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Harry und Fredy in Spanien, Mimi und Miguel sonstwo unterwegs.
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Seitenzahl: 746
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Bananen-, Erdbeer- und Himbeergeschmack stehen zur Auswahl, gelbe Verpackung für die Banane, dunkelrot für die Erdbeere, hellrot für die Himbeere, und zudem in zwei verschiedenen Mengen zu haben: in Dreierpackungen, obere Reihe, oder in Zehnerpackungen, untere Reihe, gleich neben schweißhemmenden Schuheinlagen, Wundsalben, Vaginalduschen, Intimspray, Blasentee, Warzen- und Hornhautentfernungsmitteln, Stützstrümpfen, Bimsstein, Pinzetten, Tupfern gegen Fußpilz, Nissenkämmen und allerlei Haarbürsten, kleinen Nagelscheren und Nagelfeilen, gleich daneben die Zahnbürsten, und Zahnseide, darauf ein ganzes Regal nur Zahnpasta, und am Schluss Hämorrhoiden-Salbe, Zahnstocher und Wundpflaster für die Hausapotheke in verschiedenen Materialien, Größen und Formen. Die kleine Dreierpackung Kondome ließe sich unter all den mehr oder weniger intimen Produkten der allgemeinen Körperpflege leicht und diskret verstecken, die große Zehnerpackung jedoch ist ziemlich auffällig und unhandlich. Zwei eigentlich überaus wichtige, wenn nicht gar vorentscheidende Fragen stellen sich: Reicht dreimal vögeln zum Anfang? Oder doch lieber gleich zehnmal?
Mimi muss leer schlucken. Wie oft wird eigentlich üblicherweise penetriert? Und zudem: Was soll der Geschmack? Eine Banane passt zwar allein von der Form her besser als eine Erdbeere oder eine Himbeere, das ist klar, aber: Hängen all die Frauen tatsächlich überall und immerzu mit ihren Lippen an den steifen Schwänzen ihrer Männer, Liebhabern und Gelegenheitsbekanntschaften, des Nachts in eigenen oder fremden Betten, und lutschen genussvoll Banane, Erdbeere oder Himbeere? Wozu sonst sollte ein Pariser überhaupt diesen penetranten Fruchtgeschmack aufweisen, wenn nicht fürs genussvolle Abschlecken? Das kann doch kein Zufall sein? Es gibt, zumindest hier in diesem um diese Zeit fast leeren Einkaufszentrum, nicht einmal geschmacksneutrale Kondome zu kaufen, diese dünnhäutigen, eklig seifigen, ganz gewöhnlichen, schlabberigen Gummidinger, diese normal hässlichen Glibbersäckchen in der Farbe von Nylonstrümpfen, kranken Quallen oder Meerrettich, wie sie die gelangweilte Hygieneverantwortliche in der weißen Schürze damals in der Berufsschule anlässlich des Aids-Präventions-Tages für Safer Sex gezeigt und dessen korrekte Handhabung sie sogar unter einem Schwall von sarkastischen Kommentaren von Seiten der amüsierten Lehrlinge an einem abgesägten Besenstielstumpf vorgeführt hat; es gibt im langen Regal wirklich nur diese drei pariser Lachnummern zur Auswahl: Banane, Erdbeere und Himbeere.
Vielleicht gibt es diese normal hässlichen Präservative schon nicht mehr? Vielleicht sind die gewöhnlichen Pariser sang- und klanglos aus der Präser-Mode gefallen und werden längst nicht mehr gekauft? Sind das neue Standards? Sind die neuerdings tatsächlich so leuchtend farbig, oder ist es nur die Verpackung? Sehr wohl sind sie farbig, nimmt Mimi vage an, wahrscheinlich gelb, rosa und rot. Wie würde sich ein leuchtend roter Pariser auf einer steifen Männergurke ausmachen? Wäre so etwas im schlimmsten Fall nicht die ultimative Komiknummer im Bett, vergleichbar mit einer roten Nase am Karneval? Müsste eine Frau nicht gleich in Gelächter ausbrechen, wenn sie stolz ihr Werk betrachtete und diese leuchtend gelb, rot oder rosarot verpackte Rakete sähe?
Man kann nicht überprüfen, welche Farbe die Kondome tatsächlich haben, weil sie in dieser undurchsichtigen Frischhalte-Folie stecken, die man erst mit den Zähnen oder den Fingernägeln aufreißen muss, bevor man den Gummi endlich herausklauben kann, wie Mimi mal in einem Lehrfilm über widerliche Geschlechtskrankheiten gesehen hat. Ist Latex überdies eine verderbliche Ware? Hat Latex eine Zerfallszeit? Und wie macht sich das überhaupt auf einem steifen Pimmel? Rein optisch? Rein ästhetisch? Rein ergonomisch? Zudem schmecken die ganz gewöhnlichen Pariser vielleicht tatsächlich viel scheußlicher als diese farbigen hier, und möglicherweise hat Latex von Natur aus einen etwas heftigen Nachgeschmack. Wahrscheinlich wäre dies ungefähr dasselbe, mutmaßt Mimi, als wenn man, respektive als wenn frau einen Fahrradschlauch kauen würde, und vermutlich nimmt die aufgeschlossene Kondomindustrie heutzutage aufmerksam, liebevoll und verdientermaßen Rücksicht auf weibliche Geschmacksnerven bei der Ausübung weiblicher Pflichten angesichts männlicher Erwartungshaltungen im Bett.
Steife, gar wild zuckende, leuchtend farbige Penisse in den Betten allenthalben, das ist wohl tatsächlich eher eine Komödie, und dabei geht bestimmt jedes erotische Ambiente flöten, vermutet Mimi; dafür sind die Dinger gefühlsintensiv und handgeprüft, steht deutlich auf der Verpackung geschrieben, und es werden in gut sichtbarem Aufdruck in komplementärer Leuchtfarbe größtmöglicher Schutz und schier grenzenlose Sicherheit versprochen. Das mit den Gefühlen ist indes durchaus verständlich, und ‚gefühlsintensiv’ klingt gewiss gut; doch was bedeutet handgeprüft? Hat die Fabrik einige besonders potente Typen mit Dauerständer angestellt? Oder wie soll das denn gehen? Steht ein wurstig-muskulöser Typ mit dämlicher Fresse, wie man sie in Pornos sieht, am Ende des Fließbandes und streckt gelangweilt sein erigiertes Ding heraus, genau dort, wo die fertigen Gummis vorbeikommen? Jeder wird schnell aufgezogen und wieder abgerollt, bevor er endgültig in der Folie verschweißt wird, womöglich im Akkord und kameraüberwacht, von lauter unglücklichen, dicken, älteren Frauen in Achtstundenschichten, die bestimmt keinen Macker mehr abkriegen?
Mimi kichert vor sich hin. Sicherheit muss ganz am Anfang stehen, klar, das sieht sie ein, denn darum dreht sich ja das Ganze; nebst einer ungewollten Schwangerschaft kann eine tödliche Virusübertragung beim sogenannten Liebesakt nun wirklich nicht vorgesehen sein. Zudem ist das mit der ungewollten Schwangerschaft für Mimi seit bereits drei Monaten nicht mehr aktuell. Die erfahrene Ärztin in der Kreisstadt hat sich gewundert, dass die junge Frau vom Dorfe erst jetzt, mit bereits nahezu dreiundzwanzig Jahren, die Pille verschrieben bekommen haben möchte, während heutzutage die kindhaften Gören schon mit zwölf oder dreizehn damit anfangen wollen oder anfangen müssen, jedenfalls viele Jahre bevor sie richtige Titten, einen breiten Arsch und somit ein einigermaßen frauliches Aussehen bekommen haben. Von einer natürlichen Entwicklung in der Birne, im Herzen und im Gemüt und demzufolge von einer einigermaßen psychischen Reife und geistigen Bereitschaft ist keine Spur mehr vorhanden. Einfach poppen wollen sie, wie im Fernsehen.
Mimi will jetzt auch einfach poppen, wie alle, erstmals poppen, sonst nichts, vielleicht nur einmal, aber nichts anderes, nichts als ficken, endlich mal vögeln, Scheiße noch mal, und zwar in den nächsten vierzehn Tagen, wenn möglich mit Miguel, weil das zum Glück kein Unbekannter, sondern ein guter Bekannter ist, ein prima Kollege, ein lieber Freund gar, der von ihr auserwählt und für diesen delikaten und wahrscheinlich erstmaligen, vielleicht sogar einmaligen Liebesdienst heimlich vorgesehen ist, ohne dass er es auch nur ahnen könnte, der Arme. Er ist der unfreiwillig Ausgesuchte; er muss es bringen, ohne dass er es weiß. Man hat sich ja bereits einige Male nackt gesehen, was den Grad der Intimität ausdrückt, der zwischen den beiden jungen Leuten herrscht; unfreiwillig ist man sich in der Dusche oder auf dem Weg dahin schon oft nackt begegnet, hat im Vorbeigehen geflissentlich so getan, als ob man gar nicht hinschaue, und Mimi weiß längst, wie Miguels Schwanz aussieht, nämlich kränklich und blassweißlich schräg und erschreckend schlaff abhängend, erstaunlich kurz, geschrumpelt wie eine alte Möhre, die man ihm Kühlschrank vergessen hat, und recht unscheinbar dazu, jedenfalls wenig beeindruckend oder gar Furcht einflößend, in ein wildes, dichtes, schwarzes Haargestrüpp eingebettet, das zudem üppig von der Leistengegend bis zur Brust hochwuchert, und keinesfalls riesig groß und brandgefährlich, wie kleine Mädchen sich das heimlich und ängstlich vorstellen mögen, zudem überhaupt nicht so kraftstrotzend ejakulierend, wie man das immer in den Pornos sieht, wo man sich ja mehrheitlich die Vorstellungen von Geschlechtsverkehr holt. Überaus harmlos wirkt das Ding rein optisch, ist nichts als ein kleines, ja, fast unscheinbares, niedlich-friedliches Miguel-Schwänzchen, gerade richtig für das erste Mal, findet Mimi, und schließlich lebt man seit sieben Jahren Wand an Wand, die Zimmer gleich nebeneinander, getrennt nur durch eine sehr dünne Gipswand voller billiger Poster, die auf Mimis Seite farbige Kunstobjekte, kunstvolle Holzkonstruktionen und waldige Landschaften zeigen, auf Miguels Seite schnelle Motorrädern, bunte Rennwagen und spanische Fußballmannschaften.
