Ryvan'ar - Sandra Gernt - E-Book

Ryvan'ar E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Andrus letzte Nacht ist angebrochen. Er soll als Kriegsverbrecher hingerichtet werden – weil er Feinden zur Flucht verholfen hat. Einer dieser Feinde wird tödlich verletzt zu ihm ins Verlies geworfen, obwohl jeder weiß, wie gefährlich es ist, einem Sterbenden dieses Volkes zu nahe zu kommen. Die Legende besagt, dass derjenige sich dann in einen Ryvan’ar verwandeln könnte; einem Rachedämon, der jeden umbringen wird, der ihm begegnet … Ca. 33.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 160 Seiten Die Bonusgeschichte „Sturmmacht“ hat einen Umfang von etwa 5500 Wörtern, was ca. 27 Taschenbuchseiten entspricht.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Andrus letzte Nacht ist angebrochen. Er soll als Kriegsverbrecher hingerichtet werden – weil er Feinden zur Flucht verholfen hat. Einer dieser Feinde wird tödlich verletzt zu ihm ins Verlies geworfen, obwohl jeder weiß, wie gefährlich es ist, einem Sterbenden dieses Volkes zu nahe zu kommen. Die Legende besagt, dass derjenige sich dann in einen Ryvan’ar verwandeln könnte; einem Rachedämon, der jeden umbringen wird, der ihm begegnet …

 

 

Ca. 33.000 Wörter

Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 160 Seiten

 

Die Bonusgeschichte „Sturmmacht“ hat einen Umfang von etwa 5500 Wörtern, was ca. 27 Taschenbuchseiten entspricht.

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

 

 

von Sandra Gernt

 

 

Schlüsselklirren und schwere Schritte. Andru hatte gelernt, beides zu fürchten, es bedeutete selten etwas Gutes. Gewiss, manchmal brachte man ihm bloß etwas zu Essen. In den meisten Fällen zerrte man ihn aus seinem Verlies und schleifte ihn erst zurück, wenn er halbtot von Schmerz und Folter war. Konnten sie ihn nicht wenigstens heute Abend verschonen? Er sollte doch in der Morgendämmerung hingerichtet werden, er hatte nur noch diese eine Nacht. Mehr nicht.

Die eisenbeschlagene Tür öffnete sich. Eine Gestalt flog hindurch, prallte schwer zu Boden und rührte sich nicht mehr.

„Hier, damit du nicht so einsam sein musst! Wir haben leider keinen Platz mehr und dein Raum ist sicherer als die anderen … Er wird mit dir zusammen baumeln. Fass ihn nicht an, er ist ein Ryn.“ Der Wächter lachte spöttisch von der Tür aus. Andru musste ihn nicht sehen, er erkannte die Stimme: Erion. Sie hatten fast zwei Jahre das Nachtlager geteilt, sich in unzähligen Gefechten den Rücken gedeckt. Alles das war vergessen. Erion war nun sein Feind.

Die Tür schloss sich. Andru wartete eine Weile, ob sich die Gestalt zu regen beginnen würde. Ein Ryn, auch das noch! Wie sehr er sie verabscheute!

Lediglich rasch schwindendes Tageslicht fiel durch die Gitterstäbe des einzigen Fensters, er konnte nicht erkennen, ob der Mann dort am Boden überhaupt noch atmete. Seufzend rollte er sich von seinem Schlaflager, das aus einer dünnen, schmutzigen Decke bestand, und kniete neben seinem Schicksalsgefährten nieder. Der bloße Rücken des Fremden war von unzähligen Peitschenstriemen zerrissen, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war. Dunkles Haar floss in struppigen Zöpfen über Schulter und Arme. Ob er es wagen sollte, ihn zu berühren? Es galt als gefährlich, einen sterbenden Ryn anzufassen.

Aberglaube. Alles dummer Aberglaube.

Andru hielt den Atem an, als er den Besinnungslosen umdrehte. Er wusste, was er sehen würde, und zuckte trotzdem zurück: Ein Ryn lag vor ihm, mit den typischen fein gemeißelten, fremdartig schönen Gesichtszügen und der bronzefarbenen Haut – soweit das unter dem Blut zu sagen war, denn man hatte ihn zusätzlich zu den Peitschenhieben gnadenlos mit Fäusten zerschlagen.

Er hat es verdient. Mörder, allesamt!

