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Marburg an der Lahn im Jahre 1964: Mord, Intrigen und Gewalt erschüttern die Universität der sonst so beschaulichen hessischen Kleinstadt. Hat Dr. Hochstein Selbstmord begangen oder wurde er ermordet? Wer steckt hinter dem Überfall auf die Universitäts-Sekretärin Karen Weygandt? Und schließlich: Aus welchem Grund wird der Student Tillmann Dinkel brutal ermordet? Inspektor Charles Fischbein steht vor einem Rätsel, denn alle Spuren führen in die Vergangenheit der Universität: Es hat den Anschein, als drohe die Auferstehung eines längst begrabenen Unheils... MORD IN DER UNIVERSITÄT ist ein spannender Regional-Krimi von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT, DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE, FRIESLAND und der Frankenberg-Krimis um den Privatdetektiv Lafayette Bismarck.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
CHRISTIAN DÖRGE
MORD IN DER UNIVERSITÄT
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Der Roman
Der Autor
MORD IN DER UNIVERSITÄT
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Copyright © 2022 by Christian Dörge/Signum-Verlag.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Umschlag: Copyright © by Christian Dörge.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Marburg an der Lahn im Jahre 1964:
Mord, Intrigen und Gewalt erschüttern die Universität der sonst so beschaulichen hessischen Kleinstadt. Hat Dr. Hochstein Selbstmord begangen oder wurde er ermordet? Wer steckt hinter dem Überfall auf die Universitäts-Sekretärin Karen Weygandt? Und schließlich: Aus welchem Grund wird der Student Tillmann Dinkel brutal ermordet?
Inspektor Charles Fischbein steht vor einem Rätsel, denn alle Spuren führen in die Vergangenheit der Universität: Es hat den Anschein, als drohe die Auferstehung eines längst begrabenen Unheils...
Mord in der Universität ist ein spannender Regional-Krimi vonChristian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Friesland und der Frankenberg-Krimis um den Privatdetektiv Lafayette Bismarck.
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.
Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de
Jasmin Lèonhard: Dozentin an der Universität von Marburg.
Hagen Scharnhorst: ihr Verlobter.
Karen Weygandt: Sekretärin.
Gerhart Trabert: Universitätsprofessor.
Friedrich Möllemann: Universitätsprofessor.
Frank Hochstein: Universitätsprofessor.
Edgar Golgath: Universitätsprofessor.
Richard Hochstein: sein Sohn.
Jakob Urbach: Schatzmeister der Universität.
Raphael Engels: Verwaltungsbeamter.
Tillmann Dinkel: Student.
Judith Leichtweiß: Studentin.
Charles Fischbach: Inspektor bei der Marburger Kriminalpolizei.
Heinz Hasenclever: Hauptkommissar bei der Marburger Kriminalpolizei.
Herbert Leibnitz: Prorektor der Universität.
Archibald Krempel: Bibliothekar der Universität.
Dieser Roman spielt im Jahre 1964 in der hessischen Universitätsstadt Marburg an der Lahn.
Personen und Handlung sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und sind vom Autor ausdrücklich nicht beabsichtigt.
»Schach!«
Frank Hochstein runzelte die Stirn und machte einen Zug mit seinem König.
Der jüngere Mann nahm den Bauern vom Brett. Zwei Bauern war er jetzt voraus, und seine Figuren standen eindeutig günstiger. Das Spiel war de facto gewonnen.
Hochstein kämpfte noch ein paar Züge lang verbissen. Dann kapitulierte er missmutig.
Draußen schlug die Universitätsuhr die volle Stunde, begleitet ein gutes Stück entfernt von der Glocke der Elisabethkirche. Vom Korridor her drangen Musik aus einem Transistorradio und das Klimpern des Klaviers aus dem Gemeinschaftsraum.
Hagen Scharnhorst füllte die leeren Gläser wieder auf. Er goss Soda in sein eigenes. Den Whisky des anderen ließ er pur.
Hochstein starrte in sein Glas und fragte unvermittelt: »Hat Fräulein Lèonhard irgendetwas über mich gesagt?«
»Nein.« Jasmin war Hagens Freundschaft mit Hochstein ein Dorn im Auge. Doch in letzter Zeit hatte sie ihn mit keinem Wort erwähnt.
Hochstein lachte bitter. »Man hat es sich augenscheinlich in den Kopf gesetzt, mich zu entlassen«, bemerkte er, während er sich eine Zigarette anzündete.
Hochstein war ein großer Mann, mager und eckig in seinen Bewegungen, mit dichtem, grauem Haar. Er war erst Ende vierzig, doch er sah älter aus. In früheren Jahren war er ein guter Wissenschaftler und Lehrer gewesen. Jetzt aber waren seine Anschauungen überholt, er war verbittert und unproduktiv. Und – er war geschieden.
Hagen kannte ihn seit jenen Tagen, als er noch zur Schule ging. Hochstein war ein Freund seines Vaters gewesen. Als Hagen vor drei Jahren seine Stellung an der Universität von Marburg angetreten hatte, wo er wie sein Vater an der naturwissenschaftlichen Fakultät tätig war, hatte Hochstein sich ihm angeschlossen. Er glaubte sich dem jungen Mann durch gemeinsame Interessen verbunden. Hagen teilte zwar diese Überzeugung nicht, doch ihm fehlte die Eigenwilligkeit oder vielleicht die Grobheit, den anderen zurückzuweisen. Er duldete Hochsteins brüske, herablassende Art, und ihre Bekanntschaft vertiefte sich allmählich.
