Oberhäuptling der Herero - Dietmar Beetz - E-Book

Oberhäuptling der Herero E-Book

Dietmar Beetz

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Beschreibung

Die Handlung dieses spannenden Romans führt in das ehemalige Deutsch-Südwest-Afrika. Man schreibt das Jahr 1890. Im Hafen Walvisbaai wartet Assa Riarua, Großmann der Herero, auf Nikodemus, der per Schiff eine Ladung Waffen aus Kapstadt bringt. Assa soll den Transport auf dem gefährlichen Weg durch das Nama-Land geleiten. So hat es Samuel Maharero gewünscht. Aber will der Sohn des alten Maharero überhaupt, dass das Unternehmen ein Erfolg wird? Assa hat Zweifel, denn Samuel und Nikodemus sind zerstritten, sie streben beide nach dem Amt des Oberhäuptlings. Assa ahnt auch, dass hinter dieser Rivalität nicht nur Machtstreben steht. Die Deutschen beginnen sich im Hereroland einzunisten. Man sollte sie bekämpfen. Aber über das Wie und Wann sind Nikodemus und Samuel sehr unterschiedlicher Ansicht. Assa wird den Gedanken nicht los, dass die aufkeimende Feindschaft zwischen seinen beiden Freunden ihn selbst und sein Volk vor harte Belastungsproben stellen wird.

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Impressum

Dietmar Beetz

Oberhäuptling der Herero

Roman

ISBN 978-3-95655-181-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im Verlag Neues Leben Berlin (Band 177 der Reihe „Spannend erzählt“).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

ERSTER TEIL

Warten in Walvisbaai

1

An diesem Tag, dem zwölften seines Aufenthalts hier an der Küste, fuhr der Hererogroßmann Assa Riarua in aller Frühe aus unruhigem Schlaf. Irgendetwas hatte ihn geweckt, ihn aufgeschreckt von seinem unwirtlichen Lager, und nun hockte er geduckt neben dem erloschenen Feuer und lauschte.

Nichts. Die Nacht, die sich im Osten schon lichtete, war still, still und kühl. Nur das Rauschen des Ozeans drang herüber, gleichförmig wie der Nebel, der stets gegen Morgen vom Wasser herankroch.

Dort aber, wo die grauen Streifen über dem Kamm einer Düne schwebten — vom Lagerplatz keine zehn Schritt entfernt —, stand dort auf gespreizten Beinen, mit struppigem Fell, die Zähne fletschend, nicht Ohakane, die reißende Hyäne?

Assa tastete auf dem kalten Sand nach seinem Gewehr, packte den Schaft, riss die Waffe an sich und schoss. Im selben Moment verschwand das Wesen, als tauche es unter im schlierigen Dunst. Nur die Laute, die dem Knall des Schusses folgten —verebbendes, höhnisches Gelächter —, dieses Keckern bestätigte Assa, dass er nicht geträumt hatte, nicht von einem Trugbild aus Nebel und Dämmer genarrt worden war.

Er zweifelte dennoch, lauschte wieder und spähte, vor Kälte zitternd. Außer dem Raunen der Brandung, die weit draußen vor der Bucht sich brach, war nichts zu hören, und auch der Anblick der Dünen, die sich fahl im wachsenden Frühlicht wellten, blieb unverändert. Die Sterne waren bereits verblasst.

Assa stand auf, schüttelte Sand aus der Kleidung und schlug die Arme um den Leib, lud das Gewehr und lehnte es zurück an den Felsbrocken. Und stockte, schaute sich um.

Onguvi, sein Begleiter, war verschwunden, die andere Kuhle leer, wieder einmal verlassen, das Feuer, das Onguvi in dieser Nacht zu unterhalten hatte, bestimmt schon seit Stunden erloschen.

Na warte! dachte Assa. Komm mir nur zurück aus dem Kral oder von den Zollbaracken! Diesmal werd ich ...

Er brach ab, von Angst erfasst. — Vielleicht war Onguvi doch ein Ozonganga, ein böser Zauberer? Vielleicht hatte er sich in Ohakane, die Hyäne verwandelt, um Assa zu narren oder ihn zu reißen; vielleicht war das ein heimtückischer Streich? Oder war es am Ende ein Anschlag im Auftrag von Maharero?

Assa schüttelte den Kopf, als könne er so Argwohn und Ängste verscheuchen. Vergebens. Die Beklemmung blieb, und hinzu kam die Furcht vor Spott, die Sorge, er habe sich durch den Schuss eine Blöße gegeben und stehe bald vor ganz Walvisbaai als Feigling da.

Er trat auf die Patronenhülse, drückte sie tief in den Sand. Danach erst schlich er, der Nacken starr, im Ohr noch das höhnische Keckern, zur Düne, wo die Hyäne gelauert hatte.

Es war jetzt so hell, dass er in der Ferne den Kirchturm und die Dächer der Baracken erkennen konnte, und dann sah er im geriffelten Sand auch die Spur, den Abdruck einer Tatze — dahinter weitere Vertiefungen, dicht wie ein Trampelpfad.

Ohakane! Hier hat sie das Lager umschlichen, hier zum Sprung angesetzt. Was ließ sie zögern, was alarmierte mich? War sie zu schwach und sich ihrer Beute nicht sicher, oder hat Ndjambi Karunga mich beschützt und ein Unglück verhindert?

Assa Riarua dankte dem Gott im Himmel und gelobte, sich besser gegen Unheil zu wappnen. Künftig wollte er noch mehr als bisher auf der Hut sein, allen Gefahren wachsam begegnen, vorsichtig und voller List. Das würde auch Mukuru, den Geist der Ahnen, günstig stimmen.

In Gedanken war Assa zurück zur Feuerstelle gestapft. Nun bückte er sich und scharrte, erst unschlüssig, dann eifrig, den angekohlten, längst erkalteten Dung auseinander. Das war seine Vergeltung, war, wie er meinte, Hinweis und Kritik in genau angemessener Weise: Onguvi, der Unheimliche, würde erkennen, dass seine Nachlässigkeit bemerkt worden war, aber keinen Grund haben, allzu erzürnt zu sein.

Gelächter ließ Assa einhalten — Gelächter, höhnisch wie das Keckern der Hyäne. Auf dem Kamm der Düne, im Rücken das Rot der aufgehenden Sonne, stand Onguvi, der Kahlköpfige, die Hände in die Hüften gestemmt, vom Lachen geschüttelt.

„He, Riarua, was treibst du dort? Suchst du im Mist nach Diamanten?“ Und er schlug sich auf die Schenkel, lachte krächzend.

Assa schluckte und schwieg, schwieg und blinzelte. Scham und Kränkung aber trafen ihn erst beim zweiten Blick, flammten auf unter der Täuschung im Gegenlicht, einer Vision: Er glaubte vor sich auf der Düne Samuel zu erblicken, Samuel, den Sohn des Oberhäuptlings Maharero, seinen zwielichtigen Freund und Auftraggeber, glaubte ihn zu hören.

Assa, alter Narr, wolltest mal wieder besonders schlau sein: den Kahlkopf zurechtweisen, aber nicht erzürnen, Mukuru besänftigen und zugleich mit einem Ozonganga auf gutem Fuß stehn. Du musst dich entscheiden, Riarassa, Freund, entweder — oder; es gibt nichts dazwischen.

Die Vision verflüchtigte sich, ging unter im krächzenden Gelächter, und Assa, beschämt und verärgert, richtete sich auf.

Gab es wirklich nur den einen Weg oder den anderen: mit Samuel gegen Nikodemus, ihren einst gemeinsamen Freund, oder mit Nikodemus gegen Samuel?

„He, wach auf, Riarua, such weiter! Im frischen Mist musst du scharren, im frischen, dampfenden Mist!“

„Schweig, Kahlkopf! Ein Wort noch ...“

Das Gelächter brach ab, und die wankende Gestalt erstarrte augenblicklang. „He, he, Riarua, weshalb auf einmal so unfreundlich?“

„Das Feuer ist aus, seit Stunden! Glaubst du, ich wache die eine Nacht, damit du’s warm hast, und will die nächste frieren?“ Onguvi kratzte sich auf dem lichten, nur noch von ein paar Haarbüscheln bedeckten Schädel und gähnte. „Bist ja zum Glück nicht erfroren. Siehst sogar mal munter aus. Ich dagegen ...“

Er riss wieder den Mund auf, der zahnlos war — ein seltener Anblick bei einem Herero, selten und unheimlich wie der eigenartige Haarausfall, wie alles an diesem Mann, der jetzt gähnend und wankend die Düne herabkam.

Assa wich zurück. „Du bist ja betrunken!“

„Du merkst aber auch alles, Riarua. Bist ein richtiger Schlaukopf.“

„Und du, Onguvi ...“ Assa zögerte und wagte es dann doch. „Du bist wie Ohakane, die Hyäne: unersättlich und ...“

Er brach ab; denn Onguvi schnaufte und lachte höhnisch. „Ohakane! Du mit deinen Vergleichen, mit deiner Märchenwelt! Eine Hyäne ist ein Raubtier, ein Wesen wie jedes andere auch. Sie frisst, weil sie Hunger hat, bis sie satt ist; und ich — verdammt! —, ich saufe halt, weil ich Durst habe, und — bis die Schmerzen weg sind.“

Er blinzelte Assa herausfordernd an — schwimmend die gelblich verfärbten Augäpfel, unsicher, wankend der Stand — und winkte plötzlich ab.