Hass überfiel ihn, ziellose Wut, geboren aus erbitterten Jahren des Kampfes gegen dieses Volk.

„Verrecken sollst du!“, zischte Andru und wich vor dem Feind zurück. Seit sie auf königlichen Befehl in den Norden vorgedrungen waren, um Handelsbeziehungen mit den hiesigen Herrschern einzugehen, hatten sie keinen Frieden mehr gefunden. Die Verhandlungen waren gescheitert und im Krieg geendet. Als ob das nicht schlimm genug wäre, wurden sie bei ihrem Rückzug unentwegt von den Ryn angegriffen, ein seltsames Volk, über das man sich erschreckende Dinge erzählte. Die ausgedehnten Waldgebiete, die von den Ryn beansprucht wurden, waren der einzige Weg, den die Soldaten nehmen konnten, und es kam täglich zu Kämpfen. So viele Kameraden hatte Andru verloren, nur weil sie nach Hause wollten und es nicht mehr konnten – die Ryn hielten sämtliche Wege besetzt.

Er starrte den regungslosen Mann an. Wahrscheinlich ein Späher, der beim Erkunden der Festung erwischt worden war. Auch er hatte bloß noch eine Nacht vor sich. Womit er Glück hatte, ihn selbst hatte man über eine Woche lang gefoltert. Andru seufzte und beugte sich zögernd über ihn. Er war grausam zugerichtet worden, überall waren Blutergüsse und Peitschenstriemen sichtbar. Womöglich würde er nicht einmal mehr die nächste Stunde überleben, wenn er keine Hilfe bekam. Andru zog sein Hemd über den Kopf und überlegte, es in Streifen zu reißen. Würde er eben heute Nacht frieren. Lieber das, als mit einer Leiche in diesem Verlies zu hocken. Er hatte zu viel Tod gesehen. Der pure Gedanke daran ließ ihn schaudern und er verdrängte die Erinnerungen, die unter der Oberfläche lauerten.

In den letzten Tagen hatte es viel geregnet, das Wasser war die Wände herabgeflossen. Da man ihm selten Essen und Trinken brachte, war Andru darauf verfallen, die Holzschalen zu verstecken und darin Regenwasser zu sammeln. Er hatte lediglich eine übrig und zögerte. Sollte er die kostbare Flüssigkeit wirklich an einen Sterbenden verschwenden? An eine hassenswerte Kreatur, die so viel Unglück über ihn und sein Volk gebracht hatte?

„Verdient hast du es nicht“, murmelte er. Er zog sich wieder an, was hatte er sich gedacht? Schließlich war er bloß hier, weil er hatte helfen wollen, irgendwann musste ein Mann klug werden. Und sei es in der letzten Nacht vor dem Ende.

In diesem Moment begann der Ryn sich zu regen. Er stöhnte leise, flüsterte tonlos: „Nicht …“

„Halt’s Maul.“ Andru zog sich soweit es ging von ihm zurück und kauerte sich in einer Ecke am Boden zusammen. Erions Warnung war schon richtig, es war gefährlich, einen sterbenden Ryn zu berühren.

Zumindest, wenn man an die Legenden glaubte.

„Hilf …“ Der Fremde hatte den Kopf gedreht und starrte ihn aus glasigen Augen an. „Bitte …“

Das schmerzliche Wimmern schnitt in Andrus Innerstes, doch er verschloss sich davor, so gut es ging. Trotzdem konnte er den Blick nicht abwenden.

„Ich will nicht sterben“, wisperte der Ryn.

„Is’ mir scheißegal.“ Er wollte auch nicht sterben. Keiner seiner Freunde hatte sterben wollen. Der Tod war die einzige Gerechtigkeit in diesem verfluchten Land.

Mit einem erstickten Schluchzen schloss der Fremde die Lider und wandte mühsam sein zerschlagenes Gesicht ab.

Andru zerrte missmutig seine Decke heran und versuchte die Schuldgefühle zu verdrängen. Das hatten die Bastarde doch mit Absicht gemacht, ihm in seiner letzten Nacht noch einen Ryn vor die Füße zu werfen!