Ihre gemeinsame Freude am Schachspiel bildete hierfür die Grundlage. Ihre Zusammenkünfte, anfangs unregelmäßig, wurden mit der Zeit zur festen Gewohnheit. Whisky und Schach, hin und wieder eine Tasse Kaffee. Viel gesprochen wurde an diesen Abenden nicht. Hochstein führte ein Leben selbstgewählter Zurückgezogenheit. Er war verschlossen und ermunterte nicht gerade zum vertraulichen Gespräch.
Umso überraschender kam seine Bemerkung an diesem Abend.
»Wer in aller Welt sollte sich das in den Kopf gesetzt haben?«, fragte Hagen.
Hochstein spürte die Skepsis. »Seien Sie bloß nicht so verdammt überheblich«, versetzte er. Mit einer Handbewegung umfasste er das komfortabel eingerichtete Zimmer seines jüngeren Kollegen. »Sie haben’s leicht gehabt, Scharnhorst. Ihnen ist alles in den Schoß gefallen...«
Seine Worte trafen einen wunden Punkt. Hagen war fünfundzwanzig und stand bereits am Beginn einer aussichtsreichen akademischen Laufbahn. Unmittelbar nach seinem Examen war ihm die Dozentenstelle in Marburg angeboten worden, er hatte seinen Doktor gemacht, und man hatte ihm die Aufsicht über den Forsthof, ein Studentenwohnheim im Erlenring, anvertraut. All dies, und dazu noch Jasmin. Wieviel jedoch davon verdankte er der Tatsache, dass er der Sohn seines Vaters war?
Hochstein sprach weiter: »Es ist die Gelegenheit, auf die Golgath gewartet hat.«
Mit Edgar Golgaths Berufung auf den Lehrstuhl der Betriebswirtschaft vor fünf Jahren war das letzte Fünkchen Ehrgeiz in Hochstein erloschen. Nun, da er alle Hoffnungen auf eine glanzvolle Karriere begraben musste, begann er jegliches Interesse zu verlieren.
Für Golgath war Hochstein der bei weitem nachlässigste Mitarbeiter in seiner Fakultät, ein ständiges Ärgernis, doch er konnte nichts hinsichtlich seiner Entlassung tun: Es ist ebenso schwierig, einen Erzbischof zu entlassen wie einen Hochschullehrer.
»Wo liegt denn eigentlich das Problem?«, erkundigte sich Hagen jetzt mit mehr Teilnahme.
Hochstein seufzte. »Ich bin überrascht, dass Fräulein Lèonhard Ihnen nichts davon erzählt hat.« Er trank einen Schluck Whisky. »Es betrifft die Ferienkurse.«
Viele Jahre lang hatte Hochstein die sozialwissenschaftlichen Kurse während der Semesterferien organisiert, die jeden August von der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät abgehalten wurden. Vor zwei Jahren jedoch hatte er dieses Amt an das jüngste Mitglied der Fakultät, Jasmin Lèonhard, übergeben. Gerüchte wollten wissen, dass Professor Golgath ihm dies nahegelegt hatte.
»Man hat die Bücher ausgegraben«, berichtete Hochstein gerade. Zigarettenasche fiel auf sein Jackett.
»Die Bücher?«
»Für das letzte Jahr, in dem ich für die Kurse verantwortlich war. Golgath und der Schatzmeister haben sie gründlich studiert.«
»Gibt Ihnen das Anlass zur Sorge?«,
Hochstein lief rot an. »Ich habe mir keine Unterschlagungen zuschulden kommen lassen, falls Sie das meinen.«
»Na also...«
»Aber ich bin auch kein pedantischer Buchhalter. Sofern die beiden sich ordentlich ins Zeug legen – und das werden sie, verlassen Sie sich darauf –, finden sie zweifellos irgendwelche Unstimmigkeiten.«
Hochstein nahm einen schwarzen Springer vom Brett und zeichnete mit seinem Finger die feingeschnitzten Konturen nach.
»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte Hagen.
Hochstein blickte auf. »Ich möchte Sie bitten, Fräulein Lèonhard zu fragen, was da eigentlich gespielt wird.« Es war ein Befehl, keine Bitte. Als besäße Hochstein das Recht, andere für sich einzuspannen.
»Ich möchte mich da lieber nicht einmischen«, versetzte Hagen kühl. Aber ihm war klar, dass er es dennoch tun würde. Er brachte es nicht fertig, nein zu sagen. Das war seine Schwäche.
Jasmin hatte donnerstags von zehn bis elf ein Seminar. Als sie aus dem Gebäude trat, wartete Hagen schon auf sie.
»Nein, wir trinken irgendwo in der Stadt einen Kaffee«, sagte er, als sie die Richtung zur Kantine einschlagen wollte.
»Ja?« Sie blickte zum Himmel. »Dann hole ich schnell meinen Regenmantel.«
Hagen sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufeilte. Es sei wirklich unfair, hatte seine Schwester einmal bemerkt, dass Jasmin von der Natur zusätzlich zu ihrer Intelligenz noch mit einem derart blendenden Aussehen bedacht worden war.
Während Hagen wartete, humpelte ein Mann in einem dunklen Mantel über die Straße, nickte ihm zu und stieg die Stufen hinauf. Er trat zur Seite, als Jasmin in ihrem grünen Trenchcoat an ihm vorüberhastete.
»Das war Professor Trabert, nicht wahr?«, fragte sie, als sie neben Hagen stand.
