Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Rund 24.000 ambulante und stationäre Einrichtungen gibt es in Deutschland. Und alle leben davon, dass die Pflegeversicherung Geld zuschießt: Je höher der Pflegegrad, desto mehr Geld fließt. Im Moment läuft’s, denn die automatische Umstellung von Pflegestufen in –grade hat die Erlöse gesichert. Doch das bleibt nicht so: Bei allen künftigen Einstufungen werden die Pflegegrade geringer ausfallen. Das Einkommen der ambulanten/stationären Pflegeeinrichtungen wird also künftig sinken, damit auch die Personaldecke und letztlich die Qualität der Pflege. Es sei denn, die Einrichtungen haben das Expertenwissen, damit die korrekte (möglichst hohe) Einstufung funktioniert – Pflegegrad-Management ist gefragt! Die Bezeichnung „Pflegegrad-Management bzw. Pflegegrad-Manager“ ist neu (ebenso wie die Problematik der sinkenden Erlöse), die Expertise aber künftig überlebenswichtig für die rund 24.000 stationären/ambulanten Einrichtungen. Dieses Buch zeigt, was Pflegegrad-Management ist und wie es funktioniert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 181
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jutta König
Pflegegrad-Management
Fehleinstufungen vermeidenPflegeprozess optimal strukturierenErlöse nachhaltig sichern
schlütersche
Jutta König ist Altenpflegerin, Pflegedienst- und Heimleitung, Wirtschaftsdiplombetriebswirtin Gesundheit (VWA), Sachverständige bei verschiedenen Sozialgerichten im Bundesgebiet sowie beim Landessozialgericht in Mainz, Unternehmensberaterin, Dozentin und Beraterin in den Bereichen SGB XI, SGB V, Heimgesetz und Betreuungsrecht. Tätig im gesamten Bundesgebiet für ambulante und stationäre Auftraggeber der privaten Trägerschaft, Trägerschaften der Kirche, der Wohlfahrtsverbände und öffentliche Trägerschaften.
»Neulich schrieb mir jemand, ich sei ein beneidenswerter Mensch, da ich meine Ideen verwirklichen könne. Ich finde es nicht ganz so behaglich, alleinige Trägerin einer Idee zu sein. Und das Schlimmste ist: Ich habe die Idee nicht, sie hat mich.«
(AGNES KARLL)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89993-957-6 (Print)
ISBN 978-3-8426-8927-5 (PDF)
ISBN 978-3-8426-8928-2 (EPUB)
© 2018 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Autors und des Verlages. Für Änderungen und Fehler, die trotz der sorgfältigen Überprüfung aller Angaben nicht völlig auszuschließen sind, kann keinerlei Verantwortung oder Haftung übernommen werden. Die im Folgenden verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für beide Geschlechter, auch wenn sie nur in einer Form benannt sind. Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses besonders gekennzeichnet wurde.
Reihengestaltung:
Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg
Umschlaggestaltung:
Kerker + Baum, Büro für Gestaltung GbR, Hannover
Titelbild:
Wolfilser – stock.adobe.com
Vorwort
1Warum das richtige Pflegegrad-Management so wichtig ist
1.1Nur der richtige Mix bringt auch das korrekte Budget
1.2Viele Pflegebedürftige gehen leer aus
1.3Der Pflegegradmix ist ein einfaches Rechenexempel
1.4Das soziale System der Pflegeversicherung wird so nicht überleben
1.5Die Personalzahl entspricht nicht dem Pflegeaufwand
1.6Antragstellern wird die Arbeit nicht leichtgemacht
2Wie Sie die Pflegegrade managen
2.1Einen Extra-Beauftragten für Pflegegrade?
