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Tauche ein in die abenteuerliche Welt von Christoph Schmidt! Du begleitest den jungen Christoph und seine Familie auf einer spannenden Reise voller überraschender Wendungen. Christoph's Vater muss für seine Arbeit monatelang im Ausland bleiben, was für die Familie eine große Herausforderung darstellt. Doch trotz der Sehnsucht nach dem Vater und den Veränderungen im Alltag meistern sie zusammen viele turbulente Situationen. Als Christoph und seine Familie zu einer aufregenden Wasserwanderung aufbrechen, ahnen sie noch nicht, was ihnen bevorsteht. Ein geheimnisvolles Telegramm und unerwartete Ereignisse stellen ihre Welt auf den Kopf und fordern sie heraus. Erlebe mit Christoph die Höhen und Tiefen des Familienlebens und tauche ein in seine Träume von Abenteuern und Freiheit. Wird Christoph die Herausforderungen meistern und die wahre Bedeutung eines Vaters erkennen? Eine herzerwärmende Geschichte über Liebe, Zusammenhalt und die Kraft der Familie erwartet dich. Lass dich von Dietmar Beetz in eine Welt voller Emotionen entführen, die sowohl Kinder als auch Erwachsene berühren wird. Ein Buch, das alle Herzen erreicht!
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Seitenzahl: 164
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Dietmar Beetz
Rabenvater Schmidt
ISBN 978-3-95655-197-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 im Postreiter-Verlag Halle.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Noch ahnen sie nichts von einem Telegramm, nichts von seinem rätselhaften Text, nichts vom Durcheinander, das ihnen bevorsteht. Noch paddeln sie über himmelblaues, schilfgesäumtes, glitzerndes Wasser. Noch ist die Welt für Christoph wunderbar.
Er sitzt mit Mutter und Anja im ersten Boot, Vater beim Gepäck im zweiten. Ihre Kanus fahren heute an der Spitze, vor den drei anderen Booten der Flottille. Vater paddelt allein, Christoph gemeinsam mit Mutter.
Er weiß, dass sie nicht aus dem Takt kommen dürfen, dass es dann leicht geht, rasch und komplikationslos voran. Also kommandiert er halblaut: „Eins-zwei-eins-zwei ..."
„ Kapitän bin ich!", ruft Anja und platscht nach Christoph.
„Ja, ja!“, sagt Mutter beschwichtigend.
Christoph schweigt. Ein Mädchen, eine Dreijährige - Kapitän! Nein, Käpt’n ist er hier - mehr noch: Er, Christoph Schmidt, ist Admiral wie sein Namensvetter, der große Kolumbus.
Die Sonne scheint hell von einem tiefblauen Himmel. Sie steht noch im Südosten, vorn links über Schilf und Gestrüpp und Wald. Die Wasserstraße vor den Booten weitet sich, mündet in den Plötzensee, das letzte Gewässer vor dem Kaunitz.
Hier ist die Flottille vor elf Tagen und drei Stunden vorbeigezogen, nordostwärts, hinein ins Mecklenburger Seenparadies. Die Schiffsbesatzungen: Familie Schmidt, die beiden Schippel und Anders, der Junggeselle - Wasserwanderer aus dem Süden des Landes, eine bunte Urlaubsgesellschaft.
Früher hat Vater mit Anders und Herrn Schippel in derselben Brigade gearbeitet. Kraftfahrer beim VEB Verkehrskombinat, Kraftverkehr Osthausen. Damals waren Hans Anders, Bernd Schippel und Peter Schmidt samt Anhang, wie sie meinten, eine verschworene Gemeinschaft.
Stimmt das? Hat es nicht auch voriges Jahr, während der Tour elbabwärts, manchmal Streit gegeben? Oder ist Vater, wie Schippels behauptet haben, seit er an der Trasse ist, wirklich ein anderer geworden?
Christoph hat keine Lust, darüber nachzugrübeln. Schlimm genug, findet er, dass Vater, sein Paps, bald wieder wegfahren wird, fort für viele Wochen. Dazu, was sonst noch auf die Familie zukommt ...
