Rot oder Blau - Du hast die Wahl - Manfred Theisen - E-Book
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Rot oder Blau - Du hast die Wahl E-Book

Manfred Theisen

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Beschreibung

Wahrheit oder Lüge? Was würdest du wählen?

Zwei neunte Klassen, ein Landschulheim und ein politisches Experiment: 32 Schüler sollen mit einem Spiel auf das Thema Demokratie eingestimmt werden. Innerhalb von fünf Tagen sollen sich zwei Parteien zusammenfinden, jeweils ein Kandidaten aufgestellt und am Ende ein Präsident gewählt werden. Das soll die Schüler für Politik begeistern. Aber das Spiel entgleitet den Lehrern und statt Schutz der Minderheit, geheimer Wahl und Gewaltenteilung regieren bald Fake News, Intrigen und Machtgehabe den Wahlkampf ...

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Seitenzahl: 342

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Foto: © Isabelle Grubert

DERAUTOR

Manfred Theisen wurde 1962 in Köln geboren. Er studierte Germanistik, Anglistik und Politik, forschte zwei Jahre für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion und arbeitete als leitender Redakteur einer Kölner Tageszeitung. Er hat im Nahen Osten und in Afrika recherchiert und dort für das Auswärtige Amt und für das Goethe-Institut gearbeitet. Seit 2000 ist er freier Autor und lebt mit seiner Familie in Köln. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und ausgezeichnet.

Von Manfred Theisen sind außerdem bei cbt erschienen:

Checkpoint Jerusalem

Checkpoint Europa

Angst sollt ihr haben

Mehr über cbj/cbt auf Instagram unter @hey_reader

Manfred Theisen

ROT ODER BLAU

Du hast die Wahl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe August 2019

© 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: Init |Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen,

unter Verwendung mehrerer Motive von © Adobe Stock / koqcreative

he ∙ Herstellung: eR

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23489-8V001

www.cbj-verlag.de

Montag

Ankunft

Der Bus schlängelte sich die Straße hinauf. Jakob saß hinten und ihm war flau im Magen. Die zweistündige Fahrt von Köln hierher war ohnehin schon eine Tortur für ihn gewesen, aber dieses letzte Stück bergauf gab seinen Gedärmen endgültig den Rest. Er zählte langsam von zehn rückwärts … neun, acht, sieben … Normalerweise beruhigte ihn das Zählen, aber jetzt war sein Magen nicht mehr so leicht auszutricksen.

Neben Jakob hockte Max: blaue Augen, Grübchen im Kinn und ein Hunderttausenddollarlächeln. Ihm war nie schlecht, er war nie krank und er hatte nie ein schlechtes Gewissen. Jakob mochte Max nicht sonderlich, aber Max mochte ihn. Das reichte Jakob, denn er war neu in der Klasse und nicht gerade der Typ Junge, der sofort überall Freunde fand. Max hingegen war schillernd, Stufenstar, 218 000 YouTube-Abonnenten, 87 000 Follower auf Instagram – und er trug stets ein rot-schwarzes Piratenbandana. Dafür erhielt er als Influencer monatlich Geld.

Er boxte Jakob gegen die Schulter. »Hey, was ist los mit dir? Siehst blass aus.«

»Mir ist übel«, erklärte Jakob.

»Dann kotz mich nicht voll«, erwiderte Max und zeigte dann den Gang entlang. »Guck dir Brandtstedt an! Was für ein Honk der ist!«

Brandtstedt klang zwar wie ein hübscher Touristenort an der Ostsee, doch es war der Name ihres Biologie- und Geschichtslehrers. Er und Klassenlehrerin Julia Klein hatten die Aufsicht über die 9b. Während er bereits in den letzten Jahren seines Lehrerdaseins angelangt war, hatte sie gerade ihren siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und damit noch den ganzen Film vor sich. Bernd Brandtstedt stand in seinem karierten Jackett vorne neben dem Fahrer, er wankte und schwitzte wie ein mächtiger Büffel. Auch Brandtstedt war flau im Magen, was allerdings nicht von der Busfahrt kam, sondern von den Nerven. Er wollte nicht hier sein, er hätte lieber im gewohnten Klassenzimmer unterrichtet und seinen Stoff durchgezogen. Obwohl er nun laut ins Handmikrofon sprach, war er nicht zu hören, nur das endlose Reden und Kichern von 32 Schülern.

Max schlug erneut gegen Jakobs Oberarm und amüsierte sich: »Der Brandtstedt ist zu blöd, das Mikro anzuschalten!«

Am liebsten hätte Jakob seinem Freund ein »Sei still und schlag mir nicht ständig gegen die Schulter!« entgegengeschmettert. Stattdessen zählte er jetzt innerlich vorwärts – … siebzehn, achtzehn, neunzehn …

Es ertönte ein lautes KLOCK! KLOCK! KLOCK! Das stammte von Brandtstedt, der kontrollierend auf das Mikrofon tippte.

»Guck! Jetzt hat er den ON-Schalter entdeckt«, stellte Max fest und schlug übermütig gegen die Kopfstütze vor sich. »Mit den Klamotten gehört der echt in die Altkleidersammlung.«

Sahra, die vor Max saß, wandte sich um, genervt von seinem Trommelwirbel auf ihre Kopfstütze. Ihre Miene – in Falten geworfene Stirn und spitzer Mund – sagte unmissverständlich, dass sie ihre Ruhe haben wollte. Wenn sie nicht gerade sauer war, war sie durchschnittlich: Drei in Mathe, Drei in Englisch, Drei in Deutsch, kein besonderes Hobby und schulterlanges mittelbraunes Haar. Wäre sie eine Automarke, wäre sie ein Škoda, wäre sie ein Shampoo, dann ein Apfelshampoo gewesen. Aber gerade das reizte Jakob an ihr. Alle anderen waren immer so aufgeregt, sie nicht.

»Was willst du, Sahra?«, fragte Max. »Dreh dich wieder um!«

»Hey, was soll das? Lass die Scheiße!«, mischte sich nun Sahras Sitznachbarin Tuna ein. Die trug eine Zahnspange, war einen Kopf größer als ihre Freundin und wirkte durch diesen glänzenden Zaun in ihrem Mund manchmal richtig aggressiv.

