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Wie aus dem Nichts wird das Raumschiff Titania ohne Vorwarnung zerstört.
Wallace Stone ist einer der wenigen Überlebenden – seine Frau Canya jedoch kam bei diesem Angriff aber ums Leben …
Vier Jahre später trifft Wallace auf Pandora Shako, die ein geklontes Ebenbild von Canya zu sein scheint und ihn um Hilfe bittet. Sie behauptet, für den Geheimdienst zu arbeiten – ihr Ziel ist das Beteigeuze-System, dort muss sie wichtige Forschungsergebnisse abliefern.
Doch Pandora wird von reptiloiden Xenobiten verfolgt, galaktischen Drogenhändlern, die auch vor Mord nicht zurückschrecken. Dabei wird Wallace mit seiner düsteren Vergangenheit konfrontiert, und er kommt hinter das Geheimnis der Scharlachtränen …
Scharlachtränen – eine mitreißende und actiongeladene, mitunter augenzwinkernde Space Opera von Markus Kastenholz und Marten Munsonius!
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Markus Kastenholz / Marten Munsonius
Scharlachtränen
Science-Fiction
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Steve Mayer nach Motiven, 2022
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die Handlungen dieser Geschichten sind frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Teil 1: Scharlachtränen
Prolog 1
Prolog 2
1.
2.
3.
4.
5.
6.
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8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
Epilog
Teil 2: Karawane der Toten
Prolog
1.
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Teil 3: Pflicht zur Rache
Prolog
1.
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9.
Teil 4: Das dunkle Schiff
1.
2.
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14.
15.
16.
Wie aus dem Nichts wird das Raumschiff Titania ohne Vorwarnung zerstört.
Wallace Stone ist einer der wenigen Überlebenden – seine Frau Canya jedoch kam bei diesem Angriff aber ums Leben …
Vier Jahre später trifft Wallace auf Pandora Shako, die ein geklontes Ebenbild von Canya zu sein scheint und ihn um Hilfe bittet. Sie behauptet, für den Geheimdienst zu arbeiten – ihr Ziel ist das Beteigeuze-System, dort muss sie wichtige Forschungsergebnisse abliefern.
Doch Pandora wird von reptiloiden Xenobiten verfolgt, galaktischen Drogenhändlern, die auch vor Mord nicht zurückschrecken. Dabei wird Wallace mit seiner düsteren Vergangenheit konfrontiert, und er kommt hinter das Geheimnis der Scharlachtränen …
Scharlachtränen – eine mitreißende und actiongeladene, mitunter augenzwinkernde Space Opera von Markus Kastenholz und Marten Munsonius!
***
Scharlachtränen
Der Weltraum glich einem schwarzen Samttuch über dem Sternenstaub und winzige Diamantensplitter wie zufällig verstreut worden sind.
Der gigantische Stoß kam urplötzlich aus dem Nichts und durchfuhr die TITANIA wie ein mächtiger Blitz, geschleudert von einem unbarmherzigen Dämon, der mit einem Hieb das Schiff in unzählige Einzelteile zerbrechen wollte. Luzifer höchstpersönlich schien ihnen hier am Abgrund zwischen den Sternen begegnet zu sein, um reiche Ernte einzufahren. Mehrere heftige Explosionen dröhnten hintereinander durch den konischen Schiffskörper, als die acht externen Tachyonentriebwerke und kurz darauf auch der zentrale Fusionsreaktor in grellen, funkensprühenden glühenden Feuerbällen vergingen.
Winzig kleine heiße Sonnen, die sich rasch ausdehnten und auf ihrer kurzen Reise unbarmherzig alles verschlangen, was sich ihnen in den Weg stellte, um schließlich wieder zu verlöschen, als sie ihre gewaltige Kraft endlich verbraucht hatten. Die Außenhülle war um die Triebwerkshalle stark beschädigt. Sofort drang das Vakuum ins Innere der verglühten Sektionen ein und erstickte die ausbrechenden Feuer.
