Rauhnacht - Annette Krupka - E-Book

Rauhnacht E-Book

Annette Krupka

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Beschreibung

Jutta Günther, selbsternannte Plauener Hexe und Medium, warnt ihre Nachbarin, die junge Maxi Krüger, keinesfalls in den Rauhnächten, der Zeit zwischen den Jahren, weiße Wäsche draußen aufzuhängen. Die Wilde Jagd würde kommen und Unheil über sie und ihre Familie bringen. Die junge Mutter, alles andere als abergläubig, schlägt die Warnungen in den Wind und wird prompt, bedeckt mit weißer Wäsche, tot auf ihrem Wäscheplatz aufgefunden. Hauptkommissar Mike Köhler und sein Team glauben nicht an die Wilde Jagd, sondern an eine klare Beziehungstat. Ihr Lebenspartner hat ein klares Motiv, aber ist er auch der Mörder? Inzwischen taucht Kate Schulz in eine mystische Welt der vogtländischen Bräuche und Sagen ein und findet eine verblüffende Spur.

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Das Buch

Jutta Günther, selbsternannte Plauener Hexe und Medium, warnt ihre Nachbarin, die junge Maxi Krüger, keinesfalls in den Rauhnächten, der Zeit zwischen den Jahren, weiße Wäsche draußenaufzuhängen. Die Wilde Jagd würde kommen und Unheil über sie und ihre Familie bringen. Die junge Mutter, alles andere als abergläubig, schlägt die Warnungen in den Wind und wird prompt, bedeckt mit weißer Wäsche, tot auf ihrem Wäscheplatz aufgefunden.

Hauptkommissar Mike Köhler und sein Team glauben nicht an die Wilde Jagd, sondern an eine klare Beziehungstat.

Ihr Lebenspartner hat ein klares Motiv, aber ist er auch der Mörder? Inzwischen taucht Kate Schulz in eine mystische Welt der vogtländischen Bräuche und Sagen ein und findet eine verblüffende Spur.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - 18. Dezember

Kapitel 2 - 23.Dezember

Kapitel 3 - 26. Dezember

Kapitel 4 - 26. Dezember

Kapitel 5 - 27. Dezember

Kapitel 6 - 28. Dezember

Kapitel 7 - 29. Dezember

Kapitel 8 - 30. Dezember

Kapitel 9 - 31. Dezember

Kapitel 10 - 3. Januar

Kapitel 11 - 4. Januar

Kapitel 12 - 6. Januar

Kapitel 13 - 7. Januar

Kapitel 14 - 8. Januar

Kapitel 15 - 10.Januar

Kapitel 16 -13. Januar

Kapitel- 17 - 20. Januar

Kapitel- 18 - 25. Januar

Nachwort

Kapitel 1 18. Dezember

Als Mike die Augen öffnete, sah er vor dem Schlafzimmerfenster die Schneeflocken in wildem Treiben.

„Nicht schon wieder“, stöhnte er.

Seit Tagen schneite es fast ununterbrochen und so war die anfängliche Freude auf ein weißes Weihnachtsfest der Realität von fast überwältigenden Schneemassen gewichen. Jeden Tag musste er erst die Einfahrt freischaufeln, um überhaupt aus der Garage zu kommen.

Langsam setzte er sich auf und sah zur Uhr. Kurz nach 7.00 Uhr. Das Bett neben ihm war leer. Er stieg aus dem Bett, ging ins Bad und dann hinunter in den Keller.

Da Kate bei diesem Wetter nicht joggen gehen konnte, hatte sie, kurz nachdem die Wettermodelle einen Jahrhundertwinter in Aussicht stellten, einen der Kellerräume kurzerhand zum Fitnessstudio umbauen lassen. Jetzt hörte er schon auf der Treppe das rhythmische Geräusch des Laufbandes und des Fernsehers, wo Kate, wie jeden Morgen, die Nachrichten von CNN ansah. Er streckte den Kopf zur Tür hinein und sah, wie sie gerade die Hand über dem Ausschaltknopf schweben ließ.

