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JO ZIEGLER inszeniert seine schrägen Storys mit einem schlimmen Finger. Turbulent prasseln Wortkaskaden bis zum Abwinken. Reale und fiktive Elemente verdichten sich zu bizarren Kurzfilmen, aus denen man gerne ins normale Leben zurückkehrt. Wie bei HEIDILEIN und HERMES UTKU, einem schillernden Pärchen, während in der seltsamen RUE DE GIRSTERWINKEL Gartenzwerge marschieren. Im Kontrastprogramm wuseln VITAMINE, gefolgt vom KRÄHEN DES GELBEN WASSERFALLS sowie von KNACKENDEN BLECHFRÖSCHEN. Und Knall auf Fall beenden BROKEN DREAMS die AUSFART@ABSURDISTAN.
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Seitenzahl: 165
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JO ZIEGLER
2020
Mega Maschinski Storys
Jo Ziegler inszeniert seine Mega Maschinski Storys mit einem schlimmen Finger. Turbulent prasseln Wortkaskaden bis zum Abwinken. Reale und fiktive Elemente verdichten sich zu bizarren Kurzfilmen, aus denen man gerne ins normale Leben zurückkehrt.
Wie bei HEIDILEIN UND HERMES UTKU, einem schillernden Pärchen, während in der seltsamen RUE DE GIRSTERWINKEL Gartenzwerge marschieren.
Im Kontrastprogramm wuseln VITAMINE, begleitet vom KRÄHEN DES GELBEN WASSERFALLS sowie von KNACKENDEN BLECHFRÖSCHEN
Und Knall auf Fall enden BROKEN DREAMS im Gewitter an der AUSFAHRT@ABSURDISTAN.
BUCHCOVER, BUCHRÜCKSEITE UND
ABBILDUNGEN IM TEXT ©JO ZIEGLER
INHALT
1 GRÜNE SMOOTHIES
2 PUPPI P
3 RAUHNACHTTRAUM
4 DIE AKTE BERNHARD SCHERER
5 HERMES UTKU
6 KENNZEICHENHALTER
7 RUE DE GIRSTERWINKEL
8 “FITAMINE“
9 SIE NANNTEN IHN HIPPIE
10 EIN HUND IST KEINE HÄNGEMATTE
11 PARKPLATZWÄRTER-OVERKILL
12 SAUBER-ZAUBER
13 DEUTSCHLAND FÜR ANFÄNGER
14 NEGERKÜSSE AN WÜSTENFISCHE
15 IM LAUBZIMMER
16 BROKEN DREAMS
17 DAS KNACKEN DER BLECHFRÖSCHE
18 GREAT PACIFIC GARBAGE PATCH
19 ALTE AMIGOS
20 AUSFAHRT@ABSURDISTAN
21.MAXIMILIAN
22 TÜLINS FRÖSCHE
23 IN DEN FETTEN RUHRWIESEN
ANHÄNGE
KURZVITA, BIBLIOGRAPHIE,AUTORENFOTO, IMPRESSUM
1
GRÜNE SMOOTHIES
„Mila!
Ich habe mir neulich ein besonderes Rezept mit einem Click auf mein neues Smartphone geholt.“
„Wofür denn?“
„Für grüne Smoothies.“
„Wohl bekommt’s!“
„So oder so!
Jedenfalls war mein texturierter Lupinen-Slip nicht mehr zu retten.“
„Ein textiler Ausreißer?“
„Ich vermute eher, dass mein 7-Tage-Kickstart mit grünen Smoothies die Ursache ist, obwohl…“
„Obwohl was?“
„Obwohl, wie gesagt, nur eine Vermutung, denn ich meine, alles richtig gemacht zu haben: Beginnend mit meiner neuen Anschaffung eines rechtsdrehenden Hochleistungsmixers mit einem Chip zur Harmonisierung des 50 Hz Magnetfeld E-Smogs und darüber hinaus noch BPA-frei.“
„Ist OK! Und weiter?“
„Nur hexagonales Wasser.“
„Ist auch OK! Und weiter?“
„Nach Rezept 50% reife Früchte aus saisonalem Angebot, gemischt mit Avocados und Gurken. 50% Blattgrün aus saisonalem Angebot wie Grün von Kohlrabi und Blätter von Grünkohl und Palmkohl.“
„Ist auch OK! Und weiter?“
„Nur Steinsalz.“
„Kristallsalz geht auch.“
„Na gut!
