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Fake News. Alternative Fakten. Lügenpresse. Auf seinem YouTube-Kanal Uncover deckt der 17-jährige Phoenix Fake News auf. Dabei wird er in den Fall "Alexander" verwickelt. Der 6-Jährige verschwindet nach einer Geburtstagsfeier spurlos. Kurz darauf geht ein Video viral, das einen syrischen Flüchtling beschuldigt. Phoenix entlarvt das Video als Fake und wird mit einem riesigen Shitstorm konfrontiert. Als er der Spur zu einer russischen Trollfabrik folgt, ist aber nicht nur sein Online-Ruf in Gefahr. Leonid sitzt gelangweilt in einer Trollfabrik in Estland, wo er tagtäglich Hate-Kommentare verfasst, um Stimmung gegen die deutsche Regierung und für Russland zu machen. Da kommt ihm der Fall des vermissten Alexander gerade recht. Wie praktisch, dass ein syrischer Flüchtling seinen Sohn von Alexanders Geburtstagsparty abgeholt hat. Suchen die Deutschen nicht immer nach einem Grund, um Flüchtlinge zum Sündenbock zu machen? Nur ärgerlich, dass dieser nervige YouTuber von Uncover seine Pläne durchkreuzt. Aber Leonid weiß, wie man mit Störenfrieden umgeht. Und falls es ihm online nicht gelingt, kennt er offline noch ganz andere Methoden ... Ein topaktueller Politthriller - Hochspannung garantiert! Gekonnt werden in Uncover die Mechanismen von Fake News beschrieben und mit einer spannenden Geschichte verknüpft, die puren Nervenkitzel verspricht. Mit dem hochaktuellen Thema, dem YouTuber als Identifikationsfigur und dem internationalen Setting schafft Manfred Theisen einen brisanten Politthriller mit All-Age-Potenzial.
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Seitenzahl: 427
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Sonntag, 29. Juli
Sonntag, 29. Juli
Montag, 30. Juli
Montag, 30. Juli, Spätschicht
Montag, 30. Juli, 23.44 Uhr
Dienstag, 31. Juli, frühmorgens
Dienstag, 31. Juli
Dienstag, 31. Juli, 12.30 Uhr
Dienstag, 31. Juli, 14.25 Uhr
Dienstag, 31. Juli
Dienstag, 31. Juli
Mittwoch, 1. August
Mittwoch, 1. August, morgens
Mittwoch, 1. August, 11.35 Uhr
Mittwoch, 1. August
Mittwoch, 1. August
Donnerstag, 2. August
Donnerstag, 2. August, Frühschicht
Donnerstag, 2. August
Donnerstag, 2. August
Freitag, 3. August
Freitag, 3. August
Freitag, 3. August
Freitag, 3. August
Samstag, 4. August
Samstag, 4. August
Samstag, 4. August
Samstag, 4. August
Samstag, 4. August
Samstag, 4. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Sonntag, 5. August
Montag, 6. August
Montag, 6. August
Montag, 6. August
Montag, 6. August
Montag, 6. August
Dienstag, 7. August
Figuren und Handlung des Romans sind frei erfunden.Doch wer in den handelnden Figuren Personen der Zeitgeschichte wiedererkennt, dem möchte ich seine Erkenntnis nicht nehmen.
Berlin ist der Zwergpudel, der am Breitscheidplatz an eine Anti-Terror-Absperrung pisst, ist der speckige Typ, der mitten in der Nacht zwei Alditüten über den Ku’damm schleppt, ist ein chinesischer Tourist, der gerade am Brandenburger Tor einen Herzinfarkt erleidet – und Berlin ist das Studio des YouTube-Kanals Uncover in dem Hinterhof an der Reichenberger Straße.
Zu Uncover gehören meine Freundin Sarah, mein Kumpel Khalil, der für die Technik zuständig ist, und ich als Sprecher. Mein Name ist Phoenix Zander, auf YouTube kurz PhoenixZ. Wir nehmen ein Video auf. Ich stehe vor der Kamera im Aufnahmeraum und rede über Fridays for Future. Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Denn schräg vor mir bewegt sich ein Stock. Er hebt seine dürren Vorderbeinchen und versucht, sich an einem zweiten Stock hochzuziehen. Doch sein Kumpel lässt los und so stürzen beide in die Tiefe. Geräuschlos fallen sie auf den Boden des Terrariums.
Khalil sitzt hinter der Glasscheibe am Laptop und hebt die Hand. »Stopp! Was ist los mit dir, Phoenix? Du musst in die Kamera gucken!«
»Sorry, diese Stabheuschrecken sind einfach zu bescheuert«, sage ich.
Es gibt keine langsameren, keine leiseren und ganz sicher keine unauffälligeren Tiere als Stabheuschrecken. Manche sehen aus wie Stöcke, andere wie Blätter.
Khalil betrachtet mich durchs Glas und seine Stimme dröhnt in meine Kopfhörer: »Ich komm jetzt rein und decke das Terrarium ab. Diesen Take machen wir nun schon zum vierten Mal. Bisher hatte doch alles problemlos geklappt.«
Da hat er recht. Im ersten Beitrag ging es um die East Stratcom Task Force der EU, die seit fünf Jahren russische Fake News entlarvt. Und ich habe jedes Wort sauber rübergebracht. Aber dann fiel mein Blick auf diese bekloppten Stabheuschrecken.
»Schon okay. Ich konzentriere mich wieder«, verspreche ich ihm.
Normalerweise würden wir nicht mitten in der Nacht ein Video für Uncover produzieren. Normalerweise. Doch es gibt kein Normalerweise mehr, denn seit ich mein Abi in der Tasche habe, bin ich tagsüber in der Redaktion der Berliner Nachrichten eingespannt. Es nennt sich »Praktikum«, aber es ist in Wahrheit ein Zwölfstundenjob. Also stehe ich hier nun nachts am Mikro und schwitze mir die Seele aus dem Leib. Denn hier drinnen ist es noch wärmer als draußen. Die Wände um mich herum sind mit hellbraunem Schaumstoff ausgelegt – richtig oldschool sieht das aus. Die Schalldämmung saugt jeden Hall aus der Luft und sie scheint die ganze Hitze der Stadt in sich gespeichert zu haben. Ich würde jetzt am liebsten kalt duschen.
»Bist du bereit?«, fragt Khalil.
Ich nicke, schaue direkt in die Kamera und nicht mehr auf die Stabheuschrecken. Der Schweizer Soziologe Benno Gerber behauptet, dass der friedliche Protest von Fridays for Future keinen Fortschritt bringt: »Weil die bedrohliche Konfrontation fehlt. Das herrschende System reagiert nur, wenn Regeln gewalttätig übertreten werden. Das Fernbleiben von der Schule oder das Besetzen von Straßen wie etwa bei Extinction Rebellion reicht dazu nicht aus. Die Politiker werden erst handeln, wenn es zur massiven Konfrontation kommt, wenn Demonstrierende die Polizisten angreifen oder Politiker mit Steinen bewerfen. Es bedarf der Eskalation durch Radikalität.«
Das sehe ich anders und sage es ins Mikro: »Ich wohne in Berlin. Hier gab es eine friedliche Revolution. Hier sind die Leute auf die Straße gegangen. Kein Schuss ist gefallen, kein Blut vergossen worden und trotzdem haben sie eine Mauer eingerissen. Wer das genauso sieht wie ich, der kann seine Meinung gerne hier« – ich deute mit dem Finger nach unten – »in die Kommentare hämmern. Oder meint ihr auch, dass Fridays for Future gewalttätig werden muss? Reagieren Politiker nur auf extremen Druck? Wir von Uncover freuen uns auf eure Kommentare. Nur eines: Bleibt fair! Hater sind nicht erwünscht.«
Ich höre mich selbst reden, ohne Punkt und Komma, ganz im Flow, und verabschiede mich mit den Worten: »Danke euch fürs Zuschauen. Ihr wisst, einen Daumen hoch ist ein Traum für uns. Wir sehen uns bald wieder – hier bei Uncover.«
Ich schnippe zum Schluss laut mit den Fingern. Das war’s.