„Was versteht davon schon einer wie du? — Assa, Sohn des Feldhauptmanns Riarua, Söhnchen!“

Das war zu viel: Der Kerl — selber kaum älter als er, fünfunddreißig vielleicht —, der wagte es, ihn „Söhnchen“ zu nennen, ihn, einen Großmann der Herero! Ob er neidisch war auf diese Würde oder auf das Amt des Vaters, neidisch und deshalb so gehässig?

„Du Laus!“, versetzte Riarua. „Gerade du hast Grund, dich hier zu spreizen! Erst zu den Engländern kriechen, die Ovirumbu anbetteln um Schnaps, und dann große Töne spucken!“

Onguvi, der sich schon abgewandt hatte, müde, mit hängenden Schultern — Onguvi fuhr herum, und wieder fürchtete Assa, einem Ozonganga gegenüberzustehen, einem gereizten, blindwütigen Ozonganga.

„Ich bettle nicht!“, stieß er hervor. „Mein Freund, der Mister vom Zoll, hat mich bewirtet.“

Ein Mister — sein Freund! dachte Assa, doch zog er es vor zu schweigen.

„Er achtet mich!“, trumpfte Onguvi auf. „Er plaudert mit mir, schenkt mir ein ...“

„Und horcht dich aus!“ entschlüpfte es Assa. „Begreifst du denn nicht, dass auch dein Mister nur ein Otjirumbu ist? Die Ovirumbu —  egal, ob Deutsche, Buren oder Engländer — plaudern nicht mit unsereinem, plaudern nie mit einem Herero zum Spaß. Es sei denn zu ihrem eigenen Vergnügen.“

Er verstummte, verwirrt durch das Lächeln, das Onguvis zahnlosen Mund in die Breite zog. „Riarua, wie dumm du doch bist, wie einfältig! Glaubst du wirklich, ich ließe mich aushorchen — egal, von wem? Ist dir noch nie die Idee gekommen, ich könnte selber Augen und Ohren aufsperren, überall, auch dort drüben?“

Assa schaute ungläubig und schlug dann den Blick nieder. Und sah im nächsten Moment überrascht wieder auf.

„Übrigens“, hatte Onguvi gesagt, „weiß ich seit letzter Nacht die neuste Neuigkeit. Von meinem Freund, dem Mister — Otjirumbu.“

Das Schimpfwort in diesem Zusammenhang, der stolze, herausfordernde Ton — das alles verwirrte Assa.

„Und was“, fragte er, „was wäre diese Neuigkeit?“

Onguvi genoss den Triumph, grinste und gähnte, gähnte und streckte sich in der schräg einfallenden Sonne am Fuße des Felsbrockens aus.

„Na was? Red endlich!“

„Du wirst’s schon noch früh genug erfahren. Lass mich jetzt schlafen!“

2

Als Assa zurückkam, schlief Onguvi noch immer. Er lag zusammengerollt auf der Seite, und die Sonne, die inzwischen gestiegen war, brannte ihm auf Nacken und Hinterkopf. Über dem einen Augenwinkel kreiste eine schillernde Fliege.

Assa verscheuchte das Insekt und betrachtete eine Weile nachdenklich den Schläfer. Die Brust bewegte sich flach im Rhythmus der Atemzüge, und der zahnlose Mund wirkte eingesunken wie ein Trichter. Dürftig die abgetragene Kleidung, bedürftig der ganze Mensch.

Ein armer Hund, dachte Assa. Wie er so daliegt, traut man ihm keinerlei Untat zu. Vielleicht ist er gar kein Ozonganga; vielleicht stimmt das andere Gerücht, und er hat die europäische Seuche? — Ob auch ein Ozonganga die Otjiuavua bekommen kann?

In das Mitleid, das Assa empfand, mischte sich Abneigung, und wieder erwachte die alte Furcht. Er wagte es nicht, Onguvi zu wecken, obwohl er neugierig war, begierig, jene Nachricht zu erfahren. So verharrte er unschlüssig und nahm schließlich das feuchte Tuch von der Schulter.

Er hatte sich abgetrocknet damit vor zwei, drei Stunden am Strand. Wie jeden Morgen, seit er hier war am Seehundsplatz, dem Walvisbaai der Ovirumbu, hatte er sich im lauen Wasser einer Lagune gewärmt und gewaschen — ein Genuss nach der nächtlichen Kälte.

Tagsüber wurde es brütend heiß. Schon jetzt standen ihm Schweißtropfen auf der Stirn, und Onguvi erging es ähnlich. Assa breitete das Tuch aus und befestigte es so am Boden und am Felsbrocken, dass der Schläfer im Schatten lag.

Behalt deine Neuigkeit meinetwegen für dich! dachte er. Groß scheint sie sowieso nicht zu sein. — Falls es überhaupt eine Neuigkeit gibt.

Assa zweifelte daran, doch war er sich seiner Sache nicht sicher. In Walvisbaai, dem Ort, wohin er nach dem Bad gegangen war, hatte er weder etwas erspäht noch etwas aufgeschnappt, zumindest nichts Außergewöhnliches. Das Dutzend Häuser rings um die Kirche, die Baracken, die Lagerschuppen am Wasser — das alles war ihm erschienen wie stets in der Frühe: frostig und unfreundlich wie die herumlungernden Hafenarbeiter und die wenigen weißen Passanten.

Allenfalls hatte der allgemeine Verdruss noch zugenommen — kein Wunder, war das Schiff vom Kap doch bald zwei Wochen überfällig.

Auch die Männer am Ochsenwagen, die Wächter und der Koch, die auf der Landzunge lagerten und Ausschau hielten wie Onguvi und Assa hier vom Felsbrocken aus — auch sie wussten offenbar nichts von einer Neuigkeit.

Assa, Großmann und ihr Gebieter, erkundigte sich wohlweislich nicht direkt. Wie immer, wenn er zum Frühstück kam oder einer der drei das Essen her zum Felsen brachte, ließ er sich berichten, ließ plaudern und plauderte mit und fragte nur im äußersten Fall, so heute, zwischendurch einmal: „Sonst nichts?“

„Nein, Herr, nichts. Nur …“ Der Koch, gesprächiger als die beiden anderen, zögerte, bevor er hinzufügte: „Nur dass der Kahlkopf wieder mal eine Menge — Medizin geschluckt hat.“

Assa überging diese Anspielung. Es war nicht seine Art, über einen Widersacher zu tratschen, und er wollte die Abneigung gegenüber Onguvi nicht noch schüren.

„Ihr müsst mit ihm auskommen“, hatte Samuel Maharero gesagt. „Er ist der beste Führer, den wir haben; kein anderer Herero war so oft wie er am Seehundsplatz.“

Der beste Führer, fragte sich Assa jetzt, oder — das Ohr des Maharero, der Arm des Oberhäuptlings?

Er schüttelte den Kopf, schob den Verdacht, der sich aufdrängte, beiseite. Und wurde dann doch, als er im Schatten des Felsens lag und Ausschau hielt, erneut überfallen von Zweifeln, von Befürchtungen.

Die Bucht und die See waren, so weit er blicken konnte, glatt und leer, und von Land her, von den Sandmassiven, wallte es warm wie aus einem Kral. Die Luft über dem Wasser flimmerte, und die Hitze schläferte ein, und in dieser Schwebe aus Dämmer und Wachsein rückte alles, was Assa seit Langem beschäftigte, wieder in greifbare Nähe.

Da war noch einmal jener Tag im Kombundu, im Nebelmonat August, ein Tag vor fast einem halben Jahr. Damals wurde offenkundig, dass die Freundschaft zwischen Samuel und Nikodemus zerbrochen war und umgeschlagen in Feindschaft.

Auch Assa — beider Freund von Kindesbeinen an und seit Jahren Beschwichtiger, Vermittler, Schlichter —, auch Assa musste sich das damals eingestehen; Nikodemus zwang ihn dazu.

An jenem Tag kam er in den Pontok, die Rundhütte, von Assa und setzte sich ans qualmende Feuer. Düster war sein Gesicht; er hockte in brütendem Schweigen.

„Was bedrückt dich, was macht dir das Herz schwer?“

„Ich muss fort, Assa, weit weg. In seinem Auftrag, seinem — Befehl!“

„Sicher hat er nur im Namen des Rates gesprochen oder nur im Namen Mahareros …“

„Nur?“ Nikodemus biss die Zähne zusammen und stieß dann hervor: „Ist das nicht Anmaßung genug? Nachfolger bin ich; die Würde des Oberhäuptlings steht mir zu!“

„Als ob ich das nicht wüsste; als ob das nicht klar war! — Lass ihn doch, solange der Alte noch lebt, ein wenig posieren; er macht das halt gern. Ist die Zeit erst heran, erbst du die Würde, und er fügt sich dem Gesetz der Ahnen; im Grunde ist er bestimmt nicht schlecht.“

„Versuch nicht, mich schon wieder zu beschwichtigen!“

Nikodemus war aufgesprungen und lief nun, den Kopf eingezogen, im niedrigen, raucherfüllten Pontok auf und ab. Mal sah Assa drei Schritt lang den kräftigen, gebeugten Nacken, mal drei Schritt lang das von den Flammen angestrahlte Gesicht, von dem jede Regung ablesbar schien.