2.2Pflegegrade managen kostet Arbeit, Zeit und Geld
2.3Der »ideale« Pflegegrad-Manager
2.4Die tägliche Arbeit eines Pflegegrad-Managers
2.4.1Arbeiten mit EDV-gestützter Pflegedokumentation
2.4.2Arbeiten mit papiergeführter Pflegedokumentation
2.4.3Auf dem Weg zum Pflegegrad-Manager – Das müssen Sie als Leitungskraft jetzt tun
2.4.4So agiert der Pflegegrad-Manager
3Hürden und Formalien – Fallstricke auf dem Weg zum richtigen Pflegegrad
3.1Beachten Sie den Bestandsschutz bis 2019
3.2Seien Sie aufmerksam bei der Antragstellung
3.3Passen Sie die Pflegedokumentation nicht an
3.4Die Eilbegutachtung nach Antragstellung
3.5Die Fristen zur regulären Begutachtung
3.5.1Wie sieht die Praxis aus?
3.6Eine telefonische Begutachtung ist nicht rechtskonform
3.7Aktenlagebegutachtungen sind immer anfechtbar
3.8Lassen Sie eine Begutachtung niemals unkommentiert laufen
4Das Verfahren zur Eingradung – von der Antragstellung bis zum Widerspruch
4.1Antragstellung
4.2Die Bedarfe erkennen und Begutachtung vorbereiten
4.3Erst der Schnellcheck, dann das NBI
4.3.1Verschaffen Sie sich einen schnellen Überblick
4.4So begleiten Sie eine Begutachtung
4.4.1Eine gut vorbereitete Begutachtung verhindert Fehlinterpretationen
4.4.2Protokollieren Sie die Begutachtung
4.5Das Gutachten
4.6Das Neue Begutachtungsinstrument (NBI)
4.7Empfehlungen des Gutachters
4.7.1Der Gutachter erspart das Rezept für den Rollstuhl
4.7.2Unterschied zwischen Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel
4.7.3Pflegehilfsmittel und technische Hilfen (§ 40 SGB XI)
4.7.4Hilfsmittel nach § 33 SGB V
4.7.5Warum Kassen ablehnen
4.7.6Wohnumfeldverbessernde Maßnahmen
4.7.7Die Ausgaben für Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel
4.8Nach der Begutachtung – jeder Bescheid bringt zwei Entscheidungswege
4.9Gutachtencheck
4.10Vom Widerspruch bis zur Klageeinreichung
Auszug aus dem Gutachten vom … 2017
4.10.1So geht es nach dem Widerspruch weiter
4.10.2Wenn der erste Widerspruch nicht hilft
5Das Begutachtungsinstrument verstehen
5.1Es bleibt bei einem Ungleichgewicht
5.2Die Module des Begutachtungsinstruments und ihre Bedeutung
5.2.1Modul 1 – Mobilität
5.2.2Besondere Bedarfskonstellation führt automatisch zu Pflegegrad 5
5.2.3Modul 2: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
5.2.4Modul 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
5.2.5Modul 4: Selbstversorgung
5.2.6Modul 5: Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
5.2.7Modul 6: Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte
5.3Die Berechnung der Module
5.3.1Modul 1 – Mobilität
5.3.2Modul 2 – Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
5.3.3Modul 3 – Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
5.3.4Modul 4 – Selbstversorgung
5.3.5Modul 5 – Umgang mit krankheits- und therapiebedingen Anforderungen und Belastungen
5.3.6Modul 6 – Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte
5.3.7Die Gewichtung der Punkte
5.4Typische Tücken und Fallstricke im Überblick
5.5Besonderheiten bei der Begutachtung von Kindern
5.5.1Die gutachterliche Erhebung
5.5.2Altersentsprechende Betrachtung
5.5.3Ausnahme: Pflegebedürftige Kinder unter 18 Monaten
6Testen Sie Ihr Wissen
6.1Fragen für Experten
6.2Die Lösungen
Literatur
Register
Es reicht keineswegs, das Begutachtungsinstrument (NBI) einfach nur auszufüllen. Wer Pflegegrade managen will (und muss), der hat weit mehr zu tun als nur ein Formular zu vervollständigen.