Khalil hebt den Daumen. Er ist zufrieden. Die beiden Stabheuschrecken sind wieder auf dem Weg nach oben und ich gehe rüber in den Regieraum zu Khalil. Der ist hinter einem riesigen Mischpult aus den 80er-Jahren verborgen, das mehr Knöpfe als das Cockpit eines Airbus hat. Daneben stehen Bongos und ein Keyboard, ein Mini-Synthesizer und ein megagroßes Tamburin. Doch all das braucht Khalil nicht. Ihm genügen sein Computer und die beiden Bildschirme auf dem Tisch neben dem Mischpult. Dort schneidet er routiniert die Einspieler ins Video.
Ganz nebenbei will er von mir wissen: »Was ist eigentlich mit Sarah?«
Die Frage habe ich schon den ganzen Abend erwartet.
»Beim nächsten Mal ist sie wieder dabei«, verspreche ich, obwohl ich es selbst nicht weiß.
»Alles in Ordnung mit euch beiden?«
»Ja«, sage ich, obwohl ich das auch nicht weiß.
Sarah ist knapp zwei Jahre älter als ich, studiert Politik und Geschichte auf Lehramt und ist gerade bei einem ihrer Kommilitonen. Sie lernen für die letzte Klausur in diesem Semester, die sie morgen schreiben. Ich vertraue ihr. Trotzdem ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie bei einem anderen Typen zu Hause ist. Seit ein paar Tagen ist ziemlich dicke Luft zwischen uns. Denn ihr gefällt es nicht, dass ich das Praktikum bei den Berliner Nachrichten mache. Schließlich wollten wir in ihren Semesterferien ursprünglich zum Segeln nach Korsika fahren.
»Morgen früh entscheidet es sich, ob wir den Stick kriegen«, sagt Khalil.
»Triffst du dich mit Hammed?«
»Exakt.«
»Ich hoffe, er hält diesmal, was er verspricht.«
»Er kann doch nichts dafür, dass ihn dieser Typ immer wieder hängen lässt.«
»Na, mal sehen, ob die vertraulichen Dokumente aus Syrien« – dabei setze ich mit meinen Zeigefingern »vertraulich« in Gänsefüßchen – »tatsächlich so topsecret sind.«
Khalil schaut nicht zu mir rüber, sondern schneidet am Laptop das Video.
Ich boxe Khalil aufmunternd gegen die Schulter. »Morgen wissen wir mehr. Dann haben wir hoffentlich endlich den Stick mit den Daten.«
»Ich hoffe es. Willst du ’nen Kaffee?«
Wir beide gehen in den Wohnungsflur. Auf der 50er-Jahre-Kommode stehen mehrere weiße und goldene Köpfe von Schaufensterpuppen mit uralten Perücken und darüber hängen gerahmte Google-Earth-Aufnahmen der fünf Kontinente. Überall in der Wohnung gibt es Vintage-Sachen: Aschenbecher, die keiner mehr braucht, Kassettenrekorder, die keiner mehr benutzt, und ein orangefarbenes Telefon aus den 70ern, das nicht angeschlossen ist. Der Vormieter mit dem Künstlernamen Rodeo hatte die wohl durchgeknallteste Studiowohnung in Berlin. Jetzt gehört sie Uncover und Khalil.
Wir gehen hinüber zur Bar. Ich stelle mich dahinter, mache den Espresso und schäume Mandelmilch auf. Kuhmilch gibt es hier nicht, denn Khalil lebt vegan. Mittlerweile weiß ich auch, dass ich die Mandelmilch auf keinen Fall heiß aufschäumen darf, sonst bricht sie gleich in sich zusammen. Früher war Khalil richtig speckig, aber seit anderthalb Jahren ist er vegan und dünn, obwohl er so unsportlich ist.
Er sitzt auf einem der Barhocker, die mit Tigerfell überzogen sind. Ich habe mich schon am ersten Tag gefragt, ob es von einem echten Tiger stammt. In diesem Studio halte ich alles für möglich. Die Wand hinter Khalil ist mit Marvel-Comicseiten aus den 60ern tapeziert: The Fantastic Four, Iron Man, Thor, Spider-Man und Hulk.
Wir quatschen über die Stabheuschrecken, darüber, dass sich diese Stöcke wie Karnickel vermehren, nippen Cappuccino und essen veganes Baklava von Khalils Mutter. Ich bin müde und zugleich total aufgedreht. Über das Video reden wir nicht. Vielmehr will Khalil wissen, wie es heute in der Redaktion war.
Ich sage: »Mein Vater nervt ein bisschen.«
»Wieso?«
»Er wollte, dass ich heute Abend länger bleibe. Unseren Kanal nimmt er nicht wirklich ernst.«
»Wir seine Zeitung ja auch nicht wirklich. Kennst du einen unter fünfzig, der noch Zeitungen kauft?«
»Die machen jedenfalls eine Story über die Influencer-Szene in Berlin. Und mein Vater meinte, dass ich mich da doch am besten auskenne.«
»Ich hab dich gleich gewarnt. Es ist nie einfach, in einem Betrieb zu arbeiten, wo der eigene Vater der Chef ist. Welcher Praktikant muss denn sonntags ran?«
»Er ist nur Chef vom Ressort Politik, kein Chefredakteur. Und du hast den Bart voll Mandelmilch.«
Khalil lacht und macht sich den Bart sauber.
Warum ich seit zwei Wochen das Praktikum bei den Berliner Nachrichten überhaupt mache? Weil die Ausbildung gut ist. Papa hat mir versprochen, dass ich ein Volontariat erhalte, falls ich mich im Praktikum geschickt anstelle. Und sonntags arbeite ich nur, weil er mir gesagt hat, dass ich dafür freitags freibekomme.
Mein Handy vibriert. Sarah schreibt, dass sie schon in meiner Wohnung ist und auf mich wartet.
Wo bist du?, will sie wissen.
Ich antworte: Bei Khalil. Wir haben eben das Video aufgenommen.
Jetzt noch?, fragt sie.
Ich musste länger in der Redaktion bleiben, erkläre ich.
Sie schreibt, dass sie sich auf mich freut.
Khalil kann verstehen, dass ich sofort zu ihr will. Er möchte ohnehin das Video lieber allein zu Ende bringen. »Dann habe ich meine Ruhe«, sagt er.
Mein Fahrrad steht vor der Glastür des Anbaus. Darüber prangt in Neonbuchstaben »Rodeo’s Studio«. Khalil lässt hinter mir das Rollo herunter. Er mag es nicht, wenn die Leute direkt in seine Wohnung schauen können.
Ich fahre über den Hinterhof durch das Tor hinaus auf die Reichenberger Straße. Kopfsteinpflaster. Im türkischen Bistro ist es still, im deutschen Bierlokal ist hingegen immer noch was los. Ich kann die Chaoten nicht verstehen. Wie kann man in dieser Hitze nur den ganzen Abend Bier und Schnäpse kippen? Gesang ist zu hören und die Deutschlandfahne hängt draußen. Fand heute ein Spiel der Nationalmannschaft statt?
Knapp eine halbe Stunde später bin ich am Ku’damm. Ein paar Typen geben zwischen den Blitzern Vollgas. Ich frage mich, wie sie an das Geld für die fetten BMW und Daimler kommen. Was für Idioten! Überall kontrolliert die Polizei und die heizen ihre Karren hoch, als gäbe es kein Morgen, als sei die Stadt nicht schon überhitzt genug. Manchmal hätte ich gerne ein ruhiges Berlin, aber es gibt kein ruhiges Berlin. Es ist ein Topf voller Ameisen – voller Ameisen auf Dope, die nie Ruhe geben und immer schneller leben wollen.
Während auf den Straßen von Berlin immer noch der Verkehr fließt, bewegt sich 1 669 Kilometer nordöstlich entfernt die Narva ruhig durch die Nacht. Im Fluss spiegelt sich der Mond und die Wolken ziehen bedächtig über die flache, bewaldete Landschaft. In der Mitte der Narva dümpelt ein Grenzschiff und ein Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg thront am estnischen Ufer auf einem Sockel. Sauber geputzt ist er, als würde er gleich losbrüllen, Ruß husten und in die Schlacht rollen.