An all das will Christoph nicht denken. Lieber schickt er seine Gedanken zurück. - Noch einmal losfahren von daheim, aufbrechen nach Klein-Kaunitz, noch einmal diese herrlichen zwei Wochen vor sich haben!
Oder soll man sich wünschen, zwei Monate jünger zu sein? Da ginge jetzt das Schuljahr zu Ende, und alle wären schon in Ferienstimmung. - Die letzte Stunde in der alten Klasse, die letzten Tage in der alten Wohnung, die Ankunft von Vater, der Umzug, der Trubel ...
Nein, sagt sich Christoph, diesen Rummel möchte ich nicht noch mal mitmachen. Auch nicht den Abschied von der Klasse, einen Abschied, als zöge man in ein fremdes Land, nicht bloß die paar Kilometer ins Neubauviertel. Nein, die letzten zwei Wochen würden genügen - und von den Tagen davor höchstens die Touren mit Vater.
Das war schon während der Umzugszeit. Überall in der alten Wohnung, in den zwei Zimmern und der Küche, die auch Frau Mohnhaupt benutzte - überall standen Kisten und Körbe. Mutter packte Geschirr, Wäsche, Bücher ein, und Anja turnte in dem Durcheinander herum und behauptete, Mutter beim Packen zu helfen.
„Gehn wir!“, sagte Vater zu Christoph, als wieder einmal ein Gewitter wegen dieser Hilfe drohte. „Wir bringen was von dem Kleinkram hin.“
„Tut das!“ Mutter stöhnte. „Hier steht ihr sowieso bloß rum." Eh Anja begriff, hatte Vater einen Korb voller Teller und Tassen gepackt; Christoph hielt ihm die Tür auf, und fort ging’s.
Das nächste Mal war Anja fixer. „Ich will auch mit! “
Trotzdem wurde es eine schöne Tour, zumindest für Christoph. Er musste zwar hinten sitzen, weil Anja anders keine Ruhe gab, als Vater aber endlich losfuhr, verrauchte Christophs Wut. - So fahren können, so schalten, so den alten, auffrisierten Trabi über Kopfsteinpflaster und geflickten Asphalt, über Straßenbahnschienen steuern!
Und dann - diesmal ohne Anja, die es vorzog, der Mutter zu helfen - dann passierte etwas Außerordentliches.
Es war nach der sechsten oder siebten Fahrt zum Neubauviertel, auf dem Heimweg. Am Tag darauf sollte der eigentliche Umzug sein, der Möbeltransport mit einem Lastkraftwagen aus dem Betrieb, mit Anders und Schippel als Helfer, mit einer Feier in der neuen Wohnung. Damals hatten Vater und Christoph den Rest Geschirr hingebracht, und Vater war gefahren, so sicher, so gekonnt, dass keiner der Teller geklirrt, keiner der Topfdeckel geklappert hatten.
„Wohin?“, fragte Christoph, als Vater stadtauswärts abbog.
„Wart’s ab!“
Das war nicht böse gemeint und war doch unumstößlich. Was Vater sagte, das galt. Außerdem hielt er Neugier bei Männern für eine Schande.
Nicht, dass Christoph neugierig gewesen wäre; das nicht! Es fiel ihm schwer, so dazusitzen, angeschnallt neben dem Vater, und abzuwarten. Das war verdammt schwer, aber er schaffte es.
Hätte er wenigstens die Gegend besser gekannt! Durch diese Straßen war er erst ein einziges Mal gekommen: bei einer Fahrt zum Harz, einem Schulausflug. Bis zur Altstadt, wo er bisher gewohnt hatte, waren es knapp vier Kilometer, aber hier am Stadtrand erstreckte sich für Christoph bereits eine fremde Welt.
Das Land rechts und links war leicht gewellt. Felder, gelb und weit - Getreide vor der Ernte; dazwischen da und dort ein Wäldchen oder Gestrüpp. Wie das Korn um diese Inseln wogte!
Christoph spähte durch die Windschutzscheibe und fühlte sich wie Kolumbus, sein großer Namensvetter. Aus dem Ozean stieg links vor ihm Amerika auf, ein dunkelgrüner Streifen, ein Eiland mit sturmgezausten Palmen. In Gedanken gab Christoph das Kommando: Drei Strich backbord voraus!