Sofort lenkte Max ein und meinte weichgespült: »Ja, aber die« – damit meinte er Sahra – »soll mich nicht so anzicken.«

Tuna gehörte zu den wenigen Mitschülern, vor denen Max ein wenig Respekt hatte. Sie ließ sich nicht nur nichts sagen, sondern besaß auch zwei Grübchen neben den Mundwinkeln, die Max ganz hübsch fand. Diese Grübchen kamen zum Vorschein, wenn sie wütend war – und wenn sie lächelte. Und eines von beidem tat sie ständig, denn sie war kein ausgleichender Typ wie Sahra, eher dachte sie in Gegensätzen, in weiß oder schwarz, in gut und böse – genau wie Max.

Der Bus hatte mittlerweile die Spitze des Berges erreicht. Eigentlich war es keine Spitze, sondern eher ein Plateau mit einem gewaltigen Parkplatz und einer Grünanlage so groß wie drei Fußballfelder. Brandtstedt verkündete, dass der Bus gleich halten würde. In der Jugendherberge Ehrenbreitstein sollten sie sofort ihre Zimmer beziehen, die Koffer auspacken und ihre Kleidung in die Schränke räumen. »Wir möchten nicht, dass ihr bis Freitag aus euren Koffern lebt.« Dann machte das Mikro einen extrem schrillen Ton: FIIIIIIIEEEEP!

»Aua!«, jaulte Tuna auf und hielt sich theatralisch die Hände vor die Ohren. Einige andere taten es ihr gleich. Wieder andere steckten sich die Finger in die Ohren. Jakob und Max hielten das für übertrieben. Sie beobachteten den bärtigen Busfahrer, der Brandtstedt das Mikro aus der Hand nahm und es ausschaltete.

Für eine Sekunde herrschte Ruhe im Bus.

Endlich!, dachte Jakob, endlich mal keine Stimmen. Endlich keine Action mehr. Selbst das nervende Summen der Klimaanlage schien verstummt zu sein und sein Magen war auch endlich ruhig … siebenundsechzig, achtundsechzig, neunund…

Vorn in der ersten Reihe erhob sich Frau Klein. Sie unterrichtete Englisch und Deutsch. Das bedeutete, dass sie alleine mit ihren Hauptfächern darüber entscheiden konnte, ob einer sitzen blieb oder nicht. Genau wegen dieser Fächerkombination und ein paar Mobbern war Jakob vom Hölderlin-Gymnasium runter und jetzt auf der Paul-Klee-Gesamtschule. Er wollte sich daher mit Frau Klein gut stellen.

Die trat gerade neben Brandtstedt und sagte ins Mikro: »Könnt ihr mich hören?« Vermutlich hörte sie auch noch jeder im benachbarten Koblenz. Ihre Stimme war jedenfalls doppelt so laut wie die von Brandtstedt, obwohl sie nur die Hälfte wog. Sie schaute in Max’ und Jakobs Richtung. »Könnt ihr mich da hinten auch hören?« Alle drehten sich zu den beiden Jungen um, was Jakob unlieb war. Die Blicke der anderen spürte er immer wie kleine Nadelstiche auf seiner Haut. Ehe er oder Max antworten konnten, fuhr Frau Klein schon fort: »Schön. Wie gerade von Herrn Brandtstedt erwähnt, werden wir gleich die Festung Ehrenbreitstein erreicht haben, in der sich unsere Jugendherberge befindet. Sie gehört zu den schönsten Herbergen in ganz Deutschland und liegt an einem der bedeutendsten Schauplätze der Geschichte – hoch über dem Rhein, der aus der Schweiz bis in die Nordsee fließt. Es ist jetzt 14:10 Uhr. Um 16 Uhr gibt es Tee und Kuchen und …«

»Bla, bla, bla«, murmelte Max vor sich hin. »Warum erklärt die uns, wo der Rhein herkommt? Interessiert dich das?«

Jakob schüttelte den Kopf, obwohl es ihn in Wirklichkeit interessierte. Aber das könnte er Max gegenüber nicht zugeben, der jetzt sein Handy aus der Jeans zog, Instagram-Account und YouTube-Channel checkte und zufrieden lächelte. 238 neue Follower auf Instagram. Max hatte gestern Abend einen Contest auf YouTube hochgeladen: Wie viel Eis kann ich schnorren? Dabei hatten er und Atef versucht, in Eisdielen möglichst viele Kugeln zu schnorren. Jakob fand das dämlich, aber es brachte Likes und Follower. Und Likes und Follower waren für Max wie Dollar und Euro.

»Was schreiben sie denn in den Kommentaren?«, wollte Madalina wissen. Sie saß auf der anderen Seite des Ganges und beugte sich rüber zu Max, um besser auf sein Handy sehen zu können.

»Spinnst du?«, fauchte Max. »Starr nicht, sonst fällt der Klein noch auf, dass ich hier mein Handy habe.«

Madalina zuckte zusammen, aber dann warf sie ihr dunkles Haar wie in einer Schwarzkopf-Werbung zurück und lächelte Max trotzdem an.

»Ist schon gut«, beschwichtigte er sie. »Sorry. Aber wenn die Klein …«

»Ja, ja, ist klar.« Madalina hatte gelocktes Haar wie ein unschuldiger Weihnachtsengel und war die Jüngste in der Klasse. Sie lehnte sich zurück in ihren Sitz, und Max war wieder mit seinem Handy beschäftigt. Jeder im Bus wusste, dass Madalina Max gut fand. Jeder, sogar Jakob. Nur Max schien es noch nicht begriffen zu haben. Oder er wollte es nicht begreifen.

Während der Bus sich in die Parkposition schob, verflog Jakobs Übelkeit endgültig und Frau Klein versprach der ganzen Klasse eine »Überraschung«.

»Na, darauf hat die Welt gewartet«, kommentierte Jakob, der etwas Cooles sagen wollte.

Max sah kurz vom Handy auf und hob grinsend den Daumen. »Genau.«

Solch eine Zustimmung hatte sich Jakob erhofft. Zufrieden schaute er aus dem Fenster. Der Parkplatz war ein schwarzes Meer aus Asphalt mit weißen waagerechten und senkrechten Linien darauf. Er mochte solche Muster, sie waren klar und logisch wie Zahlen. Alles war sehr ordentlich. Hier kamen an Feiertagen sicherlich Hunderte Autos und Busse zur Ruhe. Jakob hatte Frau Klein nicht mehr zugehört, als es nun WUUUUUSCH machte. Die Bustüren schoben sich zur Seite, und alle Schüler stürmten durch die Gänge wie Vieh, das durch ein Gatter getrieben wird. Die Herde lief die vier Stufen hinunter und sprang aus dem Bus, als gebe es dort draußen irgendetwas umsonst. Dabei war da nur ein Unterschied zwischen drinnen und draußen: Drinnen war die Luft klimatisiert, draußen war es heiß.