„Hast du Angst?“, fragte er.

Nikodemus stockte, wandte sich ab. Und fuhr plötzlich herum. „Ja, ich hab auch Angst! — Angst, ihm in die Falle zu gehn, unterwegs irgendwo umzukommen und Platz zu machen für ihn und für die Fremdlinge, die uns bedrängen. Sich vorzustellen, dass er den Pakt mit den Deutschen erneuert, dass er diese Ovirumbu ins Land lässt, statt sie zu vertreiben, zu töten, zu vernichten!“

Er verstummte, und Assa dachte: Die alte Wunde, der Hass auf den Wanderhändler, der ihm die Liebste weggenommen hat. Nun sind für ihn ein paar Deutsche gefährlicher als Witbooi und alle Hottentotten. Und dann gleich vernichten!

Die Miene des Freundes aber verriet echte Besorgnis, und so sagte Assa besänftigend: „lass nur! Die Häuptlinge und wir vom Rat der Großleute — wir passen schon auf.“

„Möge der Geist der Ahnen euch bestärken!“, erwiderte Nikodemus ernst und salbungsvoll wie ein Missionar.

„Amen!“, fügte Riarua hinzu.

Der Freund schien den Spott nicht zu bemerken. Wieder lief er hin und her — bald den Rücken, bald das Gesicht im zuckenden Schein der Flammen. Bis er unvermittelt stehen blieb und — der Blick schon abwesend — die Hand zum Abschied hinhielt.

Da erst erkundigte sich Assa: „Wohin geht eigentlich deine Reise?“

Seufzend antwortete Nikodemus: „Weit weg vom Hereroland, in den Süden, durchs Gebiet der Buren zu den Engländern ...“

„Und weshalb? Was ist dein Auftrag dort unten?“

„Waffen besorgen“, gab Nikodemus mürrisch zur Antwort. „Zehn Herden unserer besten Ochsen eintauschen gegen Gewehre und Munition.“

„Eine wichtige Mission“, Assa war überrascht, „ein äußerst ehrenvoller Auftrag! Ich versteh nicht, was dich daran stört, weshalb du nicht stolz bist. Du kannst eine der Voraussetzungen schaffen für den weiteren Orlog gegen Witbooi! Und natürlich auch gegen die Deutschen, sobald die Zeit dafür heran ist.“

Nikodemus schüttelte langsam den Kopf. „Ja, begreifst du denn nicht, dass es ihm nur um die eigene Macht geht, um die Herrschaft über alle Herero? — Freilich könnten wir Waffen, wenn wir sie erst einmal hätten, gegen unsere Feinde richten; aber bist du dir sicher, dass er den Befehl dazu gibt, falls es ihm gelingt, die oberste Befehlsgewalt an sich zu reißen?“

„Du bist zu misstrauisch, Nikodemus, und vergisst unseren Einfluss.“

„Nein, Assa, ich durchschaue ihn bloß schärfer denn je, und habe kein Vertrauen mehr zu ihm und zum Alten, seinem Vater. Glaub mir, ich weiß, was die planen, worauf sie hoffen: Dass ich versage oder dass mir was zustößt. Komm ich um, ist der Weg für ihn frei; komm ich mit leeren Händen zurück, ist mein Ansehen untergraben.“

„Was gibt’s schon ohne Risiko?“, erwiderte Assa unwillig. „Du machst dich doch wohl nicht allein auf den Weg, nicht schutzlos, und außerdem hättest du den Auftrag ja ablehnen können.“

„Ablehnen und dastehn als Feigling?“ Nikodemus fuhr mit der Faust durch die Luft, und an seinem kräftigen Kinn zuckten die Muskeln.

Assa senkte den Blick und schwieg. Es stimmte schon, wie schwer das Eingeständnis auch fiel: Samuel war verschlagen wie Ombungu, der Schakal, und unbeständig, unberechenbar wie Esembi, das Chamäleon. Wer konnte behaupten, ihn zu kennen, wer, selbst nach Jahrzehnten der Gemeinsamkeit? Vielleicht wollte er tatsächlich seinem Rivalen und einstigen Freund eine doppelte Falle stellen. Oder steckte hinter allem Maharero Katjamuaha, der Alte?

Tage nach dem Abschiedsbesuch brach Nikodemus auf. Krieger gaben ihm das Geleit, und es folgten ihm Hirten und Herden — über dem stampfenden, brüllenden Zug Wolken aus Staub, die erst Stunden später in der flimmernden Ferne schwanden.

Und dann wurde es still in Okahandja, der Hauptwerft des Oberhäuptlings der Herero, still um Nikodemus und seine Kolonne, die stetig südwärts zog, durch feindliches Land: vorbei an den Werften der Witboois und anderer Nama, vorbei an Pfaden der Buschleute, der Bergdamara, über den Oranjefluss, durch Siedlungsgebiet von Buren, Nachkommen holländischer Einwanderer, und weiter, immer südwärts, dem Kap zu .:.

Der Mond wurde rund und wieder schmal, wechselte viermal solcherart seine Gestalt, bevor endlich ein Großteil der Hirten und Krieger zurückkam mit einer Botschaft, einem Bericht.

Da neigte sich bereits das Ojongamero, das Jahr des Kamels, benannt nach jenem Tier, auf dessen Rücken der Hauptmann der deutschen Truppe während der Regenzeit unweit von Okahandja erblickt worden war: In der Zeitrechnung der Missionare das eintausendachthundertneunundachtzigste Jahr nach Christi Geburt.

Damals, im kargen Dürremonat Dezember, am Tag nach der Rückkehr der Hirten und Krieger, kam Samuel in Assas Pontok. Überraschend trat er ein, unverhofft wie Monate vorher Nikodemus und doch anders als sein einstiger Freund: nicht so düster, nicht in brütendem Schweigen.

„Sei gegrüßt, Assa, Sohn des Feldhauptmanns Riarua! Wir haben lange nicht mehr miteinander geplaudert, ja kaum noch einander gesehn. Wie geht’s dir? Was machen Kukura und die Kinder? Bekommt ihr nicht wieder Nachwuchs?“

Assa nickte, von Stolz erfüllt, und erwiderte: „Danke, Samuel, Sohn des Maharero. Hab Dank für den Gruß, für die Nachfrage und für deinen Besuch! Wie geht es dir und den Deinen? Seid ihr alle gesund?“ '

„Danke, Assa, es geht uns gut. Aber weshalb so förmlich? Ich darf mich doch setzen?“

Assa beeilte sich, die Bitte nachzuholen; Samuel winkte ab und nahm Platz.

Auf seinem Gesicht zuckte nun der Schein des Feuers, doch wirkte er weiterhin gelassen und ruhig — auch darin anders als Nikodemus Monate vorher. Dabei schwieg er gleichfalls — eine stumme Aufforderung an Assa.

„Ich freu mich wirklich, dich wieder einmal in meiner Hütte begrüßen zu können. Wir haben uns tatsächlich kaum noch gesehn — außer im Rat wie gestern. Kommst du wegen der Nachricht von Nikodemus?“

Samuel seufzte. „Es stimmt, Assa; leider bleibt uns immer seltener Zeit für ein wenig Geplauder. Die verdammten Geschäfte, die ich für meinen Vater führen muss!“

Er stand auf dabei, eher müde als heftig, und begann auf und ab zu laufen, federnd, scheinbar geduckt.

Ombungu, der Schakal, dachte Assa, und er sagte: „Aber diesmal stehen die Geschäfte doch günstig; die Botschaft von Nikodemus konnte nicht besser sein. Beim nächsten Vollmond, noch vor der Regenzeit, trifft er ein am Seehundsplatz!“

„Das ist es ja!“, rief Samuel, und er stockte.

Also doch! dachte Assa. Esembi, das Chamäleon, verrät sich: wird fahl vor Neid, vor Wut, weil sein Widersacher Erfolg hat, weil er noch lebt.

Im nächsten Moment schon schämte sich Assa und fühlte sich verwirrt. Sollte die Verdächtigung von Nikodemus grundlos sein? War Samuel über solche Machenschaften erhaben, ja sogar um das Wohl seines Rivalen besorgt? Und wie redlich meinte es Maharero, der greise Oberhäuptling?

„Hör zu, Assa! Ich habe mich wie jeder im Rat über die Nachricht gefreut, aber richtig froh kann ich erst sein, wenn die Waffen hier in Okahandja sind. Du kennst die Gefahren, weißt so gut wie ich, dass Witbooi versuchen wird, den Transport zu überfallen. Und dann die Deutschen, die Ovirumbu! Was hat es genützt, ihr Papier zu zerreißen und den dicken Gesandten ihres Kaisers zu vertreiben? Sie sind zurückgekommen, besser gerüstet, stärker als vorher, mit einem Hauptmann, der sich auf einem Kamel bis vor unsere Werft wagt!“

Er fuhr mit der Faust durch die Luft und verstummte, jetzt finster wie Nikodemus, und lief in gleicher Weise hin und her — drei Schritt zur hausratbehangenen Lehmwand, drei zurück zu den Fellen neben der Feuerstelle.