Der Mann am Steuer brachte das Schiff auf den neuen Kurs. Sanft hob sich der Bug, und eine Weile wuchs Amerika weiter auf. Dann versank es hinter der nächsten Woge, und als es wieder emportauchte, glichen die sturmgezausten Palmwedel struppigen Kiefernzweigen.
Vater, der Rudergänger, hielt darauf zu. Er war von der Landstraße abgebogen und fuhr nun auf einem Feldweg. Das Fahrzeug, eben noch Flaggschiff des Kolumbus, ähnelte jetzt einer Schildkröte, bedächtig, wie es dahinkroch.
Trotzdem: so geschaukelt zu werden, so sanft - auch das machte Spaß. Noch schöner nur, meinte Christoph, dieses Panzertier zu steuern, gerade hier, wo das bestimmt weit schwieriger war als auf glatter, schnurgerader Chaussee.
Er seufzte. An einem Steuer sitzen, einem richtigen Lenkrad, und selber fahren - das blieb ein Wunschtraum, wenn man erst zwölf war, erst elfdreiviertel, und eh man ein Kolumbus der Landstraße wurde ...
„Ist was?“, fragte Vater.
Er blickte aus den Augenwinkeln her, und Christoph, aus seinen Gedanken gerissen, erkundigte sich: „Was soll denn sein?“
„Na, vielleicht geht’s dir zu langsam und ist dir zu langweilig, jetzt und überhaupt in den letzten Tagen?“
„Hm ..."
Da hielt Vater an und stieg aus. Er streckte und reckte sich, schaute sich um.
Auch Christoph war ausgestiegen, stand da, breitbeinig wie Vater und guckte in die Runde.
Rechts Hafer, links Roggen - Halme bis in Schulterhöhe - tatsächlich wie ein Meer, wie Wellen, über die man hinwegsah. Vorn ragten die Kiefern auf, und achtern schimmerten die Türme und Hochhäuser der Stadt.
Es war merkwürdig still. Der Motor schnurrte leise, und fern, scheinbar über den Ähren, zirpte es. Hoch oben kreiste ein Vogel; ansonsten bewegte sich weit und breit nichts und niemand.
„Wie bei Stschastliwoje.“ Der Vater seufzte.
Christoph schluckte und schwieg. Er fühlte sich enttäuscht, und etwas begann ihn zu würgen.
Deshalb also war der Vater hierhergefahren, um wieder von der Trasse, von seinen Kumpels, von ihrem Lager bei diesem Stschastliwoje zu reden! Erst: „Wart’s ab!“ - nun das. Das, statt der Überraschung, auf die er, Christoph, sich gefreut hatte.
„Kopf hoch, Großer! “ Vater legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Noch bleibe ich ja eine Weile hier, und die wollen wir nutzen.“ Er gab ihm einen Stups. „Steig ein!“
Und dann kam das Unerhörte.
„Nicht drüben, hier!“, hatte Vater gesagt.
Christoph sah ihn ungläubig an.
„Na, los schon! “ Vater warf noch einen Blick in die Runde, glitt auf den Beifahrersitz.
Christoph spürte sein Herz im Hals, als er hinter das Lenkrad kletterte.
„Zuerst den Verstand einschalten!“, begann Vater. „Aufs Gas latschen und lospreschen, das kann jeder Idiot; den Kraftfahrer erkennst du an der Art, wie er anfährt, wie er umgeht mit seinem Schlitten.“
Weiß ich doch, dachte Christoph, weiß ich alles auswendig!
Wie im Traum, wie tatsächlich schon oft in Wachträumen trat er die Kupplung durch, legte den ersten Gang ein ...
„Bremse!“
Er löste sie im letzten Moment und schwor sich, das künftig nie wieder zu vergessen.
Vorbei - diese Übungsfahrt, vorbei die anderen zwei „Fahrschulstunden“; der ganze Urlaub, die Ferien mit Vater - fast schon vorbei.