Die Eingradung in Pflegegrade ist heute wichtiger denn je. Der betriebswirtschaftliche Erfolg Ihrer Einrichtung hängt zwingend davon ab, dass Ihre Bewohner/Klienten die richtigen Pflegegrade erhalten.
Hintergrund: Die sehr positive Umgradung von Pflegestufen auf Pflegegrade führte zu einem massiv hohen Pflegestufenmix zu Beginn des Jahres 2017. Dieser Mix ist auf Dauer nicht zu halten, das spüren einige Einrichtungen heute schon, mehr als ein Jahr nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Die Einrichtungen, ambulant und noch mehr stationär, sind auf einen berechenbaren und nahezu gleichbleibend hohen Pflegegradmix angewiesen. »Es ist daher von grundlegender Bedeutung, die aufgezeigten Entwicklungen der Pflegegradstruktur engmaschig zu untersuchen und die relevanten Kennzahlen (Deckungsbeiträge je Pflegegrad) systematisch zu erheben. Zudem kommt der anstehenden Pflegesatzvergütungsverhandlung eine zentrale Rolle bei. Gelingt es hier einen realistischen und für die Einrichtung vorteilhaften Pflegegradmix zu verhandeln, können die beschriebenen Risiken zum einen als solche geltend gemacht werden und zum anderen auch in unternehmerische Gestaltungspielräume umgewandelt werden. Bei einer sich andeutenden Negativentwicklung sollte auch die Pflegesatzvereinbarung auf Basis von Sonderkündigungsrechten vorzeitig gekündigt werden.«1
Deshalb müssen Sie mehr denn je darauf achten, dass die Eingradung gesteuert und korrekt läuft. Profis müssen her, die das Thema für die Einrichtung strukturiert in die Hand nehmen und begleiten – die Pflegegrad-Manager.
Eine Eingradung nach Schema F sollte künftig der Vergangenheit angehören. Die Zeiten, als Sie die Pflegestufe eines Pflegebedürftigen sozusagen aus der Ferne abschätzen konnten, sind endgültig vorbei.
Der betriebswirtschaftliche Erfolg Ihrer stationären Einrichtung hängt ebenso vom Pflegegradmix ab wie die Personalbesetzung.
Deshalb möchte ich Ihnen in diesem Buch kompakt und praxisnah zeigen, wie Sie Pflegegrade managen können. Die Eingradung eines Pflegebedürftigen in den richtigen Pflegegrad schaffen Ihre Mitarbeiter nicht einfach so nebenher:
• Sie müssen Sie richtig führen.
• Sie müssen ständig den Pflegegradmix im Auge behalten und nachsteuern.
• Sie müssen das Pflegegrad-Management zur Chefsache machen!
Wie das gelingt, was Sie brauchen und was Sie tun müssen, erfahren Sie in diesem Buch.
Wiesbaden, im Januar 2018
Jutta König
1 Nagy, A. & Sloane, K. (2017). Rothgang-Effekt zeigt Wirkung. Veränderung der Pflegegradstruktur. CareKonkret vom 17. November 2017, Hannover: Vincentz, S. 2
Mit dem Strukturmodell, der Änderung des Pflegebedürftigkeitsbegriff und der Veränderung von Pflegestufe in Pflegegrade müssen ambulante und stationäre Einrichtungen einen neuen Blick auf die ihnen anvertrauten Klienten werfen.