Leonid Gontscharow lehnt sein Fahrrad an eine der Birken. Sein Name ist russisch, aber er lebt auf der estnischen Seite des Flusses. Leonid blickt hinüber auf einen der Grenzpfähle am Ufer. Überall auf der Welt gibt es Grenzen, aber die hier an der Narva ist besonders: Sie trennt die Europäische Union von Russland. Seit Jahrhunderten gibt es an diesem Fluss immer wieder Krieg. Die Esten gegen die Russen. Die Schweden gegen die Russen. Die Deutschen gegen die Russen. Eigentlich müsste das Wasser der Narva rot von Blut sein und Stahlhelme müssten darin treiben, aber alles hier wirkt friedlich. Dabei ist es gerade wieder ein brüchiger Frieden zwischen Russland und Europa. Und sowohl auf estnischer wie auch auf russischer Seite wächst die Wachsamkeit der Soldaten.
Leonid ist schlank, breitschultrig und sein Gesicht scharfkantig. Er hat getrunken, denn heute war der Tag der russischen Flotte. Trotz des Alkohols klettert er auf das Podest zum Panzer. Männer in seinem Alter haben normalerweise Frau und Kind, er hat niemanden. Nicht einmal eine vernünftige Trennung hat er hinter sich.
Der Panzer ist ein A T-35-85: klein, kompakt, wendig, und trägt einen roten Stern auf jeder Seite. Es ist einer jener russischen Panzer, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter Stalins Führung Hitlers Truppen aus Estland vertrieben haben. Er steht hier auf EU-Seite und soll daran erinnern, wer Europa vom Faschismus befreit hat. Leonid zieht eine Sprühflasche mit schwarzer Farbe und ein Fläschchen Samagonka aus seiner Sportjacke. Darin ist noch eine Pfütze des Hochprozentigen. Er kippt den selbst gebrannten Schnaps herunter und wirft das Fläschchen in hohem Bogen in die Narva.
Dann schaut er auf die Sprühdose in seiner linken Hand, ploppt den Deckel ab und hält die Dose senkrecht. Leonid malt über den roten Stern des A T-35-85 ein Hakenkreuz, geht einen Schritt weiter und malt noch ein Kreuz – so viele, bis sich die Hakenkreuze rund um den Panzer berühren. Neben das Geschütz schreibt er: »RUSSEN RAUS!«
Er lehnt seinen Kopf an das kühle Kanonenrohr. Ein solches Rohr ist wie ein Fernglas in die Zukunft. Es wird wieder Krieg geben. Das hofft Leonid zumindest. Denn nur durch einen Krieg können Estland und das gesamte Baltikum von Russland zurückerobert werden. Leonid legt sich rücklings auf den Panzer und schaut in den Himmel. Er hat einen Hollywoodfilm mit Ryan Gosling gesehen, in dem die Behauptung der USA in Szene gesetzt wurde, dass die Amerikaner auf dem Mond gelandet seien. So ein Blödsinn. In Hollywood sitzen nur Wahrheitsverdreher.
»Ne prawda!«, murmelt er vor sich hin. »Alles gefakt! Wenn ihr wirklich dort oben gewesen seid, warum könnt ihr heute nicht mehr dorthin? Propaganda, nichts als Propaganda!«
Leonid zielt mit dem Finger auf den Mond. Peng! Der Mond fällt angeschossen herunter und er schaut auf seine Fingernägel. Sie sind sauber abgekaut. Der Bürojob in der Trollfabrik reibt ihn auf. Er erinnert sich gerne an die Jahre in der Armee und die Freiheit in der Uniform. Gemeinsam mit seinen Kameraden war er in Georgien und hat dort Russland verteidigt.
Ein Auto kommt, es fährt auf den Parkplatz. Mit einem Schlag ist er wieder ganz klar im Kopf. Leonid gleitet neben dem Auspuff vom Panzer hinunter und versteckt sich dahinter. Er fühlt den 18-jährigen Rekruten in sich, den Einzelkämpfer. Wenn sie ihn hier erwischen, mit der Sprühflasche in der Hand und den Hakenkreuzen auf dem Panzer, ist er geliefert, egal ob das im Auto Esten oder Russen sind. Denn es sind vielleicht jene Russen oder Esten, die Ruhe wollen und keine Provokationen möchten. Dabei will Leonid genau das: Er will provozieren. Er will, dass sich morgen die russische Bevölkerung von Estland über den mit Nazi-Symbolen beschmierten sowjetischen Panzer aufregt, dass sie auf die Straße geht und dass dieses Pulverfass Estland in die Luft fliegt.
Jeder in Narva spricht Russisch. Jeder. Halb Estland spricht Russisch. Warum also müssen die Kinder in der Schule Estnisch lernen? Das ist krank. Die Russen müssen sich erheben. Das will Leonid. Sie sollen sich von der Unterdrückung durch die EU befreien. Diese Ruhe im Baltikum – in Estland, in Lettland und in Litauen – ist nichts als eine Lüge. So wie die Ruhe in der Ukraine eine Lüge gewesen war. Alles Lüge, denkt er. Zumindest ist die Krim russisch und irgendwann wird es die gesamte Ukraine sein. Alles wird wieder so sein, wie es früher einmal war. Alle haben dann den gleichen Pass, es gibt keine Grenzen mehr und überall kannst du mit Rubel zahlen. Leonid hockt hinter dem Panzer, seine Gedanken sind mit ihm durchgegangen.
»Konzentrier dich«, flüstert er sich selbst zu und lauscht: Die Autotüren öffnen sich, aufgeregte Stimmen, die Türen knallen dumpf wieder zu. Audi oder Mercedes, tippt Leonid. Er kennt sich mit Autos aus. Die Stimmen klingen jung und Schritte knirschen im Kies. Sie sprechen lautes scheußliches Russisch. Es ist voller Schimpfwörter. Der russische Präsident Konstantin Komarow hatte vor den Olympischen Spielen in Sotschi das Benutzen von Schimpfwörtern unter Strafe gestellt. Das war richtig, denn Russisch ist versaut von Schimpfwörtern. Noch haben die Leute, die gerade aus dem Wagen gestiegen sind, nicht die Hakenkreuze auf dem Panzer gesehen und nicht den Spruch »RUSSEN RAUS!« entdeckt.
Jemand ruft: »Hey, hier ist ein Fahrrad!«
Leonid lugt um den Panzer herum und sieht, wie einer von ihnen auf sein Fahrrad steigt. Anhand des Fahrrads kann Leonids Identität zurückverfolgt werden. Schließlich hat so ein Rad eine Rahmennummer und zur Rahmennummer gibt es eine Kaufquittung. Er hat das Fahrrad extra offiziell im Geschäft gekauft und nicht gebraucht, um kein gestohlenes Rad zu erwischen. Und jetzt das!
Einer schreit: »Los, in den Wagen!«
Der Typ auf Leonids Fahrrad schafft es nicht, schnell genug abzusteigen: »Hey, wartet! Ihr Schweine!«
Der Audi fährt vom Parkplatz und der Fahrer grölt aus dem Fenster: »Strampeln, strampeln, dann kommst du schon nach Narva!«
Mit diesen Worten verschwindet der Wagen. Der Fahrradfahrer schreit noch einmal verzweifelt, dann verstummt er.
Nur das Quaken der Frösche ist zu hören.
Leonid sieht, dass der Radfahrer wegfahren will. Das darf er nicht zulassen! Er rennt dem Mann hinterher. Der bremst, dreht sich um und Leonid streckt ihn mit der Faust nieder. Dem Mann fliegt die Kappe herunter und er kippt nach hinten – direkt auf den Hinterkopf. Es ertönt ein dumpfes Geräusch, als sei ein Sack umgefallen. Sein Blut ist grau im Kies zu sehen und versickert im Mondlicht.
Leonid schnappt sich die Kappe, auf der steht: Komarow, der ehrlichste Mensch der Welt. Er setzt sie auf und zieht sein Fahrrad unter dem Mann weg. Seit seinen Jahren im Militär hat er niemanden mehr geschlagen. Er fühlt sich gut, greift in seine Jacke und drückt dem Kerl die Sprühflasche in die Hand. Dann steigt er aufs Rad, steigt noch einmal ab, um den Lenker zu richten, und fährt die Straße nach Narva entlang. Glatt wie Lakritze glänzt der Asphalt im Mondlicht. Schilder stehen am Straßenrand. Sie sagen, dass die Straße durch Mittel der EU finanziert worden sei.
