschen affiziert, bewegt, begeistert oder erschüttert, der seelischen Innenwelt zugerechnet, wo das Subjekt nun mit seinen »passions de l’âme« zurechtkommen musste.[3] Die physikalische Welt war frei von allen affektiven Qualitäten, und wenn Menschen etwas für attraktiv, schön, hässlich oder bedrohlich hielten, konnte es sich fortan nur um Projektionen ihrer Gefühle handeln.
Nachdem sich allerdings der Begriff der Seele im letzten Jahrhundert zunehmend verflüchtigte, blieb für die Gefühle im Grunde kein Ort mehr übrig. Die Emotionspsychologie fasste sie konsequenterweise als Formen der Kognition auf, nämlich als Bewertungen (appraisals) äußerer Reize im Geist eines Individuums, allenfalls 9zusätzlich begleitet von physiologischen Körpersensationen.[4] Damit geriet freilich die leibräumliche ebenso wie die interpersonale Dimension der Gefühle aus dem Blick. Die Neurobiologie der Emotionen[5] trug zusätzlich dazu bei, Gefühle als rein mentale, im Gehirn lokalisierte Prozesse zu begreifen, auf die sich nur anhand bestimmter körperlicher Ausdruckszeichen schließen lasse.
Demgegenüber entwickelt der vorliegende Band eine grundsätzlich andere Konzeption der Gefühle. Sie stützt sich auf die Leibphänomenologie und das Paradigma der Verkörperung, das in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten weitreichende Bedeutung in verschiedenen Disziplinen erlangt hat.[6] Diese Konzeption lässt sich unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen:
(a) affektives In-der-Welt-Sein,
(b) affektive Verkörperung und
(c) Interaffektivität.
Gegen die dualistische Trennung von affektiver Innenwelt und gefühlsneutraler Außenwelt setzt die Phänomenologie die Erfahrung, dass unser In-der-Welt-Sein immer affektiv getönt und gestimmt ist. Stimmungen und Gefühle »erschließen« in Heideggers Terminologie die Welt (Heidegger 1986: 136), d.h., nur durch Gefühle wird sie für uns überhaupt zu einer sinnvollen und bedeutsamen Umwelt. Dabei kommt die Welt unseren Gefühlen entgegen, denn sie weist ihrerseits affektive oder Wertqualitäten, »Valenzen« (Lewin 1969) oder »Affordanzen« (Gibson 1979) auf: Dinge und Situationen wirken anziehend, behaglich, vertraut oder abstoßend, unheimlich, bedrohlich usw. Stimmungen und Atmosphären brei10ten sich über Situationen, Räume und ganze Landschaften aus. Zu unserer Situiertheit, unserem Sein-in-Situationen gehört also immer eine affektive Bedeutsamkeit, die keineswegs einer Innenwelt zuzuteilen ist.
Mehr noch: Gefühle affizieren uns, d.h., sie »tun uns etwas an«, nämlich als Betroffenheiten oder Erschütterungen, die von der Situation ausgehen, in der wir uns befinden. Sie stellen, mit einem Begriff von Bernhard Waldenfels (2002), Widerfahrnisse dar, die uns geschehen und die wir erleiden, entsprechend den »Leidenschaften« (griech. páthos, lat. passio) der klassischen Affektenlehre. Zum Pathos gehört aber auch die Response, wie Waldenfels (ebd.) es nennt, also die Antwort des Subjekts auf seine Betroffenheit, sei es im Ausdruck oder in einer spontanen Handlungstendenz. Damit stellen Gefühle eine übergreifende, zugleich nach innen und nach außen gerichtete Beziehung zur Situation her, die sich weder als objektiver Vorgang noch als eine bloß subjektive Bewertung angemessen begreifen lässt. Das Subjekt bleibt mit seinen Gefühlen nicht bei sich, sondern es wird in eine weiterreichende Dynamik involviert.