„Bin fertig“, sagte sie und trabte langsam mit dem Band aus.

„Hast du auch Augen im Hinterkopf?“, fragte Mike und Kate sah sich nach ihm um.

„Altes FBI-Überbleibsel.“ Dann lachte sie. „Wusstest du, dass es sich im Fernseher spiegelt, wenn die Tür aufgeht? Und da ich nicht mit einem Überfall gerechnet habe, lag der Verdacht nahe, dass du es bist.“

Sie war vom Laufband abgestiegen, wischte sich das Gesicht an einem Handtuch ab und gab Mike einen Kuss. „Guten Morgen. Ich spring nur unter die Dusche. Lässt du mir einen Kaffee heraus?“

Er lief hinter ihr die Treppe nach oben. „Bis du fertig bist, habe ich nicht mal die Hand am Schalter“, rief er ihr nach. Kate war dafür bekannt, in wenigen Minuten startklar zu sein.

Sie sah über das Geländer. „Heute lasse ich mir Zeit.“

Dann verschwand sie im Bad.

Mike ging in die Küche und begann, den Frühstückstisch zu decken, als er ein Kratzen und Schaben vor der Tür hörte. Stirnrunzelnd ging er zu Eingangstür und beim Öffnen kam ihm ein Schwall eisiger Luft entgegen. Ernst Winter, sein Nachbar, war gerade dabei die Einfahrt freizuschaufeln.

„Guten Morgen“, rief der rüstige Rentner ihm gutgelaunt entgegen und deutete mit seinem dicken Fäustling auf den Türknauf.

Mike spähte um die Ecke und entdeckte einen Stoffbeutel mit frischen Brötchen. „Danke“, sagte er und zog den Beutel um die Ecke ins Innere. „Aber das hätten sie nicht gemusst.“

Er deutete auf die stetig wachsenden Schneeberge links und rechts neben der Gartentür.

Ernst Winter winkte ab. „Da kann ich mich endlich mal dafür revanchieren, was Katherina und sie für mich getan haben, als mein Bein gebrochen war.“

Dann schaufelte er unverdrossen weiter.

Mike ließ den Kaffeeautomaten an und schüttete die Brötchen in einen Korb.

Mascha stand mauzend neben ihm und sah ihn vorwurfsvoll aus ihren grünen Augen an.

„Ja doch“, murmelte er und griff zu der Tüte mit Trockenfutter, was von der Katze mit Lauten kommentiert wurde, als habe sie in der letzten Woche nichts zu fressen bekommen. Er schüttete eine großzügig bemessene Portion in ihren Napf und stellte eine Schale mit frischen Wasser daneben. Beides wurde von Mascha inspiziert, aber ignoriert.

Dann schwenkte sie mit erhobenen Schwanz in Richtung Wohnzimmer, wo sie sich auf der Couch zusammenrollte.

Als Kate in die Küche kam, roch es neben dem Duft nach Kaffee auch nach Räucherkerzchen und auf dem Tisch brannten die vier Kerzen des Weihnachtsgesteckes.

„Wow“, sagte sie und nahm Platz. „Hat dich der Zauber der Weihnacht auch noch eingeholt?“

Sie erinnerte sich noch zu gut, wie geschockt Mike in ihrer ersten gemeinsamen Adventszeit gewesen war, als sie in einem Kaufrausch, gemeinsam mit ihrer Freundin und jetzigen Nachbarin Jasmin, im Erzgebirge einen Kunstgewerbeladen fast ausgekauft hatte.