»Ja. Rechtswissenschaft. Dekan der juristischen Fakultät.«
Jasmin sah dem Mann nachdenklich nach, machte jedoch keine weitere Bemerkung.
Hagen parkte in der Ritterstraße, und sie gingen das Stück bis zu Battenfelds Café zu Fuß. In dem Lokal herrschte Hochbetrieb. Man verstand kaum das eigene Wort im allgemeinen Stimmengewirr. Zwischen Einkaufstaschen hindurch bahnten sie sich einen Weg zu einem Ecktisch.
»Also?«, fragte Jasmin.
»Nimm bitte erst deine Brille ab«, verlangte er.
Sie lachte und gehorchte. Er behauptete stets, mit der Brille sähe sie allzu gelehrig aus, und das schüchtere ihn ein.
»Es geht um Hochstein«, begann er und seufzte.
Er spürte ihre Abneigung, über dieses Thema zu sprechen. »Ich wäre froh, wenn du den Umgang mit diesem Mann aufgeben würdest«, riet sie ihm vorsichtig.
Ein mageres Mädchen im blauen Kleid brachte ihnen den Kaffee. Sie stellte die Tassen ungeschickt auf den Tisch und verschüttete Kaffee in die Untertassen.
»Die Bedienung hier wird immer schlechter«, stellte Jasmin fest, als die Kellnerin gegangen war. Dann fuhr sie fort: »Hagen, damit du es weißt: Hochstein ist auf dem besten Weg, entlassen zu werden.«
»Darüber will ich ja gerade mit dir sprechen. Seine Buchführung während der Ferienkurse war demnach nicht korrekt?«
»Du weißt Bescheid...? Ja, offenbar hat es Unregelmäßigkeiten gegeben. Der Professor prüft gegenwärtig die Bücher mit den Kollegen von der Buchhaltung.«
»Hast du die Unstimmigkeiten entdeckt, Jasmin?«
»Es bestand für mich keinerlei Veranlassung, die Bücher zu prüfen. Sie waren abgeschlossen worden, bevor ich die Ferienlehrgänge übernahm.«
»Wie ist es dann ans Licht gekommen?«
Jasmin trank einen Schluck Kaffee. »Der Professor... der Professor bekam einen Brief.«
»Aha. Von wem?«
»Er war nicht unterschrieben... Hagen«, fuhr sie hastig fort. »Was ich dir jetzt sage, ist vertraulich. Bitte, lass Hochstein gegenüber nichts davon verlauten!«
»Man muss ihm aber doch sagen, wessen man ihn beschuldigt! Er muss Gelegenheit erhalten, sich zu rechtfertigen!«
»Die wird er bekommen«, versicherte sie. Ihr Tonfall verriet, dass sie ihn bereits verurteilt hatte.
»Was hast du gegen ihn?«, wollte Hagen wissen.
Ihre Voreingenommenheit gegen Hochstein entsprach gar nicht ihrem Wesen. Normalerweise war ihr Urteil über andere sachlich und objektiv.
»Er wird von der Universität bezahlt, um seine Arbeit zu erledigen«, versetzte sie mit Verachtung, »und er erledigt sie nicht.«
»Er ist einsam und wird alt«, gab Hagen zurück.
Jasmin tat seine Worte mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.
Es war dunkler geworden in dem kleinen Café; ein böiger Wind trieb peitschenden Regen an die Fensterscheiben.
»Ich hätte meinen Mantel mitnehmen sollen«, bemerkte Hagen.
Jasmin lachte. »Du bist noch nie ein Organisationstalent gewesen, Hagen. Das ist dein Fehler.« In ihren Augen lag Wärme.
»Was führt Golgath im Schilde?«, erkundigte sich Hagen.
»Genau das, was zu erwarten ist: Er möchte Hochstein selbstverständlich an die Luft setzen, vorausgesetzt, man kann ihm seine Schuld nachweisen.«
Hochsteins Befürchtungen waren also berechtigt.
»So einfach ist das nicht«, erklärte Hagen. »Zunächst muss ein Untersuchungsverfahren eingeleitet werden. So steht es in den Statuten der Universität.«
»Dessen bin ich mir bewusst. Der Professor hat bereits juristischen Rat eingeholt.« Sie stand auf und zog ihre Handschuhe an. »Ich nehme an, dass der Dekan der juristischen Fakultät deshalb heute Morgen ins Seminargebäude gekommen ist.«
Eine bleichsüchtige Sonne tauchte flüchtig aus düsteren Wolken, als Gerhart Trabert den weiten, quadratischen Innenhof überquerte. Es war kurz vor elf. Vor dem modernen Bau, der die philologische Fakultät beherbergte, hatte sich eine Gruppe von Studenten angesammelt. Die meisten von ihnen trugen keine Mäntel, schienen unempfindlich gegen den Märzwind. Trabert fröstelte und beschleunigte den Schritt.
Er trat durch das Tor hinaus. Im Gebäude gegenüber waren die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche und die psychologische Fakultät gemeinsam untergebracht. Es war nur eine provisorische Lösung. Man hatte das Gebäude wegen seiner günstigen Lage erworben und wollte es später abreißen, um einen moderneren und großzügigeren Bau zu errichten. Vorläufig jedoch war man froh, dem akuten Raummangel erst einmal abgeholfen zu haben.
Eine breite Treppe führte hinauf in den ersten Stock, wo die Räume der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät lagen. Als Trabert näher kam, sah er Hagen Scharnhorst, den jungen Mathematiker, am Fuße der Treppe stehen.