Genau darum geht es auch beim Pflegegrad-Management, das für jede Einrichtung sinnvoll ist, »weil dadurch
• eine bessere Übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen Pflege- und Betreuungsbedarf und dem festgestellten Pflegegrad erreicht werden kann;
• Pflegeeinrichtungen die Kapazitäten (Personal- und Sachmittel) und das Leistungsangebot für ihre Kunden/Bewohner adäquat planen, kalkulieren, vorhalten sowie vereinbaren können und
• der Einrichtung eine wirtschaftliche Betriebsführung durch die Refinanzierung des tatsächlich geleisteten Aufwands ermöglicht wird;«2
• ambulante Dienste mehr Umsätze generieren und damit ihr Angebot ausweiten und ihr Portfolio erweitern können;
• und nicht zuletzt dadurch alle Einrichtungen gegenüber Mitbewerbern einen klaren Vorteil haben.
• Diese Funktionen des Pflegegrad-Managements sind vielen Einrichtungen noch nicht wirklich bekannt.
Interessanterweise berichten mir viele Einrichtungen, dass sie mit ihrem Pflegegradmix zufrieden sind. Es ist es geradezu irritierend, dass dieselben Einrichtungen auch in den letzten Jahren mit den Pflegestufen ihrer Klienten gut leben konnten.
Das muss ein Irrtum sein, denn die Zahlen der Pflegestufen sprachen ganz klar gegen jede Form der Zufriedenheit, sanken doch die Pflegestufen 2 und 3 seit dem Jahr 2000 kontinuierlich. Wie können Einrichtungen mit sinkenden Pflegestufen, dem damit sinkenden Einnahmen und einem sinkenden Personalschlüssel, der ja an den Stufen hängt, zufrieden sein? Es ist mir ein Rätsel, denn die Zahlen sagen mir, dass Einrichtungen mit den Pflegestufen seit vielen Jahren schon nicht mehr hätten zufrieden sein können (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Entwicklung der Pflegestufen von 2000 bis 2016 (Zahlen3gerundet)
Auch die GKV führt regelmäßige Erhebungen und stellt genau das Gleiche fest wie das Bundesministerium für Gesundheit (vgl. Abbildung 1).4
Abb. 1: Entwicklung der Anzahl der Leistungsempfänger in den Pflegestufen.
Fazit
Die Zahl der Pflegebedürftigen ist den vergangenen Jahren um über eine Million Menschen gestiegen. Im gleichen Zeitraum aber sank der Pflegestufenmix.
Kaum eine Einrichtung konnte also in der Vergangenheit mit ihrem Pflegestufenmix wirklich zufrieden gewesen sein. Das ist von 2017 bis Mitte 2018 vielleicht durch die Umrechnung von Pflegestufen in die Pflegegrade noch nicht so extrem spürbar.
Aber die Zukunft ist klar: Der relativ hohe Pflegegradmix von Anfang 2017 wird nie wieder erreicht werden. Denn die durchaus positive Umgradung von 2016 auf 2017 hatte zur Folge, dass rund 42,1 %5 der Pflegebedürftigen in einen höheren Grad kamen, als ihnen nach reiner Berechnung der Module des NBI heute zustehen würde.
Diese zu positiv umgerechnete Klientel wird im Laufe der Zeit versterben. Es werden neue Pflegebedürftige eingestuft werden. Diese neuen Klienten werden jedoch einen Pflegegrad auf Basis des Neuen Begutachtungsinstruments (NBI) erhalten. Alle Einrichtungen müssen also mit einem schrittweise niedrigeren Pflegegradmix rechnen.
Auf der anderen Seite gilt: Alle Einrichtungen sind aufgrund der kumulierten und budgetierten Zahlen bei Personal und Einnahmen darauf angewiesen, dass ihr Pflege-gradmix im Mittel hoch bleibt oder hoch wird. Die ambulanten Dienste haben es leichter. Sie können den Pflegegradmix leichter oben halten, weil ein Kunde, der mehr Geld zur Verfügung hat, dies ggf. auch in zusätzliche Dienstleistungen umsetzt.
Hinzu kommen die neuen, alarmierenden Zahlen hinsichtlich des Anstiegs der Pflegebedürftigkeit in Deutschland. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 gab es bereits 220 0006, in den ersten neun Monaten sogar 350 0007 Pflegebedürftige mehr als im Jahr davor. Damit hatte niemand gerechnet, auch nicht der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK).