Mike stellte den Kaffee vor sie hin und streichelte dabei ihre Hand. „Ich weiß doch, dass es dir gefällt und ja, ich finde es auch ganz gemütlich.“

Kate deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. „Ist die eingemummelte Gestalt da draußen Herr Winter?“

Mike nickte. „Er will sich unbedingt revanchieren, weil wir ihn und Frau König doch in der Zeit seines Beinbruches auch versorgt haben.“

Er deutete auf den Korb. „Die Brötchen sind auch von ihm.“

Während sich Kate ein Roggenbrötchen herausangelte, sah sie zur Uhr. „Es ist richtig schön, dass wir einmal Zeit zum gemeinsamen Frühstück haben und bald sind Feiertage.“ Sie griff zum Honig. „Ich freue mich auf eine ruhige Zeit.“

Mike nickte zögerlich. „Ja, aber ich habe Bereitschaft.“

Kate nippte von ihrem Kaffee. „Naja, aber vielleicht ist es ruhig“, sagte sie. „Jedenfalls haben wir keinen Besuch. Deine Mutter wollte ja nicht zu uns kommen.“

Obwohl Kate das völlig neutral sagte, wusste Mike, dass sie gekränkt war, weil seine Mutter lieber den beschwerlichen Weg nach Holland zu ihrer Tochter angetreten hatte, statt hier mit ihm und ihr zu feiern.

„Naja, sie will halt gern bei ihren Enkeln sein“, versuchte Mike es, aber Kate sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „So wie voriges Jahr und das Jahr zuvor und an Ostern auch?“

Als Mike schwieg, zuckte sie mit den Schultern.

„Sie mag mich nicht, basta.“

Er setzte zum Sprechen an, schloss dann aber den Mund und griff zu einem Croissant.

Kate musterte ihn eine Weile von der Seite. „Habe ich irgendetwas falsch gemacht, außer ihr ihren Sohn wegzunehmen?“

Mike lehnte sich zurück und legte das Messer aus der Hand. „Nein. Nein, das hast du nicht. In Wahrheit war das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter nie so gut wie zwischen ihr und meiner Schwester.

Außerdem denke ich, du bist so ganz anders als Carla. Sie geht in ihrer Berufung als Hausfrau und Mutter völlig auf. Meine Mutter versteht nicht, dass du nicht sofort nach unserer Heirat Kinder bekommen hast und zu Hause geblieben bist. Eine Frau, die selbständig ist, trotz Ehe, passt nicht in ihr Weltbild.“

Kate ergriff seine Hand. „Naja, solange ich in dein Weltbild passe, ist es ja in Ordnung. Dann wird es halt ein ruhiges Weihnachten.“

„Ha“, machte es Mike, der sein Messer wieder ergriffen hatte. „Vielleicht fliegt noch deine Familie aus Israel ein?“

Kate schüttelte den Kopf. „Selbst wenn sie wollten, bei dem Wetter hätten sie keine Chance. Ich habe gestern Abend mit Tante Sarah gechattet, sogar in Jerusalem liegt Schnee. Doch ruhige Weihnachten.“

Während sie sich erhob und Kaffee nachschenkte, lachte Mike.

„Dann kennst du die Pläne unsere lieben Nachbarn und Freunde nicht, oder? Erster Weihnachtsfeiertag großes Essen bei Omar, Jasmin und unseren Patenkindern inklusive seiner ganzen Mischpoche und Nachbarn. Zweiter Weihnachtstag, großes Essen bei Familie Winter und König, auch mit der gesamten Nachbarschaft. Sogar Bogdan Serwowitsch ist eingeladen. Abends dann hat Chris zu einem kleinen Umtrunk in seine neuen Wohnung eingeladen, hast du das vergessen?“

Kate hatte sich zurück auf den Stuhl fallen lassen und stöhnte gespielt theatralisch auf. „Aber der Heilige Abend bleibt uns wenigstens noch?“

Mike bewegte langsam den Kopf hin und her. „Dann freu dich mal nicht zu früh.“

Kapitel 2 23.Dezember

„Warum in Gottes Namen habe ich mir nur keinen Wäschetrockner zugelegt“, stöhnte Maxi Krüger leise vor sich hin, während sie mit, trotz Handschuhen, steifgefrorenen Fingern den Schnee auf dem Wäscheplatz wegschob.