Pathos und Response, das affektive Widerfahrnis ebenso wie die Antwort darauf, sind vermittelt durch das Medium des Leibes, nämlich als leibliche Resonanz und als leiblicher Ausdruck. Gefühle sind Affektionen, die wir an leiblichen Empfindungen, Regungen und Bewegungstendenzen spüren und die sich zugleich in Mimik, Gestik und Handlungstendenzen Ausdruck verschaffen. Angst oder Wut lassen sich nicht trennen von der gespürten Enge, den Spannungen und Erregungen des Leibes, der Tendenz zu fliehen oder anzugreifen; Freude nicht von der gespürten Weite und der Tendenz, sich zu erheben oder zu springen. Der Leib ist buchstäblich der »Resonanzkörper« der Gefühle.[7]
11Doch dem Resonanz- und Ausdrucksgeschehen der intentionalen Gefühle liegt noch eine tiefer im Leib verankerte Schicht zugrunde, die ich als »Gefühl des Lebendigseins« oder auch als Vitalität bezeichne.[8] Es handelt sich um ein basales leibliches Befinden, das uns im Hintergrund ständig begleitet, mit den Polen von Wohlbefinden und Missbefinden, Entspannung oder Anspannung, Frische oder Müdigkeit, des Elans oder der Erschöpfung. Im Lebensgefühl spiegelt sich der momentane Zustand des gesamten Organismus, nämlich im Hinblick auf sein inneres Gleichgewicht oder seine Homöostase. In ihrer Aufrechterhaltung können wir mit Damasio (2021) die grundlegende Funktion des bewussten Erlebens sehen, wie es sich zunächst in den Lebensgefühlen, dann auch in Hunger, Durst, Lust oder Schmerz manifestiert: Alles Erleben ist eine Form des Lebens.[9] Das Lebensgefühl entsteht auch nicht allein im Gehirn, sondern es integriert vielmehr die kontinuierliche Interaktion von Gehirn und peripherem Organismus, entsprechend seiner Ausbreitung über den gespürten Leib als ganzen.[10]
Das Lebensgefühl ist zugleich ein basales, präreflexives Selbstgefühl, wie es sich bereits beim ersten Erwachen einstellt, ehe wir uns reflexiv unserer selbst vergewissern können. Bewusstsein beginnt mit einem Sich-Spüren, einer Selbstaffektion des Leibes; es gibt kein »reines Bewusstsein« oder »reines Denken«, zu dem die Affektivität nur akzidentell oder vorübergehend hinzuträte. Das Lebensgefühl liegt damit auch dem Selbstbewusstsein oder der Selbstreflexion zugrunde, die in der platonisch-cartesischen Tradition als Seele oder res cogitans angeblich ein autonomes Regime über den Körper und seine Leidenschaften führen sollten. Es verhält sich jedoch umgekehrt: »Nicht das Denken gibt uns den Zugang zum Leben; es ist das Leben, welches dem Denken den Zugang zu sich erlaubt« (Henry 2002: 145).
12In den Stimmungen und Existenzgefühlen (Ratcliffe 2008) breitet sich das basale Befinden in den Umraum aus und tönt das situative Erleben von Selbst und Welt insgesamt. Aber auch Stimmungen wie Lebensfreude, Heiterkeit oder Melancholie und existenzielle Gefühle wie Vertrautheit oder Fremdheit, Geborgenheit oder Unheimlichkeit, Enge oder Weite sind doch immer im Leib zentriert und bleiben an seine Resonanz gebunden. Noch spezifischer richten sich die intentionalen Gefühle oder Emotionen – Freude, Stolz, Ärger, Scham u.a. – auf bestimmte Situationen und Anlässe, so dass die leibliche Resonanz dabei oft ganz in den Hintergrund tritt. Dennoch prägen leibliche Regungen und Haltungen vielfach unbemerkt unsere emotionalen Reaktionen auf Situationen; dies hat besonders die Embodiment-Forschung gezeigt.[11]
Die Polarität von leiblicher Selbst- und zugleich Fremdaffektion, die alle Gefühle charakterisiert, illustriert auch der Tastsinn, der, an der Grenze des Leibes angesiedelt, nicht umsonst als Fühlen (engl. feeling) bezeichnet wird: Gefühle bedeuten sowohl leibliches Sich-Spüren als auch Berührt- oder Affiziertwerden von der Situation in übergreifender Einheit. Aber auch das aktive Tasten oder Berühren entspricht der Handlungstendenz der Gefühle: Im Paradigma der Verkörperung wird der Leib gleichsam zur Schaltstelle zwischen Pathos und Response, Affektion und Antwort in Ausdruck und Handlung.
Die Verinnerlichung und Subjektivierung der Gefühle wird erst ganz überwunden, wenn wir ihre intersubjektive Dynamik miteinbeziehen. Während Konzepte wie »Theory of Mind«, Mentalisierung oder »Mind-Reading« den sozialen anderen als eine Art Black Box betrachten, so dass sich sein Gefühlsleben vermeintlich nur indirekt erschließen lässt, geht die Phänomenologie mit Merleau-13Ponty (2003: 256) von einer ursprünglichen Zwischenleiblichkeit aus: Unser Leib wird vom Ausdruck, von den Gesten und Blicken anderer affiziert; dieser leibliche Eindruck ruft in uns einen Ausdruck hervor, der wiederum auf die anderen zurückwirkt usf. In diesem kreisförmig rückgekoppelten Prozess entsteht eine primäre Empathie, ein unmittelbares Gefühls- und Intentionsverstehen durch zwischenleibliche Resonanz.