So war am 22. April 20178 noch zu lesen, man rechne seitens des MDK mit einem Zuwachs von 200.000 Pflegebedürftigen im Jahr 2017. Der MDK hat sich also um fast 100 % verrechnet. Die prognostizierte Zahl stammt vermutlich aus einer Aussage von Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), der am 4. November 20169 mit diesen Zahlen zitiert wurde. Nicht nur, dass die Anzahl der Pflegebedürftigen 2017 enorm anstieg. Es wurde auch ein großer Teil der Pflegebedürftigen von 2016 auf 2017 sehr positiv umgegradet und erhielt so mehr Geld als in den Jahren zuvor. Gleichzeitig beziehen heute auch deutlich mehr Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Wenngleich der Zuwachs der Pflegebedürftigen nicht bedeutet, dass der Pflegegradmix steigt. Die bis jetzt vorliegenden Zahlen10 weisen auf eine sukzessive Verschlechterung des Mixes hin (vgl. Tabelle 2).
Tabelle 2: Verschlechterung des Pflegegrad-Mixes11
Ergebnisse aller Begutachtungen nach dem neuen Verfahren (1.1.– 31.12.17)
Neuanträge 2017
Ohne Pflegegrad
12,9 %
–
Pflegegrad 1
17,2 %
29,0 %
Pflegegrad 2
29,4 %
44,0 %
Pflegegrad 3
22,2 %
19,0 %
Pflegegrad 4
12,7%
6,0 %
Pflegegrad 5
5,7 %
2,0 %
Im 1. Halbjahr 2017 wurden bereits nahezu so viele Menschen begutachtet wie im gesamten Jahr 2016. Waren es 2016 insgesamt 444.276 Begutachtungen, so lag die Zahl der Neubegutachtungen im 1. Halbjahr 2017 schon bei 441.966 und Ende September 2017 sogar bei 585.765 Neubegutachtungen.12
Obwohl der MDK also mehr Menschen begutachtet denn je, titelte eine Fachzeitung13 »Zu wenig Personal beim MDK«. Wie kann das sein, frage ich mich, wenn doch die Zahl der Begutachtungen in 2017 über denen von 2016 liegt? Sieht man sich die Personalzahlen an, scheint es auch nicht plausibel zu sein, dass beim MDK ein chronischer Personalmangel herrschen soll (vgl. Tabelle 3).
Tabelle 3: Mitarbeiterstab beimMDK(Stand: Ende 2015)
Vermutlich war Ende 2016, als alle, die eine Chance hatten, sich eine Pflegestufe sichern wollten und Anfang 2017, als manche erstmals eine Chance auf den Pflegegrad sahen, ein gewisser Stau. Es mussten Massen an Anträgen abgearbeitet werden. Aber die Zahl der Begutachtungen wird sich nach diesem ersten Ansturm wieder auf ein »Normalmaß« einpendeln: 450.000 Begutachtungen pro Jahr mit normalem Zuwachs, also einem üblichen Anstieg an Pflegebedürftigen.
In dem oben erwähnten Artikel stand auch, dass der MDK seinen Personalmangel mit dem permanenten Zuwachs an Aufgaben begründete. Das Bundesministerium für Gesundheit, so stand zu lesen, denke daher über eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen und Richtlinien nach, um eine schnellere Abarbeitung der Fälle zu garantieren. Darüber hinaus solle das Thema »externe Gutachter« forciert und gesetzlich verankert werden.