Leise Klagelaute eines Menschen, der selbst zum Weinen keine Kraft mehr besaß, drängten in sein Bewusstsein. Es fraß an seiner Entschlossenheit, ihn zu ignorieren. Andru hatte nicht den Willen, seine inneren Mauern aufrecht zu erhalten. Ein Volk zu hassen war leicht. Einen halbtoten Mann hingegen …

„Ich kann dir nicht helfen“, sagte er, bemüht, die elende Gestalt nicht mehr anzusehen. „Ich kann mir selbst nicht helfen.“

„Nur … Wasser … bitte …“

Andru stöhnte innerlich und biss sich in den Arm, um nicht aufzubrüllen. Er hatte genauso dagelegen in den ersten beiden Nächten, wimmernd vor Schmerz und Angst und Durst. Erion liebte es, den Gefangenen Salzsteine in den Mund zu stopfen, um sie am Schreien zu hindern. Der Durst war schlimmer als alle Wunden. Andru war in den letzten Tagen weniger hart verprügelt worden. Sie hatten irgendwann eingesehen, dass er nichts zu verraten hatte. Unwillkürlich fuhr er mit der Zunge über seine rissigen Lippen. Sie hatten ihm keine Salzsteine mehr aufgezwungen, aber er konnte sie dennoch schmecken. Mit einem Fluch rappelte Andru sich hoch und näherte sich zögerlich dem Ryn. Der junge Mann wandte den Kopf und blickte tränenblind zu ihm auf.

„Nicht“, hauchte er nahezu lautlos. Er versuchte den Arm zu heben, um sein Gesicht zu schützen, doch selbst dafür fehlte ihm Kraft.

Andru nahm die Wasserschale. Hoffnung flackerte in den dunklen Augen. Bevor Andru sich allerdings neben ihn knien konnte, fuhren sie beide zusammen: Schwere Schritte und Schlüsselklirren erklangen an der Tür. Hastig wich Andru zurück, er konnte mit Mühe seinen kostbaren Schatz verbergen. Es war nicht Erion, sondern zwei andere ehemalige Kameraden, die hereinkamen und wortlos nach dem Ryn griffen. Er hing beinahe bewusstlos in ihren Armen, als sie ihn trotz der möglichen Gefahr nach draußen schleppten. Die Tür fiel zu. Ein heiserer Schrei ließ Andru zusammenzucken.

Nun war er wieder allein und wünschte, es wäre nicht so. Innerlich leer lehnte er den Kopf an die feuchte Wand und trieb mit den Gedanken dahin. Auch wenn er wusste, wohin ihn das führen würde …

 

 

Andru folgte der Spur. Rynkrieger hinterließen für gewöhnlich keine sichtbaren Fährten, doch diese Gruppe hier war auf der Flucht und es gab deutliche Zeichen. Schon seit dem Morgengrauen kämpften sie gegen diese verfluchten Walddämonen, wie man die Ryn oft nannte. Wie immer waren sie ohne Vorwarnung über Andrus Truppe hergefallen, töteten, wen sie erwischen konnten, und verschwanden dann, sobald sich der Widerstand formierte. Seit langem ging es nicht mehr darum, Krieg gegen König Taren zu führen. Sie wollten heimkehren, zurück nach Anwind, und konnten es nicht, denn die Ryn hatten sie eingeschlossen. Ihnen war gar nichts anderes übriggeblieben, als sich eine steinerne Festung zu bauen, von der aus sie sich verteidigen konnten. Insgeheim war klar, dass sie sterben würden, allesamt. Trotzdem kämpften sie weiter, suchten Fluchtwege, versuchten mit den Ryn zu verhandeln. Vergebens. Diese Bestien verweigerten jedes Friedensangebot.

Andru frohlockte, als er frische Blutspuren an einem Gebüsch fand, ein sicheres Zeichen, dass diejenigen, die er jagte, verletzt waren. Als er mit gezogenem Schwert auf eine Lichtung trat, stockte ihm allerdings der Atem: Keine Krieger waren es, die sich ihm hoffnungslos mit Stöcken entgegenstellten, sondern Frauen. Verzweifelte, nicht von Kriegern beschützte Rynfrauen. Er hatte nie zuvor eine weibliche Ryn gesehen, was suchten die bloß hier? Andrus Blick irrte von den drei zerzausten Gestalten fort zu einer weiteren, die am Boden lag. Zuerst dachte er irritiert, wie dick diese Frau war im Gegensatz zu den anderen, begriff aber rasch, was dort wirklich geschah: Die Ryn war schwanger, und das Kind kam. Jetzt. Genau jetzt.