Noch schlimmer als die Detonationen waren die tosenden Schockwellen, die durch das Schiff jagten und darin wie eine unbarmherzige Bestie wüteten. Wände wurden deformiert oder aus ihrer Verankerung gerissen, Bildschirme platzten, ebenso die lebenswichtigen Verbindungen, wie Schläuche und die abgeschirmten Kabeltrossen der Energieversorgung. Menschenkörper wurden buchstäblich zerfetzt, zerschmettert und von den umherfliegenden Trümmern erschlagen.
Ungestüm wurde alles durchgeschüttelt, als befinde sich die TITANIA im Epizentrum eines gewaltigen alles verschlingenden Erdbebens. Binnen von Sekundenbruchteilen wurde die komplette Energieversorgung des Schiffes lahmgelegt, als sei sie ein altersschwacher, maroder Holzkahn aus grauer Vorzeit von der guten alten Erde, bevor die Sternenschiffe die Weltraum-Meere durchpflügten.
In einigen, noch halbwegs erhalten gebliebenen Schiffssektionen begannen gellende Sirenen zu plärren und Blinklichter frenetisch aufzublitzen, sofern sie nicht längst zerstört worden waren.
Feuer und Funken versprühende Entladungen stoben aus den beschädigten Geräten, Kühlflüssigkeit rann aus den lecken Rohren und überfluteten die verwüsteten Korridore. Das Notstromsystem wurde automatisch hochgefahren, sorgte dort, wo es noch funktionierte, für gespenstisch-düsteren Glimmen.
Während um ihn herum sein Leben buchstäblich in Scherben fiel, wusste Wallace Stone intuitiv, dies bedeutete auch das Ende der TITANIA. Ringsherum, all seine Kollegen auf der Brücke, waren tot. Definitiv tot, dazu musste er sie weder untersuchen, noch nach dem Arzt rufen, der vermutlich ebenfalls nicht mehr lebte.
Kommandantin Lisha Dosk. Pilot Barnayd Kertsch. Wissenschaftsoffizier Gapquoa. Sogar den Navigationsandroiden hatten die Splitter der explodierenden Konsolen bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt.
Er war dank seiner mechanischen Kräfte auf seinem Platz in der Verankerung geblieben, doch seine zwei Arme zur Handsteuerung im Notfall waren abgerissen und die von jeder Kunsthaut befreiten metallischen Stumpen krallten sich immer noch an das Pilotenpult vor ihm.
Dass er selbst noch lebte – ein kleines Wunder.
Doch was hieß schon leben? Praktisch regungslos lag er neben dem Brückenlift, wo er aus seinem Sessel hingeschleudert worden war; das hatte ihn erst einmal gerettet und aus der unmittelbaren Gefahrenzone gebracht.
Die beiden Schiebetüren des Lifts klappten ständig auf und zu, spielten verrückt. Alles spielte hier verrückt! Wallace wunderte sich, dass die intakte Notstromversorgung auch die Lifttüren versorgte, das gehörte wohl nicht zu den überlebenswichtigen Einrichtungen, die das Überleben sicherstellen sollten.
Wie durch einen endlosen Todestunnel zum Jenseits bemerkte Wallace in einem Anfall von aufkeimender Panik, er fühlte seine Beine nicht mehr. Das Blut in seinem Gesicht schmeckte süßlich. Widerwärtig. Überall war Blut. Doch er nahm die klaffenden Wunden an seinem Körper kaum wahr, der Schmerz wurde gnadenlos unterdrückt von Adrenalin und Endorphin, das seinen Körper überschwemmte. Und der Schock sorgte für den Rest.
Ich darf nicht bewusstlos werden, dachte er, biss die Zähne zusammen und versuchte ruhig zu atmen.
Die Wellen aufkommender Schwärze, die ihn in die innere Tiefe ziehen wollten, durften ihn nicht übermannen. Die nächsten Minuten waren äußerst wichtig, wenn er noch lebend aus dem Wrack kommen wollte.
Wallace blinzelte und rieb sich einen dünnen Blutfaden aus seinem rechten Augenlid. Sein Blick schweifte ruhelos durch die Zentrale.
Seltsamerweise funktionierte auch der Panoramabildschirm noch. Wie ein Todesengel zeichnete sich vor der nachtfinsteren Weltraumschwärze das fremde Raumschiff ab, welches wohl für den abrupten Stopp der TITANIA verantwortlich war.