„Setz dich doch!“, bat Assa, bedrückt von der Erinnerung an das Gespräch mit dem anderen Freund. „Ich denke, wir wollen ein wenig plaudern?“

„Was tun wir sonst?“, erwiderte Samuel, und während er wieder Platz nahm, fügte er wehmütig-spöttisch hinzu: „Natürlich, plaudern wie früher beim Honigbier — schön wär’s!“

Assa nickte versonnen.

Und zuckte zusammen; denn Samuel knuffte ihn, dass er beinah umkippte.

„Hol’s der Teufel, wir werden schon wieder plaudern, solange der Himmel blau ist! Und wenn er dunkelt, steigen wir wie früher den Mädchen nach — was, Riarassa?“

„Schön wär’s, Uereani, zu schön!“

Wann hatte er zuletzt Samuels alten, halb vergessenen Hereronamen ausgesprochen? Und er selber — seit wann wurde er nicht mehr „Riarassa“ gerufen, mit jenem spöttischen Kosenamen, den nur Samuel und Nikodemus benutzten? War es besser damals, als sie noch nicht diese Taufnamen trugen, noch Uereani, noch Katonje hießen?

„Tja, Assa“, sagte Samuel in verändertem Tonfall, „bevor die alten Zeiten auferstehen, brauchen wir Waffen, zunächst mal die Gewehre und die Munition, die Nikodemus am Kap besorgt hat.“

Er legte eine Pause ein, und Assa dachte: Kein abfälliges Wort über Nikodemus bisher, aber auch kein Lob ...

„Waffen“, fuhr Samuel wie in Gedanken fort, „und später einen neuen Feldhauptmann. Er wird künftig der wichtigste Herero sein. Der wichtigste nach dem Oberhäuptling.“

Er schaute, die Lider schmal, lauernd herüber, und Assa senkte den Blick. — Diese Andeutung! Eine Falle, ein Lockmittel? „Was hast du vor, Samuel? Was soll ich dabei? Du plauderst doch nicht zum Spaß mit mir!“

Er blinzelte nur augenblicklang. „Erraten, Assa. Wir müssen Nikodemus abholen, mit einem Wagen zur Küste trekken und den Transport sicher heimgeleiten.“

„Wir?“ Es klang argwöhnischer, als er beabsichtigt hatte.

„Ich möchte dich, Assa, darum bitten — dich, unseren gemeinsamen Freund. Im Namen des Oberhäuptlings.“

Er hatte „bitten“ gesagt und „Freund“, „unseren gemeinsamen Freund“, hatte Nikodemus also einbezogen!

„Da muss ich mich aber beeilen!“, entschlüpfte es Assa. Und weniger eifrig, nicht so verräterisch erleichtert fügte er hinzu: „Bis zum nächsten Vollmond mit dem Ochsenwagen an die Küste, zum Seehundsplatz ...“

„Ja, ihr müsst schon morgen lostrekken und dürft auch unterwegs nicht trödeln.“ Und indem er aufstand und sich zur Türöffnung wandte, sagte er: „Zum Glück kennt Onguvi die Pad wie kein anderer; mit seiner Hilfe werdet ihr’s schaffen.“

„Onguvi? Der Kahlkopf?“

Samuel berührte beschwichtigend Assas Arm. „Ein unsympathischer Kerl, ich weiß. Aber ihr müsst mit ihm auskommen. Er ist der beste Führer, den wir haben; kein anderer Herero war so oft wie er am Seehundsplatz. Außerdem hat es Maharero so bestimmt.“

„Trotzdem, Samuel, ich mag Onguvi nicht. Er ist mir — nicht ganz geheuer.“

„Hast du Angst? Hältst etwa auch du ihn für einen Ozonganga?“

„Ich? Nein! Nur ... die Haare, die Zähne, alles an ihm …“

„Das hat die Otjiuavua gemacht. Er ist, wenn du so willst, ein Opfer der Ovirumbu und verdient unser Mitleid.“

„Aber keiner kann ihn leiden; alle verabscheuen ihn! Das geht nicht gut, Samuel; das gibt Ärger mit den Ochsentreibern! Bitte, Samuel, bestimme einen anderen!“

„Ich kann es nicht, Assa; wir haben keinen Besseren. — Mann, begreif doch: Es kommt auf den Erfolg an! Nur Onguvi garantiert uns, dass diese Sache gelingt. Er und du! Wir brauchen euch beide: ihn als Führer und Verhandler und dich als Gebieter über alle, auch über ihn; er hat dir wie jeder andere zu gehorchen.“

„Der und gehorchen!“

„Das liegt bei dir, Assa Riarua! Ja glaubst du denn, unsereins kann sich die Leute aussuchen? Niemand kann das. Weder der Oberhäuptling noch sein Feldhauptmann beispielsweise. Keiner! Wir alle müssen die Menschen nehmen, wie sie sind, und sie verändern, unterwerfen, formen ... Verstehst du?“

Er sieht sich tatsächlich schon als Oberhäuptling und möchte mich ködern, dachte Assa.

Finster erwiderte er: „Da verzichte ich lieber auf jedes Amt und auf alle Würden.“

Samuel blieb unbeeindruckt. „Auch auf die Waffen und die Sicherheit von Nikodemus?“, fragte er. „Ist dir auch das alles gleichgültig?“

Assa schwieg und senkte den Blick.

„Bitte, Riarassa, geh, trekk los und hol die Waffen! Und bring Katonje heil nach Haus!“

Die Waffen und Katonje, Katonje und die Waffen ..., so dachte er.

„Ich brauch dich, Riarassa. Bitte, stimm zu! Deine Besonnenheit in Gefahr, deine Fähigkeit, zu vermitteln, zu schlichten —diesmal sind sie unersetzlich.“

Das Lob, karg, genau bemessen, dicht neben dem üblichen Tadel — damals hatte es den Ausschlag gegeben, den letzten Anstoß.

Jetzt aber, Wochen später, Walvisbaai vor Augen und im Ohr Husten und Krächzen vom Fuße des Felsens — jetzt fragte sich Assa Riarua: War ich wirklich der einzig Geeignete für diese Aktion?

Ein Verdacht schreckte ihn auf, abstoßend wie die Geräusche, die sich verstärkten: Sollte der da unten einen besonderen Auftrag haben, zusätzlich zu seiner Aufgabe als Führer und Verhandler? Der einfältige Riarassa — verantwortlich für die Sicherheit von Nikodemus. Und die Kreatur Onguvi — mitgeschickt für einen günstigen Moment unterwegs, für die letzte Gelegenheit, den Rivalen loszuwerden.

Assa sprang auf.

Da brach das Krächzen, Husten, Spucken ab. „Riarua, hast du was zu trinken hier?“

„Bin ich dein Diener?“

Ein Grinsen zog den zahnlosen Mund in die Breite; Onguvi deutete eine Verbeugung an und riss dabei das Tuch, das ihn vor der Sonne geschützt hatte, scheinbar zufällig ab.

„Nein, Herr, Untergebener bin natürlich ich! Du bist — mein Gebieter. Sag mir, Großmann Riarua, was ich tun soll, wenn dann die Deutschen kommen!“

„Die Deutschen?“, entfuhr es Assa.

„Ja, weißt du denn noch immer nichts davon, Gebieter und Großmann Riarua?“

Assa schluckte. „Lass gut sein, Onguvi! War das deine Neuigkeit? Wann kommen sie? Und weshalb?“

Statt zu antworten, spuckte er aus, trat auf das helle, noch saubere Tuch, schleifte es ein Stück mit und schlurfte davon. „Wohin? He, Onguvi, was hast du vor?“

„Saufen, was sonst? Mich noch mal besaufen, bevor sie kommen, bevor es losgeht.“

3

Sie kamen erst spät am Nachmittag, als die Sonne schon blutrot zum Horizont sank, zum Wasser, das noch immer still war, still, glatt und gleißend.

Ihre Kolonne kroch auf dem Baiweg heran, von Norden, vom Swakop her, von dort, wo sich der Fluss — zwischen den Regenzeiten nur ein sickerndes, brackiges Rinnsal — in der donnernden Brandung verlor, wo oft selbst tagsüber der Nebel kalt und zudringlich auf den Dünen lag, wo das Gebiet, das der deutsche Kaiser zu schützen vorgab, zusammenstieß mit dem Küstenstreifen um Walvisbaai, den die britische Kolonialmacht besetzt hielt.

Wahrscheinlich waren sie schon während der Nacht aufgebrochen in Swakopmund, vielleicht seit gestern Abend unterwegs gewesen auf der letzten Strecke hierher, zum einzigen größeren Hafen von Südwestafrika. Nun näherten sie sich der Siedlung, so schien es Assa, wie müde Krieger, die gezwungen sind, in einem feindlichen Kaff Quartier zu beziehen: schlaff — die Schultern in der erdbraunen Montur, nickend die Köpfe mit den breitkrempigen Hüten. Wie eine Rauchfahne über einer Brandspur folgte ihrem Zug ein Schweif aus Staub und feinkörnigem Sand.