Da hat also eine flinke Frau an der Prüfmaschine der Pariserfabrik den Gummi bereits einmal auf- und abgerollt, hat ihn schon einmal an einem verchromten und europäisch genormten Simulationspenis ausprobiert, ganz schulbuchmäßig, hat ihn einem metallenen Ständer appliziert, der nur Druckluft ejakuliert, schon bevor es letztendlich zum Ernstfall kommt. Acht Stunden am Tag im sterilen Prüflabor Pariser auf- und abrollen, ist das für eine Frau auf die Dauer nicht erniedrigend? Haben diese bedauernswerten Arbeitnehmerinnen am Abend nach getaner Arbeit überhaupt noch genügend Lust, bringen sie überhaupt noch die nötige Energie auf, ihrem eigenen Mann, beziehungsweise ihrem eigenen Gelegenheitsmacker einen dieser Gummis aufzurollen und überzurollen, beziehungsweise nach getaner Arbeit wieder abzurollen? Welche Art von Witzen werden wohl in Kondomfabriken erzählt? Geht es dabei vorwiegend um gefühlsintensive Prüfmaschinen oder eher um ein gefühlvolles Händchen? Oder herrschen auch hier, wie überall in Fabriken gleich welcher Art, die allgemeine, absolute Gleichgültigkeit und die trägen, gedankenlosen Automatismen einer monotonen Fließbandarbeit vor?
Vielleicht beinhaltet ja der fragliche Begriff ‚handgeprüft’ nichts anderes als eine geschickte, halbwegs versteckte Beschwichtigung, und die will dem kritischen Kunden oder einer rat- und ahnungslosen Neukundin wie Mimi geflissentlich vorgaukeln: Ja, es funktioniert! Nur keine Bange! Auch du, ja, du selbst du wirst es schaffen! Denn dieser Gummi funktioniert garantiert einwandfrei nach europaweit festgelegten Normen. Unsere erfahrene Firma hat dieses industrielle Spitzenprodukt höchstselbst und absolut freiwillig unter einwandfreien und auch international anerkannten, wissenschaftlichen Bedingungen direkt am Objekt selber getestet und für gut befunden!
‚Euronorm’ steht da klein gedruckt, als seien Männerschwänze in Europa allesamt gleich dick und gleich lang, und zudem enorm gefühlssüchtig, jedenfalls scheint seitens der Männer ‚gefühlsecht’ ein ganz wichtiger Aspekt des Fickens zu sein. So sieht es jedenfalls aus, wenn man den diskreten Verpackungs-Aufdrucken Glauben schenken will. Sehr gefühlvoll müssen sie wohl tatsächlich sein, geradezu süchtig nach intensiven Gefühlen, all die sensiblen Männernudeln, weil Gefühlsintensivität ein klares Verkaufsargument zu sein scheint. Jedenfalls muss der Sitz der männlichen Gefühle eindeutig in seinen Geschlechtsapparaten zu finden sein, denn der Mann will offenbar etwas spüren beim Vögeln, oder anders gesagt: Nur sein Penis bringt ihm das richtige Gefühl.
Dreiundzwanzig Jahre alt und noch nie gevögelt, Mimi, höchste Zeit, dass auch diesmal ausprobiert wird! Und zudem nimmst du seit kurzem die Pille, aus reiner Sicherheit, doch vielleicht auch nur für das persönliche Selbstbewusstsein, weil du ja noch gar keinen sogenannten Freund hast, weder einen festen, noch einen flüchtigen, während all die andern gleichaltrigen Tussen im Dorf natürlich längst einen haben, einen möglichst pflegeleichten Schönling wie aus dem Kino oder wie aus der Getränke- und Rasierwasserreklame, einen Macker für die Freizeit und das Ansehen, einen Bello mit knackigem Arsch, flachem Bauch und breiten Schultern, oder aber einen soliden Langweiler zum Heiraten. Beides ist heute nahezu gleichermaßen gefragt, denn so, wie die junge Frau von heute ein Handy zu besitzen hat, einen bunten Roller und einen Walkman, so muss sie auch einen dieser Modellmacker mit Waschbrettbauch vorweisen können, wenn sie etwas gelten will unter all den üppig gestylten und geschminkten Zicken und Kicherliesen in den Dörfern, oder aber eben einen braven Sitzpinkler und Nasenbohrer für eine sichere Zukunft mit Eigenheim, Kombi und Kindern.
Also gut, Mimi, dann erst mal Pariser kaufen, und bitte keine Hemmungen, es schaut niemand hin im Einkaufszentrum, und es ist um diese Zeit bestimmt niemand da, der dich kennen könnte. Für die gleichgültige Frau an der Kasse, die wie in Trance die Ware über den Scanner schiebt, ist das kleine, gelbe Päckchen (Banane) ein Produkt wie jedes andere auch und hat keineswegs besondere Aufmerksamkeit verdient, und zusammen mit den übrigen Einkäufen dieses durchaus denkwürdigen Tages, den neuen Fahrradreifen, den knackigen Müsliriegeln und den billigen Slips im Multipack, fällt das gar nicht erst auf.
Es ist bereits halb zehn, und immer noch ragt bei Miguel diese riesige, feurig heiße Morgenlatte aus dem warmen Bettgewühl! Schon wieder! Ist das normal? Geht das allen so? Harry hat zwar mal in der Küche nach einer überaus schüchtern vorgetragenen Anfrage erklärt, das sei der Druck der Blase, der staue in der Nacht das Blut im Penis, oder so ähnlich, das sei zudem bei Männern üblich und völlig normal, besonders, wenn sie auf dem Bauche schliefen, wegen des Gewichts des Unterleibes. Doch warum steht ihm immer nur morgens beim Erwachen dieser gigantische Ständer? Abends gibt es doch zuweilen auch Druck in der Blase, doch ohne diesen Riesenhammer, wie jetzt eben? Manchmal, um halb acht – die übliche Zeit zum Aufstehen – ist ja die Mordslatte gar nicht da, wie wenn der Schwanz völlig vergessen hätte, steif zu werden. Er bleibt also winzig klein, schlapp und schlaff wie üblich, nicht so riesig und steif, höllisch heiß und steinhart bis in die äußerste, dunkelrote Spitze wie jetzt.
Doch jetzt ist die Lage in der Tat nicht ganz gewöhnlich, denn Harry und Fredy haben die Bar für volle vierzehn Tage ohne Kommentar einfach dichtgemacht, haben ein handgeschriebenes Schild an die Eingangstür gehängt, haben die beiden hinteren Sitzbänke aus dem Leichenwagen genommen, sind einfach kommentarlos mit ein paar Wolldecken verreist, und niemand weiß genau, wohin sie gefahren sind. Das ist jedenfalls sehr ungewöhnlich für die beiden; bereits am frühen Morgen hat man sie bei Tagesanbruch kurz den alten Leichenwagen starten hören können, als sie nämlich weggefahren sind, angeblich zu ihrem Weinlieferanten, wie sie behauptet haben. Genau das haben sie jedenfalls wenig überzeugend vorgegeben, und nur deshalb kann Miguel heute erstmals seit den sieben durchaus kurzweiligen Jahren, die er bislang hier im Dorf bei Harry, Fredy und Mimi voller Vergnügen verbracht hat, unerwartet ausschlafen. Vielleicht hat er gerade deshalb diesen überaus harten, steifen, kraftstrotzenden Ständer. Ist das überhaupt noch reine Natur, wie Harry behauptet hat? Denn das kommt Miguel jetzt ziemlich unnatürlich vor; es ist dies nicht ein gewöhnlicher Steifer wie beim abendlichen Wichsen, zum Beispiel. Er ist größer, härter und heißer, eine scharfe Handgranate, nahe am Explodieren.
Es könnte durchaus sein, dass die Natur des Mannes die Kopulation generell für die frühen Morgenstunden vorgesehen hat, ursprünglich, wie die Tiere, als die gesamte Menschheit noch auf den schützenden Bäumen lebte, vermutet Miguel. Nur gibt es absolut nichts zum Kopulieren, Miguelito, denn das hat es für dich nämlich noch gar nie gegeben, auch wenn oberflächliche Bekannte immer wieder der irrigen Meinung sein mögen, dass bei einem aufgeweckten, lebhaften und durchaus gut aussehenden Neunundzwanzigjährigen derart Intimes sicher bereits reichlich, jedenfalls ausreichend abgelaufen sein muss. Schmachtende Weiber ohne Ende und Bumsen bis zum Abwinken, so stellt man sich das immer vor. Alles völlig falsch: Noch nichts ist gelaufen, noch absolut gar nichts dergleichen! Das ist die nackte Wahrheit.