Jakob ignorierte die Vorbeistürmenden – nur ein Blick blieb an ihm hängen, der von Franzi. Grüne Augen, kurz geschnittenes dunkles Haar, und sie war immer ausgleichend. Nicht umsonst war sie zur Klassensprecherin gewählt worden. Wenn es Streit in der Klasse gab, war Franzi die Vermittlerin – sie war so was wie der Martin Luther King der 9b, nur halt weiblich und hellhäutig. Jakob kannte Franzi noch aus der Grundschule, und schon damals hatte sie gewusst, was sie wollte. Sie spielte Cello, und zwar richtig gut.

Jakob hatte mal mit Gitarre, mit Schlagzeug und mit Cachon angefangen und seine Eltern hatten ihm eine Gitarre, ein Schlagzeug und ein Cachon geschenkt. Er hatte den Unterricht immer wieder abgebrochen, ein klassischer Anfänger war er, kein Zuendebringer – im Gegensatz zu Franzi. Die nahm nun das Nesthäkchen Madalina an der Hand. Die beiden waren unzertrennlich beste Freundinnen. Und vielleicht war Franzi die Einzige neben Max, die noch nicht begriffen hatte, wie sehr Madalina Max wollte. Sie stiegen die drei Stufen hinunter aus dem Bus, der jetzt fast leer war.

Zurück blieben nur Max und Jakob, ein paar Chipstüten und Plastikflaschen und der Mief von wachsenden Achselhöhlenhaaren. Mit dem Eintritt in die neunte Klasse war auch der Letzte in die Pubertät eingetreten und der eine oder andere hatte auch schon seine Erfahrung mit Alkohol und dem Rauchen von Pflanzen gemacht. Jakob allerdings nicht, er mochte weder das eine noch das andere.

Und er wollte jetzt endlich aufstehen.

Max hingegen saß da und starrte weiter stumpf auf sein Handy.

»Ich will raus«, sagte Jakob.

»Warte, ich muss noch was machen.«

»Mir ist übel«, log Jakob.

Draußen machte es KLOCK.

Der Fahrer hatte an Jakobs Seite die Türen zum Laderaum hochgeklappt. Die offene Tür versperrte ihm nun die Sicht auf den Parkplatz. Stattdessen spiegelte sich sein Gesicht im Busfenster. Er stellte den Blick scharf und schob sein Haar zur Seite. Im Glas sah es schwarz aus, obwohl er in Wahrheit dunkelblondes Haar hatte, und auch seine Nase wirkte im Glas dicker als normal, eher kartoffelig. Jakob hörte den Lärm der anderen und war selbst unruhig, aber wenigstens war die Übelkeit weg. Er musste gar nicht mehr zählen.

Die neunte Klasse musste er auf alle Fälle packen – jetzt, wo er schon vom Gymnasium abgegangen war. Hängenbleiben wäre der pure Horror für ihn. Er war ohnehin schon größer als die meisten anderen Jungen in der Stufe. In der darunter wäre er ein Riese. Viele sagten, dass die neunte Klasse schlimm sei, aber für ihn war sie schlimmer. Sein Vater behauptete immer, dass in der Pubertät das Hirn automatisch kleiner würde, daher habe es nicht genügend Platz für Deutsch, Englisch und Mathematik zusammen. »Und wer so gut in Mathe ist wie du, der muss deshalb schlecht in anderen Fächern sein.«

Jakobs Vater Manuel war Psychologe, halb Spanier, arbeitete im Bonner Büro von Amnesty International und hatte immer einen Spruch auf Lager. Seine Mutter Claudia war Sozialarbeiterin im Jugendheim Firlefanz und nahm das Leben ernster. Dass sie beide einen sozialen Job machten, war ihre einzige Gemeinsamkeit. Ansonsten machten sie nicht viel zusammen, außer streiten.

Jakob hasste Streit. Wenn es nach ihm ginge, würden alle auf der Welt in Ruhe und Harmonie leben und sterben, es gäbe kein Schwarz und kein Weiß, sondern alle wären irgendwie in der Mitte.

Die Bustüren standen weit offen und die aufgeheizte Luft des Tages drang ungebremst herein.

Jakob war heiß.

»Schreibst du an Atef?«, fragte er Max.

Der gab keine Antwort.

»Lass mich bitte durch. Ich will aussteigen«, drängte Jakob.

»Ist ja schon gut. Atef ist da.«

Atef war auch Max’ Freund. Er hatte die Abfahrt vom Bus verschlafen – einfach so. Wenn Jakob ein solches Ereignis einfach so verschlafen würde, würden seine Eltern einfach so ausflippen – erst seine Mutter, dann sein Vater, das war die ewige Reihenfolge. Seine Eltern taten immer so tolerant, aber wenn es um die Schule ging, waren sie eigentlich null tolerant. Wer Jakobs Vater sah, der hätte glauben können, er sei ein Ökotyp, der Peacezeichen malt und sein Handy selbst strickt. Doch Jakobs Vater konnte knallhart sein.

»Wo ist denn Atef?«, bohrte Jakob nach.

»Na, hinter uns. Sein Onkel bringt ihn mit dem Auto.«

Jakob wusste über Atef, dass dessen Vater ein Idiot und abgehauen war, nichts zahlte – und dass seine Mutter nicht einmal das Geld für die Klassenfahrt hatte auftreiben können. In den Serien waren Araber immer Clan-Chefs und machten Geschäfte in Shisha-Bars, aber Atef hatte einfach eine Mutter, die putzen ging und fleißig und ehrlich war. Also ein Mensch, der in einem Land wie diesem keine Chancen hatte.

Da rief auch schon Atef überraschend in den Bus hinein: »Hey, hey, hey!« Er stürmte die vier Stufen hinauf. Schmales Gesicht, schlaksige Figur, schwarze verwaschene Jeans und Nikes, die ihn noch größer machten.

»Du kommst gerade richtig. Ich brauche einen Sklaven, der meinen Koffer trägt«, spottete Max, und die beiden begrüßten sich ausgiebig. Auch Jakob umarmte Atef, doch ihre Umarmung war nicht so fest und nicht so lang.

Die drei waren die Letzten im Bus gewesen, und Max’ und Jakobs Koffer sollten die letzten sein, die der Fahrer aus dem Laderaum des Busses holte.