Trabert nickte ihm zu. Er hatte seinen Vater gekannt, einen Mathematiker von internationalem Ansehen. Hagen, der einzige Sohn, hatte die Geistesgaben seines Vaters bedauerlicherweise nicht im gleichen Maße geerbt.
Eine dunkelhaarige junge Frau eilte die Treppe hinunter und gesellte sich zu Scharnhorst. Das war Fräulein Lèonhard, Scharnhorsts Verlobte, von der Edgar Golgath eine so hohe Meinung hatte. Trabert kannte sie nur vom Sehen. Ein ausgesprochen hübsches Mädchen mit einem ungewöhnlichen Gesicht. Nicht zum ersten Mal erinnerte sie ihn an ein Mädchen, das früher einmal hier studiert hatte. Während Trabert die Treppe hinaufhinkte, kam ihm bei der Erinnerung an ihren Namen ein seltsamer Gedanke. Konnte es Zufall sein? Gewiss nicht...
Professor Golgaths Zimmer lag am Ende eines engen Korridors. Trabert klopfte. Eine helle Stimme forderte ihn auf einzutreten.
Zwei Männer erwarteten ihn. Golgath selbst und Jakob Urbach, der Schatzmeister. Nach den überquellenden Aschenbechern und dem Rauch zu urteilen, der in dicken Schwaden in der Luft hing, mussten die beiden Männer schon eine ganze Weile zusammengesessen haben.
Der Schatzmeister war wie immer tadellos, beinahe geckenhaft gekleidet: gutsitzender Anzug aus grauem Tuch mit feinen Nadelstreifen, dazu passende Weste und rote Fliege. Er rauchte wie gewöhnlich in der Manier eines Grandseigneurs seine Zigarre.
Und doch zog sogleich der andere unauffällig in Tweedjackett und dunkle Hose gekleidete Mann das Augenmerk auf sich. Edgar Golgath, der zuvor als Dozent bei der Universität Gießen tätig gewesen war, hatte sich durch das Angebot eines Lehrstuhls verlocken lassen, nach Marburg zu kommen. Ein Rückschritt, behaupteten seine Kollegen in Gießen. Doch Golgath war kein Mensch, der unbedingt Karriere machen wollte. Er war nicht einmal in erster Linie Wissenschaftler. Er war ein Mann, der von überschüssiger Energie strotzte und für seinen Elan ein Ventil brauchte. Innerhalb von fünf Jahren hatte er die Fakultät regeneriert und sich ein tatkräftiges Team junger wissenschaftlicher Mitarbeiter herangezogen. Trabert vermutete, dass Golgath nicht mehr allzu lang in Marburg verweilen würde; seine Aufgabe war erfüllt.
Golgath war blond, mit hellem Teint und einem jungenhaften Gesicht. Er war ein Mensch ohne falsche Hemmungen, frei von Überheblichkeit oder Heuchelei.
»Freut mich, dass Sie gekommen sind, Gerhart«, sagte er und rückte einen Stuhl zurecht. »Wir hätten gern Ihre Meinung als Rechtswissenschaftler einem ganz bestimmten Fall gehört.«
»Das sagten Sie mir am Telefon.«
»Ja, also, das Problem liegt folgendermaßen: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um ein Mitglied des Lehrkörpers zu entlassen?«
»Das kann in den Statuten nachgelesen werden. Entschieden werden muss der Fall von einem Ausschuss, der sich aus Mitgliedern des Senats und des Universitätsrats zusammensetzt. Dann gilt es zu beweisen, dass Ihr Vorbringen berechtigt ist.«
»Artikel 11«, sagte Urbach und legte die Statuten aufgeschlagen vor Trabert hin. »Abschnitt 14 bis 18.«
»Wir kennen den Artikel, Gerhart«, bemerkte Golgath. »Ich meine, es handelt sich hier um eine Frage der Auslegung.« Er stellte sich neben Trabert. »Abschnitt 17«, sagte er und wies mit dem Finger darauf, »definiert die Berechtigung. Da, sehen Sie, Unterabschnitt b.«
Trabert las laut vor: »Ein Verhalten, welches nach Ansicht des eingesetzten Ausschusses das Mitglied des Lehrkörpers ungeeignet macht, weiterhin im Amt zu verbleiben.«
»Ganz recht«, nickte Golgath. »Nun nehmen Sie einmal an, dass ein Lehrer im Rahmen seines Amtes die Universität betrügt, dass er Geld unterschlägt – wäre das nicht ein Verhalten, welches ihn ungeeignet macht usw.?«
»Prima facie, in der Tat. Aber halten wir uns doch nicht bei hypothetischen Fällen auf. Wir sprechen doch von Dr. Hochstein, nicht wahr?«
Golgath lächelte zustimmend. »Wir sind der Ansicht, dass er seinen Stuhl räumen muss«, erklärte er.
Trabert verspürte leichten Unwillen. »Ich habe einmal eine Vorlesung von Hochstein gehört«, berichtete er. »Wenn ich mich recht erinnere, über den Ausgleich des Staatshaushalts. Ich war außerordentlich beeindruckt.«
»Manche unserer Studenten mögen ihn«, gab Golgath zu. »Leider ist er aber schrecklich veraltet in seinen Ansichten. – Doch das alles ist wohl in diesem Fall belanglos.«
Trabert nickte. »Sie sagen, er hat Unterschlagungen begangen. Können Sie das beweisen?«
Golgath wandte sich dem Schatzmeister zu. »Das ist Ihr Ressort, Jakob«, bemerkte er.