Zu Hause ist es vorwiegend die Mama gewesen, die Tag und Nacht aufgepasst hat, dass Derartiges nicht passiert, dass Derartiges nicht passieren kann und dass Derartiges nicht passieren wird, und da ist vor allem lange Zeit gar kein Auto vorhanden gewesen, auch nicht das große Auto von einem reichen Papa, das man zwecks sexueller Abenteuer hätte entwenden können, denn heute geschehen diese Dinge vorwiegend auf den Rücksitzen väterlicher Automobile. Da ist einfach gar nichts gewesen, bei Miguel zu Hause, denn da ist auch kein Papa und viel zu spät nur der übliche, billige, schrottreife Kleinwagen zur Hand gewesen, in welchem zwar endlich nächtens durchaus etwas Heißes und Heftiges hätte abgehen können, eingequetscht auf dem winzigen Beifahrersitz oder quer auf dem überaus engen Rücksitzchen, draußen in den kahlen Hügeln oder sogar an der fernen Küste unten, zugegeben. Doch da ist zunächst und vor allem andern weit und breit keine Frau vorhanden gewesen, die das mit sich hätte geschehen lassen wollen. Das ist die Wahrheit. Alle die dämlichen Kicherliesen, alle die pausenlos Kaugummi kauenden, kleinen Schlampen und Nutten, die sich vor einer regulären Hochzeit überhaupt auf so etwas Problematisches eingelassen hätten, haben sich klugerweise vorwiegend an die lokalen Schönen und Starken gehalten, also an die dominanten Macker der Stadt oder zumindest an diejenigen, die bereits ein respektables Auto besessen haben, und der arme, kleine, arbeitslose Miguel mit seinem schiefen Mausgesicht hat einfach nicht dazugehört. Nie. Das ist die einzige und reine Wahrheit.
Hier aber, im kalten Bettendorf, sind dieselben dämlichen Tussen und Zicken, selbst wenn sie noch für einige Jahre zur Schule gehen werden, längst verteilt und besetzt, kaum dass sie ihre lachhaft winzigen Titten bekommen haben. Die Verteilung der Beute geht schnell vor sich, in einem kleinen Dorf sogar noch viel schneller, als den Müttern lieb sein kann. Miguel ist hier einfach zu spät angekommen, ist in den Augen der jungen Frauen bereits zu alt für das Küssen und Fummeln in dunklen Ecken, hinter Büschen und auf Rücksitzen und somit allen billigen Tanten des Dorfes zu fremd und somit bereits zu unheimlich. Miguelito, wie ihn Mama immer noch zärtlich nennt, wenn er sie anruft, hat jetzt neuerdings immerhin ein prächtig rotes Motorrad durch reinen Zufall erworben, eine rostige Enduro, äußerst günstig angeschafft, will heißen, bei einem der windigen Motorradhändler in der nahen Kreisstadt praktisch zum Schrottpreis erhalten. Das uralte Fahrzeug ist in Tat und Wahrheit bereits völlig hinüber gewesen und somit längst gestorben. Aufgegeben. Klinisch tot. Niemand sonst als er, Miguel, hatte das traurige Wrack noch haben wollen, niemand außer Miguel hat da noch Licht am Ende des Tunnels gesehen, denn bereits viel zu lange hatte die alte Mühle auf dem dreckigen Kiesplatz voller öliger Pfützen hinter der Werkstatt des Händlers im Regen, Schnee und Dreck herumgestanden, eine verbeulte und zerkratzte Tröle namens Dominator, doch gar nicht dominant, sondern, im Gegenteil, schwer angeschlagen, übel zugerichtet, geschändet und fast zu Tode verwundet von den zahllosen achtlosen Vorbesitzern, ein ausgelutschtes, waidwundes, erbarmungswürdiges Motorrad, das zu diesem Zeitpunkt mit über 90'000 Kilometern bereits mindestens zwei anstrengende Weltumsegelungen hinter sich gebracht und eigentlich gar nichts mehr gekostet hatte, und sei es nur, weil der alte, großvolumige Einzylinder lange Jahre nicht mehr gelaufen ist und angeblich – laut zahlreichen, hämischen Fachkommentaren von zufällig Herumstehenden – rein theoretisch gar nie mehr zum Laufen zu bringen gewesen wäre.
Mimi, Harry und Fredy sind damals, an diesem späten, regnerisch-kalten Samstagnachmittag, lange und andächtig schweigend um das hässliche, alte Ding herum gestanden, das Miguel mühsam den ganzen Weg, nämlich die gesamten fünfzehn Kilometer von der Kreisstadt bis zum Bettendorf geschoben und völlig ausgepumpt auf dem Parkplatz vor Harry’s Bar abgestellt hat. Fredy hat erstaunlicherweise anerkennend genickt, statt aus vollem Halse zu lachen, und hat zudem vollen Ernstes gesagt: „Miguel, das kriegst du wieder hin! Diese Tröle wird bald wieder laufen! Ich weiß das, ich spüre das! Du als geborenes Mechanikergenie wirst das Ding wieder zum Laufen bringen! Das ist so sicher wie die Entdeckung Amerikas!“ Und Harry hat freundlich und mit erhobenem Zeigefinger hinzugefügt: „Leute, wenn es hier im Umkreis von hundert Kilometern einen gibt, der das alte Ding wieder flottkriegt, dann ist es unser Miguel, denn unser Miguel ist ein ausgebildeter Mechaniker, das sollte man nicht vergessen. Das Arbeiten an Motoren hat er von Grund auf gelernt, unser Miguelito, und so etwas wie die edle Mechanik vergisst man nie, wenn man sie erst mal intus hat!“
Jetzt ist diese lähmende Latte endlich weg; sein Ding hat wieder seine normale Dimension bekommen. Aufstehen oder liegen bleiben? Oder gleich weiter pennen? Vierzehn Tage durchpennen? Oder Mama besuchen mit dem Moped? Das ist zwar eine ziemlich lange Reise, denn das sind gut und gern zweitausend Kilometer, alles in allem. Niemand kann wissen, ob die uralte Dominator stundenlanges Autobahnheizen überhaupt noch durchhalten würde; man müsste es fast darauf ankommen lassen. Was, wenn sie unterwegs endgültig kaputtgeht, irreparabel den Abschied nimmt, womöglich abseits aller Zivilisation, auf einer öden Autobahn am Arsch der Welt? Kolbenfresser? Verbrannte Ventile? Elektrik defekt? Dichtungen hinüber? Nein. Mama anrufen reicht eigentlich völlig aus, wenn man es richtig bedenkt, so wie jedes Wochenende, gut, einverstanden, er braucht doch nicht gleich hinzufahren! Warum denn nur? Er kann doch diese vierzehn freien Tage auch hier genießen? Sein erster Urlaub überhaupt! Das muss er sich erst mal vorstellen können!
Das letzte Mal, dass er jeden Tag einfach hat ausschlafen können, das ist in der Zeit nach dem Militärdienst gewesen, da ist er gleich als erstes arbeitslos geworden, wie alle seines Alters, und das ist schnell mal das Bitterste überhaupt geworden, seine deutlich bitterste Zeit in den neunundzwanzig Jahren, die er nun bereits auf dem Buckel hat. Er ist zu Hause ja nicht der einzige Arbeitslose gewesen, beileibe nicht; die halbe Stadt ist seit Generationen arbeitslos geblieben. So gesehen ist er überhaupt keine Ausnahme. Das zermürbende Nichtstun war indessen ganz bestimmt keine reine Freude, bis zu dem Zeitpunkt, da der dicke Jaime von ‚Jaime’s Autoabbruch & Wiederverwertung’ zufällig mit seinem erlösenden Vorschlag gekommen ist. Doch sein florierender Schrott- und Ersatzteilhandel hat insgesamt leider nur drei kurze Jahre gedauert, und darauf hat der umtriebige Dicke mit seinem kleinen Tieflader wegen vielfachen Betruges und schwerer Urkundenfälschung bereits wieder im Knast gesessen. Danach hätte gleich von neuem und wie selbstverständlich, also wie ein Naturgesetz die lange, träge, klebrige Zeit der Arbeitslosigkeit gedroht, wenn nicht plötzlich Harry, der gute, alte Kumpel, unerwartet aufgetaucht wäre, aus dem Nichts sozusagen, und dem völlig perplexen Miguel überraschenderweise angeboten hätte, in seiner neu eröffneten Bar zu arbeiten, das heißt, in der Küche von Harry’s Bar, was jetzt aber nicht mehr dieser selbstgebastelte Würstchenwagen gewesen ist, mit dem er jahrelang herumgefahren ist, sondern eine richtig schöne, kleine Kneipe weit weg in einem fremden Dorf in einem fremden Land, als Casserolier, Hilfskraft, Abwasch- und Reinigungsspezialist, als Mädchen für alles, fern von zu Hause, mehr als zweitausend Kilometer weit von Mama weg, in einer völlig anderen Welt mitten in einem riesigen, kalten Wald. Harry hat einfach gebrummt: ‚Komm mit, Miguel, ich habe dir Arbeit!’ und hat mit dem Kopf kurz zum komischen, alten Leichenwagen gewiesen, in dem vorgefahren ist. Miguel ist gleich eingestiegen, so, wie er zuvor wie angewurzelt mit offenem Mund dreißig Sekunden lang bewegungslos dagestanden hat, im schmutzigen T-Shirt, in den ausgelatschten Turnschlappen und den abgewetzten Jeans, hat, nachdem der Groschen endlich gefallen ist, nur noch kurz die bestürzte Mama zum Abschied geküsst, denn das, was da eben passiert war, hatte für ihn nicht weniger als Rettung in höchster Not bedeutet.