Es gab hier draußen keinen Schatten, nirgends. Der Asphalt glitzerte in der Sonne und schien weich wie Lakritz unter ihren Turnschuhen. Die Sommerferien waren längst vorbei, aber es war immer noch Sommer und trocken. Es war, als leide die Erde an Fieber und wolle die Menschheit ausschwitzen.

Atef hatte seinen Koffer mit dem Aufkleber I AM MORE ZOMBIE THAN YOU!!!! dabei. Jakob fragte sich, wo wohl sein Onkel war, da sah er wie zur Antwort einen schwarzen Mercedes-SUV mit goldenen Felgen davonfahren. Er raste quer über die weißen Parkplatzmarkierungen.

»Deinem Onkel geht es wohl ziemlich gut?«, bemerkte Max ein bisschen spöttisch.

»Besser«, sagte Atef und lachte. »Viel besser.«

»Geschäftsmann?«

»Ja, klar«, sagte Atef und schlug bei Max ein. »Vielleicht arbeite ich mal bei ihm.«

»Ein Traum«, meinte Max, und wieder klang es spöttisch.

Jakob stand wie ein Zuschauer daneben und setzte seine Kappe auf, um sich gegen die Sonne zu schützen.

»Das ist also Ehrenbreitstein«, hob Brandtstedt nun an und deutete mit dem Finger hinüber zu einer riesigen Mauer aus groben Steinen.

Das sollte die Festung sein? Die Schüler hatten sich etwas anderes darunter vorgestellt. Sie hatten geglaubt, Ehrenbreitstein sei eine richtige Burg, mit Türmen und Zinnen, Burggraben und Burgfried. War es aber nicht, sondern eine Festungsanlage auf einem 184 Meter hohen flachen Berg. Ihr zu Füßen lag Koblenz mit dem Deutschen Eck. Die Stelle hieß so, weil die beiden deutschen Flüsse Mosel und Rhein genau dort unten zusammenflossen. Danach gab es keine Mosel mehr. Der dicke Rhein fraß die dünne Mosel, der Hai den Hering, und am Ende schwammen sie alle ins Maul der Nordsee.

Jakob schwitzte, obwohl er schmal wie ein Hering war. Er fragte sich, warum der speckige Brandtstedt in seinem Jackett nicht auf der Stelle einen Hitzeschlag erlitt. Und er kam zu der Einsicht, dass ein Geschichtslehrer auf so historischem Boden vermutlich alles überlebte: Tsunami, Schneesturm, Übergewicht, Hitzewelle und die zweiunddreißigköpfige 9b. Die Schweißflecke auf seinem gelben Hemd unter dem Jackett mussten allerdings groß wie Russland sein. Zumindest von Brandtstedts Stirn strömte der Schweiß direkt in seine dichten, saugfähigen Augenbrauen. Die könnte er später auswringen und damit problemlos die Sahara bewässern.

Frau Klein schritt voran. Ja, sie schritt, denn ihr Gang war raumgreifend. Ihr blondes Haar hatte sie sich kurzerhand mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der schwang bei jedem ihrer Schritte mit. Sie trug einen riesigen Rucksack, als wolle sie den Himalaya besteigen. Frau Klein war feingliedrig und hellhäutig, Energie pur auf 1,62 Metern.

Alle folgten ihr, und das würden sie hoffentlich auch in den nächsten fünf Tagen tun. Denn die 9b war keine einfache Klasse. Mit Schülern wie Atef, Max, aber auch Findus oder Tuna hatte sie keine einfachen Persönlichkeiten im Gepäck. Jeder für sich war besonders, eher Sonderanfertigung als Durchschnittsware. Julia Klein war es gelungen, sowohl die Direktorin Ute Irmler als auch ihre Kollegen von dem Projekt Rot oder Blau zu überzeugen. Speziell auf Bernd Brandtstedt hatte sie massiv einwirken müssen. Der wollte keine Experimente; er war eher der Typ Lehrer, der schon beim Entzünden eines Streichholzes nach dem Feuerlöscher greift. Bereits seine Cordkleidung erinnerte an Lehrer aus dem vergangenen Jahrhundert. Er war wie eine Schildkröte – gepanzert. Aber wenn sie dich in den Finger beißt, brennt es höllisch.

In diesem Schuljahr stand das Thema Demokratie auf dem Lehrplan – fächerübergreifend, in Geschichte, Deutsch, Erdkunde, Englisch, Französisch und Politik. Überall sollte das Thema an der Paul-Klee-Gesamtschule seinen Platz finden. Wahlen und Wahlsystem in England, Frankreich, Deutschland, den USA, auch politische Denker und Dichter sollten gelesen werden. Doch Julia Klein hatte das nicht gereicht. Sie wollte nicht nur Schulbuchwissen vermitteln, nicht nur Texte, Fakten und Zahlen, sondern die Schüler sollten Politik erleben, selbst um Argumente ringen, frei wählen, überzeugen und sich überzeugen lassen. Trockenübungen an Land waren nicht ihr Ding, die Schüler sollten schwimmen lernen. Denn sie war nicht Lehrerin geworden, damit die Jugendlichen Wissen anhäuften, sie war Lehrerin geworden, damit jeder seinen Charakter entwickelte. Sie wollte, dass ihre Schüler demokratische Bürger wurden, die nicht auf irgendwelche billigen Sprüche von rechts oder links hereinfielen. Sie sollten Widerstandskräfte entwickeln.

Sie zog also beherzt am Riemen ihres Rucksacks, der eng am Rücken anlag. Viel Gepäck hatte sie für eine Woche dabei. Es war ihr sogar gelungen, die roten und blauen Luftschlangen und die rot-blauen Girlanden noch in den Seitenfächern zu verstauen. Während Julia Klein mit großen Schritten dem Experiment entgegenging, reichte Brandtstedt hinten in der Schlange dem Busfahrer noch die Hand, steckte ihm zwanzig Euro zu und schloss sich dann erst der Klasse an. Es war, als wolle er einfach nicht in diese Festung und nicht in diese Woche. Er würde die Gruppe von hinten absichern, damit keiner Dummheiten machte.

Atef, Jakob und Max zogen ihre Koffer hinter sich her über den Kies. Die Koffer gebärdeten sich wie übermütige Hündchen. Die Jungen ließen sie gegeneinander knallen und lachten darüber.

»Ob die von der 9a schon da sind?«, fragte Jakob Max.