Sie war selbst fast ein Kind, zumindest wirkte sie sehr jung. Eine ihrer Gefährtinnen kniete zwischen ihren Beinen und stützte den Kopf des Säuglings, der bereits geboren war. Fassungslos sah Andru zu, wie inmitten von Tod und Elend ein neues Leben zur Welt kam. Der Leib der jungen Ryn krümmte sich vor Schmerz, doch kein Laut drang über die zerbissenen Lippen. Erst als das blutige, wimmernde kleine Wesen gänzlich in den Armen der Helferin lag, erinnerte Andru sich erschrocken, wo er war. Mühsam senkte er das Schwert, es war, als hätte sein Kopf die Verbindung mit dem restlichen Körper verloren.

„Ihr …“ Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, als er die Angst in den Gesichtern der Frauen erkannte, die bis dahin still vor ihm gestanden hatten. Andru räusperte sich und versuchte es erneut: „Ihr müsst fort, so rasch es geht! Bringt sie in Sicherheit. Richtung Süden am besten.“

Sein Blick fiel auf das Neugeborene, das nun abgenabelt in den Armen seiner Mutter lag. Etwas an dem kleinen Jungen war anders. Seine Haut war zu hell, das Gesichtchen nicht so schmal und fremdartig …

„Es war einer von euch“, wisperte eine der Ryn scheu. Andru verstand und sein Herz sank noch tiefer, falls das möglich war. Er warf sein Bündel ab und zerrte seinen Umhang heraus, den er wegen der ungewöhnlichen Hitze dieses Frühlingstages ablegen musste, und drückte ihn der nächstbesten Frau in die Arme.

„Verbindet sie damit, sie blutet zu stark“, murmelte er. „Man könnte euch blind folgen. Und nun …“

„ANDRU! Was im Namen der Weisheit tust du da?“

Zwei Jahre lang war Erions Stimme für ihn der Himmel und Mahnmal von Stärke und Hoffnung gewesen. Doch diesmal hätte Andru alles gegeben, wenn sein Freund tausend Meilen fort wäre. Der Hass und die Abscheu auf Erions Gesicht sprachen Bände, er würde die Frauen töten und das Kind gleich dazu. Schlimmer noch, er …

„Ist das dein Balg?“ Erion spuckte verächtlich aus. Er hatte Blut an den Händen, Blut an der Kleidung, Blut in den kurzen blonden Haaren. Das Blut getöteter Ryn.

„Hast du es gezüchtet und die Weiber da zu deinem Vergnügen versteckt?“ Der Ekel in den sonst so freundlichen blauen Augen ließ etwas in Andrus Innerem zerbrechen. Ohne Vorwarnung holte er aus und schmetterte die Faust in Erions Unterleib, fing ihn rasch ab, bevor er zu Boden stürzen konnte.

„Lauft“, flehte er die Frauen an, die ihn regungslos erstarrt anblickten. „Ihr habt wenig Zeit.“

Sie waren geflohen und hatten es geschafft zu entkommen. Andru hatte kurz überlegt, ob er ihnen folgen sollte, doch wozu? Die Ryn würden ihn nicht aufnehmen, allein in der Wildnis hatte er keine Überlebensaussichten. Also hatte er sich neben Erion gehockt und gewartet, dass das Schicksal ihn fand …

 

 

 

Und es hatte ihn gefunden. Nach zwei Tagen Folter hatte man ihm zumindest geglaubt, dass er nicht der Vater des Säuglings war. Erst gestern Nacht hatten sie eingesehen, dass er die Ryn nur zufällig entdeckt hatte und deshalb auch nichts über ihre Verstecke, Lebensgewohnheiten, Bewaffnung oder sonstiges verraten konnte. Anschließend hatten sie ihn – Erion allen voran – noch ein wenig aus purer Grausamkeit gequält, zur Strafe, weil er dem Feind geholfen hatte. Weil er zugelassen hatte, dass dieses Volk nicht gänzlich ausgerottet wurde. Immer so, dass er bei Bewusstsein blieb und fähig sein würde, bei der Hinrichtung aus eigener Kraft zu stehen.

Der Krieg hat Monster aus uns gemacht.

Andru war froh, dass die Folter nun endete. Dies war die letzte Nacht seines Lebens. Ein vergeudetes Leben, insgesamt betrachtet. Hoffentlich überlebten wenigstens die Frauen, die er verschont hatte.