Wir nehmen den anderen somit intuitiv und selbstverständlich in seinem leiblichen Auftreten und Ausdruck wahr, lange bevor sich Zweifel hinsichtlich seiner Offenheit oder verborgenen Intentionen einstellen mögen – Zweifel, die dann philosophisch zum »Problem des Fremdpsychischen« hypostasiert werden. Im lebensweltlichen Umgang mit anderen sehen wir uns keinem Körperobjekt gegenüber, dessen Zeichen und Bewegungen auf einen »Bewohner« schließen lassen, der im Gehirn wie in einer Kapsel verborgen ist, sondern einer lebendigen, verkörperten Person. Das Problem des Fremdpsychischen erweist sich als Scheinproblem.
Bereits in den grundlegenden existenziellen Gefühlen von Wirklichkeit, Zugehörigkeit und Vertrautheit mit der Welt, erst recht in Stimmungen und Emotionen sind wir immer in einem gemeinsamen affektiven Raum auf andere bezogen. Die Säuglingsforschung hat gezeigt, wie die wechselseitige Resonanz von mimischem, gestischem und stimmlichem Ausdruck die primäre affektive Einstimmung mit anderen hervorruft. Von Geburt an ist der Leib in die Zwischenleiblichkeit eingebettet und wird so zum Medium der Interaffektivität. Gefühle sind nicht in einen mentalen Innenraum eingeschlossen, um von außen entschlüsselt zu werden, sondern sie entstehen, verändern sich und zirkulieren zwischen Selbst und anderen im zwischenleiblichen Dialog. Dies gilt besonders für die sozialen und moralischen Emotionen wie Scham, Stolz, Neid oder Schuldgefühle, die ein reflexives Bewusstsein in der Beziehung zu den anderen implizieren und sich daher erst im Zuge sozialer Interaktionen im 2. und 3. Lebensjahr entwickeln.[12] Gefühle sind somit 14weder rein individuelle noch unidirektionale Phänomene; sie wirken in Kreisprozessen wechselseitiger Beeinflussung und Bindung, die verschiedene Personen in ihre übergreifende Dynamik einbeziehen können.
Fassen wir die drei Aspekte der damit skizzierten Konzeption der Gefühle noch einmal zusammen: affektives In-der-Welt-Sein, affektive Verkörperung und Interaffektivität.
Im Gegensatz zur kognitivistischen Sicht, die unsere mentalen Zustände einschließlich Stimmungen und Emotionen in unserem Kopf verortet, begreift die Phänomenologie Gefühle als umfassende Phänomene, die Selbst, Leib und Welt miteinander verbinden. Sie entstehen auf der Grundlage einer präreflexiven Einstimmung auf die aktuelle Situation, zeigen den aktuellen Stand unserer Beziehungen, Interessen und Konflikte an und manifestieren sich als Regungen, Bewegungen und Ausdrucksformen des Leibes. Als affektives In-der-Welt-Sein antworten sie auf die Wert- und Gefühlsqualitäten, die Anmutungen und Atmosphären, die die Umwelt für Lebewesen bereithält. Die objektiv bestehende Komplementarität von Gefühlen und affektiven Qualitäten bzw. Werten der Umwelt erweist die Vorstellung einer neutralen, gefühlsfreien Welt als ein reduktionistisches Konstrukt. Nur Stimmungen und Gefühle erschließen uns auch die Relevanzen, die lohnenden Ziele und damit die sinnvollen Möglichkeiten, die die Welt unserem Handeln bietet.