Handelte es sich überhaupt um ein Raumschiff? Es sah nicht wirklich wie eines aus. Nichts das man kannte, keine vertrauten Formen – es musste von außerhalb der ALLIANZ stammen.
Wallace vergaß für einen Moment den Schmerz in seinem Körper. Neugierig musterte er die holographische Abbildung, das die funktionierenden Außenkameras in das Schiff auf den Panoramaschirm übertrugen.
Es schien ihm fast schon wie ein lebendiger Organismus: lang, schlank und von turmalinem, funkelndem Glanz. Soweit er es sehen konnte, war es ohne starre Hülle, die Oberfläche schien ständig ineinander zu zerfließen.
Xanatische Fledermaus, nannte es Wallace im Stillen wegen der beiden abstehenden, schwingenden Flügelpaare. Er wusste, der Vergleich hinkte, doch einen besseren hatte er im Moment nicht parat, und er wollte den angriffslustigen Aliens gleich einen Namen verpassen. Eine xanatische Fledermaus war auch nicht über zwei Kilometer lang und kam nicht unerwartet hinter einem der Sirimax-Monde hervor.
Niemand auf der Brücke kannte diese merkwürdige Schiffsform. Kommandantin Lisha Dosk war nicht einmal mehr dazu gekommen, den standardisierten Ruf für Erstkontakte abzusenden, geschweige denn die Tarokbarrieren hochzufahren, durch welche plötzlich auftretende hochenergetische Strahlung davon abgehalten wurde, ins Schiffsinnere einzudringen. Ohne Vorwarnung hatten die Fremden das Feuer eröffnet.
Erschöpft schloss Wallace die Augen.
Canya! war der nächste Gedanke, der sich in Wallace bewusst formte. Canya, seine ihm im kythmischen Ritus verbundene Frau. Canya, sein ein und alles.
Oh Gott! Sie war Ingenieurin und arbeitete im Maschinenraum. In der Nähe des Fusionsreaktors. Sie …
Er befürchtete das Schlimmste, doch er versuchte das drohende Unheil zu verdrängen. Er war einfach nicht zum Pessimisten geboren. Vielleicht, übte er sich stattdessen in Zweckoptimismus, war sie auch nur verletzt und hatte sich in eine der Überlebenseinrichtungen retten können, wie sie auf jedem Schiff der ALLIANZ vorgeschrieben waren. Lag vielleicht aber auch irgendwo eingeklemmt und brauchte Hilfe. Seine Hilfe!
Ein Ruck ging durch ihn! Steh auf, verdammt! Jedenfalls versuchte er es. Versuchte, sich aufzurappeln und das lähmende Taubheitsgefühl in seinen Beinen abzuschütteln, mobilisierte die letzten Kraftreserven, die ihn noch nicht verlassen hatten. Es ging einfach nicht! Er konnte sich kaum rühren, sosehr er sich auch anstrengte.
Zudem fiel da sein Blick auf den von zahllosen Störungsmeldungen unübersichtlich gewordenen Monitor. Abrupt vergaß er alles andere: Wie ein Raubtier das nur noch auf die Gelegenheit wartet, dem Verwundeten den Todesstoß zu versetzen, schwebte das fremde Schiff in knapp fünf Meilen Entfernung, belauerte die Überreste der TITANIA oder besser dem, was von ihr noch übriggeblieben war.
Es schien zu warten, bis sein Opfer verendet war, um sich über den Kadaver herzumachen.
Erneut legte sich gleißendes Licht um das fremde Schiff. Das Leuchten zog sich zusammen, fokussierte sich zu einem gleißenden Strahl und raste auf das Wrack der TITANIA zu. Als er einschlug, um ihr endgültig den Garaus zu machen, legte sich der schwarze Nebelschleier der Ohnmacht endgültig um Wallace.
Die Tomhasin-Bergkette, deren erhabene Gipfel über den Horizont ragten, schien in blutigstem Rot lichterloh zu brennen: ein atemberaubendes Schauspiel, das sich tagtäglich auf Kangor, dem vierten Planeten des Sirius-Systems wiederholte. Touristen-Heerscharen aus allen Teilen des bekannten Universums pilgerten seit Jahrhunderten hierher, um sich daran zu ergötzen, Holofotos zu schießen und bis an ihr Lebensende enthusiastisch ihren Freunden, Bekannten und Familien von diesem intensiven Erlebnis zu berichten. Angeblich sollte man bei diesem Anblick so klar denken können wie niemals zuvor.