Leonid schüttelt den Kopf und sagt: »Scheiß Europa.«
Eymen ist Fotograf. Er sitzt neben mir, schwitzt und raucht. Alt wie mein Vater ist er und fett. Er stößt mit dem Bauch unten ans Sportlenkrad. Eymen hat mich gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er rauchen würde. Ich habe Nein gesagt, was rückblickend betrachtet ein Fehler gewesen war, denn jede Faser meines T-Shirts riecht jetzt nach Nikotin. Im Film darf es solch qualmende Typen mit Zigarette im Mund schon gar nicht mehr geben. Im echten Leben hocken sie einfach neben dir und fahren Mercedes-SUV. Am liebsten würde ich das Fenster runterkurbeln, aber das geht nicht wegen der Klimaanlage.
Ich rufe auf meinem Handy unser Uncover-Video von heute Nacht auf. Jetzt ist es später Nachmittag und das Video hat schon 127 897 Aufrufe, 27 987 Likes und kaum Dislikes. Ich scrolle mich durch die Kommentare zum Fridays for Future-Beitrag. Einer will, dass endlich Steine geworfen werden, damit sich etwas ändert, eine andere möchte, dass die NATO gegen Leute wie den brasilianischen Präsidenten vorgeht, der den Regenwald abbrennen lässt. Ich bin erstaunt, wie radikal einige unserer Abonnenten denken.
»Die Leiche muss hier irgendwo in diesem Scheiß Datschistan sein«, flucht Eymen. Ich schaue vom Handy auf und sehe, wie er sich am Hals herumfingert. Das ist echt nicht schön. Ob er ans Abnehmen denkt? Er ist wie eine Karikatur seiner selbst. Wir sollten auf Uncover mal eine Story über ihn bringen. Er erinnert mich an Tanzverbot, diesen übergewichtigen YouTuber, der ständig isst und ständig darüber redet, dass er sich irgendwann einmal tot fressen wird. Und weiter den Pappmüll von McDoof frisst. Genau so kommt mir Eymen vor. Er ist ein Kugelfisch mit durchgeschwitztem Poloshirt. Nur seine Augen sind wacher. Damit scannt er rechts und links die Schrebergärten ab.
Draußen in der Hitze liegt ein Meer von Datschen. Wir gondeln an dem Kleingärtnerglück vorbei und ziehen eine Wolke von Staub hinter uns her. Die Kleingärtner zeigen Flagge: Deutschlandflaggen, Union-Berlin-Flaggen, Türkei-, Russland-, Italien- und Piratenflaggen. Und wir sehen Rauchsäulen, die über den Grills in den Himmel steigen. Rauchzeichen von Tieren: Rinder, Schweine, Lämmer und Hühner.
Eymen bremst, er hat hinter einem Zaun einen Haufen Rentner entdeckt. Wie Feuerkäfer hängen sie in dem Garten beieinander.
Ich erhalte eine Nachricht von Khalil. Vermutlich will er mit mir über den gestrigen Beitrag reden. Schließlich läuft bei Uncover zurzeit alles ein bisschen chaotisch ab, weil ich tagsüber in der Zeitung eingespannt bin. Vorher konnten wir ständig über den Kanal quatschen, aber das ist jetzt schwierig. Doch Khalil will nicht über das Video sprechen. Auf dem Display meines Handys steht nur: Hab den Stick.
Offenkundig hat sein Informant endlich die Informationen weitergeleitet. Ich schicke ihm einen Daumen hoch und frage: Was ist drauf?
Er: Jede Menge. Das meiste ist aber auf Russisch. Da muss Sarah ran. Wir müssen das Material schnell sichten.
Ich: Kommst du später zu mir? Das ist näher von der Redaktion.
Er: Okay. Bis heute Abend.
Ich sende wieder einen Daumen hoch und will Sarah von der Neuigkeit berichten. Doch Eymen befiehlt mir genervt: »Steck das Handy weg. Du bist jetzt hier in dieser Geschichte. In keiner anderen.«
Da ich ihr dennoch schreibe, nimmt er mir das Handy weg und droht, es aus dem Wagen zu werfen.
»Okay, okay. Ich lass es sein.«
Wir stehen jetzt mit dem Wagen direkt vor der Parzelle, auf der ein Toter gefunden wurde. Die Polizei ist noch nicht da, die Feuerwehr auch nicht, aber Eymen und ich. Eymen sagt grinsend, während er den Bauch unter dem Lenkrad Richtung Ausstieg bewegt: »Immer schön mitschreiben, Phoenix. Namen und Aussagen. Alles notieren. Das ist dein Job.«
Als ich die Tür unseres Mercedes öffne, werde ich von einer Wolke roten Staubs erwischt, die der Wagen gerade aufgewühlt hat. Und es riecht nach Gegrilltem. Ein Kilo Rindfleisch kostet 15 000 Liter Wasser, aber so gut wie nichts im Lidl.
Eymen ist vorgegangen und fragt die Menge: »Wo ist denn der Tote?«
Allen ist klar: Dieser Kerl ist Fotograf der Berliner Nachrichten – schließlich prangt auf dem Objektiv seiner Kamera ein Aufkleber der Zeitung. Er macht hier seinen Job, nicht mehr und nicht weniger. Und ich bin mit dabei, ein Praktikant.
Jeder der Kleingärtner ist kleiner als ich, keiner unter fünfzig. Eine beleibte Frau mit Schürze erklärt, dass sie die Leiche gefunden habe. Sie sieht aus, als sei sie einem dieser alten russischen Märchenfilme entsprungen, die sonntags auf KiKA laufen.
»Sollen wir nicht auf die Polizei warten?«, fragt sie Eymen.
Der winkt ab. »Dann latsch ich halt dem Geruch nach. Ich finde diesen Toten schon.«
Das muss er nicht, denn die Frau geht nun doch voran, ihre Hüften sind ausladend und ihr Gang ist breitbeinig. Ihr Mann folgt uns, oder sollte ich besser Männlein sagen? Ich weiß nicht, wo Berlin solche Figuren herholt. Jetzt fällt mir auch der Geruch auf: beißend, süßlich – widerlich.
»Wie ’ne faule Tüte«, sagt Eymen, der anscheinend meine Gedanken gelesen hat. Er deutet Rauchen an. »Na, ’ne Tüte halt. Hast du noch nie ’ne Tüte geraucht?«
»Doch, doch«, lüge ich.
Wir gehen an der Datsche vorbei, die vorne eine richtige Veranda mit Schaukelstuhl hat. Dahinter ist, gerahmt von Sonnenblumen, noch ein schlichter Schuppen. Wir laufen auf den Schuppen zu und der Gestank ist extrem. Du kannst weghören und auch wegsehen, aber wegriechen kannst du nicht. Da musst du dir schon die Nase zuhalten.
Die Märchenoma zeigt auf ihre Nase. »Tot. Hab noch nie was gerochen. Aber mein Mann hat eine feine Nase.«
Die Oma zieht aus der Tür ein Messer aus Holz, das als Riegel diente, und drückt es mir in die Hand. Ich bin erstaunt. So ein Holzmesser hat mir Sarahs Vater auch mal geschenkt. Es wird beim Training von Systema genutzt, einem sowjetischen Kampfsport, der darauf abzielt, den Gegner zu entmachten und möglichst schnell zu töten.
Der rappeldürre Opa schaut Eymen an und sagt vorwurfsvoll, dass er die Polizei gerufen habe. »Nicht Sie, sondern die Polizei! Wir brauchen einen Kommissar, keinen Fotografen.«
»Schwätz nicht, Eugen«, unterbricht ihn die Oma. »Es war die Heizdecke. Dieser Sturkopf Erich wollte das Ding nicht wegschmeißen. Der hat doch selbst im Sommer gefroren. Vermutlich ist er unter der Heizdecke vor dem Heizofen eingeschlafen, hat im Schlaf gestrullt und dann gab es einen Kurzschluss. Hör auf, von Mord zu reden, Jenia.«
Es macht Klick in meinem Kopf: Jenia ist die russische Abkürzung für Jewgeni und gleichbedeutend mit dem deutschen Namen Eugen. Vermutlich sind wir auf einen Haufen Russlanddeutscher gestoßen, die sich in der Kolonie zusammengefunden haben. Der Name Jenia ist so typisch russisch wie Wodka und Kreml. Sofort kommen mir diese Oma und dieser Opa vertraut vor. Schließlich sind Sarahs Eltern und ihre Großmutter Anna auch Russlanddeutsche.