Angesichts solcher Angaben ist die Frage erlaubt, ob der Gesetzgeber seine eigenen Gesetze nicht kennt oder nicht konsequent umsetzt. Denn
• externe Gutachter sind im Gesetz bereits seit fast zehn Jahren in § 18 verankert. Auch 2017 steht im aktualisierten SGB XI in § 18 Abs 3a »Die Pflegekasse ist verpflichtet, dem Antragsteller mindestens drei unabhängige Gutachter zur Auswahl zu benennen,
1. soweit nach Absatz 1 unabhängige Gutachter mit der Prüfung beauftragt werden sollen oder
2. wenn innerhalb von 20 Arbeitstagen ab Antragstellung keine Begutachtung erfolgt ist.«
• die Bearbeitungszeit ist in vielen Fällen durch die Sozialgesetzbücher, eben auch im SGB XI, vorgegeben. Gemäß § 18 Abs. 3 dürfen ab dem 1. Januar 2018 zwischen Antrag und Bescheid nicht mehr als 25 Arbeitstage vergehen (»Die Pflegekasse leitet die Anträge zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit unverzüglich an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder die von der Pflegekasse beauftragten Gutachter weiter. Dem Antragsteller ist spätestens 25 Arbeitstage nach Eingang des Antrags bei der zuständigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse schriftlich mitzuteilen.«) Man muss diesen Paragrafen eben nur anwenden und nicht schleifen lassen. Menschen, die zuhause leben, erhalten pro Überschreitungswoche 70 Euro ist (§ 18 Absatz 3b). Es sei denn, die Pflegekasse hat die Fristüberschreitung nicht zu vertreten, weil etwa der Pflegebedürftige den Termin verschiebt oder zwischenzeitlich ins Krankenhaus kommt.
Fazit
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Begutachtung der Pflegebedürftigkeit brauchen derzeit keine Revision. Wie so oft, mangelt es nicht an Gesetzen und Bestimmungen, sondern an ihrer konsequenten Anwendung.
Erfreulicherweise lag die Zahl der Bewilligungen von Pflegegraden im Jahr 2017 über der des Vorjahres. Das klingt allerdings positiver als es in Wahrheit ist. Denn knapp die Hälfte aller in 201714 begutachteten Personen, immerhin 44,9 %, erhielt nach der Begutachtung weder Pflegegeld noch Sachleistungen. Bei 19,7 % lag nämlich kein Pflegegrad vor und bei 25,2 % gab es nur Pflegegrad 1. Dieser berechtigt bekanntermaßen nur zur Inanspruchnahme von Entlastungsleistungen in Höhe von 125 Euro. Pflegegeld oder Pflegeleistungen sind nicht möglich. Zum Vergleich: 2016 gingen lediglich 29,7 % aller Begutachteten leer aus.
Fazit
Im Vergleich zu 2016 zeigt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff damit einen deutlichen Trend: Es werden mehr Personen begutachtet, doch es werden weniger Pflegegrade 2 bis 5 attestiert.
Aktuell beträgt der Pflegegradmix nach der Berechnung der GKV insgesamt nur 2,13. Vergleichen Sie diese Zahl doch einmal mit jener in Ihrer Einrichtung. Sie werden sicher heute schon einen Rückgang zu Anfang 2017 feststellen.
Eine Darstellung der Struktur der Pflegegrade15 2017 im Vergleich zu den übergeleiteten aus 2016 macht den »Verfall« deutlich (vgl. Abbildung 2).
Abb. 2: Pflegegradentwicklung 1. Halbjahr 2017.
Beim Pflegegradmix gilt: Wer EDV hat, muss in der Regel nicht selbst rechnen. Allen anderen hilft eine einfache Exceltabelle (vgl. Tabelle 4).