Aber dann habe ich mir noch ein Extra geleistet.“
„Ich höre!“
„Ballaststoffe vom Feinsten.“
„Nämlich?“
„Ballaststoffe der Boab-Frucht in maximaler Konzentration.“
„Aha!
Die sind mit prebiotischen Eigenschaften ausgestattet, was bedeutet, dass sie der Darmflora nutzen, ihr Nahrung spenden und so für ein gesundes Magen-Darm-Milieu sorgen. Vielleicht lag es an der maximalen Konzentration – und deswegen deine Deregulation.“
„Zur Eruierung neige ich jetzt zu einem Tierexperiment.“
„Aber Svenja, diese Nummer ist doch igitt und megaout!“
„Tierversuche sind wichtig!
Ich will ja nicht von meinem Lippenstift irgendwelche schlimmen Krankheiten bekommen. Oder soll der etwa vorher an Menschen getestet werden?“
„An wem denn sonst?“
„Ich denke da an unseren liebenswerten Hunderentner! Der bekommt gleich zum Einweichen seines Trockenfutters den Rest meiner grünen Smoothies in den Fressnapf. Bin gespannt, was dann passiert.“
„Shit happens but live goes on!“
„Mila, du nervst mich an!“
„Aber ich setze ein Zeichen gegen die Fleisch- und Milchindustrie und überhaupt:
Der Handel hat die Zielgruppe vegan lebender Haustiere längst für sich entdeckt.“
„Du scheinst ja gut informiert zu sein!“
„Bin ich auch!
900.000 Deutsche ernähren sich vegan, gibt der Vegetarierbund Deutschland an, der sich bei seinen Angaben auf Studien stützt.
Sie essen nicht nur wie Vegetarier kein Fleisch, sondern auch keine Tierprodukte wie Milch, Eier oder Honig. Die Zahl der Veganer sei stark steigend, sagt die Pressesprecherin.
Und mit den Veganern wächst offenbar auch die Zahl der Haustiere, die vegan leben.“
„Meinst du, da könnte ich auch unsere Miezekatze Muschi, unser Hausmeerschweinchen Margarete, unser Frettchen Harlekin und unseren Beo Elvis mit einbeziehen?“
„Warum nicht?
Wie ihr allerdings mit diesem Mini-Zoo auf 49 Quadratmetern Sozialwohnung mit Stehbalkon klarkommt, ist und bleibt mir ein Rätsel.“
„Äh!
Ab Ostersonntag mit Beginn der Sommerzeit ticken die Uhren für uns anders.“
„Anders als eine Stunde vorgestellt?“
„Jein!“
„Du tickst gerade kryptisch!“
„Nicht, wenn ich dir sage, dass mein Hase Jonas einen Zentralgewinn beim Lotto gelandet hat.“
„Hä?
Beim Lotto – ist ja voll trutschig!“
„Also:
Jonas fand meinen neuen Mini aus Mesh mit Buchstaben- und Bilderkombinationen lustig und übertrug das Muster in ein Kästchen seines Lottoscheins. Das sah auch lustig aus, und er füllte dann den Lottoschein komplett identisch aus.“
„Was denn, immer die gleichen Zahlenreihen?“
„Ja doch!
Den Heidi-Film im Fernsehen fand er langweilig und wollte zur Abwechslung mal eben mit Frettchen Harlekin an der Leine zum Lottospielen gehen – äh, zum Lottospielen für Bekloppte gehen – bekloppt, weil er komplett die gleichen Zahlenreihen angekreuzt hat.“
„Gratuliere!
Genialität und Wahnsinn liegen dicht beieinander.“
„Um wieder auf den Teppich zu kommen, möchten wir euch mit Kind und Rentnerhund zu einem entspannenden verlängerten Wochenende in ein veganes Naturresort einladen.“
„Naturresort? Aber nicht im Ausland!“
„Im Beinahe-Ausland, äh, in Meck-Pomm.“
„Sind die da schon so weit?“
„Dank der rollenden Solis gibt es blühende Landschaften und hundefreundliche vegane Holzhotels direkt am See.“
„Danke!
Diese Einladung nehmen wir gerne an und dann feiern wir vegan bis veganissimo.“
Ende
2
PUPPI P
„Wenn die Sache irre ist, werde ich hellwach.“
„Ganz genau!