Eymen steht vor der Tür des Schuppens und zögert, sie zu öffnen. Hat er Angst, einen Tatort zu verunreinigen? Oder bilde ich mir das nur ein? Dann zieht die Oma die Tür auf. Heraus dringt ein Gestank, der mir sofort die Nase verätzt. Eymen hält sich ein Taschentuch vors Gesicht und fotografiert gleichzeitig in den Schuppen hinein.
»Bleib weg«, sagt er. »Bleib bloß weg, Phoenix.«
Immer wieder blitzt das Licht in der Hütte auf, aber ich stehe mit diesem Holzmesser hinter der Tür und kann nicht hineinschauen. Ich frage mich, warum Eymen den Leichnam so oft fotografiert. In einer seriösen Zeitung wie den Berliner Nachrichten wird ein solches Foto nicht abgedruckt werden.
Sirenen sind zu hören. Die Polizei hat endlich ihren eigenen Funk abgehört. Ich stecke das Holzmesser in meinen Hosenbund, als müsse ich es verbergen.
Eymen drückt die Tür des Schuppens wieder zu und fordert: »Erzählen Sie diesem jungen Mann, wie Sie ihn gefunden haben und wer Sie sind.«
Die beiden Alten erklären, sie hätten nicht geahnt, dass ihr Freund Erich Fron schon die ganze Zeit tot vor seinem Heizlüfter gesessen habe.
»Hat Herr Fron in der Datsche gelebt?«, frage ich.
»Das ist verboten«, sagt die Oma.
»Und?«, bohrt Eymen nach. »Wir dürfen auch nicht bei Rot über die Straße laufen.«
Die Oma wird ehrlich: »Manchmal hat er hier gewohnt, weil er seine Wohnung …«
Dann verstummt sie, denn zwei Polizeibeamte kommen auf uns zu. Eymen stupst mich an. Ich begreife und schreibe mir noch Vor- und Nachnamen der Zeugen auf.
»Und ihre Telefonnummer?«
Eymen sagt: »Brauchen wir nicht.« Er hat es eilig. Am Auto angekommen fragt er: »Wir haben alles. Oder?«
»Weiß nicht«, erwidere ich. Immer noch sticht mir der Geruch von Erich in die Nase. Ich wusste vorher nicht, wie gegrillter Mann riecht.
Eymen schaut mich übers Dach des Wagens an: »Ich denke, du machst diesen YouTube-Kanal über Politik und so was.«
Ich nicke und sage bestimmt, um nicht unschlüssig zu wirken: »Ja, wir haben alles für den Artikel.«
»Gut. Wenn du das so siehst. Das musst du entscheiden. Die Entscheidung, welches das beste Foto ist, überlässt du mir.«
Das klingt fair.
»Scheiße, wenn du nichts riechst«, sagt Eymen, als wir wieder im Wagen sind. »Echt Scheiße.«
Er zündet sich eine Zigarette an. Dann atmet er tief ein und aus. Ich genieße den Rauch, denn er überdeckt Erichs Geruch.
In der Redaktion gibt mir Lokalchef Frank Böseke sechzig Zeilen Platz für den Artikel auf der ersten Lokalseite. Vermutlich ist sechzig auch Bösekes Alter. Er hat ausgedünntes Haar, Augenränder und klammert sich an den guten alten Journalismus, wo Bericht und Kommentar noch sauber voneinander getrennt wurden wie Plastik- und Papiermüll. Von uns YouTubern hält er nichts.
Aber ich schreibe erst einmal Sarah, dass Khalil endlich den Stick hat. Sie antwortet mit einer Sprachnachricht: »Kann heute Abend erst später. Hab dich lieb!«
Das war eine sehr knappe Antwort, zu knapp. Nicht einmal ein bedauerndes Emoji. Ich überlege, ob ich ihr sagen soll, dass wir sie für die Übersetzung brauchen, und sehe, dass am Nachrichtentisch der Fernseher läuft – ein Interview mit Konstantin Komarow. Der russische Präsident sieht in seinem schwarzen Anzug und der Sonnenbrille aus wie ein verschlagener Mafioso. Wie konnten die Russen nur so einen KGB-Mann an die Spitze wählen? Ich verstehe das nicht.
Und tippe an Sarah: Was ist denn los? Warum kommst du später?
Sie: Treffen mit Freunden von der Uni. Willst du mitkommen?
Ich: Nein.
Sie: Wir lernen heute auch nicht. Wir feiern nur, dass wir heute unsere letzte Klausur geschrieben haben. Wird bestimmt lustig.
Ich schicke einen Daumen nach unten.
Sie sendet mir einen Smiley. Vielleicht überlegst du es dir noch.
»Wie weit bist du?«, will Böseke wissen. »Bald ist Andruck.«
»Noch zwei Minuten«, sage ich und mache mich an die Arbeit.
Um halb acht stelle ich mein Fahrrad hinten im Hof ab und schreibe Khalil: Bin zu Hause, warte auf dich.
Vorne sind die Häuser der Fasanenstraße blitzblank, aber hier hinten im Hof sieht es anders aus. Meine Mutter wird noch im Sender sein und mein Vater schreibt in der Redaktion einen Kommentar über das drohende Auseinanderbrechen der Koalition in Berlin.
Ich habe Magenschmerzen, ich würde Sarah am liebsten anrufen und ihr verbieten, mit ihren Kommilitonen auszugehen. Doch das wäre lächerlich. Ich will nicht eifersüchtig sein. Deshalb drücke ich das Handy tiefer in meine Jeanstasche und steige die drei Stockwerke hoch. Im zweiten Stock steht ein Fenster offen. Mir weht der Geruch von Gegrilltem in die Nase. Rind, Lamm, Huhn, Schwein. Die Opfer des Sommers. Und ich muss an Erich Fron denken …
Im dritten Stock gibt es zwei Wohnungstüren: die meiner Eltern ist links, meine rechts. Ich wohne in der Einliegerwohnung. Den Schlüssel in der Hand höre ich ein Geräusch in meiner Wohnung. Ob meine Mutter da ist? Oder ein Einbrecher? Ich lege mein Ohr an die Tür und horche. Es ist still. Ich bin mir sicher, dass eben ein Geräusch aus meiner Wohnung gekommen ist.
Ich schreibe Mama: Bist du bei mir in der Wohnung?
Sie antwortet nicht.
Wieder ein Geräusch. Da ist jemand. Ganz sicher.
Ich rufe Mama an.
»Bist du in meiner Wohnung?«
»Wie? Ich bin im Sender. Ich sitze gerade an dem Beitrag über …«
»… die Koalition«, vermute ich.
»Woher weißt du das?«
»Weil Papa auch einen Kommentar über die Koalitionskrise schreibt.«
»Die Fliegen kreisen immer um die gleiche …«
»… Scheiße«, sage ich und wir lachen. Normalerweise geben wir uns nach solch einer Gedankenübertragung ein High five. Aber Lachen ist auch gut.
Jemand ruft im Hintergrund nach Mama und dann legen wir auf. Vor ein Uhr nachts wird sie nicht zu Hause sein.
Ich horche wieder an der Wohnungstür. Jetzt ertönt in der Wohnung meiner Eltern ebenfalls ein Geräusch. Aber das kenne ich: Es ist Mascha, die miaut. Sie hat Hunger. Sie hat immer Hunger. Mascha kann zwei Dinge besonders gut: essen und sich streicheln lassen. Für eine Sekunde hat sie meine Aufmerksamkeit, doch dann höre ich wieder ein Geräusch in meiner Wohnung. Ich drehe langsam den Schlüssel im Schloss, drücke vorsichtig die Tür auf und schaue mich um: Garderobe, zwei Jacken, rechts die Klotür, geradeaus die Tür zu meinem Zimmer. Ich gehe auf Zehenspitzen darauf zu.