Kolkor-Bel fehlte heute die Muse, sich daran zu erfreuen. Nicht nur weil der pompöse Herrscherpalast der Dynastie geradewegs auf das Gebirgsmassiv ausgerichtet war und sich mit all den Jahrzehnten eine gewisse Gewöhnung einstellte. Hier war sie geboren worden, und hier würde sie auch sterben: Wie alle Mitglieder der Dynastie. Doch heute war alles anders. Heute drehten sich ihre wild-wüsten Gedanken immerzu nur um Kolkor-Tah: ihren Bruder und Shatash über Kangor. Für alles andere fehlte ihr die Beschaulichkeit, er füllte ihren gesamten Fokus vollständig aus. Die besten Ärzte, die für Edelsteine und diplomatische Zugeständnisse aufzutreiben waren, kümmerten sich seit drei Tagen intensiv um ihn, versuchten ihn aus seinem Siechtum und seiner Lethargie zu befreien. Alles im Bereich ihrer mitunter an Magie grenzenden Fähigkeiten unternahmen sie – bislang erfolglos! Sie machten ihr kaum Hoffnungen, sein Leben zu retten, und falls doch, würde er höchstwahrscheinlich irreparable Gehirnschäden davontragen. Es war ihnen bislang nicht einmal gelungen, die fremde Substanz, die man in seinem Gehirn gefunden hatte, zu analysieren. Den Shatash zu klonen, diesen Klon beschleunigt zu reifen und ein Psycho-Backup in dessen Hirn zu laden, dafür war es mittlerweile zu spät. Das Backup hätte vor vier Wochen angefertigt werden müssen, bevor er diese Frau kennen gelernt hatte. Jetzt war er irreparabel geschädigt. An dem Abend, an dem sein Leichnam in den Orbit geschossen wurde, um für die Ewigkeit den Planeten zu umkreisen, ebenso wie seine Vorgänger, würde Kolkor-Bel als seine Schwester den Thron besteigen, die Erbfolge durfte nicht unterbrochen werden. Dennoch: Sie fühlte weder Freude, geschweige denn Triumph in sich.
Ein Hüsteln hinter ihr ließ sie abrupt herumfahren und aus ihren Gedanken schnellen. Ein Kangore in der hellblauen Uniform der Palast-Lakaien war hinter ihr in der Tür aufgetaucht, die Stirn berührte fast den Boden. Er wagte es nicht, sie direkt anzusprechen, erst auf ihr einladendes Nicken hin. Für derlei Vergehen war schon mehr als einer in die Fostrell-Gruben geworfen worden, wo sie den Heiligen Spinnen als Wirt für deren neue Generationen dienten.
»Eure Eminenz und Bewahrerin der wertvollen Gene der Dynastie«, flüsterte er. »Stefanos M’enga vom Geheimdienst ist eingetroffen.«
»Ja, gut …«, machte sie zerstreut. »Er befindet sich bereits bei Eurem Bruder, dem Maximus.«
Wortlos verließ sie die Dachterrasse, der Diener machte ihr demütig Platz, die Stirn fast bis zum Boden gesenkt. Mit hängenden Schultern und einer Laune, die in die tiefsten Kammern der Depression hinabführte, bestieg sie die bereitstehende Sänfte. Die beiden acht Fuß großen, amolanischen Cyborgs mit ihren jeweils drei Armpaaren hoben sie auf ihre Geste hin mühelos an. Sie wussten, wohin sie wollte, in den letzten Tagen hatte sie sich fast ausschließlich in diesem einen der über achttausend Zimmer des Palasts aufgehalten.
Für den Luxus ringsherum hatte Kolkor-Bel keinen Blick. Nicht für die kristallgeschmückten Torbögen, die szintillierenden Vorhänge und auch nicht für die Wasserfälle, die kaskadisch blaues, dickflüssiges Vorga in die Tiefe des Innenhofs transportierten, umgeben von den buntesten, exotischsten Pflanzen, welche die südlichen Gorang-Inseln zu bieten hatten. Nicht nur, weil sie es nicht anders kannte: All ihr Denken drehte sich ausschließlich um ihren geliebten Bruder.