Der zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die Klein hat doch eben erzählt, dass sie im Stau auf der Autobahn stehen.«

»Aber wir sind doch fast gleichzeitig losgefahren.«

»Was interessiert es dich?«, meinte Max. »Ich hab sowieso keine Lust auf die Honks. Ich hoffe, die Jugendherberge ist so groß, dass wir denen nicht ständig über den Weg laufen.«

Der Weg führte an einer Bushaltestelle vorbei und dann direkt durch die erste Burgmauer in die Festung. Darüber stand auf einem Schild FELDTOR. Jetzt sahen sie, dass oben auf den überbreiten Mauern Gras wuchs. Hinter dem Tor gab es ein Wachhäuschen. Jedem war mittlerweile klar, dass die Anlage Ehrenbreitstein gigantisch sein musste, denn der Platz, auf den sie nun stießen, war groß wie ein halbes Fußballfeld. Rechts ging es zu einem weiteren, noch größeren Platz, aber sie liefen hinter Frau Klein zwischen zwei riesigen Mauern hindurch. Auf einmal hörten sie Schüsse – irgendwo waren Boxen versteckt, die Kriegsgetöse ausstießen.

Nach einem weiteren Torbogen gelangten sie durch einen Tunnel zum zweiten Festungsring. Es war, als müsste sich der Wurm der Schüler durch eine Zwiebel in das Innere der Festung fressen. Und das unter der unerbittlichen Sommersonne. Eine Literflasche Wasser machte die Runde, schleppte sich von Mund zu Mund. Nachdem Tuna, Sahra, Franzi und Madalina die Flasche untereinander weitergereicht hatten, lutschte Atef daran herum. Widerlich fand Jakob das. Er hasste es schon, wenn einer seine Pommesgabel benutzte. In dem Wasser tummelten sich garantiert mehr Bakterien als in Krokodilpisse. Jakob lehnte entsprechend dankend ab. Er reichte die Flasche weiter an Max, der einen kräftigen Schluck daraus nahm. Eklig war das.

Die Flasche landete am Ende in der Hand des schwächsten Gliedes der Schülerkette. Sein Name war Findus. Die Eltern hatten den armen Kerl mit dem Namen eines Katers aus einem Bilderbuch bestraft. Aber meist wurde Findus ohnehin nur Google genannt, weil er so viel wusste. Mit der leeren Flasche war er nun allerdings überfordert. Wo sollte er damit hin? Kurzerhand klemmte er sie sich unter den Arm.

»Wir müssen unbedingt ein Video von der Zelle machen«, sagte Max. »Unbedingt.« Er bezog sich mit seinen Worten auf eine Gefängniszelle, die im nächsten Torbogen untergebracht war. Die Jungen konnten durch ein Fenster in den winzigen Raum sehen. Jakob sagte, er habe gelesen, dass im Mittelalter Frauen lebendig eingemauert wurden, wenn sie fremdgegangen seien. Max zeigte ihm daraufhin einen Vogel.

Atef meinte: »Super Idee, in so einer Mauer könnten wir auch Viktoria entsorgen.«

Max fand Atefs flapsige Bemerkung nicht witzig. Schließlich war es ihm peinlich, dass Viktoria ihn verlassen und angeblich schon mit Marlon, dem Klassensprecher der 9a, geknutscht hatte.

Frau Klein hatte zwischenzeitlich zwischen all den Mauern und Torbögen die Orientierung verloren, bis sie schließlich zufällig vor der Jugendherberge landete. Das sandfarbene Gebäude lag ganz am Ende der Festungsanlage, also direkt am Abhang zum Rhein. Es war zweistöckig und frisch gestrichen.

Max und Atef stürmten an Frau Klein vorbei durch die Glastür in die Empfangshalle und warfen sich in den bequemen Sessel direkt gegenüber der Rezeption. Hinter der Theke stand eine sehr hellhäutige Frau, mit der ihre Lehrerin jetzt sprach.

Max schnippte mit den Fingern in Chiaras Richtung. »Hey, zieh mir mal ’ne Dose! Los, Dose!« Dabei zeigte er lachend auf den Getränkeautomaten, in dem es gar keine Dosen, sondern nur Flaschen gab.

»Du Honk!«, schmetterte Chiara zurück. Wäre jetzt nicht Frau Klein in ihrer Nähe gewesen, hätte sie ihm vielleicht sogar den Mittelfinger gezeigt. So aber blieb es bei einem kräftigen »Du Honk!«. Dabei warf sie leicht arrogant ihr rotes Haar nach hinten. Sollten doch alle sehen, was sie von ihm hielt – gar nichts! Chiara war schlank und durchtrainiert – man sah ihr an, dass sie Leistungssport machte. Auf ihrer Nase saß ein niedlicher Sattel von Sommersprossen, der eigentlich nicht zu ihrer toughen Art passte. Doch genau diese Gegensätze waren es, die Max an ihr geradezu provozierten. Das Schimpfwort »Honk« hing noch in der Luft, als Chiaras Freundin kurz darauf von der Toilette kam: Viktoria.

Sofort hatte Max nur noch sie im Blick, seine Ex. Hübscher schlägt hübsch. Viktoria war rein äußerlich das genaue Gegenteil von Chiara. Hauttyp Bronze, die Figur kurvig schlank, nicht sportlich trainiert. Und sie redete nur, wenn es etwas zu reden gab, sie mied Streit und Konfrontation und zog sich lieber zurück, wenn es zu viele Unstimmigkeiten gab. Wie brutal das sein konnte, hatte auch Max zu spüren bekommen.

»Was ist, Max?« Atef stupste ihn gegen die Schulter. »Lass dir von Chiara nicht so einen Scheiß bieten.«

Doch Max motzte ihn an: »Halt die Klappe!« Dann versank er in dem weichen Sessel wie in einer Welle.

Atef jedoch wollte nicht die Klappe halten. Er riss Max das Bandana herunter und johlte: »Meins! Meins! Meins!«

»Du Honk!«, schrie Max und stieß Atef brutal vom Sessel, woraufhin dieser augenblicklich zwischen Wand und Sessel klemmte. Max ließ sich über die Lehne mit dem Ellbogen voran auf seinen Freund fallen. Es war, als wolle er einen Käfer in einer Ritze zerquetschen.

Jakob stand neben den beiden und sah den Zorn in Max’ Augen. »Lass ihn«, sagte er laut zu Max. »Du tust ihm weh.«

»Okay, hast ja recht, Jakob«, erwiderte Max. »Und du Honk«, er schaute auf Atef, »hältst jetzt die Klappe.«

Dann hörte Jakob Frau Kleins Stimme, sie rief über die Köpfe der übrigen Schüler hinweg: »Könnten Sie bitte die Ausgabe der Zimmerschlüssel übernehmen, Herr Brandtstedt?«

Bald schon verteilten sich die Mädchen auf vier und die Jungen auf fünf Zimmer und Jakob schlurfte hinter Max und Atef in ein Dreierzimmer. Obwohl er nun lieber alleine gewesen wäre.