Christoph, in einem Boot mit Mutter und Anja, paddelt über den Plötzensee, den nördlichen Nachbarn des Kaunitz. Bald wird „die Plötze“ überquert sein, und dann, nach der Ankunft in Klein-Kaunitz, wird man die Autos bepacken: Familie Schmidt ihren Trabi, Schippels den neuen Skoda, Anders seinen Zastava ...
Ob es ihre letzte Wasserwanderung gewesen ist, ihre letzte gemeinsame Tour? Wird sich die Freundschaft zwischen Vater, Herrn Schippel und Anders wieder einrenken, oder ist auch das endgültig vorbei?
Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Es geht auf Mittag zu, und allmählich wird’s heiß. Anja ist eingenickt, und alle anderen in den Booten schweigen, schweigen und paddeln wie Automaten.
Manchmal dringt von einem der Ufer ein Laut her, ein Ruf oder ein trunkener Schrei. Dann wieder nur das Geräusch der Paddel - eins, zwei, eins, zwei ... Sonst ist es still und eigentlich langweilig.
Während der Ausfahrt, hauptsächlich am Anfang, war das noch anders. Da wurde gelacht und gealbert; da ging’s noch lustig zu.
Wie voriges Jahr, bei unserer Tour elbabwärts, bis zum Schluss, denkt Christoph, und er grübelt nun doch darüber nach, wer schuld daran hat.
Wir können's nicht sein, sagt er sich, niemand von uns, auch Anja nicht, obwohl sie zum ersten Mal dabei ist. Gerade sie! An ihr hat Frau Schippel einen Narren gefressen.
Oder tut die nur so?
Wie sie manchmal Mutter und Anja anguckt!
Christoph wirft einen Blick zu Frau Schippel, die heute an vorletzter Stelle fährt, zwischen ihrem Mann und Anders. Sie scheint verdrossen zu sein - wie oft, wenn sie sich unbeobachtet glaubt - und auch ihr Mann wirkt mürrisch. Beide schlagen die Paddelblätter ins Wasser, als teilten sie Ohrfeigen aus.
Ob sie tatsächlich missgünstig sind? fragt sich Christoph. Missgünstig und neidisch, wie Mutter neulich behauptet hat? Neidisch auf uns?
Vater hatte das für lachhaft gehalten. „Marion und Bernd - neidisch auf uns? Wo sie alles schon haben, Einrichtung, Hütte, den neuen Skoda - alles, wofür wir noch rackern müssen!“
„Irrtum.“ Mutter lachte seltsam und hob die Stimme. „Kinder zum Beispiel - Kinder haben sie nicht und werden sie sich, wie ich die beiden kenne, auch nicht mehr anschaffen; und was das andere betrifft - das ist ja der Grund für ihren Neid: Weil du an der Trasse bist, sind wir auf dem Wohnungsamt bevorzugt worden, und für das Geld, das du verdienen wirst, können auch wir uns einrichten und eine Hütte bauen und einen besseren Wagen leisten.“
Vater schwieg dazu. Die Hände in den Taschen, stapfte er neben Mutter her. Weiter vorn auf einem Kahlschlag haschte Anja nach Schmetterlingen, und am Schluss schlurfte Christoph, ein einsamer Späher.
Er langweilte sich und vermisste Heiko und Ulf, seine Freunde, vermisste sie zum ersten Mal seit Wochen. Schön und gut, so eine Wasserwanderung, richtig Spaß aber würde sie erst mit Ulf und Heiko machen. Jetzt mit ihnen hier durch den Wald streifen und über den Schlag dort, durch hüfthohes Präriegras!
Ob auch bei uns die Freundschaft mal wackeln wird ? fragte sich Christoph. Neid gab es zwischen ihm und seinen Freunden nicht oder nur, wenn es um Zensuren, Westsachen oder ein Mädchen ging; aber war das bei Erwachsenen nicht ähnlich - bei Vater, Schippel und Anders zum Beispiel?
Soweit Christoph Bescheid wusste, waren die drei schon in der Lehre unzertrennlich gewesen. Sie hatten in derselben Kfz-Werkstatt gelernt und davon geträumt, später zur See zu fahren. Peter, Bernd und Hans in Havanna, Bombay, Mombasa ...