Jetzt also folgt das Programm ‚ausschlafen’, aber ohne arbeitslos zu sein, und erstmals Urlaub, ohne gleich arbeitslos zu werden, wenn auch nur für zwei Wochen, mehr liege finanziell einfach nicht drin, hat Mimi letzte Woche allen vorgerechnet. Gebannt hat die Crew Kopf an Kopf während einer instruktiven halben Stunde auf den Computer-Bildschirm gestarrt: Vierzehn Tage lassen sich durchaus finanzieren, haben die komplizierten Statistiken und die bunten Türmchen und Kuchenstücke besagt, in die sich die Statistiken blitzschnell haben verwandeln lassen.
So gesehen hat Miguel noch gar nie Urlaub gehabt – in seinem ganzen Leben nicht. Was kann einer tun, wenn er Urlaub hat? fragt er sich folgerichtig.
Ein für ihn ganz und gar ungewöhnlicher Gedanke. Am besten also noch einmal wohlig umdrehen und gleich wieder einschlafen, das ist wohl fürs erste das Naheliegendste. Gut so, Miguel, und später ausgiebig duschen, dann die Haare waschen, darauf rasieren, die Nägel sauber schneiden, die Zähne putzen, überhaupt eine ausgiebige und umfassende Körperpflege betreiben und danach frische, saubere Kleider anziehen. Das wäre doch schon mal ein Anfang? Später in den Garten gehen, in Fredys berühmten Küchengarten hinter dem Haus, vielleicht noch vor dem Mittag, spätestens am frühen Nachmittag, denn diese pingelige Gartendiva muss unbedingt ausführlich gehätschelt, geküsst und gestreichelt sein, versprochen ist versprochen; sie muss gepflegt, gejätet und vor allem begossen werden, und es muss zudem viel geerntet werden, gerade jetzt, Ende Juli, wenn Urlaub ist. Das hat er Fredy förmlich, fest und feierlich gelobt gestern Abend, nachdem alle vier einstimmig und formell den ersten Urlaub in der Geschichte von Harry’s Bar beschlossen haben.
Für Fredy ist der Garten rundweg heilig und deshalb sein Ein und Alles, sein Augenstern und sein Herzblut; er liefert nicht weniger als 45 Frischprodukte in Harrys Küche, hat er einmal nachgezählt und vorgerechnet. Ein Meisterwerk. Sein ganzer Stolz, und Harrys Küche wäre ganz gewiss viel weniger wert, wenn es nicht diesen weitherum berühmten Garten gäbe. Die Leute im Dorf staunen jedenfalls Bauklötze, was alles auf einem so kleinen Fleckchen sonniger Erde überhaupt möglich ist: 16 verschiedene Küchenkräuter, 10 verschiedene Salatsorten, 12 verschiedene Gemüse nebst 11 verschiedenen Beerensorten, und dazu Früchte ohne Ende. Harry erklärt jeweils feierlich: „Die frische Ware, die mir Fredy aus dem Garten liefert, macht alles aus! Alles, Leute! Eine gute Küche steht und fällt nämlich mit der Frische der zu verarbeitenden Ware! Das ist das eiserne Gesetz der Gastronomie. Und frischer als Fredys Ware kann gar keine Ware sein!“
Das ist Harrys Religion, seine Küchenreligion, und der Erfolg gibt ihm recht. Den Leuten in der Umgebung gefällt es jedenfalls in Harry’s Bar; der Laden läuft wie der Teufel, dass es nur so brummt. Der halbe Lohn von Miguel geht automatisch an Mama, die andere Hälfte kommt auf das Konto, denn kosten tut Miguel das Leben hier in diesem abgelegenen Walddorf mit der großen Bettenfabrik fast nichts. Essen und wohnen gratis im selben Haus, ein recht großzügiges Zimmer im oberen Stockwerk für ihn allein, die Kleider und die Schuhe fürs Arbeiten kostenlos, jeden Tag frisch gewaschen, sauber geputzt und sorgfältig gebügelt, dazu alle denkbaren Versicherungen, die zudem grundsätzlich vom Betrieb bezahlt werden, und hinzu kommt der unbezahlbare und selbstverständliche Familienanschluss. Alles lupenrein und einwandfrei. Der Chef ist Harry, wenn man überhaupt von einem Chef sprechen kann, denn er ist mehr ein Freund, ebenso wie Fredy, der Kellner und Gärtner, und Mimi, die flinke Tochter der beiden Knilche, ist auch restlos in Ordnung, ein absolutes Klassemädchen, Meilen über dem dörflichen Durchschnitt. Was will man also mehr?
„Einen solchen Arbeitsplatz, Miguelito, auch wenn er noch so weit weg von zu Hause ist“, hat Mama feierlich erklärt, „findest du nicht alle Tage!“ Wie recht sie hat! „Gute Menschen findest du überall auf der Welt“, deklamiert sie jeweils mit erhobenem Zeigefinger, „ebenso, wie es leider überall auch schlechte Menschen zu finden gibt. Denk daran, Miguelito! Selbst wenn es mir das Herz abdrückt, mein Liebling, dass du gehen musst, du mein Einziger, du mein Starker“, hat sie gesagt: „Du musst gehen! In die Fremde! Das ist wichtig! Denn du musst jetzt ein Mann werden!“ Und sie hat gleich wieder geweint, versteht sich, denn alle Mütter weinen in seiner Stadt, wenn ihre Söhne gehen müssen, und gehen müssen alle Söhne, das ist ein unumstößliches Naturgesetz. Irgendwann gehen sie alle weg, im besten Fall in ein reiches, wohlhabendes Land, im schlimmsten Fall ins Militär und somit vielleicht in irgendeinen Krieg; sie verlassen jedenfalls alle eines Tages in aller Frühe, den billigen Koffer auf der Schulter, ihre ärmliche, alte Stadt in der kargen Halbwüste mit den alten Olivenbäumen ringsum. Seit Jahrhunderten tun sie das, immer aus mehr oder weniger denselben Gründen, und zurück bleiben jeweils nur die unglücklichen Frauen und Mütter, früher deshalb ganz in Schwarz und ausschließlich in Schwarz, mit all den kleinen Kindern an der Hand und am Hals, und sie warten alle geduldig und zusehends verhärmend, warten, bis sie Witwen geworden sind, wie alle andern älteren und alten, verhärmten Frauen der verlassenen Stadt auch. So geht das.
Fredy sitzt gedankenverloren im Leichenwagen, in einer schweren, schwarzen, alten Mercedes-Stretchlimousine, einer MB 600, die wie ein Leichenwagen aussieht und von allen so genannt wird, denn jedermann würde das ungewöhnliche Fahrzeug in der Tat auf den ersten Blick für einen klassischen Leichenwagen halten, wenn nicht an seinen langgestreckten Flanken ein bunter, lustiger Schriftzug mit großen, krummen Buchstaben aufgeklebt wäre: Harry’s Bar. Fredy blickt über das Steuer hinweg auf das hellgraue Band der Straße, das er vor sich hat, und beobachtet fasziniert, wie es rasant unter der riesigen, endlos langen, tiefschwarzen Kühlerhaube verschwindet. Neben ihm schläft Harry seit Stunden friedlich mit schräg gesenktem Kopf und verschränkten Armen zusammengesunken auf dem überaus breiten und enorm bequemen, mit ehemals schwarzem, jetzt aber völlig abgewetztem, speckig glänzendem Leder bezogenen Beifahrersitz in den warmen, sonnigen Morgen hinein. Der hintere Teil des überlangen Fahrzeuges ist vollständig ausgeräumt; die beiden einander gegenüber liegenden Sitzbänke im geräumigen Fahrgastraum sind herausgenommen, damit es für die beiden auf dem Wagenboden mehr Platz zum Schlafen gibt.
Fredy will endlich wieder einmal das Meer sehen. Er möchte eigentlich nur das Meer sehen, mehr nicht. Er will es sehen, er muss es sehen, und er soll es wieder einmal sehen, hat Harry beschlossen, nicht zuletzt deshalb, weil es ihm, Harry, auch so ergeht. Auch er hat sich von dieser erneut aus dem Nichts aufgetauchten Meeres-Sehnsucht anstecken lassen. Warum sollte er nicht? Jemand, der fast sein ganzes Leben am Meer verbracht hat, braucht das Meer, auch wenn er es nur wieder mal kurz anschauen und höchstens die Zehenspitze hineintunken möchte, nur um den vitalen Kontakt herzustellen, mehr gewiss nicht. Heute bedeutet das Meer, allen Meeren voran das Mittelmeer, für Fredy und Harry vorab fast tausend Kilometer Autobahn, sieben- oder achthundert mindestens, je nachdem, wohin sie zielen, und dies erst seitdem sie in diesem Dorf mit seiner Bettenfabrik wohnen. Das macht das Wiedersehen mit dem mare nostrum, mit dem mare mediterraneum, auf das sie sich schnell geeinigt haben, natürlich ziemlich aufwändig.