Im Paradigma der Verkörperung wird die Affektivität aber auch zur Grundlage des Bewusstseins und Selbsterlebens. Das Gefühl des Lebendigseins entspringt aus unserer physischen Körperlichkeit; alles Erleben ist primär eine Manifestation des Lebensprozesses, nämlich ein »Sich-Spüren« des Leibes in Lust und Unlust. Die leibliche Selbstaffektion liegt auch der Möglichkeit von Selbstbewusstsein und Selbstreflexion notwendig zugrunde. Damit wird das Pathos zum Kern der Subjektivität: Nicht das souveräne cartesianische Ich steht am Anfang, sondern das betroffene, erleidende und verletzliche Selbst. Namentlich im Erleiden von Widerständen, im Schmerz, der mir widerfährt, werde ich meiner als Subjekt, d.h. als 15»Unterworfenes«, gewahr. Das »Mir« taucht auf aus dem Pathos, aus der Affektion durch das Fremde oder andere, und erst aus dem »Mir« kann das reflexiv gewendete »Ich« entstehen.[13]
Die Vorgängigkeit des Mir gilt schließlich auch für die Intersubjektivität. Sie beginnt nicht mit einem in sich abgeschlossenen Ich, das den Weg zu einem anderen erst finden müsste, da dieser sich in einem fremden Körper verbirgt. Vielmehr bin ich in jeder Begegnung von vorneherein berührt und affiziert vom Ausdruck, vom Blick, von der leibhaftigen Gegenwart des anderen. Die Resonanz meines Leibes hat seine Präsenz bereits bezeugt, ehe ich mir über sein »mentales Inneres« Gedanken machen kann. Die Interaffektivität stiftet zugleich eine dynamische Beziehung, die die Beteiligten in Prozesse involviert, die sie nicht vollständig vorherzusehen und zu kontrollieren vermögen. Und sie stiftet im weiteren Verlauf auch die Bindungen, die Menschen dauerhaft miteinander verknüpfen, sei es in Vertrauen, Treue oder Liebe, sei es in Misstrauen, Feindschaft oder Hass.
Als solche verleiht die Affektivität unserem Leben Sinn: Nur durch Gefühle, in affektiver Betroffenheit erfahren wir uns selbst; nur durch Gefühle leben wir in einer Welt, in der Personen und Dinge von Bedeutung sind, in der wir spüren, was es wert ist, uns zu engagieren. Ohne Gefühle wäre die Welt ein Ort ohne Sinn, Wert oder Bedeutsamkeit. Es gibt daher keine klare Trennung zwischen Affekt und Kognition, denn wir können letztlich nur erkennen, was für uns relevant ist, d.h., was für unser Leben in irgendeiner Weise Bedeutsamkeit besitzt. Alles Erkennen beruht auf unserer affektiven Teilhabe an der Welt. Es gibt auch keine klare Trennung zwischen Affekt und Volition, denn wir können nur auf das antworten und einwirken, was uns bereits affiziert hat und uns zum Handeln motiviert. Alles Handeln ist nur möglich in einer Welt affektiver Qualitäten, die dem Feld der Handlungsmöglich16keiten eine sinnvolle Struktur verleihen. In unserem Engagement in der Welt, das von Gefühlen motiviert und getragen wird, erfüllt sich der eigentliche Sinn der verkörperten Affektivität und Interaffektivität.
Die damit im Überblick skizzierte Konzeption einer verkörperten Affektivität wird im Band in zwei Abschnitten zunächst grundsätzlich entwickelt, in einem dritten Abschnitt anhand spezifischer Gefühle und Stimmungen exemplarisch untersucht.
Der erste Abschnitt, »Gefühl und Verkörperung«, analysiert die Zusammenhänge von Gefühl und Verkörperung in mehreren Stufen:
(1)Das erste Kapitel, »Das Gefühl des Lebendigseins«, beschreibt zunächst die basale Schicht des affektiven Erlebens, die sich in Vitalität und Konativität, d.h. im Lebensgefühl und im Antriebsgeschehen, manifestiert. Als biologische Grundlage für diese Phänomene lässt sich die homöostatische Selbstregulation des Organismus identifizieren, ermöglicht durch die fortlaufende Interaktion von Gehirn und peripherem Organismus.
(2)Daran schließt eine Phänomenologie der Stimmungen an, die zunächst die Grundstrukturen des affektiven Raums, nämlich affektive Qualitäten und leibliche Resonanz, darstellt, dann die spezifischen Merkmale der Stimmungen herausarbeitet und sie schließlich gemäß ihren Lust-/Unlust-Qualitäten und ihrem Aktivierungsgrad in einem »Stimmungskreis« anordnet.
(3)Das dritte Kapitel wendet sich den intentionalen Emotionen zu. Nach einer Diskussion der wichtigsten Emotionstheorien entwirft es ein Kreismodell verkörperter Gefühle, basierend auf der Verknüpfung einer zentripetal gerichteten »Affektion« und einer zentrifugal gerichteten Handlungstendenz oder »Emotion«. Dieses Modell wird durch psychopathologische Phänomene zusätzlich illustriert.