Ihre beiden Herzen verkrampften sich, als sie schließlich das oktaederförmige Gemach mit saalähnlichen Ausmaßen erreichte. In dem riesigen Lager lag die totenbleiche Gestalt von Maximus, dem Shatash.
Er war abgemagert, die vier Augen waren geschlossen, und trotz seiner wenigen achtundsiebzig Jahre wirkte er alt, zerbrechlich und lethargisch. Eine unüberschaubare Menge Schläuche waren an seinem Kopf, den Armen, Beinen und Flügeln befestigt. Scanner übertrugen seine Lebensdaten in die wuchtigen Computer neben dem Kopfende, und Kanülen pumpten Flüssigkeiten in ihn, die sein Leiden verlängern sollten. Als Kolkor-Bel den Raum betrat, wichen die zahlreichen Diener und Leibwächter instinktiv zurück; ihre Stirn berührte ehrfurchtsvoll den Boden. Nur die Mediziner um das Bett herum ließen sich dadurch nicht in ihrem Handeln beirren, versuchten weiterhin, das Unmögliche möglich zu machen. Mit fremdartigen Maschinen, leuchtenden Kirlian-Auren und körpereigenen, elektromagnetischen Feldern. Sogar ein Magier von Woshtar kramte tief im wunderbaren Repertoire seiner Mixturen, um den Shatash zu retten. »Eminenz …« M’enga in seiner blauen Uniform mit Zweireiher und drei Reihen Rangabzeichen am Kragen trat einen Schritt vor. Tief und respektvoll verbeugte er sich vor ihrer Sänfte: jedoch deutlich weniger tief als ein Kangore – ein Mensch eben! Kolkor-Bel störte das nicht; spätestens in den zurückliegenden Tagen hatte sie gelernt, es gab wichtigeres als hohle Verbalfloskeln. Irgendwann wurde alles aufs Wesentliche reduziert; meist wurde man sich erst dessen bewusst, wenn man ganz tief unten angelangt war und es keinen Ausweg zu geben schien. »Diese Frau ist vor drei Wochen hier aufgetaucht«, kam sie gleich zur Sache, an M’enga gerichtet. »Eine Velianerin. Maximus hat sich sofort in sie verliebt, fragen Sie mich bitte nicht, weshalb. Vorher hielt er Misch-Beziehungen … widerwärtig! Er hat sogar eine Kompatibilitätsstudie anfertigen lassen, ob gemeinsamer Nachwuchs möglich ist.«
»Doch dazu ist es nie gekommen.«
»Nur wenige Tage, nachdem sie hier eingezogen ist, begann sein Zustand. Er wurde phlegmatisch, begann.« Sie suchte nach der menschlichen Entsprechung eines Walgorh. »Gespenster zu sehen. Geister! Sprach mit unserem toten Bruder Kolkor-Sogh, der einst in den Clanskriegen gefallen ist.« Bedeutungsvoll nickte der Mann und kam sich erbärmlich klein und unwichtig angesichts der gewaltigen Kangoranerin vor. »Und vor drei Tagen, als der Zustand des Shatash kritisch wurde, ist diese Frau verschwunden?« Ein lethargisches Nicken, das sie ihm zur Antwort gab. »Bringen Sie sie hierher. Ich will wissen, was sie ihm angetan hat. Entweder kann sie ihn heilen, oder sie soll bezahlen!« Erneut verbeugte er sich und verließ den Saal rückwärts, ständig ihr das Gesicht zugewandt. Sollten die Ärzte recht haben und es um Kolkor-Tah’s Leben tatsächlich geschehen sein, ging es ihr durch den Kopf, so wollte sie sich wenigstens sicher sein, dass er gerächt wurde. Das war das Mindeste, das sie ihm schuldete.
Stickig und rauchverhangen war die Luft im CLUB LAZAR: so dick, dass man fast meinte, sie schneiden zu können. Tausend fremdartige Gerüche trug sie mit sich: es roch nach Getränken, Tabak, Drogen und allerlei aufgeheizten Körpern.