Es hat jahrzehntelang verrückte Zeiten gegeben, da hat einer am frühen Nachmittag am Strand bloß ein Auge halbwegs öffnen müssen, und schon ist das strahlend blaue Meer in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit präsent gewesen. Kämen Harry und Fredy aus den Bergen, müssten sie jetzt dringend in die Berge ziehen, das ist klar, das funktioniert genauso wie das Meer – nehmen sie jedenfalls an. Fast zehn Jahre ohne Meer, finden sie, das gehe allmählich an die Nieren, versteht sich, das sei wie kalter Entzug, haben sie sich eingeredet, das gehe an die Substanz dessen, der das Meer als persönlicher Energieträger betrachtet. Da sitze einer schnell auf dem Trockenen, und da gebe es verständlicherweise plötzlich diverse unvorhergesehene Mangelerscheinungen zu beobachten. Das Meer sei eine riesige Lunge, eine Weltlunge, da hole man sich den Sauerstoff, den man fürs Leben nun mal brauche, stellen sich die beiden vor, selbst wenn Harry heute steif und fest behauptet, er hätte längst abgeschlossen mit dem Meer, abgeschlossen und abgerechnet, das gehe ihn nichts mehr an, das bedeute ihm nichts mehr, und das gehe ihm, Harry, heute total am Arsch vorbei. Alles Quatsch! Was in einem drin sitze als altes, festgefügtes Programm, das bleibe für immer drin und hinterlasse in jedem Fall seine Spuren auf der Festplatte, das sei mal klar, denn das sei ein Naturgesetz, behauptet Fredy.
Nun, das ruhige Leben tief im alten Kontinent drinnen hat ganz gewiss auch seine unbestreitbaren Vorzüge, ganz bestimmt, das lässt sich nicht leugnen, das haben sie längst gemerkt, auch wenn man sich an die großen Temperaturschwankungen und an die zuweilen heftigen klimatischen Bedingungen erst mal hat gewöhnen müssen. Doch so gewaltig und so perfekt wie das Meer ist eigentlich nichts anderes auf dieser Welt; so überwältigend wirken ihrer unmaßgeblichen Ansicht nach nicht einmal die Berge auf den Menschen, die ja nichts als völlig nutzlose Stein- und Felshaufen sind, nichts als Trümmerhaufen. „Nur mal kurz schnuppern“, hat Harry leichthin gesagt, „nur etwas schnuppern an der klaren Tunke, verstehst du, Fredy? Den Brodem des Meeres spüren!“
Es ist jedoch jedem klar, dass nur die Batterie aufgeladen werden muss. Das hat Harry ganz bestimmt verdient. Seit vollen sieben Jahren, seitdem Harry’s Bar überhaupt erst besteht, nachdem er, Fredy, während eines ganzen Jahres quasi im Alleingang den ‚Alten Bock’ im Dorfkern renoviert und umgebaut hat, ist Harry immer der erste, der morgens aufsteht, und der letzte, der abends zu Bett geht, Tag für Tag, sieben Tage in der Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Das muss einer erst mal durchstehen, jeden Tag von morgens früh bis abends spät in der kleinen Küche zu werken und jeden Tag etwas Neues zu kochen, etwas Überraschendes, etwas Ungewöhnliches, etwas Unerwartetes, etwas ungewöhnlich Gutes jedenfalls, etwas, was zudem die unterschiedlichsten Gäste zu entzücken vermag, die aus den Dörfern zu Harry essen kommen. Nicht umsonst stehen die Leute abends zuweilen Schlange vor der kleinen Wirtschaft und warten geduldig, bis ein Platz frei wird. Alle sechs großen Tische sind immer besetzt, auch der runde Tisch in der Mitte der Gaststube, Abend für Abend. Die vierzig bis fünfzig Plätze sind auf Wochen hinaus gebucht und belegt, oft auch am Mittag, und nur morgens und nachmittags läuft es zum Glück etwas gemächlicher, so dass Fredy Zeit für den Garten, Miguel die Zeit für die Reinigung und Harry die Zeit für die Einkäufe hat.
Mittags reicht neuerdings Miguels vielfältige und großzügige Tapas-Bar, nebst dem ständigen, täglich wechselnden, kleinen Mittagsmenu von Harry für diejenigen Leute, die nach wie vor auf einem warmen Essen bestehen. Miguel hat eines Tages aus einer spontanen Regung heraus die klassischen Tapas im Dorf eingeführt, und das ist seine ureigene geniale Idee gewesen. Die praktische, spanische Art der Mittagsverpflegung ist hier im abgelegenen Walddorf überraschenderweise auf Anhieb gut angekommen und beim Verkaufs- und Büropersonal der Bettenfabrik, das in der kurzen Mittagspause zum Essen vorbeikommt, immer noch sehr beliebt. Ein richtiger Glücksfall ist dieser eigentlich naheliegende Einfall von Miguel gewesen, weil er vor allem Harry ganz erheblich entlastet hat, und das ist beileibe nicht selbstverständlich. Der Einfall ist jedenfalls kein Reinfall gewesen, muss man betonen, und das kann man nicht hoch genug loben, finden alle einhellig.
Somit haben sie alle ihren eigenen und persönlichen Beitrag an den erfolgreichen Aufbau von Harry’s Bar geleistet: Harry hat den Einkauf und die Küche in der Hand, Fredy den Garten und die Gäste, Miguel die Tapas, die Wäsche und die Reinigung, und Mimi betreut die ganze Buchhaltung auf dem mittlerweile bereits dritten Computer, den sie angeschafft haben. Die teuren Computer haben eine rasante Halbwerts- und Verfallszeit, das glaubt gar keiner; jedenfalls verdient jemand damit eine Menge Kohle. Eigentlich ist es geradezu unglaublich und kaum vorhersehbar gewesen, dass der Betrieb derart gut laufen wird, Harry’s Bar also, und dies gleich von Beginn weg. In nur sechs Jahren wird die gesamte Investition bereits wieder abbezahlt sein, hat Mimi vorgerechnet, und sie wird somit ihr ganzes Geld wieder zurück erhalten haben, das sie seinerzeit in den Alten Bock investiert hat, sagt sie selber nicht ohne Stolz. Sie muss es ja wissen, denn sie erledigt all die aufwendigen Abrechnungen, Zahlungen, Umbuchungen, Überschreibungen, Rückstellungen, Bilanzen, Versicherungen, Budgetierungen, Steuererklärungen und was es sonst noch alles auf der buchhalterischen Seite gibt, nebst der Tatsache, dass sie bisher auch noch als gelernte Möbelschreinerin in der Bettenfabrik gearbeitet hat.
Es kann sich jetzt also nur um das altbekannte Reißen handeln, das sich wieder einmal bei Harry und Fredy gemeldet hat, nachdem die Bar so überraschend gut läuft, um die innere Unruhe, um das heftige Zerren und um die verständliche Sehnsucht also, mal wieder ans Meer zu gehen, das Meer zu sehen und die würzige Meeresluft zu riechen, wenn auch nur kurz, selbst wenn Harry schon seit langem steif und fest behauptet, er habe mit dem Scheißmeer nichts mehr am Hut. Das ist jedoch nur so dahingesagt, das spüren alle; das muss eine Art nur allzu leicht durchschaubarer Selbstschutz-Mechanismus sein. Harry gibt zwar lauthals vor, das Weinsortiment erweitern zu wollen, und er wolle die Weine, die er in der Bar verkaufe, erst selber an Ort und Stelle gesehen haben, wo sie gewachsen, gepflückt und gekeltert worden seien, und genau dort wolle er sie selber erst gekostet haben. Er wolle wissen, wer sie hergestellt hat, wolle schauen, wie das gemacht wird und wie das gelagert wird. Er müsse erst das Licht der Weinlandschaft gesehen haben, behauptet er, er müsse wissen, wo die Rebe wachse, welche die Traube spende. Er müsse zudem die Hanglage beurteilt haben, die Erde gesehen, gefühlt, in den Händen zerrieben und daran ausgiebig gerochen haben, das sei ihm ganz besonders wichtig, um einen Wein ‚richtig verstehen zu können’, wie er sagt. Er müsse im kühlen Keller gewesen sein, wo die großen Fässer stünden, in denen die Weine reifen, die er später den Gästen anbieten wolle. Dies alles mag ja durchaus verständlich und für einen Wirt und Koch nachvollziehbar klingen, vordergründig gesehen, doch Fredy weiß indessen ganz genau: Alles völliger Quatsch, alles nur ein Vorwand.
Man könnte den Wein auch im Internet bestellen, wendet Mimi jeweils kritisch ein, nichts sei einfacher als das. Klar, zugegeben, aber es sei immer noch so, behauptet Harry proklamatorisch: „Wenn einer heute einen richtig guten Wein haben will zu einem vernünftigen Preis, vielleicht sogar einen schönen Wein, den es nicht an jeder Ecke zu kaufen gibt, ist es unumgänglich, dass man seinen müden Arsch endlich bewegt und selber hingeht in die Weingebiete und sich dort gründlich umschaut und mit den zuständigen Leuten spricht, damit man sich ein ordentliches Bild machen kann und somit auch später noch weiß, wie diese Weine schmecken müssen.“
Die Leute im Bettendorf trinken zwar seit Jahrhunderten traditionsgemäß ein kräftiges Bier, doch man ist heute, dank Harry’s Bar, auch auf den Wein gekommen, zumindest in Harry’s Bar selber, weil einem dort von einem geduldigen Fredy ausführlich erklärt wird, welchen Wein man zu welchem Gericht trinken kann und soll, und warum, und woher er kommt, und wie er schmeckt, und warum er so schmeckt, wie er schmeckt. Es gibt sogar welche, die holen sich neuerdings die Sonntagsflasche bei Harry. Sie holen ihn ‚über die Gasse’, wie sie sagen, und sie trinken neuerdings keinen andern Wein mehr als den Wein, den ihnen Harry oder Fredy empfehlen, weil sie den beiden vertrauen können. Es zeichnen sich also erste Erfolge in der Bevölkerungserziehung ab, wie Fredy jeweils lachend behauptet. Das ist gut so, und das ist wichtig, denn nur so kommen die misstrauischen Leute auf den richtigen Geschmack – und Harry und Fredy wie nebenbei zu ihrem runden Geschäft, versteht sich. „Man muss sie sachte erziehen, ihnen die wichtigen Dinge des Lebens sanft beibringen“, hat Harry des Öfteren erklärt, „denn das richtige Weintrinken ist nicht nur eine Frage des richtigen Geschmacks, sondern vor allem eine Frage der richtigen Kultur!“
Es versteht sich von selbst, dass es auch eine Frage des Geschäfts ist, das ergibt sich von alleine, das liegt nun mal in der Natur der Sache. So beherbergt und ernährt die kleine Kneipe im ehemaligen Alten Bock heute problemlos vier erwachsene Personen, und das ist erfreulich. Der gewagte Plan von damals, genau der Plan, den vor acht Jahren Mimi und Fredy an einem schönen, stillen Sonntagnachmittag im Lehrlingsheim ausgeheckt haben, ist restlos aufgegangen.