Trabert war schon immer der Ansicht gewesen, dass die Universität bei der Wahl ihrer Verwaltungsbeamten keine glückliche Hand bewiesen hatte. Der Chef der Verwaltung war träge und untüchtig, der Schatzmeister gründlich bis zu Pedanterie. Und wenn man diese beiden Extreme gegeneinander abwog, so war der Einfluss des Schatzmeisters der verderblichere.
Jakob Urbach war ein kleiner, stämmiger Mann Mitte Vierzig. Sein Diplom von der Universität Kassel hatte nicht ausgereicht, um ihm das Tor zu einer Hochschullaufbahn zu öffnen. Kurzentschlossen hatte er deshalb noch ein Diplom als Buchprüfer erworben und sich damit begnügt, in der Verwaltung der Universität zu arbeiten. Seinen gegenwärtigen Posten hatte er bereits seit zwölf Jahren inne.
Niemand hegte auch nur den geringsten Zweifel an Urbachs beruflicher Kompetenz; viele hielten ihn gar für unentbehrlich. Trabert allerdings nicht. Er misstraute Urbachs Zentralisierungsbestrebungen, seinem Ehrgeiz, die Fäden allein in seiner Hand zu halten.
Schon wies Urbach auf die Lehre hin, die seiner Ansicht nach aus dem Fall Hochstein zu ziehen war. Er erinnerte daran, dass er niemals damit einverstanden gewesen war, den einzelnen Fakultäten bei der Organisation von Ferienlehrgängen freie Hand zu lassen. Schon gleich gar nicht, wenn die Fakultät einem einzelnen die Verantwortung für den finanziellen Teil überließ.
»Aber Ihre Leute prüfen doch die Bücher, oder nicht?«, warf Trabert ein.
Urbach zuckte die Achseln.
»Wir prüfen lediglich, ob für sämtliche Zahlungen ordnungsgemäße Belege vorliegen. Hochstein jedoch... ist sehr geschickt hinsichtlich seiner Unterschlagungen.«
»Wie denn?«
Professor Golgath nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch.
»Dieses Schreiben erhielt ich letzte Woche mit der Post«, erklärte er und reichte Trabert den Brief.
Folgende wenige Worte waren mit der Maschine auf das neutrale weiße Blatt Papier mit der Maschine geschrieben worden:
Im Ferienlehrgang 1963 steckte Dr. Hochstein Bezahlung für Vorlesungen ein, die er nicht abgehalten hat.
Kein Datum, keine Unterschrift.
»Haben Sie den Umschlag noch?«, fragte Trabert.
»Nein.«
»Was sagt Hochstein dazu?«
Golgath runzelte die Brauen. »Er weiß noch gar nichts davon.«
»Professor Golgath hat mich um Hilfe gebeten«, mischte sich Urbach hastig ein. »Er meinte, wir sollten zunächst die Angelegenheit besprechen, um uns anschließend mit Hochstein auseinanderzusetzen.«
Trabert schwieg. Deutlich genug gab er damit seiner Missbilligung Ausdruck.
»Programmgemäß«, fuhr der Schatzmeister fort, »hätte Hochstein in Verlauf des betreffenden Lehrgangs fünf Vorlesungen halten müssen. Von Teilnehmern des Kurses erfuhren wir, dass er auch tatsächlich fünf Vorlesungen absolviert hat. Allerdings bezahlte er sich selbst für sieben. Und zwar setzte er pro Vorlesung zehn Mark auf die Rechnung. Somit schlug er einen Gewinn von zwanzig Mark heraus.«
Traberts linkes Bein schmerzte. Sein Arzt behauptete steif und fest, die Schmerzen wären psychosomatischer Natur. Das war natürlich völliger Unsinn. Nur das feuchte Wetter war die Ursache für die Schmerzen. Trotzdem war es merkwürdig, dass sie immer dann schlimmer schienen, wenn er beunruhigt war oder sich Sorgen machte.
Und diese Sache mit Hochstein gefiel ihm ganz und gar nicht. Sie roch förmlich nach Verschwörung. Solche Situationen konnten sich im Nu zu einem handfesten Skandal auswachsen, wie damals in den fünfziger Jahren der Fall Scharnhorst. Und jetzt wollte man ihn mit hineinziehen.
Trabert machte sich keine Illusionen. Man wollte nicht seine Meinung als Rechtswissenschaftler hören, man wollte seine Unterstützung als Mitglied des Universitätsrats, als einflussreiches Mitglied des Senats.
»Haben Sie eine Ahnung, wer den Brief geschrieben haben könnte?«, fragte er scharf.
Golgath zuckte die Achseln. »Praktisch jeder.«
»Das stimmt nicht. Es muss jemand gewesen sein, der über die Sommerlehrgänge sehr gut informiert ist.«
»Das Programm«, bemerkte Urbach, »wird allen Interessenten ausgehändigt. Desgleichen später das Protokoll. Jeder, der sich die Mühe machte, die beiden Zirkulare zu vergleichen, konnte die Diskrepanz entdecken.«
»Zu schade, dass der Buchprüfer nicht auf die Idee kam«, stellte Trabert fest.
Der Schatzmeister warf ihm einen unwilligen Blick zu.
Es muss jemand gewesen sein, der Dr. Hochstein vorsätzlich Schaden zufügen wollte. Wie stand es mit Professor Golgath selbst? Nein, sagte sich Trabert, das entsprach nicht Golgaths Charakter. Dennoch traute er den Beweggründen des Professors nicht.