Tabelle 4: Berechnungsbeispiel eines Pflegegradmixes
Berechnung
(17/100x1) + (29/100x2) + (22/100x3) + (10/100x4) + (8/100x5)
Liegt Ihnen Excel nicht, bleibt Ihnen nur noch das Addieren mit Taschenrechner und Papier:
Zahl der Pflegebedürftige in Grad 1 x 1 =___ +
Zahl der Pflegebedürftige in Grad 2 x 2 =___ +
Zahl der Pflegebedürftige in Grad 3 x 3 =___ +
Zahl der Pflegebedürftige in Grad 4 x 4 =___ +
Zahl der Pflegebedürftige in Grad 5 x 5 =___
Berechnungsbeispiel
Bei steigender Zahl der Pflegebedürftigen und somit steigenden Ausgaben kann das aktuelle System der Pflegeversicherung nicht mehr lange aufrechterhalten werden. 2016 wurden 31 Mrd. Euro16 ausgegeben. Im Jahr 2017 waren es bereits über 37 Mrd.17
Die Ausgaben der Pflegeversicherung sind 2017 stark angestiegen, das war bekannt und auch geplant, allerdings nicht in dieser Höhe. Laut dem Magazin »Spiegel« hat die Pflegeversicherung im 1. Halbjahr 2017 rund 22 % mehr ausgegeben als im Vorjahreszeitraum. In einer weiteren Veröffentlichung18 kam man sogar auf rund 20,8 Mrd. Euro, die bereits im 1. Halbjahr 2017 ausgegeben worden sind.
Fazit
Da im gesamten Jahr 2016 rund 31 Mrd. Euro ausgegeben wurden, wird das Jahr 2017 voraussichtlich das teuerste Jahr in der Geschichte der Pflegeversicherung.
Die Mehrausgaben sind nachvollziehbar, denn ab 2017 wurden die Pflegebedürftigen in den jeweils höheren Pflegegrad hochgestuft, bei Vorliegen einer eingeschränkten Alltagskompetenz waren es sogar zwei Pflegegrade, die ein Pflegebedürftiger hochrutschte. Im 1. Halbjahr 2017 bekamen zudem 432 000 Menschen erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung. Das war ein Zuwachs von 175 000 Menschen gegenüber 2016.
Die Hochrechnungen der Regierung, die noch Anfang 2017 von rund 200 000 Pflegebedürftigen mehr ausging, wurden also um mehr als das Doppelte übertroffen. Wie lange kann die Regierung das von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe gegebene Versprechen »keine Beitragserhöhung bis 2022«19 noch halten? Es gab Ende Juni 2017 über 3,1 Mio. Pflegebedürftige in Deutschland. Das ist die Zahl, die von der Bundesregierung und ihren beauftragten Gutachtern eigentlich erst für das Jahr 2030 errechnet wurde. Wir sind der Entwicklung somit 13 Jahre voraus.
Aber der Pflegeversicherung geht es aktuell nicht schlechter als in der Vergangenheit. Es gab schon Jahre, in denen die Pflegeversicherung fast 1 Mrd. Euro Defizit aufwies (2004). 2016 gab es dagegen satte Überschüsse von 1,03 Mrd. Euro20. Das war allerdings vor den Pflegegraden, vor dem Zuwachs von Pflegebedürftigen und vor dem Anstieg der damit notwendig gewordenen Ausgaben. Überschüsse in der Pflegeversicherung haben allerdings immer ihre Gründe (vgl. Tabelle 5).
Tabelle 5: Künstlich verursachte Überschüsse der Pflegeversicherung21
Überschüsse
Folgemaßnahme/Gründe
2004
– 820 Mio. Euro
Vorverlagerung des Fälligkeitstermins des GSV-Beitrages
2005
– 380 Mio. Euro
Erhebung des Kinderlosenzuschlages in Höhe von 0,25 %
2006*
+ 450 Mio. Euro
keine
2007
– 320 Mio. Euro
keine
2008
+ 620 Mio. Euro
Beitragssatzanhebung von 1,70 % auf 1,95 % und Leistungsausweitung
2009*
+ 990 Mio. Euro
Keine bis 2013
2012
+ 10 Mio. Euro
2013*
+ 630 Mio. Euro
Beitragssatzanhebung von 1,95 auf 2,05 %
2015
+ 1,68 Mrd. Euro
Beitragssatzanhebung von 2,05 auf 2,35 %
2017*
Beitragssatzanhebung von 2,35 auf 2,55 %
* Jahre, in denen Bundestagswahlen waren
Brennende Fragen
Wie lange funktioniert das System Pflegeversicherung noch? Was geschieht, wenn immer mehr Menschen in Rente gehen (die Babyboomer kommen ab 2030 als größte Gruppe hinzu) und wie werden und sollen sich die Beiträge entwickeln, wenn sie heute schon von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern als zu hoch beklagt werden?