Man bewegt sich im Leben rasend schnell und bleibt trotzdem immer am selben Ort stehen. Nein: Man bewegt sich nicht, man rührt sich eigentlich gar nicht, man steckt unverrückbar an seinem Platz fest und wechselt trotzdem immerzu rasend schnell den Standort. Alles ist in Bewegung. Man verändert sich nie. Alles ist im Fluss. Man bleibt immer bei sich und mustert bloß verwundert und wenn möglich nur von weitem die hastig vorüber eilende Zeit, denn man hat damit eigentlich gar nichts zu tun und ist davon überhaupt nicht berührt, es sei denn, man ist bereits halb oder ganz tot und lässt sich in der Strömung des Zeitgeschehens einfach mitreißen.
Selbst wenn ich jetzt auf den Mond flöge, bliebe ich derselbe, sagt sich Harry deshalb im Stillen, während er durch seine beiden engen Sehschlitze die vorbei fliegende Landschaft und den überaus emsigen Verkehr beobachtet. Reisen hat überhaupt nichts mit Veränderung zu tun; ich könnte jetzt ebenso gut in meiner Küche stehen, fährt er zu überlegen fort. Stünde ich also jetzt in der Küche, was mir durchaus lieber wäre, wäre es indessen immer noch genau dasselbe. Etwas Neues oder sogar etwas anderes sehen wollen? So ein trügerisches Unterfangen! Eine einzige Anmaßung! Eine maßlose Selbstüberschätzung! Man sieht immer nur das, was man sehen kann; man sieht nicht einmal das, was man sehen will oder zumindest sehen möchte. Etwas erleben wollen? Was will denn einer um Himmels Willen erleben wollen? Wer etwas erleben will, der hat sie definitiv nicht alle.
Sind sie schon aufgestanden? fragt er sich. Er denkt immerzu an seine Kinder, wie er sie insgeheim nennt. Mimi sitzt sicher bereits auf ihrem Rad, bestimmt, und Miguel wird erst mal richtig ausschlafen wollen, nimmt Harry an. Die beiden müssen endlich mal eine Weile allein bleiben können, ganz unter sich, ohne das tägliche Arbeitsprogramm, ohne die beiden alten Knacker ständig um sich herum zu haben. Danach wird es sich schon weisen, wie der Hase läuft, da wird sich nämlich gemäß Harrys Geheimplan alles weisen.
Zum ersten Mal sind sie, die beiden Alten, Harry und Fredy, nicht ständig dabei, zum ersten Mal sind die beiden Jungen alleine unter sich und völlig auf sich selber angewiesen, zumindest für die nächsten vierzehn Tage. Sieben Jahre. Sieben Jahre lang haben sie jetzt wie die Ochsen geschuftet, alle vier, für die Bar, und nur für die Bar, Fredy und Mimi mit der Renovation sogar etwas länger, nein, bedeutend länger, und sie haben keine Zeit gehabt für die wichtigen Fragen der Zukunft, wie sie Harry sehen will. Denn die wirklich delikaten Sachen, die heiklen Dinge, also die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, die müssen sich überhaupt erst mal richtig entwickeln und entfalten können, und das ist eigentlich die einzige Idee, die dahinter steckt, das ist der einzige und wahre und niemals laut ausgesprochene Grund, weshalb Fredy und Harry weggefahren sind. Doch dies weiß vorderhand nur Harry, denn Fredy weiß eigentlich immer noch nicht, wie ihm geschieht. Fast etwas überstürzt, jedenfalls leicht überhastet sind sie heute Morgen in aller Frühe aufgebrochen. Ein Unsinn sei das, ganz objektiv gesehen, ein Blödsinn, denn vierzehn Tage Nichtstun sei eigentlich völlig sinn- und nutzlos und koste nur unnötig viel Geld, hat Fredy genörgelt. Und trotzdem hat das einen wichtigen Zweck zu erfüllen; dafür nimmt Harry sogar das Meer in Kauf, selbst wenn ihm heute noch niemand glauben will, dass ihm das Meer längst scheißegal geworden ist.
Allein der Wein, na gut, einverstanden, das mag ja ein halbwegs glaubwürdiges Argument sein, und zudem kann er ein bisschen in der Gegend herum essen und somit selber sehen und kosten, was andere kochen. Das ist durchaus wichtig und – für Harry zumindest – höchst interessant, denn das wird ihm unbestritten neue Impulse geben. Was sie kochen, die professionellen Köche, und wie sie kochen, die Cracks, das ist spannend, das ist aufschlussreich, das ist wichtig zu wissen, findet er; allein dafür nimmt er, der alte Koch, der er mittlerweile geworden ist, diese überflüssigen vierzehn Tage des sinnlosen Herumirrens notgedrungen in Kauf.
Harry überlegt das alles schon seit langem, seit vielen Jahren eigentlich. Stimmt, das ganze Kochen ist ein wichtiges, weil professionelles Argument. Es wird zwar voraussichtlich eine Menge Geld verschlingen, das auswärtige Essen, das aushäusige Schmausen, das er sich sonst nie leistet, das ganze, leicht zweifelhafte Experiment, bezahlt mit ihrem sauer verdienten Geld. Es geht jedoch heute nicht direkt ums Geld, das ganz gewiss nicht; es geht eigentlich nur um die beiden Jungen, um Mimi und Miguel. Doch genau diese überaus heikle Überlegung darf Harry niemandem gestehen, nicht einmal Fredy, weil das sein vielleicht einziges, sein bestgehütetes und jedenfalls sein letztes Geheimnis ist. Er ist zwar längst kein Mann der Geheimnisse mehr, doch sollte nichts daraus werden, braucht er sich nachträglich nicht zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen, denn wenn es gar keine Niederlage geben kann, ist auch keine Entschuldigung fällig. Es wäre zudem keine Niederlage, wenn es denn eine gäbe, denn es geht hier nicht um Sieg oder Niederlage. Es geht um gar rein nichts, redet sich Harry ständig gegen besseres Wissen ein. Schließt man ein junges Männchen und ein junges Weibchen der gleichen Sorte Lebewesen in einen Käfig und lässt sie eine Weile allein, hat Fredy kürzlich in der Küche großspurig behauptet, komme es früher oder später unweigerlich zur Kopulation. Das sei ein Naturgesetz, und das gelte übrigens auch für Menschen. Erst diese kühne Erklärung hat Harry auf die Idee gebracht. Es geht indessen gewiss nicht um die Verifikation dieses Naturgesetzes, redet er sich zumindest ein, es geht heute lediglich darum, die geeigneten Voraussetzungen zu schaffen.
So findet jetzt also diese unvorhergesehene Reise statt, unter diesen geheim zu haltenden Umständen, die er zudem absolut niemandem darlegen will, noch darlegen kann, noch darzulegen wagen würde, aus reinsten Schamgefühlen, und diese ihre eigene Reise selber kann ja durchaus schön und erholsam werden, warum denn nicht? Es sind vierzehn Tage selbstauferlegter Isolation, denn Harry isoliert sich und Fredy von den andern beiden, zumindest vorübergehend, separiert sich von den beiden Jungen, von den Kindern; er geht, zusammen mit seinem besten Kumpel, weg von da, wo er sonst immer ist, wo er sich ansonsten wie ein Fisch im Wasser bewegt, aus welchen Gründen auch immer, erläutert Harry im Stillen, nur muss er nicht meinen, dies hätte einen besonderen Sinn, eine besondere Bedeutung, einen besonderen Grund und einen besonderen Zweck, redet er sich jetzt andauernd ein, wohl aus einem schlechten Gewissen heraus. Nein, ganz im Gegenteil: Völlig sinn- und zweckfrei muss das ganze Unterfangen sein und auch bleiben; diese vierzehn Tage werden schlimmstenfalls einfach ein schwarzes Loch in der Geschichte darstellen, mehr bestimmt nicht. Er nimmt jetzt sogar an, dass dies der wahre Charakter eines jeden Urlaubs sei, denn wenn es nur um ihn und nach ihm ginge, hätte er nicht das geringste Bedürfnis wegzugehen, nicht das Geringste! Seine Küche reicht ihm völlig aus, denn das ist seine Welt und sein ganzes Leben, oder zumindest das, was davon noch übrig geblieben ist, nach aller Unbill des Lebens selber, das er an allen Stränden Europas verbracht hat. Fredy sieht dies sicher genau so, nimmt er mal an. Es gibt für beide längst keine Sturm- und Drangjahre mehr, denn sie sind einfach zu alt dafür, und beide haben sie überdies die überaus schwierigen, wechselvollen Jahre des Ausforschens und Auslotens längst gelebt und endgültig hinter sich gebracht. Diese Jahre in absoluter Freiheit sind nicht immer die reine Freude gewesen, nicht oft jedenfalls, manchmal sogar ganz und gar nicht, findet er rückblickend und somit seinen ganzen Lebensverlauf relativierend.