Beinahe hätte er das Schlüsselklirren überhört. Die Tür ging auf, sie brachten den Ryn zurück. Noch zerschlagener als zuvor und erneut besinnungslos.

„Wozu sollte das gut sein, wenn er morgen sterben soll?“, fragte Andru leise. Kalis starrte ihn an, zuckte dann die Schultern. Sie hatten sich früher gut verstanden.

„Befehl ist Befehl. Der Alte wollte ganz sicher sein, dass der Kerl wirklich nichts verrät. So’n Unsinn. Alle wissen’s, die sagen nie was, selbst wenn die uns verstehen.“

Das war eines der größten Probleme mit den Ryn. Man konnte sie nicht durch Folter brechen, sie sahen sogar eher zu, wie ihre Freunde zu Tode gequält wurden, als irgendetwas zu verraten. Vielleicht, weil sie sicher sein konnten, dass ihre Leute vor wenig zurückschreckten, um Befreiungsversuche zu unternehmen. Bittere Erfahrung hatte die Soldaten gelehrt, Gefangene nach kurzer Befragung so rasch wie möglich zu töten und ihre Leichen gut sichtbar vor die Tore der Festung zu legen.

Kalis zögerte ein wenig, bevor er seinem Kameraden folgte und flüsterte Andru hastig zu: „Du hast das richtig gemacht. Das glaub nicht nur ich.“

Er schlug einen großen Bogen um den Ryn, als er ging. „Pack ihn bloß nich’ an, der stirbt“, rief er noch über die Schulter. Die Tür schlug zu. Er war wieder allein, mit einem so gut wie toten Feind als Gesellschafter.

 

 

Ein hoher Klagelaut riss Andru aus erschöpftem Dämmerschlaf. Es war mittlerweile dunkel geworden, aber der Mond spendete genug Helligkeit, um den Ryn zu sehen, der eine zittrige Hand in seine Richtung ausstreckte. Das Silberlicht spiegelte sich in den schmerzerfüllten Augen. Andru stieß einen langen, lästerlichen Fluch auf sämtliche Götter aus und wagte sich mit der Wasserschale in der Hand in die Nähe des Verletzten, der zusammengekrümmt auf der Seite lag.

„Nein …“ Pures Entsetzen klang in der Stimme, als Andru das Hemd über den Kopf zog. Warum bloß? Glaubte der wirklich, er könnte sich an einem solch hilflosen Mann vergehen?

„Alles ist gut“, presste Andru hervor. Das war gelogen, gar nichts war gut, doch für lange Erklärungen fehlte ihm die Kraft. Es verlangte ihm schon mehr ab, als er zu geben hatte, um den verschlissenen Stoff zu zerreißen.

Dann kam der nächste Kraftakt. Es kostete ihn starke Überwindung, den Ryn zu berühren, zu tief waren Abneigung und Furcht in ihm verwurzelt. Die Angst vor dem, was man sich über dieses fremde Volk erzählte, Aberglaube hin oder her. Schließlich rang er sich durch und verband die schlimmsten Wunden, so gut es ging. Der Ryn, der zwischendurch zurück in Ohnmacht gesunken war, erwachte irgendwann unter der unzulänglichen Hilfe und versuchte ihm wimmernd zu entkommen.

„Nun lieg still, verdammt, ich tu dir nichts!“, brummte Andru und fasste den mühsam nach Atem ringenden, erbärmlich zitternden Mann an der Hand. Ob der ihn überhaupt verstehen konnte? Einige Ryn beherrschten seine Sprache. Sie waren die Ausnahme von der Regel, dass Ryn ohne zu fragen jeden töteten, den sie nicht kannten. Keine Gelegenheit, Sprache und Kultur auszutauschen.

Unsinn. Man hätte ihn nicht leben lassen, wenn er uns nicht versteht.

Und er hatte eben mit ihm gesprochen. Andru seufzte, es fiel ihm schwer, seine Gedanken zusammenzuhalten und sich an Dinge zu erinnern, die kurz zuvor erst geschehen waren. Morgen früh ist es vorbei, solange halt ich’s noch aus …

Lange, schmale Finger schlossen sich um Andrus Hand, ohne Kraft, dafür umso verzweifelter.