»Mal angenommen«, sagte Hochstein, »Sie würden Fräulein Lèonhard verdächtigen, Gelder der Universität veruntreut zu haben – würden Sie auch auf ihre Entlassung dringen?«
Golgath lachte. »Wahrscheinlich nicht. Offen gesagt, Gerhart, die moralischen Aspekte interessieren mich herzlich wenig. Es ist ganz einfach so, dass meiner Fakultät mit einem Ausscheiden Hochsteins schlichterdings durchaus gedient wäre... Nu aus dieser Perspektive betrachte ich die Angelegenheit.«
Ja, das sah ihm ähnlich. Golgath war ein sympathischer Mensch, doch er war unerfahren und neigte dazu, die Dinge allzu sehr vereinfachen zu wollen. Er hatte die Prozedur noch nicht mitgemacht. Er sah die Fußangeln nicht... Und Urbach hatte wahrscheinlich seine eigenen Gründe, ihn nicht darauf aufmerksam zu machen.
Trabert blickte auf seine Uhr.
»Ich habe um zwölf eine Vorlesung«, bemerkte er.
Golgath lächelte entschuldigend. »Und was raten Sie uns?«
»Zuallererst müssen Sie das Gespräch mit Hochstein suchen.«
»Ist das in dieser Phase nötig?«, fragte Urbach.
»Oh, Gerhart hat sicher recht«, warf Golgath rasch ein. »Ich werde mit ihm sprechen. Und dann? Angenommen, er kann für die Unstimmigkeiten keine stichhaltige Erklärung vorbringen?«
Trabert zögerte. »Das kommt darauf an«, meinte er langsam, »wie Hochstein reagiert. Wenn Sie meinen, dass er sich nicht auf die Hinterfüße stellen wird – dass er also nicht zu Gericht gehen wird –, dann bilden Sie Ihren Disziplinarausschuss und setzen ihn an die Luft. Immer vorausgesetzt natürlich, dass seine Schuld feststeht... Wenn Sie aber damit rechnen müssen, dass er Schwierigkeiten macht, dann würde ich Ihnen raten – lassen Sie die Finger von der Sache.«
Golgath blickte ihn verständnislos an.
»Ich fürchte, ich begreife nicht, weshalb da ein Unterschied gemacht werden soll. Wenn wir seine Schuld beweisen können, weshalb sollten wir ein Gerichtsverfahren fürchten?«
»Ja«, stimmte Urbach mit heuchlerischem Lächeln zu. »Der Vorschlag scheint mir recht seltsam, wenn man bedenkt, dass er von einem Rechtsgelehrten kommt.«
Trabert seufzte. »Ich spreche nicht als Rechtswissenschaftler. Ich spreche als Mitglied der Universität. Keine Universität sollte sich darauf einlassen, im Lichte der Öffentlichkeit ihre schmutzige Wäsche zu waschen. Ich weiß, wovon ich rede. Fragen Sie Hagen Scharnhorst, was seinen Vater in den Tod trieb.«
»...an die einzelnen Fakultäten überwiesen«, diktierte Karen Weygandt auf das Tonband. »Neuer Absatz. Nummer 13: Erneuerung der Ausstellungen. Es wurde beschlossen...«
War denn überhaupt etwas beschlossen worden? Es war eine jener fruchtlosen Diskussionen gewesen, bei der viel geredet und nichts auf den Punkt gebracht worden war. Sie schaltete das Diktiergerät aus und streckte sich müde. Es musste schon spät sein. Und es war kalt. Die Heizung war schon seit Stunden abgestellt.
Sie hörte, wie sich draußen ein Schlüssel drehte und die Tür zum Verwaltungsbüro geöffnet wurde. Karen fluchte leise.
Er schlich wie eine Katze. Man hörte ihn nie kommen. Er klopfte an ihrer Tür und trat ein.
»Noch immer an der Arbeit, Fräulein Weygandt?«
Raphael Engels, der Leiter der Verwaltung, war ein hochgewachsener Mann mit hängenden Schultern und hängendem Bauch. Sein Gesicht trug ständig einen Ausdruck des Widerwillens.
»Ich dachte, Sie wollten übers Wochenende verreisen«, fügte er mürrisch hinzu.
»Ich musste es verschieben«, erwiderte sie kurz. »Heute Nachmittag fand eine Sitzung über die Vergebung von Stipendien statt und...«
Er hörte ihr gar nicht zu. Und auf seinen Zügen lag jener Ausdruck, der sie immer wieder anekelte. Als wollte er sie mit seinen Augen entkleiden. Wahrscheinlich war sie überempfindlich. Sein Benehmen ihr gegenüber war stets peinlich korrekt. Und doch, diese Augen!
»Wohnen Sie immer noch mit Fräulein Lèonhard zusammen?«
»Ja.«
Er nahm seine randlose Brille ab und polierte die Gläser mit seinem Taschentuch. »Unangenehm, diese Sache mit Dr. Hochstein. Wissen Sie darüber Bescheid?«
»Ich habe etwas läuten hören.«
»Golgath brachte den Fall heute im Senat zur Sprache. Es wird wohl ein Verfahren eingeleitet werden.«
»Vor einem Ausschuss?«
»Ja. Ich bin sicher, dass der Rat den Antrag am Montag ratifizieren wird. Unangenehme Sache«, wiederholte er.
Es entsprach nicht Engels’ Angewohnheit, Angelegenheiten des Senats mit seinem Personal zu besprechen. Karen fragte sich, was er damit bezweckte.