Bevor Mimi mit ihrer beruflichen Weiterbildung beginnt, in dieser Schule in der Kreisstadt, zunächst mit der Vorbereitung auf die Ingenieurschule, wie sie sagt, soll sie endlich auch einmal andere Seiten des Lebens kennenlernen können, nicht die schönsten vielleicht, doch möglicherweise die wichtigsten. Aber das kann man nie im Voraus wissen; kennenlernen muss man jedoch auch diese eher heftigen, allenfalls krassen Seiten des Lebens, versteht sich. Das ist Harrys geheimer Plan, und nur er kennt ihn. Mimi hat erst mal einen Beruf erlernt, ganz von sich aus, einen Beruf, den sie mag, und das ist immens wichtig, das ist entscheidend, denn das ist geradezu unglaublich für jemanden, der vorher nie in einer Schule gesessen hat. Leichthin hat sie dies geschafft, spielend, und sie ist völlig aufgegangen in dem, was sie getan hat. Besser kann es also gar nicht sein. Sie wird all ihr Geld zurückkriegen, bis zum letzten Cent, das ist Harrys zweites geheimes Ziel und bestimmt auch sein letztes, denn so wird allen gedient sein: Fredy hat ein Zuhause, Miguel hat Arbeit mit Zukunft, Mimi hat einen soliden Beruf und Harry hat eine gute Küche.
Mimi kehrt aufgeräumt mit all ihren Einkäufen in die leere Gaststube zurück und legt die beiden neuen, feinen Reifen für ihr Rennrad, die sie bereits aus ihrer Verpackung geholt und über die Schulter gehängt hat, zusammen mit der Papiertragetasche auf den runden Tisch in der Mitte der Gaststube. Oben, hört Mimi, ist Miguel soeben auf dem Weg zur Dusche. „Wer ist da?“ ruft er forsch nach unten. „Ich bin’s!“ antwortet Mimi möglichst leichthin. Sie packt die Tasche aus. Zuoberst liegt die bunte Tüte mit dem halben Dutzend ofenfrischer Wecken aus der Dorfbäckerei, darunter die Tube Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack, die weißen Damenslips im Multipack, die Müsliriegel, die sie jeweils als Kraftnahrung auf ihre ausgedehnten Radtouren mitzunehmen pflegt, zwei große, pfannenfertige Hacksteaks fürs Mittagessen und die gelbe Dreierpackung Kondome mit Bananengeschmack, die sie jetzt hastig und verschämt in die Hosentasche steckt. „Ich bin unter der Dusche!“ hört sie Miguel rufen. „Ich habe frische Wecken gekauft!“ ruft sie zurück. „Ich bin gleich soweit!“
Sie hört das Wasser rauschen, blickt eine Weile die Treppe hoch, als ob sie auf etwas warte, schüttelt abwesend den Kopf und schaut sich kurz um: Die kühle, ungewohnt leere Gaststube im Halbdunkel, die zweiundfünfzig Stühle verkehrt auf den Tischen und die geschlossenen Fensterläden wirken sehr befremdend auf sie. Vor dem Eingang hängt seit heute Morgen dieses unbeholfen von Hand geschriebene Schild, ein weißes, einfaches Stück Pappe, ein abgerissener Deckel einer Weinkiste mit Harrys eckiger Kugelschreiberschrift:
GESCHLOSSEN BIS 12. AUGUST
Miguel hat bereits alle Fenster bei geschlossenen Läden zum Lüften geöffnet und auch schon die Kaffeemaschine eingeschaltet. „Soll ich dir Kaffee einschenken, Miguel?“ ruft Mimi nach oben. „Was?“ „Willst du den Kaffee jetzt?“ „Gerne! Ich wasche mir nur noch schnell die Haare!“
Mimi legt das frische Gebäck aus der Bäckerei in eine flache Schale, füllt zwei große Henkeltassen mit kräftigem Kaffee, stellt das Fleisch auf eine Ablage im Kühlraum und geht mit dem Rest ihrer kleinen Einkäufe in ihr Zimmer hoch, nachdem sie sich sorgfältig vergewissert hat, dass man den Abdruck der kleinen Packung Kondome in ihrer engen Hosentasche nicht erkennen kann.
Miguels Zimmertür steht weit offen, und Mimi kann im Vorbeigehen das zerwühlte Bett und all die zerknüllten Kleidungsstücke sehen, die auf dem Boden herumliegen. Sie schließt sich kurz in ihr Zimmer ein, versorgt die Zahnpasta und die gelben Kondome in das rote Köfferchen mit all den Produkten für die Körperpflege, hängt die neuen, zerknitterten Reifen an den gekrümmten Lenker ihres eleganten, weißen Rennrades, das wie immer fahrbereit an der Zimmerwand lehnt, schaut sich zur Kontrolle kurz im hohen Spiegel an, geht danach wieder nach unten, kreuzt dabei Miguel, der mit nassen, wirren Haaren, das Handtuch mit einer Hand um die Hüfte haltend, eben aus der Dusche kommt. Man nickt sich kurz und verschämt und fast eine Spur zu schüchtern zu, ohne etwas zu sagen, und kurz darauf trifft man sich unten in der leeren Gaststube wieder. Miguel, fröhlich strahlend, sauber rasiert und parfümiert, steckt in frischer Wäsche und hat seine pechschwarzen, nass glänzenden Haare glatt hinter die abstehenden, roten Ohren gekämmt, was seinem schiefen Mausgesicht einen noch schieferen Ausdruck verleiht. ‚Miguel die Maus’, wie man ihn hier im Dorf fast liebevoll nennt. „Komisch, dass die Bar geschlossen ist“, meint er nachdenklich. „Ein ganz merkwürdiges Gefühl, findest du nicht?“ „Genau das ist mir vorhin auch aufgefallen, Miguel. Ich finde, die Gaststube sieht ohne Harry, ohne Fredy sehr seltsam aus.“
Sie setzen sich zu den großen Kaffeetassen und zu den prallen, hellbraunen Wecken an den runden Tisch, nachdem sie bei diesem Tisch auch die restlichen Stühle heruntergestellt haben, nur um es nicht bei dieser leeren Ungemütlichkeit zu belassen. „Merkwürdig. Sehr merkwürdig.“ Sie schauen sich um, als sähen sie die Gaststube zum ersten Mal. „Sie sind in aller Frühe weggefahren“, erzählt Mimi. „Hast du sie gehört?“ „Ich habe gehört, wie sie weggefahren sind, ja. So ungefähr um fünf oder um sechs Uhr. Sie haben erst die beiden hinteren Sitzbänke aus dem Leichenwagen geholt, haben sie in den Keller gestellt und sind weggefahren.“ „Ungewöhnlich. Sehr ungewöhnlich.“ Miguel schüttelt den Kopf. „Man kommt sich hier tatsächlich etwas komisch vor.“ „Stimmt, man kommt richtig ins Grübeln. Sehr eigenartig, die Stimmung, wenn Harry und Fredy nicht da sind.“
Mimi greift nach einem Wecken, reißt ihn in zwei Stücke und tunkt das eine Stück in den Milchkaffee. „Wo sind sie wohl jetzt gerade?“ „Unterwegs Richtung Meer, nehme ich an. Sie haben ein paar Decken in den Leichenwagen gepackt.“ „Sie wollen sogar im Auto schlafen?“ „Sieht ganz danach aus, ja. Wie in alten Tagen.“ Mimi kichert. „Ein bisschen wie früher sollte es wohl sein, nicht wahr? Die beiden wollen kurz ihre guten alten Zeiten wieder aufleben lassen, nehme ich mal an.“ „Ganz billig soll es sein, das ist mal klar. Sie wollen gewiss nicht zuviel Geld ausgeben müssen.“ Mimi nickt beiläufig. „Knauserig sind sie schon immer gewesen.“ Miguel schaut sie an. „Was ist nur in Harry gefahren? Hast du eine Ahnung?“ Mimi hebt die Schultern: „Keine Ahnung, Miguel! Ich weiß nicht, was in die beiden gefahren ist, Ehrenwort. Das muss ein spontaner, aber stiller Einfall gewesen sein, irgendwann mal im Verlaufe dieser Woche, oder vielleicht auch erst gestern Abend. Er hat ja gestern Abend nicht wenige Gäste anrufen müssen, um deren Bestellungen zu verschieben. Mir hat er nie etwas gesagt. Urlaub kennt er nicht; er weiß gar nicht, was das ist. Vielleicht hat ihn der Gedanke selber überrascht.“ Miguel pflichtet nickend bei. Mimi überlegt. „Ich glaube, er will einfach wieder mal ans Meer fahren. Ausgerechnet jetzt, wo alle Welt ans Meer fährt. Und er kann uns nicht gut gestehen: Ich will einfach nur ans Meer fahren, nichts anderes. Nur einfach mal wieder hinfahren, sonst nichts, und schauen, ob es noch da ist.“ Beide lachen kurz. „Kann sein“, meint Miguel nachdenklich. „Das halbe Dorf ist jetzt weg. Viel läuft hier ja nicht um diese Jahreszeit.“ „Und Fredy? Immerhin hat sein großer Garten Hochsaison.“ „Fredy wäre niemals mitgegangen, wenn ihn Harry nicht ums Verrecken hätte mitschleppen wollen. Fredy hat Harry einfach einen Gefallen machen müssen, indem er mitgegangen ist, verstehst du?“