Dann reißt jemand die Tür direkt vor meiner Nase auf und Sarah fällt mir um den Hals. Ich bin zu überrascht, um überrascht zu sein. Sie haucht mir ein wenig erotisch das Wort »Überraschung« ins Ohr und drückt mir einen Kuss auf den Hals. Ich bekomme Gänsehaut und wir küssen uns. Liebe fühlt sich gut an. Meine Hand ist in ihrem Haar. Es ist weich und reicht ihr bis zur Mitte des Rückens. Was für ein Glück, dass ich heute mal nicht länger in der Redaktion bleiben musste.
Zwei Jahre sind wir jetzt zusammen. Das also ist der Grund für die Überraschung. Typisch! Was für ein Klischee: Der Mann vergisst den Jahrestag, die Frau denkt daran. Sie hat den halben Schreibtisch leer geräumt und darauf Sushi vorbereitet. Weil ich Sushi liebe und weil sie Sushi liebt und weil es in dieser winzigen Einliegerwohnung nur eine viel zu kleine Küche gibt. Das reimt sich und ich habe jetzt das Gefühl, als würde sich das ganze Leben reimen. Alles ist gut, sie ist bei mir und ich scherze: »Ich dachte, ich hätte heute schon Geburtstag.«
»Mittwoch feiert erst mal meine Oma. Dann bist du dran.«
»Okay, okay«, erwidere ich. »It’s time to have a party. But not my birthday party. Ich habe verstanden.«
Sie grinst, weil sie weiß, dass ich keine Lust habe, meinen achtzehnten Geburtstag zu feiern. Manchmal ist es gut, wenn du die Stadt und die Schule wechselst. Denn dann weiß niemand, wann du Geburtstag hast, und ich bin ein Geburtstagshasser, einfach unfeierbar. Es ist mir immer total peinlich, wenn mich jemand hochleben lässt.
Sie sagt: »Ist schon gut. Ich habe ja niemanden eingeladen. Komm, lass uns essen.«
Wir stellen uns an unsere Matten, um das Sushi zu rollen, als es klingelt.
Sarah schaut verzweifelt und ich stöhne: »Oh, den hätte ich fast vergessen.«
»Khalil?«, fragt sie.
»Wer sonst? Ich habe dir doch gesagt, dass er den Stick mit den Informationen zu Syrien hat. Wir wollen sie heute sichten.«
Sie geht an mir vorbei zur Wohnungstür. Dabei will ich lieber mit ihr im Bett liegen und Sushi essen. Gedanken aus dem Unterleib und dem Herzen sind das.
»Khalil?«, fragt sie durch die Gegensprechanlage.
»Wer sonst?«, antwortet Khalil.
Ein paar Minuten später sitzen wir am Schreibtisch und essen Sushi. Khalil isst nichts, ein Fisch ist für ihn eben auch ein Tier. Er hat ohnehin nur eines im Sinn: den Stick. Wir öffnen die Dateien am Computer. Darin befinden sich mitgeschriebene Telefonate zwischen Moskau und Damaskus, SMS und interne Mails aus dem Regierungsumfeld des syrischen Präsidenten Ibrahim al-Tawīl, die ausgedruckt und wieder gescannt worden sind. Wer macht denn so was?
In einem anderen Dokument informiert ein syrischer Offizier über die Unterstützung durch russisches Kriegsgerät. Das mag für Insider interessant sein, aber für unseren Kanal?
Sarah übersetzt eine russische Liste mit Militärmaterial und -personal, die den syrischen Streitkräften zur Verfügung gestellt wurden. Ich rolle die dritte Sushi-Rolle. Die Militärhilfe der Russen wurde von Ibrahim al-Tawīl für den Angriff auf die Millionenstadt Homs benötigt. Es wird bis auf die Kommastelle genau aufgeführt, wie teuer jede Rakete ist, die von einem russischen Kampfjet Suchoi SU-25 abgefeuert wurde. Selbst die Arbeitsstunden der russischen Bomberbesatzung von drei TU-95 sind aufgelistet und abgerechnet. Schließlich findet Sarah auf dem Stick noch ein strategisches Papier auf Russisch, in dem der syrischen Regierung ein Vorschlag zur Rückzahlung der Auslagen gemacht wird. Dabei geht es nicht nur um Land, sondern auch um Ölquellen. Ein Name taucht immer wieder auf: Juri Myasnik. Er soll für die Russen für die künftige Verwaltung der Ölquellen auf syrischem Territorium verantwortlich sein.
»Ist das etwa dieser Oligarch und Freund vom russischen Präsidenten?« Khalil schaut mich fragend an.
Ich nicke und sage: »Genau der.«
Sarah ist irritiert. Sie kennt Myasnik nicht.
»Juri Myasnik«, fängt Khalil an, »war schon unter dem Ex-Präsidenten Hofschneider im Kreml. Er verpasst jedem Präsidenten seinen Style – und für Komarow hat er diesen Geheimagentenlook mit Brioni-Sonnenbrille geschneidert.« Wenn Khalil so redet, ist er schwer zu stoppen und gerne belehrend. »Heute entwirft er außerdem die Uniformen für die russische Armee und obendrein produziert er sie in seinen Fabriken. Extrem lukratives Geschäft, wie du dir denken kannst.«
»Ist das so?«, fragt Sarah. Sie sagt es ein wenig ironisch, damit sich Khalil darüber bewusst wird, wie belehrend er gerade klingt.
Doch Khalil redet weiter, als ob er vor einer Gruppe Studenten stände: »Aus Dankbarkeit dafür, dass Komarow ihm so viel Geld verschafft hat, gründete Myasnik in St. Petersburg und anderen Städten Trollfabriken. Dort sitzen heute Hunderte von Usern mit Fake-Accounts und Social Bots und manipulieren die Meinungen auf der ganzen Welt – auf Facebook, Twitter, YouTube und all den anderen sozialen Medien.«
»Und dieser Myasnik soll jetzt die Ölquellen in Syrien verwalten?«
Khalil nickt. »Ja. Komarow hat sich einen treuen Hund herangezüchtet.«
»Damit nehmen sie den Syrern doch die einzige Einnahmequelle, die sie haben. Das wird das Land völlig ausbluten.«
»Okay, lasst uns mal überlegen«, versuche ich nun, Khalil davon abzuhalten weiterzureden. Ich schlage vor, dass wir erst die Daten auf dem Stick komplett übersetzen und dann die Bombe platzen lassen.
»Das ist gut«, pflichtet mir Sarah bei.
Dennoch möchte Khalil gleich heute ein neues Uncover-Video machen: »Wir haben doch noch andere Themen auf Vorrat. Die nehmen wir auf und kündigen am Ende an, dass wir einen Stick mit Material gegen den russischen Präsidenten Komarow und seinen Freund Myasnik in der Hand haben. Dann …«
Mit einem »Haaallo« unterbreche ich ihn. »Wir haben erst heute Nacht ein Video hochgeladen. Und wir sind nicht bei dir im Studio, sondern hier bei mir.«
»Ich finde, es klingt gut, was Khalil sagt«, meint Sarah. »Wir sollten einfach zu Khalil ins Studio fahren und die Sache aufnehmen. Das geht doch schnell. Wir machen die Leute schon mal ein bisschen neugierig. Mehr nicht.«
Ich lasse mich überreden und ein paar Minuten später sitzen wir in der U-Bahn.
Es ist 21.30 Uhr estnischer Zeit und damit eine Stunde später als in Deutschland. Die estnische Polizei sucht landesweit nach einem Radfahrer mit roter Kappe mit der markanten Aufschrift: »Komarow, der ehrlichste Mensch der Welt«. Der junge russische Este, den Leonid niedergeschlagen hat, hatte Sascha geheißen. Ein Taxifahrer aus Narva, der mehr Gold als echte Zähne im Mund hat, wird im estnischen Fernsehen interviewt. Er berichtet, er habe den Toten am Panzer gefunden – nach Alkohol riechend. Kein Wort von der Sprühdose, nichts von den Hakenkreuzen.