Dann heirateten Vater und Mutter, doch auch für Schippel und Anders blieb die Schifffahrt ein Wunschtraum. Beide bewarben sich bei der Seereederei und wurden abgelehnt.
Das Fernweh schwelte trotzdem in ihnen weiter, und ihre Freundschaft wurde eher noch enger. Hans, Peter und Bernd gingen nach ihrer Armeezeit gemeinsam zum Kraftverkehr, traten gemeinsam dem „Ruderklub Osthausen“ bei, unternahmen jährlich wenigstens eine gemeinsame Wasserwanderung.
Inzwischen hatte auch Schippel geheiratet: Marion, medizinisch-technische Assistentin in derselben Klinik, wo Mutter Krankenschwester war.
„Bernd macht Peter alles nach“, spottete Anders damals.
Er selber blieb ledig, wechselte, wie erzählt wurde, jedes Quartal die Freundin und träumte vielleicht noch sehnsüchtiger als Vater und Schippel von Abenteuern, Bewährung und Ferne.
Für die Arbeit als Kraftfahrer beim Bau einer Erdgastrasse in der Sowjetunion hatte auch er sich beworben, gemeinsam mit Vater. Vater war angenommen, Anders zurückgewiesen worden, und diesmal hatte Schippel gespottet, gehöhnt: „Peter darf fahren, Hänschen muss hierbleiben. Da war ich schlauer; ich hab mich erst gar nicht bemüht.“
„Schlauer?“, fuhr Anders ihn an. „Angst hast du, Angst, deine Marion sucht sich, sobald du fort bist, einen anderen!“
Damit fing, soweit Christoph bekannt war, das Zerwürfnis an. Auch über Vater ging’s her, als er vermitteln wollte. Seitdem hatte die Freundschaft der drei einen Knacks.
Nein, dachte Christoph, uns kann das nicht passieren Ulf, Heiko und mir. Freilich streiten auch wir uns, manchen Tag ein paarmal, aber genauso schnell vertragen wir uns wieder.
Der Umzug fiel ihm ein, der Möbeltransport, die Hilfe von Anders und Schippel. Während Christoph hinter Vater und Mutter herstapfte, erinnerte er sich auch an den vergangenen Abend und die Abende davor, an das Feuer auf den Lagerplätzen, an den Rotwein aus der Flasche, die reihum ging, an Späße, Geschichten, Scherze ...
Sollte das alles vorbei sein, endgültig, für immer, nur weil Schippels missgünstig und neidisch waren? - Vielleicht neidisch und missgünstig. - Überhaupt, diesen Spaziergang, ihren ersten allein als Familie, durch so was zu verderben!
Christoph trabte los, galoppierte vorbei an Vater und Mutter, wieherte herausfordernd.
Inzwischen hatte Anja von den Schmetterlingen abgelassen und sich zurück zu den Eltern getrollt. Sie machte als erste mit, und dann setzten sich auch Vater und Mutter wiehernd in Trab.
Es war wie in freier Wildbahn, wie in der Prärie, der afrikanischen Savanne oder den Steppen Asiens, und es ging so, bis die Sonne versank.
Gezwitscher holt Christoph zurück aus der Erinnerung. Ohne zu stocken, paddelt er weiter und lauscht. Da - wieder ein Triller wie von einem Pirol!
Mutter spitzt die Lippen und zwinkert. Gezwitschert hat sie. Stimmen nachahmen, auf den Fingern pfeifen - das kann sie wie niemand sonst, kann sie sogar noch besser als Vater.
„Traurig?“, fragt sie jetzt.
Christoph schüttelt den Kopf.
„Denk mal zurück!“, sagt Mutter leise, wie in Gedanken. „Die Zeit von Mai bis Anfang August, wie schnell die vergangen ist! Wenn wir erst daheim sind und wieder im Drasch ..." Sie verstummt.
Vater hat aufgeholt, sich backbords herangepaddelt.
Anja schläft, an Mutter gekuschelt.
„Was gibt’s hier zu tuscheln?“, fragt Vater.
„Zu tuscheln?“ Mutter macht runde Augen und zwinkert.