(4)17Das vierte Kapitel, »Wert und Wertfühlen«, gilt gewissermaßen der Umweltseite der Affektivität; es untersucht die Frage, welcher Status den Werten in einer naturalisierten Welt zukommen kann. Dazu entwickelt es eine Theorie der Werte als Formen affektiver Bedeutsamkeit, die aus der verkörperten Interaktion zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt resultieren. Werte lassen sich demnach als relationale Phänomene und in diesem Sinn als objektive Qualitäten der Beziehung von Subjekt und Welt begreifen.
Der zweite Abschnitt behandelt die Interaffektivität bzw. die Intersubjektivität der Gefühle unter mehreren Aspekten:
(5)Das Kapitel »Vertrautheit und Vertrauen« untersucht die Zusammenhänge zwischen einer ursprünglichen Beheimatung in der Welt, die sich über das Medium des Leibes herstellt, und den vertrauensvollen Beziehungen zu anderen. Es zeigt, dass die existenziellen Grundgefühle von Vertrautheit und Vertrauen gleichursprüngliche Grundlagen der gemeinsamen Lebenswelt darstellen. Psychopathologische Analysen der Vertrauensstörungen in posttraumatischen und schizophrenen Erkrankungen können diese Grundlagen zusätzlich erhellen.
(6)Im sechsten Kapitel, »Stufen der Empathie«, wird die Konzeption des Gefühlskreises (Kap. 3) auf die intersubjektive Begegnung übertragen: Die zwischenleibliche Resonanz von Ausdruck und Eindruck ermöglicht eine primäre Empathie, d.h. ein intuitives Verständnis der Gefühle und Intentionen anderer, das nicht an indirekte, kognitive Strategien (»Theory of Mind«, »Mind Reading«) gebunden ist. Davon abzugrenzen ist eine sekundäre, kognitive und schließlich eine iterierte Empathie, in der das Subjekt die Empathie des anderen erfährt, so dass sich dabei primäre und sekundäre Empathie miteinander verknüpfen.
(7)Das Kapitel »Grenzen der Empathie« untersucht die menschliche Tendenz, Empathie und Sympathie bevorzugt für Angehörige der eigenen Gruppe zu empfinden, während empathische 18Regungen gegenüber Fremden häufig abnehmen, im Extremfall auch völlig abgespalten werden können. Anhand der von Christopher Browning geschilderten Exekutionen des Polizeibataillons 101 im Rahmen der nationalsozialistischen »Endlösung« lassen sich die gruppen- und individualspezifischen Voraussetzungen einer Abspaltung der primären und sekundären Empathie analysieren.
Der dritte Abschnitt gilt schließlich einer weit gespannten Phänomenologie spezifischer Gefühle und Stimmungen, die auf der Grundlage der entworfenen Konzepte untersucht werden. Dazu gehören die Kapitel (8) Ekel, (9) Scham und Schuldgefühl, (10) Angst, (11) das Unheimliche, (12) Trauer, (13) Hass, (14) Verzweiflung und (15) Glück. Das Übergewicht negativer Gefühle in dieser Zusammenstellung mag irritieren; es ist zum einen auf den psychopathologischen Forschungsschwerpunkt des Autors zurückzuführen, zum anderen aber auf die Tatsache, dass gerade negative Gefühle die Konflikthaftigkeit und – etwa in Hass oder Verzweiflung – auch die Zerrissenheit des Individuums in einer Weise manifestieren, die der Phänomenologie besonders fruchtbare Möglichkeiten der Analyse eröffnet.
Zusammengenommen erschließt die Abfolge der Kapitel eine reichhaltige Phänomenologie der Verkörperung und Intersubjektivität von Gefühlen, die dazu beitragen kann, sie aus einer mentalen Innenwelt zu befreien und damit unser affektives In-der-Welt-Sein neu zu begründen.
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Die im Band versammelten Texte wurden für die Veröffentlichung grundlegend überarbeitet und miteinander verknüpft, so dass sie einen einheitlichen Zusammenhang ergeben. Ich danke den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt den Patientinnen und Patienten, die durch ihre Erfahrungen und Anregungen zu diesen Texten beigetragen haben. 19Ebenso danke ich Philipp Hölzing und Jan-Erik Strasser vom Suhrkamp Verlag für die nun schon gewohnt angenehme Zusammenarbeit bei der Planung und Erstellung des Bandes.
Heidelberg, im Juni 2024
Thomas Fuchs
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