So ritten sie vorbei am Felsen, wo Assa wie ein Späher auf Vorposten lag. Er sah die Gewehre, sah die verschwitzten, die finsteren Gesichter, ja selbst die Schnurrbartspitzen, roch den Schweiß der Pferdeleiber, spürte beinah die Schmitzen der Peitschen, mit denen die Bambusen, einheimische Treiber, unter Geschrei die Ochsen vor den schaukelnden Wagen in Gang hielten ... Ihn selber bemerkte offenbar keiner.

Was wollen sie hier? fragte er sich. Zwei Ochsenwagen und dreizehn schwer bewaffnete Reiter — Geleitschutz für einen eigenen Transport oder eine Abteilung, die unsere Waffen beschlagnahmen soll? Ob sie mit den Engländern, ihren Rivalen, jetzt gemeinsame Sache machen?

Kaum war der letzte Ochsentreiber vorbei, glitt Assa vom Felsen herab. Sein Ausguck, von den anderen Herero belächelt, vielleicht sogar als Zuflucht durchschaut, als Stätte, wo ihr Gebieter sich vor den Attacken Onguvis in Sicherheit bringen konnte — heute bewährte er sich doppelt: von dieser Warte aus tauchte Assa gleichsam ein in den Schweif des Zuges, folgte ihm im Schutz des Staubes dicht hinter den Bambusen, hustend wie sie, und horchte auf jeden Ruf, jeden Laut.

Zunächst drang durch das Geflimmer nur Treibergeschrei, heiser, aufgeheizt von der Aussicht auf Rast. Dazwischen das Knarren der Räder, das Mahlen und Stampfen im Sand, das Schnaufen, Keuchen ...

Plötzlich ein Kommando: „Achtung!“

Assa verstand den Befehl, da ihm von seiner Schulzeit bei den Missionaren her ein paar Brocken Deutsch noch geläufig waren, und er erinnerte sich auch an den Sinn der Worte „Haltung“ und „zeigen“, die er jetzt hörte. Den Rest überschwemmten die Geräusche, die sich verstärkten, als habe jenes „Achtung!“ sie aufgescheucht und angefeuert; Geschrei und Gebrüll von Treibern und Ochsen schwollen zu einer Woge an.

Da erschienen bereits hinter dem rötlichen Staubnebel drüben am Wasser die Lagerschuppen und links davon, auf der sanften Anhöhe, die ersten Häuser — davor, beiderseits des zerfurchten Weges, Gaffer, hellhäutige und schwarze. An der Gestalt und den Gesten erkannte Assa Onguvi und dann, in einigem Abstand von ihm, auch den Koch und die beiden Wächter.

Sie haben’s mitgekriegt und sind vor mir da — klar, von der Landzunge aus! Den Wagen in Stich lassen und vielleicht noch frohlocken: Wir waren schneller!

Finster verließ Assa den Schutz der Kolonne und trat zu seinen Leuten.

„Herr, die Ovirumbu — hier? Jetzt?“

Der Koch schaute ihn fragend an, fragend und ängstlich, und auch die anderen zwei blickten furchtsam und erwartungsvoll. Schräg über die Gasse, zwischen Reitern und Gaffern, kam wankend Onguvi herüber.

Auch der noch! dachte Assa. Was ihnen sagen? Wie sie beruhigen?

Vorerst wurde er einer Antwort enthoben; wieder erscholl ein Kommando, und alle erstarrten.

Schweigend, beinah reglos, standen die Versammelten, ausgerichtet die Reiter auf müden, schweifwedelnden Pferden, krumm und ein wenig bucklig die Reihe der Gaffer. An der Spitze der Truppe reckte sich der deutsche Hauptmann, jener, der auf dem Kamel geritten war; er hielt den Blick auf einen Mann gerichtet, offenbar einen hohen Beamten des Magistrats, der ernst und würdevoll auf ihn zuschritt.

Und da, als der Beamte stehen blieb und der Hauptmann zur Begrüßung die Hand hob — in diesem Moment, gleichsam auf dem Höhepunkt der Erwartungen, geschah etwas Unerhörtes.

Assa hatte mit Beklommenheit verfolgt, wie Onguvi neben ihn getreten war, und dann den Kahlkopf fast vergessen. Der Dunst von Schnaps erinnerte ihn zwar an den Widersacher, doch waren jetzt andere Gegner erschienen, schwer bewaffnete Feinde, gefährlich und — ja, auch beeindruckend.

Das verblüffte Assa zunächst: die Haltung der Reiter in den Sätteln, die Straffheit nach den Strapazen der Pad. Eben, als sie am Felsen vorbeizogen, wirkten sie noch erschöpft; nun schien die Schwäche überwunden, die Müdigkeit unterdrückt.

Sie beherrschen sich, dachte Assa; sie lassen sich nicht anmerken, wie fertig sie sind. Mit denen wird’s schwerer als mit dem dicken Gesandten. Wie herrisch ihr Hauptmann blickt!

Und plötzlich erinnerte sich Assa an einen anderen Deutschen, an Pastor Büttner, einen Missionar. Der saß zwar nicht hoch zu Ross und trug auch nicht die erdbraune Uniform, doch schaute er genauso gebieterisch drein — damals, vor mehr als zwanzig Jahren, im Augustineum zu Otjimbingwe.

Die Erinnerung an die Schule, die er gemeinsam mit Samuel, Nikodemus und anderen Söhnen von Häuptlingen oder Großleuten besucht, nach einer Wette, einem Streich aber vorzeitig, ungetauft und gezüchtigt verlassen hatte —, diese Erinnerung berührte Assa jetzt anders als sonst, verwirrend. Sollte, so fragte er sich, der Pastor ein Verwandter des Hauptmanns gewesen sein, ein Vorfahr, eine Art Ahn? Die gleiche Haltung, das gleiche Gebaren, die gleiche Handbewegung wie damals, bei der Begrüßung des Inspektors ...

Schon glaubte Assa, er bekomme nun auch Worte wie einst zu hören, da ertönte in der Stille krachend, knatternd anderes: ein durchaus bekanntes, anstößiges Geräusch.

Die Hand, die zur hochgeschlagenen Hutkrempe fuhr, erstarrte.

Im nächsten Moment brach Gelächter los, jäh wie ein Aufschrei und ähnlich kurz. Erst das fast lautlose Lachen, das der Unterbrechung folgte, dem Schreck, als die Reiter das Gewehr von der Schulter rissen und — präsentierten, erst das Lachen danach dauerte länger.

Währenddessen nahm die Begrüßung ihren Lauf: Der Hauptmann schnarrte etwas, und der Beamte erwiderte in gleicher Weise ...

Assa versuchte„den Sinn ihrer Worte zu erfassen. Vergebens. Er hatte Not, nicht loszulachen.

Von den Reitern gegenüber mussten sich offenbar nur drei oder vier beherrschen; ihre Mundwinkel zuckten, und die Augen unter den Hutkrempen blinkten. Die anderen blickten finster herüber.

Und dann schritt der Beamte davon, und der Hauptmann ließ absitzen und wegtreten. Die Reiter führten die Pferde zur Tränke, und die Bambusen spannten die Ochsen aus, um sie fortzutreiben, das ausgetrocknete Bett des Kuiseb hoch, hinter den Kral der Topnaar-Nama, wo seit letztem Vollmond auch das Zugvieh der Herero weidete.

Um Onguvi hatte sich ein Kreis gebildet. Als sich die Kolonne der Deutschen auflöste, umgab ihn schmunzelndes Schweigen; danach erst wurde die Bewunderung laut.

„War das ein Donner!“

„Hast du immer solche auf Vorrat?“

„Du musst in die vorderste Linie, wenn’s zum Orlog kommt!“

„Wenn’s zum Orlog kommt ...“, wiederholte der Koch, und die Heiterkeit erlosch.

Erneut richteten sich die Augen auf Assa, angstvoll, fragend: Herr, was haben die Ovirumbu vor?

Tumult im Hafen

4

Tage später, als die Sonne schon hoch stand, erschien vor der Bucht ein Schiff. Es glitt unter einer Rauchfahne heran, als schwebe es über die glitzernden Schuppen des Meeres, und Assa glaubte zunächst, eine Fata Morgana zu sehen.

Er lag auf dem Ausguck, grübelnd wie Tage vorher, heute nicht minder bedrückt. Seit vorletzter Nacht nahm der Mond wieder zu, und der Regen blieb aus, hielt sich zurück, als warte auch er, als wolle er den Herero auflauern wie Ohakane, die Hyäne, oder Ombungu, der Schakal.

Unsinn! sagte sich Assa. Der Regen ist kein Raubtier, das lauert, obwohl er manchmal genauso wütet; der Regen ist gütig und wird ersehnt. Vielleicht tränkt er bereits die Erde, daheim?

Und Assa stellte sich die Entfernung vor, dachte ein weiteres Mal an den Rückweg, den Treck durch die Wüste, durch Schluchten, über Pässe, über Gebirgsmassive ...

Ombungu und Ohakane sind harmlos, verglichen mit anderen Gefahren unterwegs, anderen Feinden, mit den Witboois zum Beispiel. Oder mit diesen Ovirumbu!