Frau Klein bog mit ihrem Kollegen rechts in den Gang ein, während die Schüler alle nach links mussten. Sie hatte immer noch den Streit zwischen den Jungen im Kopf, der sich ganz von alleine gelöst hatte. Es war richtig gewesen, nicht einzugreifen. Julia Klein war der Ansicht, dass die Schüler sonst in ihren Klassenräumen eingepfercht waren wie Labortiere. Hier auf Ehrenbreitstein würde es anders sein. Erst die Unordnung bringt eine neue Ordnung hervor, erst die Freiheit führt zur Demokratie – das war Julia Kleins Grundsatz. Sie wollte den Schülern mehr zutrauen. Und die Direktorin sah es genauso. Der Mann neben ihr allerdings nicht. Als die Schüler wegen der Aktion Fridays for Future auf die Straße gegangen waren, hatte er sich nur aufgeregt und ständig von Schulschwänzern geredet, während sie mit einigen der Schüler im Unterricht sogar die Protestplakate geschrieben hatte. Warum sollten die Schüler nicht freitags streiken? Die Lokführer streikten ja auch nicht an ihren freien Tagen. Für sie war das oberste Thema nicht die Schulpflicht, sondern die Zukunft der Kinder.

»Mal sehen, wie lange das gut geht«, unkte Brandtstedt. »Max und Atef gehen uns jetzt schon aus dem Ruder. Wenn wir sie nicht ein wenig …«

»Hier bin ich«, unterbrach ihn Julia Klein, sie war an ihrem Zimmer angelangt und steckte sogleich den Schlüssel ins Schloss. Sie hatte keine Lust auf die ewige negative Leier von Brandtstedt, sondern wollte positiv nach vorne denken. Also meinte sie nur zum Abschied: »Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Die Kinder müssen Widerstandskräfte gegen den Faschismus und gegen jede Form von Unterdrückung entwickeln. Aber dafür brauchen sie Freiheit.«

»Wenn Sie meinen«, erwiderte Bernd Brandtstedt steif. »Das hier ist Ihr Projekt.«

»So war das nicht gemeint«, sagte Julia Klein.

»Kein Problem«, wiegelte er ab und zwang sich zu lächeln. »Für mich ist das wirklich kein Problem.« Seufzend schloss er seine Tür auf. »Bis gleich.«

Ballverlust

In Raum E.0.8 standen ein Tisch, drei Stühle, ein doppelstöckiges Bett, ein Einzelbett direkt unter dem Fenster und drei schmale Schränke, für jeden einer. Alles war aus hellem Holz. Max stellte seinen Koffer ins untere Fach seines Schranks, Atef stellte seinen ebenfalls nach unten, nur Jakob öffnete den Koffer, sortierte T-Shirt zu T-Shirt, Socken zu Socken, Unterhosen zu Unterhosen und hängte seine Jacke auf einen der beiden Bügel. Er mochte Ordnung. Am liebsten würde er sogar Konfetti nach der Farbe trennen. Als er jedoch gerade seinen Kulturbeutel ganz oben in ein Fach legen wollte, griff sich Atef den Beutel und warf ihn zu Max.

»Wie blöd ist das denn?«, fragte dieser und sah Atef vorwurfsvoll an.

»Hey, lass uns spielen«, meinte Atef und wollte, dass Max ihm über Jakobs Kopf hinweg den Beutel zuwerfen sollte.

Doch Max dachte nicht daran. Er öffnete vielmehr den Beutel und zog Zahnpasta, Duschgel und zuletzt die Zahnbürste heraus. Jakob schaute nur zu. Ihm war es zu blöd, sich auf dieses dämliche Spielchen einzulassen.

»Alles von B & M, Bad und mehr, dein Drogeriemarkt.« Er redete wie in der Werbung und hielt dabei Jakobs Zahnbürste mit einem Grinsen im Gesicht hoch. Dann endete er mit: »Der perfekte Frauenladen. Meine Mama kauft da auch alles.«

»Sehr witzig«, meinte Jakob, während Max die Zahnbürste genauer betrachtete.

»Der Bürstenkopf grün mit roten Streifen, schick, sehr schick! Wirklich ein todschickes Modell.«

»Genug jetzt.« Jakob griff nach der Zahnbürste und entriss sie Max.

Seine plötzliche Aggression schien Folgen zu haben, jedenfalls bat Max nun Jakob, ihm die Zahnbürste wiederzugeben. Er steckte sie mit den übrigen Utensilien zurück in den Beutel und legte ihn sauber oben ins Fach von Jakobs Schrank.

Atef fand das blöd und langweilig und nannte Max eine »Spaßbremse«. Dafür bekam er von Max einen Boxer auf den Oberarm und Atef jaulte übertrieben laut auf.

Dann legte er sich unten ins Etagenbett und hörte arabischen Rap auf dem Handy. Als Max hinauf in den zweiten Stock kletterte, blieb für Jakob nur das Einzelbett. Das war ihm allerdings auch sehr lieb – ein wenig Abstand zu den beiden Hektikern konnte nichts schaden. Er nahm sein Smartphone und stellte fest, dass der Akku nur noch vier Prozent hatte. Wie konnte das Ding im Batteriesparmodus bloß so viel Energie verbrauchen? Vermutlich war die Hitze schuld. Jedenfalls schickte er seiner Mutter nun mit letzter Akkukraft eine WhatsApp, weil er es ihr versprochen hatte. Sie sandte ihm im Gegenzug übertrieben drei Küsschen-Smileys zurück. Wie bescheuert war das denn wieder? Jakob suchte eine Steckdose.

Auch seine eigene Batterie musste er dringend laden und ein bisschen schlafen, denn die vergangenen Wochen waren hart für ihn gewesen. Seit sie aus den Sommerferien zurück waren, stritten seine Eltern sich ständig. Andere Paare ließen sich scheiden, spalteten sich in zwei Elternteile, aber seine Eltern hielten durch. Und Jakob war an sie gebunden wie das Wasserstoff- an die beiden Sauerstoffmoleküle. Wenn Paare sich trennen, geben sie Energie frei wie chemische Verbindungen, und es entsteht Neues. Seine Eltern schienen genau das zu befürchten. Da war die Eigentumswohnung mitten in Köln, die hätte verkauft werden müssen – und was sollte aus Jakob werden? Würde er dann auch geteilt? Wer würde was bekommen? Sein Vater Kopf und Füße, seine Mutter Arme und Rumpf? Jakob suchte die Wände mit den Augen nach der Steckdose ab. Als er sie gerade neben dem Tisch in Fußleistenhöhe entdeckt hatte, steckte Atef schon den Stecker von seinem Ladegerät hinein.