Wie beim Schäm-Dich-Puppen-Rätsel.“
„Zapperment!
Mein Smartphone und ich:
Click und click und da ein verzweifeltes Kleinkind – mutterseelenallein.
Es lehnt an einem Pfahl.
Mit den Armen verdeckt es sein Gesicht, es scheint verzweifelt.
Autos rasen gefährlich nah vorbei, von den Eltern weit und breit keine Spur.“
Nur wer nah herangeht und nachschaut, der merkt:
Das hilflose Kind ist eine Puppe!
Eilig gemachte Smartphone-Fotos tummeln sich im Internet.
Grusel-Szenario aus Düsseldorf.
Wer dahinter steckt und mit der 60 Zentimeter großen Gestalt derzeit in Düsseldorf das herzzerreißende Szenarium schafft, darüber wird inzwischen bundesweit gerätselt. Im Internet und in Zeitungen schießen die Spekulationen und Theorien ins Kraut.“
„Nicht einmal die Polizei konnte das Rätsel lösen!
Das ist kein Thema, um das wir uns kümmern müssten, so hörte man.
Wir wissen auch nicht, wer dahinter steckt, sagte ein Polizeisprecher.“
„Ratlosigkeit auch bei der Stadtverwaltung.
Wir hatten uns natürlich umgehört – beim Ordnungsamt und bei der Stadtreinigung.
Keiner weiß etwas, berichtete ein Sprecher.
Allerdings war die Puppe am darauffolgen Tag verschwunden.“
„Sind es Spaßvögel, die die Passanten an der Nase herumführen wollen?“
„Auch möglich!
Denn ein Zeitungsleser berichtet von einem schwarz gekleideten Mann. Dieser habe ihn beobachtet, als er sich der Puppe näherte, um nach dem Rechten zu sehen.“
„Vielleicht ist es eine Kunst-Aktion?“
„Tja!
Düsseldorf ist eine Hochburg der Straßenkunst. Mehr oder weniger ambitionierte Graffiti-Sprayer und Initiativen wie “Farbfieber“ sind in der Stadt ebenso unterwegs wie die “Strick-Guerilla“, die Geländer und Pfosten mit Selbstgestricktem verschönert. Oder ist die Puppe Performance-Kunst – etwa eine temporäre Installation von Studenten der berühmten Düsseldorfer KunstAkademie?“
„Bislang hat sich niemand dazu bekannt.“
„Vielleicht ist es ein wissenschaftliches Experiment. Womöglich testen Psychologen mit der Puppe das Mitleid und die Hilfsbereitschaft der Stadtbevölkerung! Zählen sie heimlich, wie viele Passanten das “Kind“ seinem Schicksal überlassen? In dem Fall dürfte die Studie wohl noch andauern, denn bekanntgemacht wurde sie bislang nicht.“
„Ist Herkunft oder Herstellung dieser Puppe bekannt?“
„Jedenfalls haben die Medien herausgefunden, dass ähnliche Puppen vor Jahren als Schäm-Dich-Puppen im Online-Versand zu erwerben waren. So täuschend echt sie im Straßenbild wirkt – sie hat kein Gesicht, nur einen aufgemalten Mund. Hin und wieder findet man auf Ebay ein vergleichbares Puppenangebot.“
„Aber damals ist niemand auf die Idee gekommen, eine Puppe demonstrativ an der Hauswand einer belebten Straße abzustellen!“
„Womöglich alles nur ein Versehen?“
„Könnte sein, denn Deutschlands bildende Zeitung nennt die mutmaßlichen bisherigen Besitzer eine 45 Jahre alte Frau und ihren 20 Jahre alten Sohn aus Düsseldorf. Die Frau gibt an, sie habe die Puppe nach vielen Jahren in einem Müllsack der Stadt Düsseldorf entsorgen wollen.
Ihr Sohn habe sie aber davon überzeugt, sein PUPPI P in der nächsten Sperrmüllwoche am Abend auf den Gehsteig zu stellen.
Gesagt, getan!
Danach seien sie allerdings überrascht gewesen über das Ausmaß der vielen wilden Spekulationen.
Der Sohn twitterte umgehend, die neue Besitzerin oder der neue Besitzer solle der Puppe einmal auf den Bauch drücken, denn dann erklärt sich laut und überzeugend PUPPI P’s Name.“
Ende
3
RAUHNACHTTRAUM
Harmonie – gibt es die?