Noch am Abend nach ihrer Ankunft hatte Assa erfahren, weshalb die Deutschen nach Walvisbaai gekommen waren; Onguvi hatte es gewusst.

„Weshalb schon? Wegen Waffen! Wie wir.“

„Wegen — unserer Waffen?“

Der Kahlköpfige schaute ihn an, misstrauisch zunächst. „Willst du dich über mich lustig machen oder mich reinlegen?“

„Ich — dich reinlegen? Wieso?“

„Na, hör mal! Woher sollten sie denn wissen, weshalb wir hier sind? Etwa von mir, über den Mister vom Zoll?“

Assa wich dem Blick nicht aus, ja, es gelang ihm sogar ein gleichmütiger Ton. „Vielleicht, Onguvi …“

Da lachte dieser, höhnisch wie immer. „Und warum passen sie uns nicht ab unterwegs, auf ihrem Gebiet? Glaubst du, sie wissen nicht, dass es nur den einen Weg gibt? — Du, Riarua, gingst vielleicht, ohne zu überlegen, zum Schakal, aber die Ovirumbu sind nicht so schafsköpfig.“

Assa schluckte und dachte: Ein Glück, dass wir unter vier Augen sind! Dumm ist er nicht, im Gegenteil. Das alles hätte ich mir selber sagen müssen.

„Und woher“, fragte er, „weißt du von ihren Absichten?“

Um den zahnlosen Mund begann es zu zucken, und Onguvi erwiderte genüsslich: „Tja, woher wohl?“

„Dein Mister vom Zoll“, sagte Assa rasch, „verrät der das alles — einfach so?“

,Einfach, Riarua — was ist schon einfach?“

„Ich meine, musst du nicht manchmal auch ihm was — sagen?“ Die Antwort traf wie ein Schlag auf dieselbe Stelle. „Nur Schafsköpfe blöken und blöken, ohne hinzuhören, oder kriegen das Maul nicht auf. Ich, Riarua, plaudere mit dem Mister. — Falls du verstehst ...?“

„Ich versteh schon, Onguvi; ich habe verstanden.“ Und zögernd, unter Überwindung, dankte er für die Auskunft.

Onguvi nahm die kargen Worte gierig auf, und Assa fühlte sich ein weiteres Mal verwirrt.

Noch jetzt, Tage danach, spürte er den Zwiespalt: auf der einen Seite Dankesschuld, auf der anderen Abscheu. Ihm war, als habe er eine besudelte Hand gedrückt.

Durfte man so handeln, so leben, so sein? Solche Widersprüche — wo fingen sie an, und wo endeten sie, wo führten sie hin? Wär doch erst Katonje hier, Nikodemus! Mit ihm könnte man darüber reden; er wüsste eine Antwort, und die Verantwortung würde geteilt. Wo das Schiff nur blieb?

Es glitt, als schwebe es, unter seiner Rauchfahne auf die Bucht zu. Drüben auf der Landzunge beim Wagen entstand Bewegung, wohl auch Geschrei — stumm auf diese Entfernung, gleichsam erstickt wie jeder Laut in der Hitze der Mittagsstunde.

Ein Ton, dumpf und lang gezogen, zerriss den Bann. Assa schreckte auf, hielt die Luft an, blinzelte.

Aufruhr auch im Hafen und in der Siedlung, winkende Leute ... Das Horn verstummte, um gleich darauf erneut zu tönen, an- und abschwellend, freudig wie der Gesang bei einer Hochzeitsfeier.

Sie kommen! Endlich kommt Nikodemus zurück, mein alter Freund Katonje Kavikunua!

Während Assa sein Gewehr nahm und zum Hafen eilte, rutschend im Sand und bald nass von Schweiß, befiel ihn die Angst, Nikodemus könnte sich verändert haben seit jenem letzten Gespräch in Okahandja, ihm fremd geworden sein.

Nein, sagte er sich gleich, Nikodemus ändert sein Wesen nicht, wenigstens nicht so rasch. Eher hat der Erfolg seine Haltung verhärtet, ihn bestärkt im Anspruch auf die Oberhäuptlingswürde. — Falls er Erfolg gehabt hat und nicht noch ein Unglück passiert ist.

Und nun erst begann Assa sich um die Fracht zu sorgen. Hoffentlich kam sie unbehelligt vom Schiff, und hoffentlich gab es danach keine Schererei, kein Unheil!

Er drängte den Gedanken fort. An den Heimweg, den Treck, wollte er jetzt nicht denken. Wichtig war erst einmal, dass Nikodemus und sein Begleittrupp wieder festen Boden unter die Füße bekamen, den sandigen Boden von Walvisbaai.

Noch standen sie an Bord der „Nautilus“; Assa konnte im Näherkommen sowohl die Gestalten an der Reling erkennen als auch das Wort am Bug entziffern. Der Name des Schiffes sagte ihm nichts, doch fiel ihm ein, dass er in der Botschaft von Nikodemus erwähnt worden war.

Und da schwamm sie nun, diese „Nautilus“ aus der Stadt am Kap. Längst hatte sie die Landzunge passiert, an deren Spitze nachts das Leuchtzeichen brannte; immer dichter trieb sie auf Land zu, immer langsamer unter der verblassenden Rauchfahne. Rufe drangen herüber, und Rufe flogen hinüber vom Kai, vom Hafentor und vom Zaun hier, und plötzlich ertappte sich Assa beim Schreien und Winken — ein Glied in der Kette, in der Begrüßungsgirlande.

Gerassel ließ ihn einhalten, und auch der Koch und die beiden Wächter an seiner Seite verstummten, während der Anker lärmend versank. Dann war es still, war alles eine Weile gleichsam erstarrt.

„Unsere Brüder“, sagte der Koch wie in Gedanken, „neben den Ovirumbu, in ihrer Mitte — wie ihresgleichen ...“

Stimmt, dachte Assa, genauso verwundert, und mit einer Spur von Befremden sah er, wie Nikodemus sich wieder an den Mann wandte, den Vollbärtigen, der ihm schon vorher aufgefallen war; er erinnerte Assa an Pastor Büttner, den Missionar.

Dieser Bärtige in seinem dunklen Rock, Nikodemus in einem bunt karierten Hemd und dazwischen, ein wenig im Hintergrund, eine hellhäutige, blonde, weiß gekleidete Frau — es war ein kontrastreiches Bild, ein heiterer Anblick, getrübt, so fand Assa zunächst, nur durch die Aufbauten des Schiffes, die ihren Schatten auf die Leute an der Reling warfen.

Bei genauerem Hinschauen glaubte er plötzlich, doch eine Trennung zu erkennen, eine Gruppierung. Standen die anderen Weißen nicht vorn am Bug gesondert für sich? Und die dort am Heck und in den Gängen, gebräunte Ovirumbu in gestreiften Hemden und drei, vier braunhäutige Mischlinge in ähnlich schäbiger Kleidung — waren diese Männer, die zwischen dem lockeren Trupp der Herero hin- und herliefen, nicht bloß Matrosen, Schiffsvolk, durch ihre Arbeit zu solch einem Kontakt gezwungen? —

„Sie rempeln sie an“, sagte der Koch mit veränderter Stimme.

Assa nickte. „Sie stehen schon hinten und sind noch immer im Weg.“

„Hast du was anderes erwartet?“, fragte Onguvi, der, unbemerkt von Assa, hinzugekommen war — über der Schulter, den Lauf nach unten, sein Gewehr. Er blickte verdrossen unter gedunsenen Lidern; sein Atem war frei vom Geruch nach Schnaps.

„Ich nicht“, erwiderte Assa, „aber wahrscheinlich du.“

Das befriedigte Grinsen des Kochs genügte ihm, und die Miene Onguvis gebot ihm Einhalt.

Zudem wurde nun, kurz nach dem Rasseln der Ankerkette, seine Aufmerksamkeit angezogen vom Kai. Dort stießen zwei Männer in einem Boot vom flachen, mit Planken befestigten Ufer ab und begannen zu rudern. Am Heck saßen zwei Uniformierte, jeder mit einem Köfferchen auf den Knien, beide würdevoll wie jener Magistratsbeamte.

„Kaum wiederzuerkennen“, sagte Onguvi bedeutsam.

Assa schaute ihn fragend an.

„Mein Mister vom Zoll!“, erklärte er, laut genug auch für die anderen Herero.

„Wer? Welcher?“

Onguvi reckte das Kinn. „Rechts der, der Größere.“

Er legte eine Pause ein, und alle schauten zum Boot, das bereits angelangt war. Es schaukelte neben dem Schiffsrumpf, und nun begannen die beiden Uniformierten einer nach dem anderen acht, neun Sprossen einer Strickleiter hinaufzusteigen, als erster der Mister vom Zoll.

„Er ist der Wichtigste“, kommentierte Onguvi mit unverhohlenem Stolz. „Auch der andere muss geschwärzte Buchstaben auf Papier drücken und seinen Namen dazuschreiben, aber der Name und die Buchstaben vom Zoll sind am kostbarsten.“

Assa nickte, peinlich berührt von Onguvis Prahlsucht, und dachte: Wie wichtig das für ihn ist! Was würde er tun für ein Lob, für ein bisschen Ruhm?