Es erinnerte sie an das Märchen vom süßen Brei, irgendwie schien der Schnee immer mehr statt weniger zu werden, obwohl es endlich mit Schneien aufgehört hatte und auch diesen und den kommenden Tag sonnig, aber kalt bleiben sollte. Wenigstens konnte sie die Masse an Wäsche aufhängen, die sich bei ihr angesammelt hatte.

Mit einem kleinen Kind ging das eben schnell und die zweijährige Nanni war ein ausgemachter Kleckerfritze. Mit einem Seufzer stellte sie den Schneeschieber zur Seite und schüttelte die Wäscheleinen ab.

In diesem Moment öffnete sich die Tür im Nachbarhaus und Maxi stöhnte innerlich auf. Auf ein Gespräch mit Jutta Günther, ihre sehr mitteilsamen Nachbarin, hatte sie heute wirklich keine Lust, zumindest nicht in dieser Kälte. Dann sah sie eine dampfende Tasse in der Hand der älteren Frau.

„Maxi“, rief diese und schwenkte leicht die Tasse.

„Du musst doch völlig verfroren sein, Kind. Komm.“

Langsam schlenderte Maxi Krüger in Richtung des Zaunes und zog dabei die Handschuhe aus.

Ihr war wirklich erbärmlich kalt und sie ergriff die dampfende Tasse mit einem unvergleichlichen Gefühl des Wohlbehagens.

„Meine eigene Mischung, mit Melisse und Ingwer.

Da wird dir schnell warm.“

Zögerlich nippte die junge Frau von dem dampfenden Gebräu, was überraschend lecker war. Als sich ihre Miene aufhellte, nickte Jutta Günther zufrieden.

Dann deutete sie in Richtung Wäscheplatz.

„Warum hast du dich denn so geplagt, Kind? In zwei Tagen schneit es doch sowieso wieder.“

Maxi drehte etwas die Augen nach oben. „Aber bis dahin kann ich zwei Maschinen Wäsche raushängen, die trocknet auch im Frost. Meine Bettwäsche…“ Sie stockte, als Jutta Günther sie erschrocken ansah.

„Du willst doch jetzt nicht allen Ernstes Bettwäsche und Bettlaken auf die Leine hängen?“

Verdattert sah Maxi sie an. „Jaaaa…“ sagte sie zögerlich. „Warum nicht?“

Die ältere Frau schlug die Hände zusammen. „Weil ab morgen die Rauhnächte sind.“

„Und was hat das mit meiner Bettwäsche zu tun?“, fragte Maxi, langsam etwas genervt. Sie hatte in dieser Kälte absolut keinen Draht für solche Ratespielchen.

Jutta Günther beugte sich über den Zaun und sah Maxi ernst an. „In diesen Nächten ist die Wilde Jagd unterwegs. Das bringt Unglück.“

Maxi starrte sie an, dann begann sie schallend zu lachen. Prompt verschluckte sie sich an dem Tee, japste und hustete, um schließlich die Tasse wieder über den Zaun zu reichen.

„Die Wilde Jagd? Das ist nicht dein Ernst, Jutta, oder?“

Als diese, ohne eine Miene zu verziehen, nickte, prustete Maxi wieder los.

„Echt mal, Jutta, dass du solch einen Schwachsinn wirklich glaubst.“ Kopfschüttelnd machte sie sich auf den Rückweg zum Haus.

„Maxi, bitte“, rief Jutta Günther ihr nach, aber diese winkte nur ab. Anfangs war sie froh gewesen, Jutta Günther als Nachbarin zu haben. Die ältere Frau war so der Typ Alt-Achtundsechzigerin, was Maxi und auch ihrem damaligen Freund Lars, der Nannis Vater war, gut gefiel.

Jetzt lebte sie seit einigen Monaten mit Lukas zusammen, ihre Liebe war ganz frisch und Maxi hatte noch immer Schmetterlinge im Bauch, wenn sie an ihn dachte. Naja, Lukas fand Jutta nervig, aber das behauptete er von einigen Leuten in seiner Umgebung.