Sicherlich – und wie!
Das große grüne Oberhaupt JoJo hat uns in sein breites Bauernhaus am Ende der Straße im Wendehammer zur Silvesterfeier eingeladen. Wie schön, denn mit von der Partie sind sowohl Renate, diese sandfarbene Granate, als auch unser Sohn Krummbein nebst dem vivaktiven Duo Micksa&Euphemia. Als weitere Gäste werden JoJo‘s Tanzpartnerin Evelyn, die beiden Schnabels aus dem Haus der aufgehenden Sonne, die Hempels mit ihrem quirligen Zweibeiner Klein-Jessika sowie der umtriebige Scout Adrian erwartet.
Ich fühle mich voll und ganz als der schicki-mickicatchy Bully JO, weil mir mein Herrchen Konrad ein breites V2A-Kettenhalsband anlegt und er sich meine Hundeleine aus dem gleichen Material als Krawattenersatz umhängt, womit wir im Partnerlook brillieren. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es sich bei diesem Set um keine Leihgabe, sondern um eine Designer-Pretiose aus seiner Privatschatulle handelt!
Das breite Bauernhaus des grünen Obertrampels bietet ein vergleichbares Wohlfühlambiente wie der kürzlich erstellte Hausanbau im Garten meines Herrchens Konrad. Also: Mit einem offenen Kamin in einer großen Wohnhalle, mit zwei ausladenden ledernen Klubgarnituren, einem Tannenbaum im Stahlkübel und einer ebenerdigen Panoramaglaswand mit Blick in den Garten, der zusätzlich einen Gartenteich und eine am äußeren Rand des Grundstücks gelegene illegale Genmais-Anpflanzung beherbergt, die inzwischen beigefallen und vertrocknet ist und um Mitternacht während eines choreografierten Feuerwerks kontrolliert abgefackelt werden soll.
Kaum hat das grüne Oberhaupt seine beabsichtigte großartige Silvester-Mitternachtsshow angekündigt, da melden sich die Partygäste wie auf Knopfdruck zu Wort: Tante Micksa:
„JoJo, bedenke, der Brandschutz ist nicht informiert!“
Schwester Euphemia:
„Wer sorgt für «Wasser marsch»?“
Scout Adrian:
„Ich habe eine hölzerne Ponton-Abschussrampe für Raketen inklusive Funk-Fernzündung mitgebracht und zu Wasser gelassen. Das Objekt schwimmt schon, versehen mit einem Anker, mitten auf dem Gartenteich.“
Mein Herrchen Konrad:
„Da werden doch wohl keine illegalen Polenböller zur Explosion gebracht?“
Die Schnabels:
„Wir möchten vor der Genmais-Anpflanzung im Duett «Lobet den Herrn» singen.“
Die Hempels:
„Wir sind gegen und wir sind für allet, äh!“
Klein-Jessika:
„Ich puller mitti drei Wauwis umme Wette.“
JoJo’s Tanzpartnerin Evelyn:
„Oh Evelyn, gib Acht, denn JoJo’s saurer Wein hat mich dusselig gemacht!
Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh… Lust – tiefer noch als Herzeleid…!“
In diesem Tohuwabohu lege ich als selbsternannter «Leader oft the Pack» meine Nase an den Türfalz der seitlichen in den Garten führenden Tür und fiepe und janke so lange, bis Schwester Euphemia sie öffnet und schwupp, sind wir drei Bullys, gefolgt von Klein-Jessika, im Garten. Nach dem schnellen Erleichtern und vor dem wilden Herumtollen, kommt mir spontan eine Blitzaktion in den Sinn:
„YALLAYALLA!
Mir nach, wir besetzen im Bogensprung der Reihe nach die schwimmende Abschussrampe.
Und hopp! Und hopp! Und hopp!“
Und platsch! Und platsch! Und platsch!
„Mama, Papa, alle Bellos im Teich!“,
quietscht Klein-Jessika, während wir im saukalten mit Schlingwurz gespickten Öko-Teich paddeln. Die dümpelnde Ponton-Abschussrampe wird wohl zum Unwort dieses Jahres werden!