Miguel steht auf und geht zur alten Theke, wo Mimi die warme Milch in einem Kännchen neben der Kaffeemaschine vergessen hat. „Willst du noch?“ Mimi nickt mit vollem Munde, und Miguel füllt die Tassen wieder auf. Er meint dazu: „Fredy kann man eigentlich gar nicht von seinem Garten trennen. Es muss etwas Wichtiges gewesen sein. Etwas, das uns völlig entgeht.“ „Stimmt, es hat ihm fast das Herz zerrissen.“ „Ich habe ihm versprochen, versprechen müssen, hoch und heilig, dass ich seinen Garten besorge, und ...“ Mimi unterbricht ihn: „Es geht nicht um den Garten, Miguel. Es geht um etwas anderes.“ „Klar, es ist wegen dem Wein“, sagt Miguel schnell, als ob ihm dies längst klar geworden wäre, „wegen den Weinlieferungen.“ Mimi schüttelt langsam den Kopf. „Ach was! Das ist nur ein Vorwand.“ Miguel stutzt. Er legt den angebissenen Wecken auf den Tisch. „Du meinst, dass er andere Küchen ausprobieren will? Ist es das? Er hat neulich etwas davon gesagt, dass er gerne selber mal ab und zu ausgehen würde, dass er gerne mal anderswo gut essen möchte, dass er schauen möchte, was die andern kochen und wie sie kochen. Das ist verständlich, denn das sind ja sein Beruf und sein Geschäft. Glaubst du, dass ihm vielleicht langsam die Ideen ausgehen? Oder dass er Angst hat, dass sie ihm einmal ausgehen könnten?“ „Nein, das glaube ich nicht, Miguel. Das wird ihm zwar sehr gefallen, mal anderswo zu essen, was Neues auszuprobieren, das ist klar. Und warum nicht? Doch das ist sicher nicht der eigentliche Grund.“
Miguel nimmt den angebissenen Wecken wieder auf und steckt ihn kurzerhand in den Mund. „Er hat erklärt, dass man, um den Wein zu kennen, wissen müsse, wo er wächst und so“, meint er mit vollem Mund kauend und dreht dazu die Augen in Erinnerung an die endlosen önologischen Vorträge zur Decke. Mimi nickt und lacht. „Das ist die zweite Strophe vom Lied. Die kenne ich auch. Die Leute, das Licht, der Geruch der Erde, die Weinsorten, die ganze kulturelle Entwicklung Europas, das Universum, das Sonnensystem und der ganze Quatsch. Ich sage dir nur eines: Das alles ist nur ein Vorwand. Willst du den letzten Wecken haben?“ „Klar, gerne. Du hast genug?“ „Ich habe genug gehabt, ja, danke. Nimm ihn nur! Er gehört dir!“ Sie schiebt ihm den letzten frischen Wecken hin und ermuntert ihn mit einem Nicken zuzugreifen. Miguel nimmt das Gebäck, steckt es gleich in den Mund, beißt ab und fragt kauend: „Was dann?“ „Wie meinst du?“ „Na, was will er dann?“
Mimi trinkt den Kaffee aus, stellt die leere Tasse hin und erklärt möglichst gleichgültig: „Er will, dass wir zwei eine Weile alleine sind und in aller Ruhe zusammen vögeln können.“ Miguel bleibt der Bissen im Halse stecken. Er verschluckt sich und hustet los. Kaum hat er sich etwas erholt, kaum hat er wieder Luft gekriegt, starrt er Mimi ratlos an, mit tränenden Augen und abwechselnd hochrotem und blässlich weißem Kopf. Mimi kichert kurz, weicht aber seinem Blick nicht aus. „Verstehst du nicht, Miguel?“
Miguel ist sprachlos. In seiner ganzen Verblüffung beißt er mechanisch einen weiteren Happen vom frischen Wecken ab. „Miguel? Hallo? Lebst du noch?“ ruft Mimi. Sie reckt ihre Rechte über den Tisch, steht dazu sogar zur Hälfte auf, beugt sich also über die ganze Tischplatte und tätschelt liebevoll Miguels linke, durch das Stück Wecken, das er eben abgebissen hat, ausgebeulte Wange. Danach richtet sie sich lächelnd auf, nimmt ihre Tasse, geht zur Kaffeemaschine hinüber und füllt ruhig Kaffee nach. Richtig strahlend kehrt sie zu Tisch zurück, sehr erleichtert, dass sie es überhaupt gesagt hat, dass sie es überhaupt so leichthin hat sagen können, kehrt zum nach wie vor versteinerten Miguel zurück und schaut ihm unverwandt in die Augen. „Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff, Miguel?“ Miguel zieht irritiert den Kopf zurück. „Was sagst du da?“ „Nun werde doch nicht gleich rot! Du hast ganz genau verstanden, was ich gesagt habe!“ „Mimi ...“
Miguel gerät mit vollem Mund ins Stottern. Mimi erlöst ihn davon, jetzt etwas sagen zu müssen. Sie setzt sich wieder ordentlich hin, nimmt einen Schluck Milchkaffee und versucht, ein möglichst ernstes Gesicht zu machen. „Okay, Miguel, pass mal auf: Wir leben jetzt seit sieben Jahren zusammen, nicht wahr? Wir gehören da also seit langem hin, wir beide, in Harry’s Bar. Wir leben hier zusammen, nicht wahr?“ Sie weist mit dem Kopf flüchtig in die leere Gaststube im Halbdunkel und fährt dann fort: „Da ist es doch nur logisch, dass wir endlich poppen. Verstehst du? Ich selber habe noch nie gevögelt, und ich möchte es, wenn überhaupt, mit dir machen. Verstehst du? Das ist alles. Ganz einfach.“
Miguel starrt Mimi verständnislos an und versucht verzweifelt, ein Wort herauszukriegen, irgendein Wort. „Mimi ...“ Mimi kommt ihm entgegen: „Ich will, dass es für uns beide möglichst gut abgehen wird! Verstehst du? Es soll ein Erfolgserlebnis sein!“ „Ich ...“ „Ich weiß nicht, wie das praktisch ablaufen soll, Miguel, ich kenne mich nicht aus. Also kann ich das noch gar nicht wissen. Auch du nicht, versteht sich. Ich habe mir eben, in dieser Sekunde, gesagt, dass ich das lieber gleich jetzt sage, vorher, also vor der ganzen Übung, verstehst du, damit es klar ist und nachher nicht allzu kompliziert werden wird für uns beide.“ „Ich ...“ „Zuerst habe ich gedacht, ich sage dir gar nichts bis zum ominösen Moment, wo es passieren kann, wo es passieren soll, wo es passieren muss, wo es also passieren wird. Aber eigentlich finde ich dieses heimliche, das verdeckte Vorgehen gar nicht so gut, und deshalb habe ich mich soeben dafür entschieden, es dir gleich jetzt zu sagen, gleich hier, gleich am Anfang. Offen. Verstehst du? Denn warum sollte ich das verheimlichen? Gibt es einen wichtigen Grund dafür?“ „Mimi ...“ „Das ist es nämlich, was Harry eigentlich will, verstehst du? Darum hat er ums Verrecken Fredy gegen dessen Willen mitschleppen müssen. Ich kenne Harry genau, Miguel, ich durchschaue ihn mit einem Röntgenblick. Er könnte vor mir nichts verheimlichen, auch wenn er sich alle Mühe gäbe. Ganz besonders dann ginge es nicht!“ „Fredy ...“ „Fredy weiß nichts davon, keine Bange, der denkt nur an seinen Garten, und sonst an nichts. Glaube mir!“ „Mimi ...“ „Na, komm schon, Miguel! Tu nicht so erschrocken! Du machst mir ja richtig Angst mit deiner Begriffsstutzigkeit! Ich habe dir doch noch gar nichts angetan, nicht wahr? Ich habe dich gern, und du magst mich doch auch?“ „Ich ...“ „Du bist sechs Jahre älter als ich, okay, du hast sicher mehr Erfahrung als ich in diesen Dingen. Das ist ganz gut so, finde ich, denn ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen, verstehst du? Ich bin noch Jungfrau.“ „Mimi ...“ „Ich will nicht mit einem Kerl ins Bett gehen, den ich nicht kenne. Verstehst du das? Dir aber kann ich vertrauen. Das erste Mal soll ja ziemlich wichtig sein, sagt man jedenfalls, das vergesse man nie, das präge einen für das ganze Leben, sagt man allenthalben, und so weiter. Und ich will es gewiss nicht versauen.“
Miguel bringt erst mal kein einziges Wort mehr heraus. Er starrt in seine Kaffeetasse, als ob darin die Antworten auf alle Fragen zu finden wären. Mimi wartet geduldig und beobachtet den armen und ratlosen Miguel liebevoll mit schräg gelegtem Kopf. Dann dauert es ihr zu lange, und sie lehnt sich wieder vertraulich vor, diesmal jedoch ohne Miguels Wange zu tätscheln: „Miguel? Hallo? Bist du noch da? Gehst du nicht mehr ans Telefon?“
Endlich nimmt Miguel alle Kraft zusammen, die er überhaupt aufbieten kann. Er weiß zwar überhaupt nicht, was das Folgende bewirken wird, aber er muss es loswerden, koste es, was es wolle, und zwar jetzt, gleich, sofort, auf Leben und Tod. „Ich habe auch noch nie gevögelt, Mimi“, presst er mit hochrotem Kopf hervor.
„Fredy, wann hast du das letzte Mal eine Tante geknattert?“ Fredy fällt vor Schreck die Kinnlade herunter. „Ich muss es wissen, Fredy. Wann hast du das letzte Mal?“