Jedenfalls war Jutta in ihren Augen immer locker drauf, wenn man mal von den teils skurrilen Gestalten absah, die bei ihr ein- und ausgingen.

Dass sie sich selbst als Hexe und Medium bezeichnete, tat Maxi als Schrulle ab. Sollte doch jeder tun und lassen, was ihm gefiel. Außerdem kümmerte sich Jutta jederzeit gern um Nanni und die Kleine mochte sie auch.

Maxis Mutter war da nicht so flexibel, am besten sie meldete sich wochenlang vorher an, wenn sie sie einmal für ihre Enkeltochter brauchte.

Darum mochte Maxi Jutta.

Aber manchmal war sie wirklich nervig, wie eben jetzt. So ein Unsinn, die Wilde Jagd.

Sie sah hinüber zu deren Grundstück. Jutta verschwand gerade wieder in ihrem Haus. Erleichtert atmete sie auf. Na, da würde sie ihre Wäsche vielleicht ohne weitere bizarre Geschichten auf die Leine bringen.

Als sie schon in Richtung Haus unterwegs war, bemerkte sie eine dicht vermummte Gestalt, die gerade durch Jutta Günthers Garten huschte.

Sie ging nicht zu deren Haustür, sondern gezielt in Richtung Straße und verschwand aus Maxis Blickfeld.

Verwirrt schüttelte diese den Kopf und steckte den Schlüssel ins Schloss. Aber das Gefühl, die ganze Zeit beobachtet worden zu sein, jagte ihr plötzlich einen unangenehmen Schauer über den Rücken.

Kapitel 3 26. Dezember

„Sind wir hier richtig?“, fragte Frieder Lein und spähte durch das dichte Schneetreiben.

„Richtung Pfaffengut“, murmelte Mike, der das Lenkrad seines BMW ungewöhnlich fest umklammerte und Mühe hatte, das Auto in der Spur zu halten, sofern man davon überhaupt nur sprechen konnte.

„Hier rum“, rief plötzlich Frieder und Mike schlug das Lenkrad ein. In diesem Moment begann der Wagen zu schlittern und glitt geradezu sanft in den Straßengraben.

„Scheiße“, sagte Frieder leise und Mike warf ihm einen Blick zu, der Bände sprach. Dann öffnete er unter Mühen die Autotür und versank sofort im Schnee, als er nach draußen stieg.

„Bleib drin“, befahl er dem Kommissaranwärter, als dieser seinem Beispiel folgen wollte. Es reichte ja, wenn einer fast bis zum Hosenbund im Schnee einsank. Mike griff in seine Tasche, um sein Smartphone herauszuholen, als hinter ihm ein Motor aufheulte und sich ein Auto durch das dichte Schneetreiben kämpfte. Er öffnete blitzschnell die Tür, um nicht von dem Auto erfasst zu werden, das aber elegant direkt neben ihm hielt. Es war Omar Amris SUV, bestückt mit Schneeketten.

Aus dem Beifahrerfenster, das genau auf seiner Augenhöhe war, lächelte ihm Marianne Jäger entgegen.

Omar kletterte von der Fahrerseite aus direkt auf die Straße und umrundete seinen Wagen.

Kopfschüttelnd sah er auf den BMW, der mit dem Heck im Graben hing.

„Du hättest warten und mit mir fahren können“, sagte der Pathologe und öffnete die Kofferraumklappe. „So, jetzt ziehen wir dich erst mal raus.“

Er nahm ein Abschleppseil heraus und klopfte an die Scheibe von Mikes BMW. Frieder Lein schrak zusammen, weil er gerade auf sein Smartphone gestarrt hatte.

„Komm raus und mach dich nützlich“, rief Omar und dann deutete er Marianne, sich auf den Fahrersitz seines SUV zu setzen. Er warf dem Kriminalanwärter das Abschleppseil entgegen, der gerade umständlich aus der Beifahrertür kletterte und versuchte, nicht völlig im Schnee zu versinken.

„Festmachen“, kommandierte Omar und kletterte dann in den Graben, um an das Heck zu gelangen.