Andru wusste um die Schmerzen, die der Ryn stumm ertrug, hatte aber keine Möglichkeit, sie zu lindern. Bedauernd nahm er die Holzschale, tauchte einen der Stoffstreifen hinein und betupfte damit die aufgesprungenen Lippen des Verletzten. Der wehrte sich zunächst, Andru erinnerte sich nur zu gut, wie sehr es brannte, nachdem Salz den Mund regelrecht verätzt hatte. Trotzdem machte er weiter, ließ Tropfen für Tropfen von dem kostbaren Nass auf die Lippen und in den Mund des Ryn fließen. Er neidete ihm jedes winzige Bisschen, verfluchte ihn für jeden Tropfen, der verloren ging. Trotzdem gab er nicht auf, wartete grimmig, wenn sein Schützling sich verschluckte und qualvoll hustete. Lediglich den letzten Rest nahm er für sich selbst. Beinahe hätte er die Schale an die Wand geworfen, getrieben von heftiger, sinnloser Wut. Er hatte solchen Durst, was für eine Dummheit, das Wasser einer Kreatur zu geben, die keine Gnade oder Recht kannte!

Zischend atmete Andru aus. Solche Gedanken waren unsinnig. Was wusste er von den Ryn? Gewiss, sie kämpften grausam, nahmen niemals Gefangene, sondern töteten alle, die Widerstand leisteten, und lauerten an sämtlichen Grenzen des Waldreichs. Doch sie griffen niemanden an, der vor ihnen fortrannte und verfolgten die Flüchtenden nicht. Bloß aus diesem Grund überlebten sie bereits so lange in dieser Hölle. Warum die Ryn derart erbittert kämpften, wussten nur sie selbst, es interessierte Andru auch nicht. Es war nicht die Schuld der Frauen, dass er eingesperrt war, und ganz gewiss nicht die Schuld dieses Mannes hier.

Andru überließ ihm widerwillig seine Decke. Er würde frieren, ja, aber nicht so stark, dass er daran sterben würde. Der Verletzte hingegen brauchte Wärme, falls er nicht schon heute Nacht umkommen sollte.

„Ich weiß selbst nicht, warum ich mir die Mühe mache. Es wäre viel gnädiger, dich im Schlaf krepieren zu lassen, als für den Strick zu bewahren“, flüsterte er. Was für eine Welt, in der es Grausamkeit war, einem Sterbenden beizustehen, statt ihn rasch zu erwürgen! „Nun, das Leben ist ein Geschenk, auch wenn wir es nicht immer so sehen können. Ehre deine letzten Stunden.“

Andru wandte sich ab. An Schlaf war nicht zu denken, aber wenigstens ausruhen wollte er sich. Es war noch früh und der Morgen fern. Vielleicht würde er dann seine eigenen Worte glauben können.

„Warte …“ Die Berührung an seinem Arm war ebenso hauchzart wie das kaum hörbare Wort. Andru beugte sich hinab. Vielleicht war es das Letzte, was der junge Mann in dieser Welt noch sagen würde?

Der Ryn legte ihm die Hand auf die Brust, er zitterte weiterhin. Was von seinen Wunden im fahlen Mondschein zu erahnen war, sah grauenhaft aus.

„Ich … du …“ Andru keuchte überrascht, als die Finger sich plötzlich gewaltsam in seiner Haut festkrallten. Die Augen des Ryn leuchteten unirdisch auf, ein silberweißes Glimmen, das sich rasch auf den gesamten Körper ausbreitete. Andru wollte sich losreißen, konnte sich jedoch nicht rühren. Hilflos hing er im Griff des Feindes, der sich nun aufrichtete. Er sah, wie dessen Verletzungen heilten. Mit jedem Atemzug schien der Ryn stärker zu werden. Gerade, als es in Andrus schwindendes Bewusstsein drang, dass im Gegenzug er immer schwächer wurde, flog er mit einem Mal durch die Luft, prallte gegen die Wand und sank röchelnd zu Boden. Der Ryn stand mitten im Raum, er leuchtete aus sich selbst heraus wie eine silberne Flamme.