Eine Bemerkung ließ Assa aufhorchen.

„Und jetzt geht’s los!“, sagte Onguvi frohlockend.

Assa schaute ihn forschend an, blickte hinüber zum Schiff, wo gerade die beiden Uniformierten von einem Mann in ähnlicher Uniform begrüßt wurden ... Sonst schien alles an Bord wie vorher zu sein.

Onguvi war offensichtlich zufrieden mit der Wirkung seiner Worte und hatte wohl nicht die Absicht, mehr zu verraten.

Assa warf einen weiteren Blick hinüber. — Nichts, davon abgesehen, dass die drei Uniformierten in einer Türöffnung verschwanden. Alle übrigen blieben zurück an Bord, in derselben Gruppierung wie seit dem Einlaufen; Nikodemus stand noch immer neben dem Bärtigen und der hellhäutigen Frau.

„Was“, fragte Assa gedämpft, „was geht gleich los?“

„Wart’s ab, Riarua!“

Da erschien drüben in der Türöffnung ein Bursche mit gestreiftem Hemd, einer aus der Mannschaft, und winkte Nikodemus, eindeutig ihm; aber gleichzeitig mit ihm und noch schneller als er lief aus der Gruppe vom Bug ein Otjirumbu in hellgrauem Anzug auf die Türöffnung zu. Er riss beide Arme hoch, und der Bursche drehte sich um und hob abwehrend die Hand. So verharrten beide eine Weile; auch Nikodemus war stehen geblieben. Der Bursche verschwand, kehrte bald darauf zurück, und dann trat Nikodemus mit ihm durch die Tür ins Innere, während der Otjirumbu draußen blieb und drohend die Faust schüttelte. „Na?“, fragte Onguvi triumphierend.

Niemand beachtete ihn. Alle Herero hier am Zaun — auch Assa —, alle schauten gebannt hinüber.

Drüben an Deck schien alles erstarrt, seit der Otjirumbu die Faust gesenkt hatte. Nun stand er, die Hände in den Hüften, vor der Tür.

Und da, in der flimmernden Stille, fragte Onguvi herausfordernd, gekränkt: „Hab ich’s nicht gesagt?“

Assa blinzelte. „Ich wüsste nicht ...“

„Du, Riarua, weißt ja nie was! Ihr alle habt keine Ahnung. Aber damit’s euch dämmert: Das hab ich gedeichselt; ich und der Mister vom Zoll, wir beide haben das ausgeheckt!“

Der Koch und die Wächter guckten verständnislos, doch Assa begann zu begreifen.

„Wenn das wahr ist, Onguvi, wenn du tatsächlich erreicht hast, dass dein Mister Nikodemus einem Otjirumbu vorzieht …“

Die Vorstellung ließ Assa verstummen. — War Onguvi wirklich so geschickt, so unheimlich gewandt? Und was würde eine solche Brüskierung nach sich ziehen, welche Vergeltung?

„Wenn, wenn!“, räsonierte Onguvi. „Du erstickst noch mal an deinem Dünkel! Aber kommt! Gehen wir vor zum Tor!“

„Weshalb?“, fragte der Koch argwöhnisch, nach einem unzufriedenen Blick auf Assa Riarua. „Wozu?“

„Weil’s dort den nächsten Zusammenstoß gibt“, erwiderte Onguvi. „Diesmal mit uns!“ Und er spannte mit einem Ruck den Riemen seines Gewehrs.

5

Er hat recht, dachte Assa, während er Onguvi folgte. Das gibt Ärger, wenn ich nicht sofort was unternehme. Aber was?

Der deutsche Hauptmann und vier seiner Leute standen vor der Pforte im Flechtzaun aus Draht, der übermannshoch das Hafengelände auf der Landseite begrenzte. Schweigend standen sie da, sichtlich in Zorn, als hätten sie Einlass begehrt, Zutritt, der ihnen von den Wachposten verwehrt worden war.

Die Posten, zwei Engländer, saßen lässig im schmalen Schatten ihrer Bretterbude, belustigt, auf eine schläfrige Art vergnügt — zwischen den Knien die Gewehre. Bewaffnet waren auch die fünf Deutschen, bewaffnet und in voller Montur — und die Sonne brannte mitleidlos.

Gesprochen wurde nicht, vermutlich schon länger nicht mehr, und Assa spürte plötzlich, wie trocken sein Gaumen war. „Moment mal!“, stieß er hervor.

Onguvi blieb stehen und drehte sich um. „Ist was?“

Um Zeit zu gewinnen, schaute Assa hinüber zum Schiff, wo alles unverändert schien, unverändert — bis auf eine Kleinigkeit: Die hellhäutige, weiß gekleidete Frau sprach jetzt mit dem Otjirumbu, jenem vor der Tür, der nun nicht mehr so bedrohlich wirkte, nicht mehr die Hände in die Hüften stemmte.

„Ist was?“, wiederholte Onguvi gereizt.

„Wir müssen was tun“, begann Assa gepresst, und er dachte dabei an Ablenkung und Besänftigung und hatte sowohl Onguvi wie die Deutschen im Auge. Die sind zu fünft und bewaffnet, wir auch, und wer weiß, was in ihnen vorgeht oder in Onguvi. Es darf nicht zum Streit kommen, nicht zum Zusammenstoß.

Er räusperte sich. „Wir müssen denen zuvorkommen.“

Onguvi schnaufte verächtlich, doch Assa ließ sich nicht unterbrechen. „Was nützt es, dass Nikodemus bevorzugt wird, wenn wir hier alles verderben? Wozu der Treck hierher, das Warten von einem Vollmond fast bis zum anderen, wenn wir nun, kurz vor dem Erfolg, mit denen zusammenstößen und ihnen die Gelegenheit geben, auf uns zu schießen oder uns festzuhalten — wer weiß wie lange?“

„Richtig!“, rief der Koch. „Nichts nützt es!“

Die beiden Wächter nickten.

„Habt ihr Angst?“, fragte Onguvi. „Angst vor denen, wie er?“ Assa wollte auffahren und die anderen murrten, doch Onguvi hob die Stimme. „Die sind zu fünft wie wir, aber sie haben das Tor besetzt! Bald werden ihre übrigen Leute dazukommen. Was nützt der Vorteil, den ich uns verschafft habe, wenn sie Nikodemus nicht durchlassen? Wozu der Treck und das Warten und alles, wenn wir hier hängen bleiben — wer weiß wie lange?“

Der Koch biss die Zähne zusammen, und die Wächter schauten ratlos von Onguvi zu Assa Riarua und zurück.

Nicht ungeschickt, sagte sich Assa, und doch nicht geschickt genug. Als ob es hier um freien Durchlass ginge! Recht will er behalten, mich beiseiteschieben, sich hervortun. Aber das würde er nie eingestehn, dieser Schakal!

„Na, Riarua, was ist? Gehn wir!“

„Geh, Onguvi, geh, wenn du Lust hast, dich lächerlich zu machen. Als ob die Deutschen es wagen könnten, uns hier festzuhalten! Von denen droht uns Gefahr erst auf ihrem Gebiet, hinter der Grenze.“

„Richtig!“, rief der Koch erfreut, doch Assa ging — er zwang sich dazu — mit keinem Blick darauf ein.

„Wozu die Engländer gegen uns aufbringen?“, fragte er Onguvi, als spreche er nur zu ihm. „Jetzt sind sie uns wohlgesinnt, weil es gegen die Deutschen geht, und einer von ihnen ist sogar dein Freund. Was aber, wenn wir ihnen Ärger machen, wenn wir bloß unangenehm auffallen? Wird dann nicht ein Otjirumbu zum anderen halten?“

Onguvi senkte den Blick, und plötzlich war Assa froh, dem Streit nicht ausgewichen zu sein — mehr noch: froh, die Auseinandersetzung gesucht zu haben.

„Was also tun?“, fragte Onguvi lauernd, mit düsterem Glimmen in den schmal gewordenen Augen.

Auch der Koch und die beiden Wächter warteten auf eine Antwort, eine Entscheidung, einen Vorschlag.

„Also nichts, Riarua.“ Die Glut zwischen den Lidschlitzen flammte auf. „Dastehn und zusehn — aus Angst vor dem Wagnis!“ —

„Im Gegenteil, Onguvi! Das Richtige tun — alles, um den Vorteil, den du uns verschafft hast, zu nutzen und ..., und den Vorsprung, den wir haben, noch zu vergrößern!“

„Und wie soll das vor sich gehen?“

„Wir müssen schneller sein als sie, schneller beim Laden und Lostrecken!“

„Vor ihnen fliehn?“

„Unsinn! Und das weißt du selber ganz gut.“

Assa sprach, wie er nie zuvor zu Onguvi gesprochen hatte: sicherer und dabei fast kameradschaftlich. Er bemerkte die Verwunderung der anderen, ihr Befremden, und fühlte sich plötzlich im Zwiespalt, verspürte die Versuchung, dem Koch und den Wächtern zuzuzwinkern, überwand sie, und seine Stimme blieb bei alledem fest.