Auf diese Fragen werden die jetzige und alle künftigen Regierungen eine Lösung finden müssen. Ob die Lösung »Bürgerversicherung« heißt oder anders, ist egal. Fakt ist: Mit der üblichen Finanzierungsmethode durch Sozialabgaben steht die Pflegeversicherung knapp vor der Insolvenz. Man lebt von der Hand in den Mund: Die Beiträge, die heute von den Beitragszahlern (Arbeitnehmer und Arbeitgeber) eingezahlt werden, sind im übernächsten Monat stets ausgegeben.
Die Pflegeversicherung war »zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit«22 geschaffen worden. Sie galt also der Absicherung der Pflegebedürftigen, nicht der der Leistungserbringer (Pflegekräfte). Von Beginn (1995) an war auch klar, dass die Pflegestufen nur die Grundpflege beinhalten, aber keineswegs weitere Leistungen wie Behandlungspflege, Betreuung, Prophylaxen etc.
Dennoch wurde das Personal in Pflegeeinrichtungen nach den Pflegestufen bemessen. Eine irrwitzige Betrachtungsweise: Man bemisst das Personal an Pflegestufen, lässt aber bestimmte pflegerische Tätigkeiten und jede administrative Tätigkeit außer Betracht. Das ist im neuen System der Pflegegrade nicht anders. Es ist sogar noch dramatischer als vorher.
Neue Erfahrungen für stationäre Einrichtungen
Die Pflegegrade haben wenig mit dem Aufwand und den zu erbringenden Leistungen zu tun. Das wissen ambulante Dienste schon lange, die stationären Einrichtungen machen jetzt ihre negativen Erfahrungen.
Da etwa Menschen mit kognitiven Einbußen im neuen System nicht zwangsläufig besser wegkommen (siehe Kapitel 5.1), bedeutet auch die neue Berechnung eine weiterhin abstrakte Betrachtung der Pflegebedürftigen. Es geht bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht um den direkten Hilfebedarf. So erhält ein demenziell erkrankter Mensch, der sehr gut laufen kann, in der Mobilität 0 Punkte, obwohl man ständig hinter ihm herlaufen, ihn zurückbringen und beruhigen muss.
Bei der Begutachtung geht es rein um die Frage der Einschränkung der Selbständigkeit: »Es ist bei der Begutachtung zu berücksichtigen, dass nicht die Schwere der Erkrankung oder Behinderung, sondern allein die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten Grundlage der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit sind.«23
In stationären Einrichtungen ist der Personalschlüssel seit Einführung der Pflegeversicherung an die Pflegestufen, heute: Pflegegrade, gekoppelt. Die zu leistende Arbeit bildet sich nicht in den Pflegegraden ab, aber die Personalzahl hängt 1:1 von den Pflegegraden ab.
In der Vergangenheit hatten wir ein klares Ungleichgewicht, weil für die Pflegestufe nur die Grundpflege und nichts weiter berechnet wurden. Dennoch wurde das Personal anhand der Pflegestufen berechnet, auch wenn diese Stufen nicht immer den Aufwand widerspiegelten. Ob der Pflegebedürftige 40 Mal am Tag klingelte oder die halbe Nacht rief, interessierte den Gutachter überhaupt nicht.