„Ryvan’ar“, wisperte Andru. Er hatte es nicht geglaubt. Nicht wirklich. Wenn es so leicht für einen sterbenden Ryn war, sich in einen Ryvan’ar, in einen Rachedämon zu verwandeln, warum war dies nicht zuvor bereits geschehen? Gewiss, sie hatten sich alle von sterbenden Feinden ferngehalten, seit sie die Legende gehört hatten. Rein zur Vorsicht, dennoch …

„Komm und hol mich“, flüsterte er, als der Dämon weiterhin bloß still dastand und ihn angespannt beobachtete. „Falls das der Lohn für meine Hilfe ist, dann will ich von dieser Welt nichts mehr wissen.“

Vielleicht war es weniger schmerzhaft, von einem Dämon zerfetzt zu werden, als am Strick zu hängen und über eine Ewigkeit hinweg zu ersticken? Erion hatte ihm geschworen, dass man ihm nicht die Gnade eines Genickbruches gewähren würde.

Der Ryvan’ar fauchte, er wirkte seltsam unentschlossen. Andru versuchte sich zu bewegen, gab das allerdings mit einem dumpfen Schrei sofort wieder auf. Da war mehr als nur ein bisschen in ihm kaputtgegangen. Endlich kam der Dämon zu ihm, langsam, wachsam. Andru rechnete mit einem Schlag, darum schrie er erneut, als er berührt wurde. Doch es war eine sanfte Berührung, der Ryvan’ar legte ihm lediglich eine Hand auf die Stirn. Es war eine menschliche Hand. Andru hatte sich vorgestellt, dass ein Rachedämon auf irgendeine Weise entstellt aussehen würde.

„Du hast ihnen geholfen.“ Die Stimme des Ryvan’ar war angenehm, warm und melodisch. Menschlich.

„Warum hast du dein Leben für Feinde riskiert?“

„Wenn du von den Frauen weißt, müsstest du das auch wissen. Du siehst meine Erinnerungen, oder?“ Andru versuchte zu schlucken und schmeckte Blut. Zudem bekam er kaum Luft und die Schmerzen, die nun nach und nach in sein Bewusstsein drangen, waren mehr, als er ertragen wollte. Oder konnte.

Warum brachte der Dämon es nicht endlich zu Ende?

Der Ryvan’ar veränderte seine Position, plötzlich fand Andru sich in seinen Armen wieder.

„Ich kann nicht glauben, was ich gesehen habe …“, flüsterte der Dämon. Seine glatten weichen Lippen pressten sich sacht gegen Andrus Mund. Erschrocken wollte er ihn abwehren und konnte es nicht. Bewegungsunfähig starrte er die Lichtgestalt an, nicht einmal Angst konnte er empfinden. Sein Körper begann zu kribbeln, nicht erregt, sondern so, als wären seine Gliedmaßen eingeschlafen und würden nun auf unangenehme Weise wieder erwachen. Wärme breitete sich aus. Er spürte die ruhigen Atemzüge des Mannes, der ihn hielt – das konnte kein Dämon sein! – und fühlte Müdigkeit, die ihn in die Tiefe zog.

„Du sollst nicht unter Schmerzen sterben“, flüsterte es an seinem Ohr. Dann wusste er nichts mehr.

 

 

Sorin lauschte auf die Atemzüge des Menschen. Was war das bloß für ein Mann? Er hatte seine Angst und den Hass gespürt, den Zorn, den Widerwillen, einen Ryn zu berühren. Und doch hatte er ihm geholfen, hatte alles, was er besaß, für einen Feind geopfert. Hatte zuvor willentlich sein Leben für Frauen und Kinder seiner Feinde weggeworfen. Sogar seinen Geliebten hatte er angegriffen, um die Frauen zu beschützen. Sorin schauderte bei der Erinnerung daran, was er in Andrus Geist erblickt hatte. An das, was dieser Erion einem zuvor geliebten Freund angetan hatte. Verwirrt betrachtete er den jungen Mann in seinen Armen. Er hatte ihn geheilt und in tiefen Schlaf geschickt. Seine neuen Fähigkeiten waren erstaunlich!

Leise lächelnd entfernte Sorin die Verbände, die Andru ihm angelegt hatte, um die schwersten Blutungen zu stillen. Es waren Stofflappen, die vor Schmutz und altem Blut starrten. Etwas Besseres hatte Andru nicht zur Hand gehabt. Dennoch, eine anrührende Geste.

Sorins Augen durchdrangen mühelos die Dunkelheit, er musterte den Mann von allen Seiten. Der bloße Oberkörper war auch jetzt nach der Heilung von so vielen hellen Narben überzogen, dass kaum heile Haut sichtbar war.

---ENDE DER LESEPROBE---