Der Taxifahrer arbeitet nicht für Takso 24, sonst würde Leonid ihn kennen, denn sämtliche Takso 24-Mitarbeiter stehen auf der Gehaltsliste der Agentur.
»Kommst du mit?«
Die Stimme gehört zu seinem Kollegen Michail Solovjev. Er hat zwar genauso breite Schultern wie Leonid, ist aber speckig, selbst seine Finger wirken wie dicke Bockwürste. Michail studiert in Tartu – etwa zwei Autostunden von Narva entfernt.
Wie alle in Leonids Abteilung im vierten Stock beherrscht er perfektes Russisch, Estnisch und Deutsch. In den Abteilungen unter ihnen, in den Stockwerken zwei und drei, sprechen die Mitarbeiter ebenfalls Estnisch und Russisch, aber statt Deutsch schreiben sie fließend Französisch, Italienisch, Griechisch, Flämisch, Ungarisch, Lettisch, Polnisch, Kroatisch, Rumänisch, Spanisch und Englisch. Da diese Abteilungen nicht so groß wie die deutsche sind, sind sie auf den beiden Stockwerken in einzelnen Großraumbüros untergebracht. In dem Gebäude an der Puškini maantee 27b sind nahezu sämtliche europäische Sprachen plus Türkisch vertreten. Offizieller Name des Büros ist Agentur Tere Päevast, was zu Deutsch so viel wie »Guten Tag« heißt. Es ist angeblich das Callcenter einer estnischen Telefongesellschaft. Aber in Wirklichkeit ist es die erste russische Trollfabrik auf dem Gebiet der Europäischen Union. Zurzeit dreht sich die Spätschicht auf den ergonomischen Stühlen.
»Also, was ist? Kommst du?«, wiederholt Michail seine Frage. »Um zehn macht das German zu.«
»Kann nicht. Ich hab noch einiges an Kleinkram zu erledigen.«
»Lass doch die Neue das machen, diese Blonde mit …« Er deutet die Oberweite seiner Kollegin an und findet sich extrem witzig.
»Sie hat sogar einen Namen«, sagt Leonid. »Nadja Kurkowa.«
»Sie hat aber nicht nur einen Namen, sondern auch …«
Wieder deutet Michail die Oberweite an und schaut auffällig über vier Schreibtische hinweg zu Nadja. Die hockt angestrengt vor dem Bildschirm und tippt. Sie ist zuständig für die Online-Artikel von ARD und ZDF. Ihr Job ist es, auf Äußerungen der Redaktionen zu Russland, der Ukraine und speziell zur Politik Komarows zu reagieren.
Leonid schüttelt den Kopf. »Nee, lass mal. Geh du ruhig mit deinen Freundinnen essen. Ich will noch was tun.«
Was Leonid nicht ahnt: Abteilungsleiterin Karina Kusnezowa, die nur ein Dutzend Schritte von ihm entfernt in ihrem Büro steht, beobachtet ihn durch die verspiegelte Glasscheibe. Sie hat ihr Stehpult extra hochgefahren, um so einen besseren Überblick über den Großraum zu haben. Sie wurde heute früh aus Moskau über Leonids nächtliche Aktion am Panzer informiert. Dass ihr Mitarbeiter zuweilen etwas hitzig ist, weiß sie. Aber er ist extrem loyal. Und das schätzt sie.
Karina ist nicht nur hübsch, sondern gilt auch als äußerst durchsetzungsfähig. Schlank, schwarzes Haar und stets im Kostüm. Sie hat mit ihrer Zwillingsschwester Galina in Tallinn Germanistik und Betriebswirtschaft studiert und blickt gerne mit ihren knapp dreißig Jahren von ihren High Heels auf andere Frauen herab. Doch jetzt schaut sie nur zu Leonid. In Karinas Augen ist er schlichtweg unterfordert. Sie muss ihm eine Aufgabe geben – eine wirkliche Aufgabe.
Karinas Blick fällt auf ihre rot lackierten Fingernägel. Sie poliert mit dem Daumen den kleinen Diamanten auf ihrem Zeigefinger. Knapp 400 Euro hat er gekostet. Dann klickt sie sich auf Leonids Arbeitsplatz und beobachtet nun an ihrem Bildschirm, was er sich auf seinem Bildschirm anschaut: estnisches Fernsehen. Ob er Angst hat, die Polizei könne ihn erwischen?
Noch einmal überfliegt sie seine Akte: Leonid Gontscharow, aufgewachsen in Kainda (Kirgisistan), Vater Alkoholiker, Mutter wanderte allein vor 32 Jahren nach Deutschland aus. Deutsch lernte Leonid von seinem deutschstämmigen Großvater mütterlicherseits. Nach der Schule Militärlaufbahn. Einsatz in Georgien. Seit neun Jahren arbeitet er für Juri Myasnik. Anfänglich war er freier Mitarbeiter in der Trollfabrik Agentur Internet Research in St. Petersburg an der Sawuschkina 55, zuständig für die Betrachtung deutscher Medien. Seit zwei Jahren ist er in Narva. Auffälligkeiten: Die Agentur musste einschreiten, als er von einer Frau wegen Körperverletzung angezeigt worden war. Die Klage wurde abgewiesen und die sehr junge Frau wegen Verleumdung angezeigt. Seither hatte Leonid keine Freundin mehr, die Agentur ist sein einziger Lebensinhalt.
Karina blickt noch einmal zu ihm hinüber, da klingelt ihr Telefon. Ihr Vorgesetzter Igor Petrow ruft sie aus Moskau an. Und wenn er anruft, ist es immer dringend …
Leonid beendet das TV-Streaming, denn er kann nicht ewig fernsehen. Schließlich muss er sich um seinen Job kümmern. Der tägliche Kleinkram steht an. Ein brandenburgischer Landtagsabgeordneter, Jens Lutz Schwanke von der AfD, hat einen Videobeitrag gepostet.
Er fordert mehr Gefängnisse: »Wenn immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland strömen, gibt es logischerweise auch mehr Verbrechen und damit mehr Verbrecher. Deshalb brauchen wir mehr Gefängnisse. Das ist teuer, aber es ist noch teurer, die Flüchtlinge frei herumlaufen zu lassen.«
Leonid unterstützt Schwankes Video mit Social Bots. Er füttert die Softwareprogramme mit Hashtags und Wörtern, auf die sie anspringen – liken, teilen und kommentieren. Sie sind wie Bluthunde, die den Hasen aufscheuchen und ins Verderben treiben.
Doch er bekommt die Sache mit dem Panzer nicht aus dem Kopf. Es ist wie ein Programm auf dem Computer, das immer noch im Hintergrund läuft. Warum redet niemand über die Hakenkreuze? Warum nicht über die Aufschrift »RUSSEN RAUS!«? Seine ganze Aktion war völlig umsonst, wenn niemand die Provokationen anspricht.
Ein gewisser Orkan Soylu hat gerade das Video von Schwanke auf Facebook kommentiert und ihn als »Rassisten« bezeichnet. Leonid reagiert als mrwhitepanther auf den Kommentar und informiert sich auf den sozialen Netzwerken über Orkan Soylu. Der New-Wave-Türke ist vor vier Jahren vor Erdogan nach Deutschland geflohen, hat eine Praxis als Kinderpsychologe in Remscheid eröffnet, ist verheiratet und hat zwei Mädchen. Auf YouTube betreibt er einen Kanal, auf dem er Erklärvideos zum Thema »Kindliche Traumata« hochlädt. Er wurde des Öfteren von Medien zu »Traumata von Flüchtlingskindern« interviewt. Leonid schreibt einen Kommentar zu Soylus jüngstem YouTube-Video:
NeleNeulich: Du Türkensau fickst mich und dann fickst du deine Frau und deine beiden unschuldigen Mädchen. Jetzt weiß ich auch, warum Erdogan dich rausgeschmissen hat. Jeder Türke spuckt auf dich!
Auf dem abonnierten Kanal Uncover wurde ein neues Video gepostet. Leonid ist verwundert. Normalerweise veröffentlichen die Berliner YouTuber um PhoenixZ wie auch ihr Kollege LeFloid nur alle vier oder fünf Tage ein News-Video. Zu seiner Überraschung geht es nur um ein Thema: »Uncover exklusiv: Russische Bomben – Flüchtlinge zahlen für Komarows Waffen!« Das lässt bei Leonid sofort alle Alarmglocken läuten.