Triefnass und zitternd vor Kälte, werden wir zeitnah von Schwester Euphemia und den Schnabels in Decken eingeschlagen, abgerubbelt und sodann in die Duschkabine geschoben. Es bleibt nicht aus, dass das Duschgel für eine spürbare Tiefenreinigung auch bei mir zum Einsatz kommt. Ich fühle meine Haut gut durchblutet, fühle mich belebt und erfrischt und, umgeben von einer Ingwer-Zedernholz-Geruchs-Wolke fühle ich mich wieder wie der schicki-micki-catchy JO, getoppt als selbsternannter «Leader of the Pack».
Danach machen wir uns zum weiteren Aufwärmen vor dem knisternden Kaminfeuer breit und bleiben lange liegen, obwohl uns das Bohren und Raspeln der Holzwürmer in den seitwärts gestapelten Holzscheiten nervt, während die Raumluft zunehmend geschwängert wird von Tante Micksas pipi-pieseligen Mentholzigaretten, von JoJo’s Zigarrenwickel, von Scout Adrians Meerschaumpfeife, von Hempels Schischas sowie vom abgebrannten Tischfeuerwerk.
Den aufgeschnappten Gesprächsfetzen nach zu urteilen, wurde das Abfackeln der Genmais-Anpflanzung verworfen, obwohl doch gerade ein offenes Feuer zum Jahresabschluss in dieser besonderen Rauhnacht, einhergehend mit einer reinigenden Räucherung, Sinn macht. Und überhaupt, zwecks weiterer Rauchentwicklung, lagert neben dem Komposthaufen noch ein Stapel von frisch geschnittenen Weidenruten, die aus einem fachkundigen Rückschnitt von Kopfweiden stammen, wie der Obergrünling tönt.
„Ne Rauhnacht, watten datten?“, kiekst Klein-Jessika.
Scout Adrian wird plötzlich quicksilberig lebendig, nachdem er seine dümpelnde Ponton-Abschuss-Rampe als Unwort dieses Jahres verinnerlicht und offenbar ins Abseits geschoben hat. Er macht den Märchenonkel und setzt sich im Schneidersitz zwischen uns, so dass wir jedes seiner Worte mitbekommen:
„In der Nacht von Heiligabend auf 25. Dezember ist es wieder soweit und es beginnt die Zeit der Wunder und Geheimnisse – Die Magie der »Rauhnächte«.
Zwölf Rauhnächte sind es zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar, die von alters her als eine heilige Zeit gelten, wobei jede Nacht für einen Monat des nächsten Jahres steht. Die letzte der 12 Rauhnächte beginnt am 05. Januar um 0: 00 Uhr und endet um 24: 00 Uhr und ist dabei meist die wichtigste.
Der bewusste Umgang mit den Rauhnächten eröffnet uns einen tiefen Zugang für die Zeitenwende zwischen den Jahren und die Möglichkeit, das kommende Jahr positiv selbst mitzugestalten und zu beeinflussen. Es ist deshalb auch hilfreich, unsere besondere Aufmerksamkeit auf die Tierwelt zu lenken, denn in dieser Zeit sollen Tiere miteinander reden können. Unsere Haustiere spielen dabei eine besondere Rolle. Damit sie nur Gutes verlautbaren lassen, sollte der Bello, das Kätzchen, das Meerschweinchen, der Stallhase, die Albinoratte und der Kanarienvogel eine zusätzliche Streicheleinheit und eine Extraportion Futter bekommen.
Die Rauhnächte sind Losnächte. “Los“ kommt von “losen“, ‘Vorhersagen“. Alles, was an diesen Tagen geschieht, hat eine besondere Bedeutung, selbst das, was scheinbar als unwichtig erscheint: ob es Probleme gab, besondere Überraschungen, welche Begegnungen sich ergaben, ob die Tage friedlich und harmonisch verlaufen, wie das Wetter an diesen Tagen ist usw. und usf.