Wallace kannte es nicht anders, auch der Höllenlärm ringsherum war ein alter Bekannter, wenngleich sie niemals Freunde werden würden. Er hatte eine Aversion gegen dieses unkontrollierte Spektakel, doch ein wenig autogenes Training half ihm immer, die Nacht zu überstehen. Auch gewöhnen würde er sich wohl nie an die dröhnenden Stakkatos und Bässe, welche aus ungezählten Lautsprechern die drei Ebenen des CLUB LAZAR überfluteten. Musik! Oder das, was die Menge der Leichtlebigen heutzutage Musik nannte. Auch das wäre nicht weiter tragisch gewesen, dabei konnte er seine Ohren halbwegs auf Durchzug stellen. Er konnte nun mal wenig mit Musik anfangen und war ein Banause durch und durch. Entsetzlich hingegen waren die vielen, durcheinander quasselnden Stimmen, als hätten sich Gräbermeere aufgetan und Legionen plappernder Ghouls direkt in den CLUB LAZAR hinausgespuckt. Überall wurde gesprochen und geschrien. Gebrüllt, gekräht und geschwatzt. Es hatte den Anschein, als sei heute Abend jede Sprache und jeder Dialekt der ALLIANZ hier vertreten. Und es hätte Wallace auch kaum gewundert: Der CLUB LAZAR lag in Mashkar, der 500-Millionen-Metropole von Asgard, dem inoffiziellen politischen und ökonomischen Zentrum der ALLIANZ. Der Raumhafen war das größte Handelszentrum weit und breit, und die äußersten Flugfelder lagen keine zehn Meilen entfernt.
Eine Goldgrube war dieser Club. Vorausgesetzt, man legte nicht den größten Wert auf die Rechtschaffenheit der werten Gästeschar und redete sich standhaft ein, dass Geld prinzipiell nicht stank. Vielleicht traute sich Wallace zu viel zu, doch er behauptete von sich, fast jedem hier ansehen zu können, ob der sein Geld ehrlich verdiente oder nicht. Menschenkenntnis. Sich langsam entwickelt aus seiner Zeit bei der Flotte und den letzten Monaten hier im Club. Vielleicht aber auch seine angeblich latent telepathische Gabe, die ein Weißkittel bei seiner Musterung als junger Rekrut herausgefunden haben wollte. Doch das war schon lange her. Als Gastronom hingegen durfte man nicht wählerisch sein, wenn man es zu etwas bringen wollte, und der einzigen Kundschaft, die er abgelehnt hätte, reptiloide Xenobiten, stand ohnehin nicht der Sinn nach dieser Art von Unterhaltung. Auf den ersten, flüchtigen Blick meinte der allabendliche Besucher auf den drei Ebenen, in deren rundem Zentrum sich ein durchgehendes Atrium erstreckte, gäbe es keinen freien Quadratzentimeter Raum mehr. Überall drängten sich wogende Körper aneinander. Leichte Matrosen und nicht minder leichte Mädchen: Schmuggler, Händler, Jobsucher. Viele Besoffene und Typen, die hier auf der Suche nach Anschluss waren, weil sie sich kein Holo-Separee im Club schräg gegenüber leisten konnten, um dort ihre überschüssigen Körperflüssigkeiten loszuwerden. Wallace grinste bei diesem Gedanken still in sich hinein, und eine der angestellten Bardamen dachte, ihr Chef hätte auf eine grianische Zitrone gebissen, die bekanntlich nicht in größeren Happen für Menschen gedacht war, jedenfalls nicht, wenn sich nicht flugs die Zähne im Mund auflösen sollten.