„Sollten wir nicht…“, begann Mike.

Omar sah ihn an. „Hier hilft uns niemand. Was glaubst du denn, was los ist? Die Spurentechnik ist nur durchgekommen, weil sie auch so clever waren und Schneeketten draufhaben. Und jetzt komm.“

In sich hineinfluchend kletterte auch Mike in den Graben, während Frieder Lein mit steifen Fingern das Abschleppseil zwischen beide Autos einhängte.

„So, und jetzt komm mit hier hinter“, befahl Omar weiter, der sich in der Rolle sehr wohlzufühlen schien.

„Langsam und mit Gefühl losfahren, Marianne“, rief er jetzt der Kommissarin zu, die stoisch wie immer Omars Kommandoton ertrug und langsam anfuhr.

Und wirklich, der zweite Versuch klappte und Mikes BMW stand hinter Omars SUV auf der Straße. Dieser stieg wieder in seinen Wagen, den Marianne verlassen hatte und dirigierte diese ans Steuer von Mikes BMW. Dann verschwanden sie im Schneetreiben.

Mike und Frieder sahen sich völlig perplex an.

Noch ehe sie richtig reagieren konnten, hörten sie Omars dröhnende Stimme aus der Ferne.

„Kommt ihr mal?“

Vorsichtig bewegten sie sich in den Fahrrinnen der Autos, die zumindest etwas Halt und vor allen Dingen Orientierung boten und kamen an ein Grundstück.

Dort stand Mikes BMW auf einem glatt gefegten Parkplatz und Omar scherzte mit einer Frau mittleren Alters, die mit Pudelmütze und Handschuhen angetan, einen riesenhaften Hund an der Leine führte.

„Das ist Hauptkommissar Köhler, der unglückliche Fahrer dieses schönen Wagens“, rief Omar und lachte gemeinsam mit der Frau um die Wette. Diese wandte sich schließlich zu Mike hin. „Sie können ihr Auto hier die nächsten Stunden stehen lassen. Mein Mann kommt bei diesem Chaos erst spät von der Arbeit und bis dahin ist auch der Räumdienst durchgefahren. Wenn nicht, würde mein Freddi denen Beine machen.“ Dann zwinkerte sie Mike zu. „Er ist schließlich ihr Chef.“

Dann wurde sie ernst. „Aber natürlich haben erst die Hauptstraßen Priorität. Es konnte ja keiner wissen, dass hier die Polizei durchmuss. Es ist doch hoffentlich nichts mit der Kleinen passiert?“

Als Mike schwieg, nickte sie. „Natürlich dürfen sie nichts sagen“, murmelte sie und zog ihren Hund, der sehr interessiert an Mike geschnüffelt hatte, zurück.

„Komm, Boss. Wir gehen lieber und lassen die Leute ihre Arbeit machen.“

Mit einem letzten freundlichen Lächeln verschwand sie in dem rustikalen Haus und Omar deutete auf seinen SUV.

„Bitte einsteigen, die Herrschaften. Der rechtsmedizinische Fahrservice steht zu ihrer aller Verfügung.“

Mike schraubte die Augen hoch, hielt es aber für besser, Omars Anflüge von Humor nicht zu kommentieren. Ihm war zuzutrauen, ihn hier in der Pampa stehen zulassen. Zügig, aber sehr routiniert, pflügte dieser sein Gefährt durch das Schneetreiben.

„Wo in aller Welt sind wir?“, fragte Frieder, den Google Earth wahrscheinlich im Stich gelassen hatte.

„Da unten ist das Pfaffengut“, sagte Marianne und deutete hinaus in die Schneewand.

„Du hast doch eigentlich frei?“, fragte Mike, als falle ihm eben erst ein, dass Marianne Jäger am ersten Weihnachtstag mit von der Partie war.

„Wie wir alle“, brummte Omar.