Da wir uns in der “Zeit zwischen der Zeit“ mit den höheren Welten besonders verbunden fühlen, sollen außerdem unsere Träume aus diesem Zeitraum prophetischen Charakter haben und in Erfüllung gehen. Die Träume in den zwölf Nächten verwirklichen sich in den jeweils entsprechenden Monaten des zukünftigen Jahres.“
Klein-Jessika gähnt bis zum Anschlag. Ihre weißen Zähne blitzen auf, spitz vorstehend im rosigen Rund straffen Zahnfleisches, überzogen vom Klarlack des körpereigenen Speichelfilms, dabei ihr zitternder Unterkiefer kurz vor Rückstellung in die Ausgangsposition. Dann mault sie:
„Boah ey, ne Rauhnacht is voll watt für Dullis! Mama, Papa, wann kommt die Action – die [ækshan]!!! mitti Polenböllas?“
Weit später, kurz vor Ende der Silvesterparty, hören wir ein Rumoren in der Küche und sehen JoJo, wie er aus einem Vorratsschrank einen Maxi-Weidenkorb mit Deckel hervorzieht, in dem sich robustes Campinggeschirr befindet. Wir können es kaum fassen, als er drei tiefe Teller entnimmt, sie vor dem Backofen nebeneinander aufreiht, die daneben liegende Kühlschranktür öffnet und die übrig gebliebenen Fleischstückchen vom Fondue zu gleichen Teilen in die tiefen Teller füllt.
Ist es denn wahr?
Da krault er mir, dem «Leader of the Pack», den weißen Brustlatz, greift mir mit einer außergewöhnlichen
Zärtlichkeit ins Nackenfell, das in mir einen zwickenden Nackenbiss eines vergessenen Gefühls vorsorglicher Mutterpflege aus vergessener Urzeit hervorruft.
Ist es denn wahr?
Da schiebt er mich behutsam in Richtung des mit Puten-, Rind- und Kalbfleischstückchen gefüllten tiefen Keramiktellers und murmelt:
„Hmmm! Leckerli! JO, friss!“
Ist es denn wahr?
Da folgt das gleiche Prozedere bei Renate und bei Krummbein und, ist es denn weiter wahr, da werde ich von meinem Herrchen Konrad auf dem Arm bis in unser benachbartes Haus getragen.
Dazu muss ich bemerken, dass seine unsteten Schritte die Verdauung meiner verspeisten rohen Fleischhäppchen sogleich irregangelig anregen und mir beizu ein erster bonfortionöser Fleischfurz im Hausflur entfährt. Ein weiterer unter meiner Schmusedecke im Körbchen, wobei ich in dieser Duftwolke zu einem unvergessenen Rauhnachttraum abhebe:
Darin trete ich gleich zu Beginn auf einen Frosch, habe ein Gefühl von Wackelpeter unter meiner Vorderpfote und höre «Pffft, ich bin der Jorgi-Jörg!», erschnuppere neben ihm einen Wichtel, der sogleich als stinkendes Allium unsichtbar wird.
Der helle Mondschein lässt die Schnittstellen auf den Weidenköpfen glänzen, während ein unheimlicher Käuzchenruf einen umfassenden Tierdiolog eröffnet.
Eine Biberratte berichtet von der durchschlagenden Wirkung des Scharlachkrautes als Abführmittel, ein Eichhörnchen klettert in kreisenden Bewegungen am Baumstamm empor und wieder herunter bei schnalzenden Tschijuk-Tschijuk-Geräuschen, während ein Iltis vom Spitzmorchelhaschee schwärmt.
Das stinkt mir – und zwar tierisch!
Ich belle hell:
„Ihr Labertaschen!“
Und aus und vorbei ist mein Rauhnachttraum.
Ende
4
DIE AKTE BERNHARD SCHERER
Bernhard Scherer
Traf am Neujahrstag im Bus einen Mann, dessenGesicht er im Traum gesehen hatte.
Da Bernhard Scherer strikt den Rat befolgte, keine alkoholischen Getränke zu konsumieren, auch nicht ausnahmsweise zum Jahreswechsel, erwachte er mit zwei Nullen vor seinen Augen und nahm die Traumbrille mit runden Gläsern ab.
Setzte sie wieder auf und sah sodann seine Operation, bei der die Lichter erloschen.
Als selbsternannter Freigänger warf er flugs im Chefarztzimmer Anzugjacke und Ledermantel über, und sogar die gefütterten Winterstiefel passten ihm leidlich! Wollschal und Schlapphut und eine kleine Flasche mit einem Energy-Drink rundeten seine Ausstattung. Da die Flure in Stille und Leere das Neue Jahr begrüßten, fand er, ohne in Panik zu geraten, am dicken Bund den passenden Schlüssel und anschließend, am gesicherten Eingangstor, reichte sein kurzes Kopfnicken in Richtung des verkaterten Portiers, damit dieser automatisch den elektrischen Türöffner betätigte.