»Mein Freund, der Schatzmeister«, bemerkte er säuerlich, »scheint über die Hintergründe eingehender unterrichtet zu sein als ich. Es würde mich interessieren, ob Fräulein Lèonhard...« Er ließ den Satz unvollendet.
Darauf also wollte er hinaus...
»Tatsächlich haben wir darüber gesprochen«, bekannte Karen.
»Und?«
»Fräulein Lèonhard ist von Dr. Hochsteins Schuld überzeugt.« Noch während sie es aussprach, wurde sich Karen bewusst, dass sie daran zweifelte. Jasmin hatte mit ungewöhnlicher Heftigkeit und Deutlichkeit über Dr. Hochstein gesprochen. Es hatte beinahe den Anschein gehabt, als wollte sie sich selbst überzeugen.
Engels war zufrieden.
»Nun, sie müsste es ja eigentlich wissen«, meinte er. »Übertreiben Sie bloß nicht Ihr Pflichtbewusstsein, Fräulein Weygandt«, fügte er automatisch hinzu. »Es ist schon zehn Uhr.«
»Ich weiß«, entgegnete sie gereizt.
Er war schon wieder beim Hinausgehen. »Gute Nacht«, rief er.
Karen schnitt dem gekrümmten Rücken ein Gesicht. Übertreiben Sie bloß nicht Ihr Pflichtbewusstsein! Er hatte leicht reden. Er verbrachte den ganzen Tag nur Däumchen drehend in irgendwelchen Sitzungen des Senats und des Rats. Alle übrigen Arbeiten verteilte er großzügig auf seine Angestellten. Das meiste bürdete er Feuerbach auf. Und jetzt, wo Feuerbach krank war, steckten alle anderen bis über die Ohren in der Arbeit. Karen fragte sich, ob irgendjemand ahnte, dass die Vorbereitungen zur Berufung des neuen Rektors im Mai in den Händen einer weiblichen Verwaltungsangestellten lagen.
Sie öffnete ihre Handtasche und nahm Zigaretten und Feuerzeug heraus. Eine Karte fiel heraus. Sie hob sie auf und las das Geschriebene.
Alles Liebe und Gute zum 13ten Dezember.
Immer Dein Hagen.
Das war an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag gewesen. Vor gut zwei Jahren. Er hatte ihr das Feuerzeug geschenkt. Grünes Emaille.
Vierzehn Tage später, bei einer Weihnachtsfeier, hatte sie Hagen Scharnhorst mit Jasmin bekannt gemacht. Sie hatte das Unausweichliche kommen sehen und geschehen lassen. Na und?, fragte sie sich zum tausendsten Mal. Er bedeutet mir nichts. Dennoch trug sie die Karte seit zwei Jahren in ihrer Handtasche. Selbst jetzt steckte sie sie gewissenhaft wieder ein.
Karen hätte diesen Abend mit Hagen und Jasmin verbringen können. Doch sie hatte Hagens Einladung zum Abendessen im Forsthof abgelehnt, weil sie vorgehabt hatte wegzufahren. Sie hätte sowieso nicht zugesagt. Es lag ihr nicht, das fünfte Rad am Wagen zu sein.
Arbeitslust und Konzentrationsvermögen hatten sie verlassen. Sie war müde und fror entsetzlich. Die Aussicht auf ein warmes Bad, einen Drink und ihr Bett erschien ihr höchst verlockend. Etwas schuldbewusst fiel Karen ein, dass sie Jasmin nichts von der Änderung ihrer Pläne mitgeteilt hatte. Ursprünglich hatte sie das Wochenende bei ihrer Mutter in Dillenburg verbringen wollen.
Draußen war es noch kälter geworden. Der Wind schlug ihr eisig ins Gesicht, als sie über die Pfützen auf dem Parkplatz sprang und zu ihrem kleinen roten Wagen eilte, der vereinsamt an der Stelle stand, wo sie ihn am Morgen geparkt hatte. Der Motor sprang beim ersten Knopfdruck an. Ein Glück, dass sie eine neue Batterie gekauft hatte.
Es waren nicht mehr viele Menschen unterwegs. Kein Wunder an einem solchen Abend. Obwohl sie es gar nicht beabsichtigt hatte, stellte Karen plötzlich fest, dass sie automatisch die Ritterstraße entlangfuhr, die zum Forsthof führte. Wie kann man nur so albern sein?, fragte sie sich selbst ärgerlich. Einen Umweg von fast einem Kilometer, nur um einen Blick auf ein erleuchtetes Fenster zu erhaschen. Sie zwang sich, nicht hinaufzublicken, als sie vorüberfuhr.
Das kleine Haus, in dem Karen und Jasmin wohnten, lag südlich an der Straße nach Weimar, etwa anderthalb Kilometer außerhalb der Stadt. Jasmin hatte es vor zwei Jahren gekauft. Karen bezahlte ihr eine monatliche Miete. Im Sommer war es hier wunderschön – Efeu rankte sich die Mauern empor, und im Garten leuchteten die Rosen. Doch im Winter... war es einsam und unangenehm trist.
Karen fuhr durch das Tor und die kurze Auffahrt entlang zum Haus, das im Schatten hoher Kiefern stand. Sie stellte den Wagen in den Schuppen mit dem Wellblechdach, der ihnen als Garage diente.
Freundliche Wärme empfing sie, als sie die Haustür öffnete. Sie ging ins Wohnzimmer und goss sich etwas Whisky mit Wasser in ein Glas. Das Getränk schmeckte wie Medizin, doch sie fror wenigstens nicht mehr. Draußen ächzten die Kiefern im Wind. Ein Lastwagen ratterte die Landstraße entlang.