»Brauchst du es dringend?«, fragte Jakob.

Atef nickte. »Ist nur noch halb voll.«

»Meins ist fast leer, hat nur noch ein Prozent.«

»Du kannst ja direkt nach mir dran. Ich will Musik hören.«

Das war unlogisch, aber Atef ließ sich nicht überzeugen.

Max mischte sich von oben ein: »Hey, Atef! Wenn Brandtstedt heute noch eine Steckdosenkontrolle durchführt, hast du ein Problem. Das ist dir doch klar, oder?« Bei dem Wort Steckdosenkontrolle schaute Atef kritisch zu Max. Der fläzte sich oben auf der Bettdecke, schaute gelangweilt auf sein Handy und würdigte Atef keines Blickes.

Atef fragte: »Meinst du echt, der Brandtstedt guckt nach, wer sein Handy an der Steckdose lädt?«

»Klar. Der ist doch nicht blöd. Hier herrscht totales Handyverbot. Also werden unsere Lehrer auch Kontrollen durchführen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagt der Brandtstedt doch immer. Das ist wie mit dem Löwen in Afrika.«

»Hä, was soll das denn jetzt?«

Max lehnte sich nun auf die Seite und schaute zu Atef mit der Gegenfrage: »Was macht der hungrige Löwe, wenn alle Tiere Durst haben?« Er beantwortete sie sich selbst: »Er geht zur Wasserstelle, weil dort alle Tiere trinken wollen. Genauso macht es der Brandtstedt. Er weiß, dass unsere Handys Energie brauchen, also hat er ein Auge auf die Steckdosen.«

»Verarschst du mich?«, fragte Atef verunsichert.

Es klopfte an der Tür.

Alle zuckten zusammen. War das etwa Brandtstedt?

Atef riss hektisch sein Handy samt Kabel aus der Steckdose und stopfte es panisch unter sein T-Shirt. Gebannt schauten die Jungen auf die Tür. Doch weder Herr Brandtstedt noch Frau Klein öffnete sie. Nichts passierte. Gar nichts. Außer dass Atef mit weit aufgerissenen Augen vor dem Tisch stand, unten aus seinem T-Shirt das weiße Ladekabel samt Stecker herausbaumelte und sein Handy laut arabischen Rap spielte.

»Super Versteck!«, johlte Max und amüsierte sich über Atef, dann musste auch Jakob lachen. Max setzte noch eins drauf, indem er überschwänglich auf sein Kissen schlug und rief: »Tolle Reaktion, Atef! Genial! Du bist echt ein Krieger!«

Atef stand wie versteinert da und fand das alles nicht witzig. Er stellte die Musik ab, steckte das Handy in die Hosentasche und verließ das Zimmer. Irgendwie tat er Jakob leid. Die Tür klickte hinter ihm ins Schloss. Weg war er und es war still. Nur aus dem Nachbarzimmer, das sich Findus, Anton und Marco teilten, war noch Marcos Stimme zu hören.

Max ließ Atefs Abgang kalt. Er befahl: »So, Jakob, jetzt leg dein Handy endlich an die Leine, die Steckdose ist frei.«

Kurz darauf lag Jakob ebenfalls auf dem Bett und schloss die Augen. Die Hitze war unerträglich. Als gerade der Schalter in seinem Kopf auf Halbschlaf kippte, klatschte ihm etwas ins Gesicht.

»Los! Wir wollen was machen!« Es war Atef, der über ihm stand und einen Softball unterm Arm trug.

»Bist du bescheuert?«, blaffte Jakob ihn an, denn er hatte sich zu Tode erschrocken. »Was soll der Mist?«

»Ach, komm, ruhig Blut«, beschwichtigte ihn Max, der an seinem Fußende stand und nun den schwarz-weißen Ball in Händen hielt. »Los, fang!« Er warf Jakob den Softball entgegen. »Lass uns draußen was kicken. Atef hat den Ball besorgt. Das ist ein Friedensangebot. Er ist nicht mehr sauer.«

Zuerst wollte sich Jakob nicht beruhigen, doch Max zog ihn einfach an den Füßen aus dem Bett. »Komm, los. Du fauler Honk.«

So rannten sie also über den Flur und durch die Lobby hinaus aus der Jugendherberge, schossen sich den Ball gegenseitig im Dreieck zu und liefen kickend durch den Torbogen zum großen Platz. Doch ihnen verging schnell die Lust aufs Kicken, es war schlichtweg zu heiß.

Jakob setzte sich auf die hüfthohe Mauer, die zur Rheinseite hin verlief, und ließ die Beine baumeln. Er schaute nach unten. Es ging steil runter zum Rhein: Bäume und Sträucher klammerten sich verzweifelt an den Mix aus Erde und Fels. Wenn seine Mutter ihn dort hätte sitzen sehen, mit baumelnden Beinen über dem Abgrund, sie hätte aufgeschrien. Aber Jakob wollte seine Freunde beeindrucken. Vergebens jedoch, denn Max platzierte sich ganz locker neben ihn, und Atef setzte der ganzen Sache noch die Krone auf, indem er wagemutig samt Ball auf die Mauer sprang und darauf auf und ab ging. Spätestens jetzt hatte er Jakob die Show gestohlen.

»Geil, ist das tief!« Atef balancierte den Ball zuerst auf der Stirn, dann ließ er ihn darauf hüpfen wie ein echter Fußballprofi.

»184 Meter tief!«, rief eine Stimme aus dem Off.

Atef kam augenblicklich aus dem Rhythmus und der Ball titschte von seinem Kopf herunter. Er versuchte ihn noch festzuhalten, geriet dabei aber selbst ins Trudeln und wäre fast nach unten in die Tiefe gestürzt.

»Scheiße!«, schrie Atef. »Scheiße!«

Sensationsgierig schauten Max und Jakob dem Ball hinterher. Der prallte noch auf einen Felsvorsprung und flog dann in hohem Bogen nach unten, bis er nur noch als schwarz-weißer Punkt auf dem Rhein zu sehen war.