Ein kongeniales Grinsen umspielte seine Lippen wegen dieses perfekten Timings, da der Bus bereits auf der gegenüberliegenden Straßenseite anrollte. Beim Entwerten des Mehrfachfahrten-Tickets löste ein heller Piepton ein leichtes Zucken in seiner linken Hand aus, begleitet von einem diffusen Druckgefühl unter dem lockeren selbst angelegten Mullverband zum Schutze der Dauerkanüle.
„Man dürfte dich eigentlich mit dieser Kanüle nicht ´rumrennen lassen, geschweige denn dich ´rauslassen.
Na ja! Es könnte erstens sein, dass du bei Lockerung des Verschlusses einen erheblichen, womöglich letalen Blutverlust erleidest, zum anderen weiß man ja immer noch nicht, wie du wirklich drauf bist“, waberte Pfleger Armknechts Fistelstimme in Echo 1, in Echo 2 und abebbend in Echo 3.
Die wenigen Fahrgäste im Bus musterte Bernhard Scherer nun bei seinem Gang von vorne nach hinten, um denjenigen Mann zu kontaktieren, dessen Gesicht er heute Morgen im Traum gesehen hatte.
Und – da war er!
Saß ausgerechnet auf seinem bevorzugten Platz im Bus, einer Zweier-Sitzbank mit einem darunter gelegenen Heizelement. Bernhard Scherer nahm flugs neben ihm Platz, eine Tatsache schaffend, die einem Annäherungsversuch in diesem spärlich besetzten Bus gleichkam und natürlich auch als solcher gedacht war. Die wenigen Worte seines Anliegens verselbstständigten sich, begleitet von einer geschmeidigen Übergabe eines prall gefüllten Portemonnaies nebst Schlüsselbund.
„Nehmen Sie das nächstbeste Taxi, fahren Sie geschwind zurück, geben die Schlüssel mit der Geldbörse beim Pförtner ab und melden gleichzeitig Ihren Finderlohn an!“
Ah!
Noch sechs Stationen bis zum speziellen Straßenabschnitt mit drastischer Fahrbahnverengung, bedingt durch nahe beieinanderstehender tragender Betonpfeiler unter einem Viadukt.
Und noch sieben Stationen bis zur Endstation mit großzügiger Kehre, dominiert von einem Kiosk mit seitlich angebauten öffentlichen WC.
Einfach im Bus sitzenbleiben und den Fahrer seines Postens entheben, das war sein geplantes Prozedere, um sodann geschmeidig als neuer Busfahrer die Rückfahrt anzutreten – und dabei ganz alleine mit sich selbst.
Aber nur bis hin zum Viadukt bei maximaler Beschleunigung!
Träume wurden Schäume, denn der Busfahrer bestand auf Verlassen des Fahrzeugs vor Rückfahrt. Schloss schnell ab und ging zielgerecht in Richtung Kiosk.
Seinem akuten Harndrang folgend, eilte Bernhard Scherer schnurstracks zum WC, in dem sich gerade zwei Gestalten in prekärem Outfit erleichterten. Er stellte sich einfach an der Pinkelrinne dazwischen, hob den Langmantel, hob das blaugrau getupfte Dreiviertelhemd der geschlossenen Männerabteilung “P 2“, stand flott im Freien und legte mit Druck los. Irritiert schlugen beide Gestalten ab, “Sau“ und “Süß der Kleine“ am urinalen Ort verbal zurück lassend.
Und, da waren sie schon wieder, diese beiden Gestalten! Hatten seitlich vom Bus einen kleinen Pickeligen ans heiße Motorgitter gepinnt, um sein Handy abzuziehen, aber nicht nur das, denn sie belustigten sich darüber hinaus noch bei jedem spitzen Aufschrei ihres Opfers nach Fausthieb oder Fußtritt.
„Sofort aufhören!“
Sowie:
„Gleich gibt’s was auf die Fresse, alter Pisser!“ Das waren vorerst die letzten artikulierten Wortfragmente, derweil Bernhard Scherer wie aus heiterem Himmel mit seiner Energy-Drink-Flasche zweimal gezielt zugeschlagen hatte und, obwohl medikamentös gedimmt, mit dem Ergebnis durchaus zufrieden war.