Wie bei Samuel, ging es ihm durch den Kopf. So also macht man das! Er wandte sich den anderen zu. „Ihr wisst, was ihr tun müsst?“

Die beiden Wächter blinzelten und blieben stumm, und wieder machte sich der Koch zum Sprecher, finster diesmal, abweisend. „Jetzt?“, fragte er, ohne den Blick zu heben. „In dieser Hitze?“

Onguvi öffnete den Mund, schwieg aber, und zwischen den Lidern begann er erneut zu glimmen.

„Ombi“, sagte Assa, „du hast natürlich recht. Es wird schwer sein, schwer für dich am Feuer und noch schwerer für unsere Brüder unterwegs. Ich bitte euch trotzdem. Bitte dich zu kochen und euch, die Ochsen zu holen. Oder wisst ihr was Besseres?“ Die Wächter bewegten langsam den Kopf, verneinend, und Ombi, der Hase, bewies ein weiteres Mal, dass er kein Onguvi war, kein Geier: Er blickte auf — so treuherzig, dass es Assa einen Stich gab.

„Und er“ — ein Ruck mit dem Kopf — „er bleibt wohl hier?“

„Ja, Ombi, Onguvi bleibt bei mir. Versteh das bitte!“

Ombi nickte, nickte und holte tief Luft. „Gut, Herr.“ Und an die Wächter gewandt: „Gehn wir!“

Er hatte zum ersten Mal bei der Anrede gezögert, und seine Schultern wirkten jetzt wie hängende Flügel.

„Ombi!“, rief Assa, und er wartete, bis sich auch die beiden anderen umwandten. „Spar nicht mit Fleisch, damit es gut schmeckt — wie immer bei dir! Und ihr beiden: Passt auf euch auf! Es genügt, wenn ihr am Abend hertreibt.“

Sie nickten nur, nickten alle drei, aber ihre Haltung straffte sich, und die Bewegungen wirkten gleich frischer.

„Du machst dich“, sagte Onguvi. „Langsam muss man mit dir rechnen.“

Wie darauf reagieren, auf solches Lob, solche geringschätzige Anerkennung?

Assa tat, als habe er die Bemerkung nicht gehört. Er schaute hinüber zum Schiff, nachdenklich erst, dann überrascht. Dieser Mann dort an der Reling, der Kleine mit dem unförmigen Leib — war das nicht Lewis? Wo kam der plötzlich her? Hatte Nikodemus etwa ihn gemeint in seiner Botschaft mit dem Geständnis, er habe einen Händler gesucht, aber mit einer Hyäne verhandeln müssen? — Sicher. Wahrscheinlich wollte er vorbeugen, sich im Voraus entschuldigen für ein ungünstiges Geschäft ... „Du starrst, Riarua, und brütest. Was hast du entdeckt?“

„Den Zwiebelbauch — dort, am Schiffszaun!“

„Stimmt! Na, da wird Kavikunua nicht nur Lob ernten bei euch im Rat!“

Auch das überhörte Assa. Er fragte: „Wo er bisher nur gesteckt hat?“

„Lewis? Wahrscheinlich im Schiffsbauch“, sagte Onguvi. „Er soll das Reiten auf den Wellen nicht recht vertragen.“

Assa nickte. „Und trotzdem kommt er mit?“

„Vielleicht will er für seine Waffen noch mehr Vieh forttreiben lassen.“

„Oder“, fügte Assa hinzu, „er möchte, wenn wir die Deutschen rauswerfen, uns für die Engländer einkaufen.“

Er verstummte, und sie schwiegen eine Weile.

Der deutsche Hauptmann, hochrot im Gesicht, trat jetzt von einem Fuß auf den anderen. Als er dem Blick von Assa begegnete, hielt er inne und stieß einen Fluch aus.

Assa schaute rasch weg.

„Den könnt ich ...“, sagte Onguvi gepresst.

„Er uns auch“, erwiderte Assa. .

Onguvi schnaufte, und Assa wurde bewusst, wie einträchtig sie vor einer Weile noch miteinander geredet hatten.

„Sag mal, Riarua, glaubst du tatsächlich, dass wir einem Streit mit ihnen ausweichen können?“

„Ich hoff’s, Onguvi, ich hoff’s!“

Trotz dieser Einschränkung nahm Onguvis Gesicht wieder einen höhnischen Zug an. „Das kannst du dem Koch erzählen oder solchen Trotteln wie den beiden Wächtern. Meinst du, ich habe dich vorhin nicht durchschaut?“

„So? Und was hast du dabei entdeckt?“

„Dass du Angst hast, Angst vor jeder Entscheidung, jedem Wagnis. Lieber schickst du drei von uns fort, damit wir machtlos sind, zu zweit gegen fünf — und wartest auf Kavikunua, damit er die Verantwortung übernimmt.“

Assa schluckte. „Was hat das mit Nikodemus zu tun?“

Der Hohn in den verwüsteten Zügen ging über in Verachtung. „Meinst du, dein Freund Katonje, dein — Nikodemus wird zögern so lang wie du? Wenn ihm auch hier oben einiges fehlt“ —er tippte sich an den kahlen Schädel — „eins hat er sicher: mehr Mumm als du.“

„Hör mal!“, begann Assa, doch brach er ab und biss die Zähne zusammen.

Es stimmt schon; er hat recht, dieser Schakal, recht auch damit: Nikodemus ist mutiger als ich, mutig und unbedacht wie kein anderer. Herz und Hand — eine Linie, ohne Umweg über den Verstand! So hat Samuel schon vor Jahren gespottet — Samuel, der seinen Gefühlen kaum je nachgab. Und ich wieder einmal dazwischen! Gut möglich, dass sich Nikodemus herausfordern, zu einem Streit verleiten lässt, wenn ich’s nicht verhindere.

Der deutsche Hauptmann stand jetzt still, reglos wie seine Begleiter, und die beiden Wachposten waren aufgestanden und schauten ebenfalls hinüber zum Schiff.

Die Uniformierten, der Mister vom Zoll und der andere — sie stiegen bereits die Strickleiter herab. Kaum saßen sie im Boot, wurde abgestoßen. Fünf und noch einmal so viel Ruderschläge, und die beiden sprangen an Land, auf die Planken, die man knarren zu hören glaubte. Ein paar halblaute Worte zum Obersten der Hafenarbeiter ...

„Jetzt!“, sagte Onguvi.

Der Rest ging unter im Tumult, der wie ein Raubtier aus der Stille aufsprang. Boote, breitbauchige, wurden ins Wasser gestoßen wie bei einem Wettstreit, drei, vier fast gleichzeitig, und die Männer in der zerschlissenen Kleidung begannen fast im Sprung schon zu paddeln, angefeuert von den Zurückbleibenden und sich selber anfeuernd.

„Weshalb die Hast?“, fragte Assa. „Und warum gleich vier?“

„Sie haben gewartet wie wir“, antwortete Onguvi. „Sie brauchen das Geld, und die Schnellsten kriegen am meisten.“

„Von uns? Für das Heranschaffen unserer Waffen?“

„Auch von den Ovirumbu fürs Herüberrudern. Die haben sogar noch mehr geboten.“

„Noch mehr als wer?“

„Als ich am Anfang. Ich — wer sonst? Als du in deinem Versteck lagst, deinem — Ausguck, habe ich mit dem Vorarbeiter verhandelt. Im Auftrag des Maharero!“

Assa nickte und schwieg, plötzlich verdrossen. Dass Onguvi verhandeln würde, war ausgemacht worden, und doch fühlte er sich jetzt übergangen, ärger noch, von Samuel überlistet.

Onguvi, der Stellvertreter des Maharero — das lasse ich mir gefallen, aber nicht Nikodemus. Der wird sich gedemütigt fühlen, herausgefordert durch diesen — Sachwalter.

Als sei er blind, starrte Assa auf das Treiben gegenüber. Schlichten, dachte er, Nikodemus besänftigen, im Auftrag von Maharero und Samuel ... Ich bin ein anderer Handlanger des Oberhäuptlings, einer, der weniger Macht hat und weniger Geschick als Onguvi, aber mehr zu verlieren: die Freundschaft von Nikodemus.

Er bewegte den Kopf, als könne er die Befürchtung abschütteln, riss die Augen auf, schaute sich um.

Onguvi war weg; er stapfte zum Tor hin. Und drüben, in einem der breitbauchigen Boote, standen tatsächlich Hererokrieger, zehn, zwölf, und jetzt, als letzter, stieg etwas steifbeinig Nikodemus zu.

Daneben, über eine zweite Strickleiter, kletterten Ovirumbu in ein anderes Boot.

Auch sie? fragte sich Assa. Sie ebenfalls — so schnell?

Als das Boot mit den Herero abstieß, riss Assa sich los. „He, Onguvi, warte!“

Der tat, als höre er nicht, ruckte aber am Riemen seines Gewehrs.

Unten sprang Nikodemus auf die Planken am Ufer, er als Erster.

Der deutsche Hauptmann, schien es Assa, reckte sich und griff nach seiner Waffe.

6

Die Herero verließen nicht sofort das Hafengelände. Sie standen auf den Planken, gedrängt um Nikodemus und umgeben vom Tumult, standen und schauten, als müssten sie sich erst an die fremde Umgebung gewöhnen.

Der Hauptmann sagte etwas zu seinen Leuten, und alle fünf lachten.