Das Zimmer, lang und schmal, war mit vollendetem Geschmack eingerichtet. Doch manchmal sehnte sich Karen danach, die Symmetrie und das Gleichmaß zu zerstören, bunte Bilder an die Wände zu hängen, Bücher und Zeitschriften wahllos zu verstreuen.
Das Haus spiegelte den Charakter seiner Eigentümerin; ordentlich, unpersönlich und undurchdringlich. Jasmin schien immer von einem Geheimnis umgeben, dachte Karen. Sie war intelligent und charmant. Erst ganz allmählich merkte man, wie selten sie von sich selbst sprach, wie geschickt sie auswich, wenn das Gespräch auf persönliche Dinge kam. Karen fragte sich, ob sie Hagen gegenüber weniger verschlossen war...
Nach dem Whisky wurde ihr ein wenig schwindlig. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, nicht allein zu sein. Ja, als sie vorhin hereingekommen war, hatte sie unwillkürlich Jasmins Namen gerufen. Was war die Ursache? Ein Geräusch vielleicht? Der Hauch eines Dufts, der noch in der Luft hing?, Irgendetwas musste sie getäuscht haben. Es war natürlich absurd. Jasmin kam freitags niemals vor Mitternacht nach Hause.
Doch das Gefühl blieb. Wieder rief sie laut. Das Schweigen, das ihr antwortete, beruhigte sie nicht.
Sie holte tief Atem. Du bist doch kein kleines Kind mehr, sagte sie sich.
Mit wild klopfendem Herzen machte sie einen Rundgang durch das Haus, knipste alle Lichter an und blickte in jeden Schrank. Nichts. Ihre Phantasie musste ihr einen Streich gespielt haben. Ihre Furcht war verflogen.
Im Nachttischkasten neben ihrem Bett lag das braune Paket. Karen holte es heraus und versuchte den Knoten zu lösen. Unverrichteter Dinge legte sie es wieder beiseite. Es war zu spät. Sie war zu müde.
Morgen war auch noch ein Tag. Sie ging ins Badezimmer, ließ das Wasser in die Waffe einlaufen und kehrte in ihr Zimmer zurück, um sich auszuziehen.
Ihre Arme schienen schwer wie Blei zu sein. Sie hatte Mühe, das Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie hatte in letzter Zeit wirklich zu viel gearbeitet. Warum sollte sie sich eigentlich für Engels abmühen wie ein Maulesel? Er dankte es ihr schließlich nicht einmal, er bedachte sie allenfalls mit lüsternen, schmierigen Blicken.
Sie musterte sich mit kritischer Sachlichkeit im Spiegel. Sie wusste, wo ihre Vorzüge lagen: reine Haut, ausdrucksvolle Augen, ebenmäßige Züge. Figur? Obere Hälfte in Ordnung. An den Hüften hatte sie allerdings etwas Fett angesetzt. Sie musste mehr Gymnastik machen. Wie Jasmin es nur anstellte, so schlank zu bleiben, obwohl Gymnastik für sie ein Fremdwort zu sein schien...?
Dampfschwaden vernebelten das Badezimmer. Karen drehte den Heißwasserhahn zu und ließ etwas kaltes Wasser in die Wanne laufen. Dann fiel ihr ein, dass ihr Drink noch im Wohnzimmer stand. Auf nackten Füßen rannte sie zurück.
Kaum hatte sie das Wohnzimmer betreten, als das prickelnde Gefühl der Angst wiederkehrte. Sie kämpfte gegen einen Anflug panischer Furcht. Wovor hatte sie Angst? Man muss seine Furcht immer analysieren, kühl und rational betrachten und sie beim Namen nennen. Dann ist es einfacher, sie zu vertreiben. Also, wovor fürchtete sie sich? Dass jemand in diesem Haus war, in diesem Zimmer. Nicht im Schrank bei der Tür, dort hatte sie schon nachgesehen. Wo also?
Ihre Augen wurden magnetisch von dem großen Sofa angezogen, das dem Fernsehapparat gegenüber stand. War die Dunkelheit dahinter nur ein weiterer Schatten oder...?
Karen nahm das Glas vom Tisch und trank den letzten Schluck ihres Whiskys. Sachte warf sie das Glas über das Sofa, hörte, wie es klirrend an die Wand schlug und dann auf die Holzlehne fiel und zersprang. Sonst rührte sich nichts.
Karen drehte sich um und rannte zurück ins Badezimmer. Sie hatte die Grenzen ihres Muts erreicht. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, hinter dem Sofa nachzuschauen.
Lauschend blieb Karen hinter der abgeschlossenen Tür stehen.
Draußen peitschten noch immer heftige Windstöße die Bäume. Sie wartete fünf Minuten, zehn Minuten. Dann hörte sie es: das Quietschen eines Möbelstücks. Wieder folgte Stille. Lange. Dann vernahm sie ein anderes Geräusch. Sie konnte es nicht klar erkennen. Es klang, als würde ganz vorsichtig eine Tür zugezogen. Die Haustür? War der Eindringling gegangen?
Langsam zählte sie bis hundert.
Dann noch einmal.
Schließlich ein drittes Mal. Geräuschlos schob sie den Riegel der Badezimmertür zurück und drückte die Tür vorsichtig auf. Ein greller Blitz blendete sie. Dann traf ein heftiger Schlag ihren Kopf, und sie brach bewusstlos zusammen.