Marianne winkte ab. „Als ich die Nachricht gehört habe bin ich gleich los. Meine Männer kommen auch mal paar Stunden ohne mich aus. Das Essen steht fertig in der Röhre.“

Ein Auto der Spurensicherung tauchte so plötzlich vor ihnen auf, dass Omar abrupt bremste.

„Mist“, murmelte Frieder Lein und kroch durch das Auto, als bei der Bremsaktion sein Smartphone aus seiner Hand geschleudert worden war.

„Weg, es ist weg“, sagte er geradezu panisch und versuchte, unter dem Vordersitz zu angeln.

„Du wirst ja mal ohne das Ding auskommen. Ist das fest mit euch Verwachsen, oder was?“, brummte Omar gereizt, der neben dem Spurensicherungswagen eingeparkt hatte und im Aussteigen begriffen war.

„Warten sie nur, bis ihre Kinder so alt sind, Herr Professor“, erwiderte Frieder und Mike glaubte sich verhört zu haben. Der sonst eher ruhige und respektvolle Kommissaranwärter fuhr ausgerechnet Omar über den Mund. Dieser steckte seinen Kopf wieder ins Wageninnere und sah den jungen Mann mit zusammengekniffenen Augen an. Dieser hielt dem Blick tapfer stand.

Plötzlich lachte Omar auf, sein tiefes, brummendes Lachen. „Touché, mein Junge, Touché. Ich hab damit zwar noch ein wenig Zeit, aber du hast zweifellos recht.“

Er sah zu Mike hinüber, der stumm der Auseinandersetzung gefolgt war. „Bück dich mal, es liegt rechts neben deinem Fuß.“

Mike reichte das Smartphone an Frieder weiter, der Omar anlächelte. „Danke, Herr Professor.“

Als er ausgestiegen war, reichte Omar ihm die Hand.

„Du bist jetzt lange genug dabei, Frieder. Lass den Professor, ich bin Omar.“ Der Kommissaranwärter nahm fast behutsam die ihm dargebotene Hand.

„Danke“, sagte dieser und Omar nickte. Als er sich abwandte, murmelte Marianne in Richtung des jungen Mannes. „Das war jetzt der Ritterschlag, das weißt du schon.“

Dieser grinste in ihre Richtung. „Aber so was von“, sagte er und stampfte beherzt hinter dem Pathologen her.

„So eine Geschichte habe ich auch noch nicht erlebt“, sagte Karsten Windisch, der Leiter der Spurensicherung, der vor einem kleinen, aber schmuck aussehenden Haus stand.

Daneben, ähnlich gebaut und nur durch einen Zaun getrennt, stand ebenfalls ein Haus mit einem großen Wäscheplatz, auf dem neben umherliegender Bettlaken, Bettbezügen und Kinderwäsche Karstens Leute umherliefen und Spuren sicherten, soweit das bei dem Schneetreiben möglich war. Gerade versuchten sie, den vermutlichen Tatort mit einem Zelt einigermaßen zu sichern.

Mike runzelte die Stirn. „Und warum stehen wir hier?“, fragte er und der Leiter der Spurensicherung deutete auf die angelehnte, hellgrüne Haustür, an der ein Naturkranz hing.

„Komm nur rein“, sagte er und reichte ihm Schuhschoner.

Die angenehme Wärme im Inneren durchflutete ihn und er hörte Omar bereits in einem Raum, der an den Flur grenzte, leise mit einer Person sprechen.

„So und jetzt halt mal die Luft an“, sagte Karsten und meinte dies sowohl im direkten wie im übertragenen Sinne. Dichte Schwaden von Räucherwerk kamen ihm entgegen und er sah in dem Raum mindestens drei Quellen dieses Qualms, meist aus schlichtem Ton. Erstaunt sah er sich um, von der niedrigen Holzdecke, an der dicht an dicht verschiedene Kräuterbüschel hingen, zu den Wänden, die mit mystischen Zeichen geschmückt waren.

Ein riesiges Bücherregal drohte aus den Nähten zu platzen und überall, auf jedem freien Platz standen oder lagen Bücher, Zettel und Handschriften.