»Was sollte das denn jetzt?!«, fuhr Atef Chiara an, die eben »184 Meter tief« gesagt hatte. »Du hast mich abgelenkt mit deinem blöden Gequatsche!«

Chiara beschirmte ihre Augen, um Atef besser gegen die Sonne sehen zu können. Neben ihr stand Viktoria, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Die beiden trugen Flipflops und kurze Hosen, Sporthosen. So als würden sie gleich den Contest der Beachvolleyball-Queen bestreiten.

»Findest du das etwa witzig?«, fauchte Max seine Ex-Freundin Viktoria an. »Jetzt ist der Ball weg. Wer bezahlt den?«

»Ja, weg ist er, Richtung Nordsee«, riss Chiara sofort wieder das Wort an sich. »Was kann ich dazu, wenn dein Freund Atef es nicht bringt?«

Atef sprang von der Mauer. Chiara und er waren etwa gleich groß, aber sie stammten aus ungleichen Welten. Aus jeder Ritze wächst in Deutschland die Ungleichheit wie Unkraut. Jakobs Vater sagte gerne solche bedeutenden Sätze. Aber als Jakob jetzt Atef und Chiara anschaute, musste er seinem Vater recht geben. Chiaras Haar war rot und ihre Haut hell, Atefs Haar war schwarz und seine Haut braun. Europa stand hier Afrika gegenüber. Gewinner gegen Verlierer. Norden gegen Süden. Chiaras Eltern hatten eine schmucke Eigentumswohnung, Atefs Mutter putzte in schmucken Eigentumswohnungen. Das Einzige, auf das Atef stolz sein konnte, waren seine drei Tropfen Araberblut. Jakob sah den glühenden Zorn in Atefs Augen, denn der spürte den Unterschied zwischen ihm und ihr, oben und unten. Es war irgendwie wie beim Duell in der Sternengalaxie: Schwarz gegen Weiß, zwei Welten, zwei Raumschiffe. Die Luft schien zu vibrieren, sie musste sich jeden Augenblick entladen. Jakob brannte schon der Schweiß in den Augen, er wischte ihn mit dem Zipfel seines T-Shirts weg.

Da durchdrang eine Stimme die Spannung. Brandtstedt rief lauthals vom anderen Ende des Platzes: »Was macht ihr denn da!? Wir warten doch auf euch! Beeilt euch! Es gibt Tee und Kuchen.« So wurde im Handumdrehen aus dem Duell ein aufgeschobenes Duell. Atef und Chiara warfen sich noch bittere Blicke zu und Schluss.

Als sie die Jugendherberge betraten, warnte Brandtstedt: »Nimm dich in Acht, Max. Hörst du? Gleiches gilt übrigens auch für dich, Atef. Ihr habt schon jede Menge Raum in meinem Büchlein ausgefüllt.« Jeder kannte Brandtstedts rotes Büchlein, in dem er sich Notizen zu jedem Schüler machte. Es kursierte das Gerücht, es sei ihm mal von einem Schüler geklaut worden, der es verbrannt hatte, seither trug er es immer bei sich. Atef hatte die Drohung verstanden, aber er hatte ein weitaus drängenderes Problem: Die sehr blasse Frau an der Rezeption mit der gepiercten Unterlippe, an der sie nun vorbeiliefen. Sie hatte ihm den Ball geliehen, und er konnte ihn nicht mehr zurückgeben, weil er vermutlich gerade an Köln oder Düsseldorf vorbeischwamm.

Jakob begriff sofort, was in Atef vorgehen musste, und er sagte zu Brandtstedt: »Ich komme nach. Ich muss noch ganz kurz aufs Zimmer und eine Tablette wegen meines Magens nehmen.«

»Hast du Magenprobleme?«, fragte Brandtstedt besorgt.

»Nicht so schlimm. Muss nur die Tablette nehmen.«

Kurz darauf zog er aus einem Nebenfach im Koffer sein Portemonnaie und nahm zwanzig Euro heraus. Diesen blauen Schein und zwei weitere hatten ihm seine Eltern mitgegeben. Er wusste gar nicht, was er mit all dem Geld in der Woche machen sollte. Aber jetzt konnte er etwas Gutes tun.

»Ich habe den Ball von meinem Freund aus Versehen an der Mauer zum Rhein fallen lassen«, erklärte Jakob der Frau an der Rezeption. Die hörte zu, sagte aber nichts, sondern nippte an einem Glas Wasser, das einen lilafarbenen Lippenstiftrand hatte. »Ja, und deshalb«, fuhr er fort, »möchte ich den Ball jetzt bezahlen.« Er legte die zwanzig Euro auf die Theke. »Reicht das?«

Die Frau zog eine Schatulle unter der Theke hervor, nahm den Geldschein und tauschte ihn gegen einen Fünfer. Dann fragte sie: »Wie heißt denn dein Freund?«

»Atef … Nachnamen vergesse ich immer.«

»Ich auch«, sagte die Frau schmunzelnd.

Was sollte die Bemerkung?, fragte sich Jakob. Jedenfalls strich sie den Namen Atef von ihrer Liste mit Namen, hinter denen auch noch Nummern standen. Vermutlich stand jede Nummer für einen Gegenstand, der verliehen worden war.

»Sonst noch was?«

»Nein«, sagte Jakob und machte sich auf den Weg zum Speisesaal.

Herr und Hund

Max und Atef erwarteten Jakob bereits an einem Fensterplatz.

»Hast du echt Magenschmerzen?«, fragte Max.

»Loser«, sagte Atef.

»Nee, ich musste noch was erledigen«, erklärte Jakob. »Hab ich so echt geklungen?«

»Ich hoffe, du magst ein Stück Apfelkuchen«, sagte Max. »Ich habe es Atef für dich holen lassen, so richtig feist mit einem Berg Sahne.«

Atef hatte seinerseits ein Stück Donauwelle auf dem Teller. Nur Max saß kuchen- und tellerlos da. Er hatte sich nichts am Buffet geholt, obwohl Atef ihn mehrmals dazu animiert hatte. Jakob stach in den Riemchenapfel und beobachtete eine Möwe, die am blauen Himmel hoch oben über dem Rhein ihre Kreise zog. Er überlegte, wann er mit Atef darüber reden würde, dass er den Ball bezahlt hatte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen? Vielleicht wäre Atef ja sauer darüber? Würde er womöglich denken, dass Jakob ihn für arm hielt? Das würde Atef garantiert als Demütigung auffassen. Garantiert.