„Bei uns ist kein Wort gefallen“, sagt Christoph und zwinkert zurück.
Vater grinst, und eine Weile fahren die Boote einträchtig nebeneinander.
Sie befinden sich bereits auf dem Kaunitzsee. Vorn kommt der Bootssteg in Sicht. Noch zehn, zwölf Minuten, und die gemeinsame Reise, die Zeit im Paradies, ist vorbei.
„He, ihr!“, ruft Frau Schippel. „Wohl Abschiedsstimmung? Los Tempo! Durchhängen gibt’s nicht!“
Sie setzt zu einem Spurt an, doch nur ihr Mann folgt. Die beiden Kajaks gehen in Führung.
Sollen sie, denkt Christoph. Er möchte die Fahrt stoppen, die Uhr anhalten, die Trennung von Vater weit wegschieben; seine Arme aber paddeln und paddeln.
Schon sind die Planken vom Bootssteg zu erkennen. Links oben - der Parkplatz, und in der vordersten Reihe ...
Plötzlich dreht sich Frau Schippel um. „Schmidt, an deiner Pappkiste - ein Strafzettel!“
Vater, Schippel und Anders haben beim Bootssteg geparkt, auf einem Platz, der zur Anlage gehört und zum Parken da ist. Die Wagen stehen neben anderen Wagen auf der leicht erhöhten, planierten Fläche, manche mit dem Heck, die meisten mit der Frontscheibe zum See. Der Trabant der Familie Schmidt ist der dritte von links.
Unter dem rechten Scheibenwischer sieht Christoph ein Stück Papier.
„Quatsch - ein Strafzettel“, murmelt Vater.
Christoph hat eben das gleiche gedacht.
Aber was sonst kann das Papier bedeuten? Und es ist tatsächlich Papier, was dort steckt! An keinem der Wagen, nur an unserem Trabi!
Und dann hält Vater das Blatt in der Hand. Mutter versucht, in seinem Gesicht zu lesen, Frau Schippel, ihm über die Schulter zu gucken. Vater liest halblaut: „Ein Telegramm für Peter Schmidt, FF vierunddreißig-fünfundvierzig, an der Theke abzuholen.“
„Ein Telegramm?“, fragt Mutter.
Vater zuckt die Schultern.
Ein Blick von ihm, und Christoph flitzt los.
Wenn’s nur nichts Schlimmes ist! geht es ihm durch den Kopf, während er zur Gaststätte hochrennt. Er hört, dass Frau Schippel ruft, er solle den Zettel mitnehmen und vorzeigen. Nein, denkt er, wenn man umkehrt, gibt’s Unglück.
Die Tische auf dem Hof sind besetzt, und auch im Restaurant herrscht Hochbetrieb. Eine Schlange vor der Kasse, Leute mit Tabletts vor einem Essenschalter und vor der Theke, dahinter ein langer Bärtiger, der Gläser spült und Gläser füllt ...
Christoph drückt sich am Schalter vorbei, drängt sich vor zu dem Bärtigen.
„Anstellen!“, verlangt ein schwitzender Glatzkopf.
„Ich will bloß ein Telegramm“, sagt Christoph.
„Ein - was? Hier ist ein Lokal, hier gibt's Speisen und Getränke!“
„Na und?“, mischt sich der Bärtige ein. „Vielleicht möchte der Junge zum Mittag ein Telegramm verspeisen.“
Er zwinkert Christoph zu, langt nach einem Kuvert auf einem Schrank und erkundigt sich: „Schmidt, Peter FF vierunddreißig - fünfundvierzig?“
Christoph nickt eifrig. „Mein Vater.“
„Na, dann …“ Der Bärtige reicht den Umschlag über die Theke.
„Und grüßt mir Thüringen!“
Christoph dankt, schlängelt sich an der Kasse vorbei, springt hinaus. Während er über den Hof geht, zwischen den Tischen hindurch, zieht er das Telegramm aus dem Umschlag, liest die Adresse: Peter Schmidt + + + FF 34-45 + + + Klein-Kaunitz + + + Seeblick.