Was will dieser Halbwüchsige? Was bildet der sich ein?, denkt er. Mit seinem spitzbübischen Gesicht und der leichten Stupsnase erinnert er ihn an den Reporter Tim aus Tim und Struppi. Eine Witzfigur. PhoenixZ redet schnell. Leonid muss sich konzentrieren, um ihn zu verstehen, zumal keine zwei Meter von ihm entfernt seine Kolleginnen miteinander diskutieren.
Er drückt sich die Kopfhörer fester aufs Ohr und hört PhoenixZ sagen: »… also, was glaubt ihr? Wer bezahlt am Ende die Bomben, die Russland auf Syrien wirft? Der syrische Präsident Ibrahim al-Tawīl? Nein! Es ist das syrische Volk! Und dazu gehören auch die Menschen, die heute bei uns Asyl haben. Uncover liegen Informationen vor, wie diese Bezahlung genau vonstattengehen wird.« PhoenixZ hält einen Stick in die Kamera. »Da sind die Fakten drauf, die beweisen, wie sich Komarow und der Oligarch Juri Myasnik auf Kosten der Ärmsten noch reicher machen.«
Leonid stutzt. Was behauptet der Kerl da? Juri Myasnik soll sich am syrischen Volk bereichern? Der YouTuber beendet seinen Beitrag mit: »Diese Daten« – er hält den Stick erneut vor die Cam – »werden in Moskau wie eine Bombe explodieren.«
Früher hat PhoenixZ auf seinem Kanal nur Minecraft, GTA und Fortnite gezockt und jetzt …? Was sind das für Dokumente, von denen dieser YouTuber redet?
Leonid schickt eine Nachricht an Karina Kusnezowa mit dem Link zum Video. Dann schreibt er als angeblicher Syrer AmerAlg einen Kommentar unter das Video. Er bezeichnet PhoenixZ und seine Bande als Lügner und Komarow-Hasser, die von der deutschen Regierung bezahlt würden. Und endet mit: Nur Russland rettet uns, das syrische Volk. Uncover lügt. PhoenixZ ist ein Verräter des syrischen Volkes.
Daraufhin lehnt er sich genüsslich zurück und wartet ab. Er überlegt, nun seine Pause zu machen, es wäre genau der richtige Zeitpunkt. Daher geht er vorbei an Karina Kusnezowas Büro und direkt zum Fahrstuhl. Sein Audi steht schräg gegenüber von der Agentur direkt an der Straße Puškini maantee. Leonid besorgt sich noch Piroggen und alkoholfreies Baltika-Bier.
Zehn Minuten später fährt er auf das Panzerdenkmal zu. Die Polizei hat die Spuren gesichert, Leute stehen am Tatort. Sie haben Kerzen und Blumen an die Birke gelehnt. Es ist fast 22 Uhr und trotzdem noch hell. Die Hakenkreuze sind nicht mehr zu sehen. Leonid steigt aus und geht unauffällig näher zum Panzer. Es riecht nach Lack. Wer zur Hölle hat den Panzer gestrichen? Er schaut sich um. Wie immer dümpelt in der Mitte des Flusses das russische Grenzschiffchen.
Zurück in der Agentur soll er sich in Karina Kusnezowas Büro einfinden. Sie bittet ihn, vor ihrem Stehpult Platz zu nehmen, und kommt gleich zur Sache: Leonid soll solche nächtlichen Aktionen künftig unterlassen. »Der Mann ist tot. Das hätte Ärger geben können.«
»Es war Notwehr. Ich wollte nur …«, beginnt Leonid zur Verteidigung.
»Ja«, unterbricht sie ihn. »Ich weiß, du bringst nicht einfach so Menschen um.« Sie duzt ihn und blickt zu ihm hinunter. Dieses Stehpult lässt ihn auf seinem Stuhl geradezu winzig erscheinen. »Wir kennen dich. Und wir wissen deine Arbeit zu schätzen.«
Wer wir ist, sagt sie nicht. Doch Leonid ist klar, dass mit wir nur hohe Personen gemeint sein können. Dass Karina Beziehungen bis nach oben hat, weiß jeder im Büro. Ihr Vater war in Estland vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion Kommandeur in der heute estnischen Provinz Viru.
»Wir finden es gut, dass du derart von der Sache überzeugt bist, dass du sogar privat als Provokateur arbeitest. Aber wir dulden keine Alleingänge.«
Leonid ist einsichtig, jedenfalls schaut er wie ein Hund, der das falsche Stöckchen gebracht hat.
»Na, nun nimm es mal nicht so persönlich. Wir haben nur nicht mehr so viel frische Farbe im Depot und Größeres mit dir vor. Ist das klar?«
Sogleich hellt sich sein Gesicht auf. »Haben Ihnen die beiden Grenzpolizisten auf dem Boot etwas mitgeteilt?«
Karina schaut vielsagend auf ihr Handy. »Die Agentur weiß mehr über dich, als du ahnst. Aber immer können wir dich nicht beschützen. Du kannst übrigens schon gleich Feierabend machen.«
»Ich muss mich nur noch um diesen Blogger von Uncover in Berlin kümmern.«
»Ja, ich habe deine Nachricht gelesen. Doch du solltest dich ausruhen. Es muss gestern eine lange Nacht für dich gewesen sein. Morgen kommst du bitte um 12.30 Uhr zum Chinesen zum Mittagessen.«
»Ja«, sagt er, bedankt sich und die Tür klickt leise hinter ihm ins Schloss. Für eine Sekunde ist es still in Leonids Kopf, dann dreht er sich um und schaut in die verspiegelte Scheibe zu Karinas Büro. Ob sie ihn jetzt beobachtet?
Leonid ist zufrieden. Sein Name wurde in Moskau gehört. Ehe er die Tasche packt, liest er noch ein paar der Kommentare zu PhoenixZ’ Beitrag:
Prank13 vor 4 Minuten: Die Russen haben alles in der Hand. Die haben schon entschieden, wer in den USA Präsident wird. Und in Deutschland hat die AfD sogar ihre Wahlwerbung auch auf Russisch veröffentlicht.
PhilOSoFus vor 4 Minuten: Verschwörung! Verschwörung! Wer ist der mächtigste Mann im ganzen Land? Er wird Konstantin Komarow genannt. Ihr spinnt doch alle. Ihr Idioten!!!!!
Revolver vor 7 Minuten: AmerAlg hat recht. Übelste Russenhetze! Die Syrer sollen endlich gehen. Die Russen haben für Frieden gesorgt, jetzt müssen die Flüchtlinge zurück in die Wüste.
Sogar der YouTuber Mr. Trueblatt hat sich schon mit einem Video zu Wort gemeldet und will von Uncover Beweise sehen. Sonst würde er PhoenixZ nichts glauben. »Nur Fakten zählen, keine Fakes. Ich schätze meine Kollegen von Uncover, aber sie müssen mit ihrer Quelle rausrücken.«
Leonid kommentiert nun das Video von dem User Mr. Trueblatt:
ProRuss4: Du hast recht. Gut erkannt. Die wollen nur Komarow fertigmachen. Dieser Wichser von Uncover ist ein Russenhasser. Wir müssen zusammenhalten!
Das hat gesessen, denn kurz darauf entspinnt sich bei Mr. Trueblatt eine heiße Diskussion über Komarow-Bashing, an der sich Leonid alias ProRuss4 beteiligt. Die Fans von Mr. Trueblatt regen sich über ihn auf und er provoziert weiter und weiter – bis sein Telefon klingelt.
»Leonid«, sagt Karina. »Du solltest nach Hause gehen. Michail Solovjev übernimmt das.«
Schweren Herzens übergibt Leonid die Geschichte an Michail, der sich sofort unter Fritsche23 an die Arbeit macht …
»Gut, dass Sushi nicht kalt werden kann«, sage ich und rolle noch Thunfisch, Tang und Reis zusammen. Wir sind gerade wieder zurück vom Studio und hocken am Schreibtisch.