Keine Postleitzahl, aber unsere Autonummer! Der Name der Gaststätte und der Name von Vater. - Ein komisches Telegramm.
Es ist zusammengefaltet und mit einem Streifen zugeklebt. Ein Schlitz, und der Text ließe sich lesen; aber die Nachricht ist für Vater bestimmt, und auch Christoph wäre es nicht recht, wenn Post an ihn von Vater oder Mutter geöffnet würde.
Jemand rempelt ihn an, schimpft ihn „Schlafmütze“. Er seufzt, steckt das Telegramm in den Umschlag zurück, geht weiter. Hinter ihm schwirren Stimmen, klirrt Geschirr, und irgendwo schreien Möwen.
Christoph wird ungeduldig erwartet. Vater und Mutter, Schippels und selbst Anders - sie alle stehen am Parkplatz und sehen her.
Anja schleicht eine Möwe an und hüpft nach dem auffliegenden Vogel.
„Na?“, fragt Vater.
Christoph schwenkt das Kuvert.
Eh Vater zugreifen kann, hat Frau Schippel zugegriffen. Sie springt zurück, zieht lachend das Telegramm heraus, zerreißt den Streifen.
„Also weißt du, Marion!“
„Ach was! Hört zu!“ Und sie stellt sich in Positur, liest, das Telegramm in der ausgestreckten Hand: „Schwarze Sachen mitbringen für Elsa!“
„Schwarze Sachen?“ Mutter runzelt die Stirn. „Und Elsa? Wer ist das?“
„Tja, wer?“ Vater lächelt verlegen. „Ich kenn nur eine Katze, die Elsa heißt, die Katze von Jumbo - einer meiner Kumpel.“
„Aber Peter“, ruft Frau Schippel, „du wirst doch nicht deine
Trassenliebste verleugnen! Eine Katze? Dann bist du wohl der Kater?“
Jetzt zuckt es in Vaters Gesicht. „Erfasst, Marion“, sagt er. „Elsa schnurrt, und ich maunze, und wenn sie ihr Fell an meinem Balg reibt ..." Er schließt die Augen und miaut verliebt.
Christoph muss lachen, als er Vater so sieht. Anders und Mutter, selbst Schippels - sie alle grinsen. Anja guckt Vater fassungslos an.
„Übrigens“, fragt Mutter später, „was hat diese Elsa eigentlich für ein Fell? Ein weiches, blondes? Oder mehr ein brünettes?“
„Ein rotgelbes“, sagt Vater. „Sie ist rotgelb und gefleckt wie ein Tiger. Wirklich, Katrin, ich kenne keine andere Elsa.“
„Und ‚schwarze Sachen'?“
Vater zuckt die Schultern. „Es muss ein Jux sein, ein Scherz von Jumbo und Jäcki.“
Tage später sitzt Peter Schmidt, der Vater von Christoph, etwa zweitausend Kilometer östlich von Klein-Kaunitz an einem Klapptisch. Der Tisch befindet sich unter einem Fenster, und an einem Nagel im Fensterrahmen ist eine armlange Stablampe festgebunden. Ihr gelblicher Schein fällt auf liniertes Schreibpapier.
Wäre es still, könnte man hören, wie Lampe und Fensterscheibe klirren. So aber sieht Vater Schmidt nur das Licht zittern, und ein wenig spürt er, wie die Tischplatte vibriert.
Er hat die Ellenbogen aufgestützt und sich mit den Zeigefingern die Ohren verstopft. Umsonst. Das sägende und raspelnde Geräusch, das alles erzittern lässt, ertönt weiter.
Erzeugt wird es im unteren Teil einer doppelstöckigen Schlafstatt. Dort ruht, von Dämmer und einer bunt kariert überzogenen Steppdecke umhüllt, ein Mensch, der so breit ist wie hoch. Vielleicht sogar noch etwas breiter.
„Lutz Mai, Weltmeister im Schnarchen“, mit diesen Worten stellte er sich dem Vater vor. Sein rundes Gesicht strahlte dabei wie der Vollmond auf einem Berg. „Auch Tiefbau?“
„Kraftverkehr“, sagte Schmidt. „Hierherversetzt.“