Der Club bestand vorwiegend aus schwarzem Holzimitat, von echtem nur dann zu unterscheiden, wenn man die lackierte Oberfläche abkratzte und darunter hässliche Pappmaché zum Vorschein kam. Dazu blankes Stahlrohr, ein bisschen glitzernder Chrom und schwarze Kunstlederbezüge auf den Sitzflächen der Hocker. Auf zwei kleinen Bühnen in jeder Ebene wackelten leichtbekleidete Holo-Gogo-Tänzerinnen mit ihren Körperteilen zur Erbauung der vorwiegend männlichen Gästeschaft. War es Zufall oder Bestimmung, dass hier vorwiegend Männer verkehrten? Hetero-Männer, wohlgemerkt! Vorwiegend humanoide. Selbstredend gab es einschlägige Etablissements auch für Frauen, Kangoren, Tschylager und was sonst noch im Universum kreuchte und fleuchte. Wofür auch immer jemand Geld auszugeben bereit war – in Mashkar wurde jedes Bedürfnis zufrieden gestellt. Angebot und Nachfrage … Er musste wirklich einen gewaltig an der Waffel haben, fast jeden Abend hierher zu kommen! Wallace wusste das. Er wurde nicht gebraucht, die Geschäfte führte ohnehin Tycoon, sein Androide. Für ihn blieb lediglich übrig, sich die hübschen Bedienungen anzuschauen und das Geld zu zählen. Auch nicht übel, dachte er erheitert mit breitem Grinsen um die Mundwinkel. Andererseits – wohin hätte er sonst gehen sollen?! Was sollte ihn sonst etwas zerstreuen? Also stand er – stämmig, Ende dreißig und mit langem, hochgestecktem Schwarzhaar – wie die letzten acht Monate abends am chromglitzernden Tresen, verteidigte sein Revier rücksichtslos mit beiden Ellenbogen und beobachtete ein wenig die mehreren Dutzend Gestalten entlang der Bar.
Tycoon hatte ihm unaufgefordert ein Bier hingestellt. Ein echtes, dunkles Weizenbier, wie von der Erde. Kein synthetisches Gesöff, es wurde extra für ihn direkt vom inzwischen gar nicht mehr so blauen Planeten importiert. Er war nun mal ein wenig exzentrisch, wollte dieses Image auch pflegen, und vor allem – er konnte sich das leisten. Und nicht zu vergessen: Eine Flasche!
Das war ihm besonders wichtig. Ersparte es ihm doch, dasselbe Glas zu benutzen wie Leute, denen er kaum die Hand geschüttelt, geschweige denn aus demselben Glas wie sie getrunken hätte. Wer konnte schon erahnen, welche Viren und Bakterien von welchen entlegenen Welten die mit sich herumschleppten?!
Die Spülanlage hier war nicht mehr die jüngste …
»Ich suche einen Mann«, hörte er eine weibliche Stimme aus dem Stimmengewirr schräg hinter sich heraus sagen. Einige der heruntergekommenen Tresengestalten neben ihm begannen dreckig zu lachen, als hätten sie einen Müslifresser am Fleischbuffet entdeckt; Wallace erkannte von der Seite, wie einige sich umdrehten, um die Frau in Augenschein zu nehmen und abzuchecken, ob es sich lohnte, sie für die kommende Nacht abzuschleppen. Und wie viel sie dafür wohl verlangen mochte.
»Ich bin der Mann deiner Träume, Baby«, grölte ein stämmiger Tarakianer mit blauem Haar. Er baute sich wie ein Pfau auf, nur die Federn fehlten. »Brauchst wohl mal ’n echten Mann, häh?«
»Tut mir leid«, antwortete die Frau lasch. »Aber …«
»Oder wie isn’s mit mir?«, mischte sich ein Mann in der blaugrauen, einteiligen Uniform der ALLIANZ-Streitkräfte ein: den Insignien zufolge ein Kadett mit mindestens zwei Promille im Blut. Er sprach den breiten Slang der Schenk-Kolonien. Demonstrativ öffnete er den Klettverschluss seiner Hose und griff hinein, um der Frau zu zeigen, was er darin für sie aufbewahrte.
Scheiße!, dachte sich Wallace. Dies war die Art von Ereignissen, weshalb er den CLUB LAZAR hasste und vor allem sich selbst, dass er ihn als Geschenk angenommen hatte. Für die Klientel, die sich hier herumtrieb, war selbst die Gosse noch zu gut. Also blieb ihm wieder einmal keine andere Wahl, als die Angelegenheit in die eigenen Hände zu nehmen. Er wandte sich nun ebenfalls um – und traute seinen Augen kaum! Die Frau mochte Anfang zwanzig sein, und sie war nach allgemeinen, männlichen Heterovorstellungen zweifelsohne … hübsch! – Und das war reichlich untertrieben! Mehr noch, eine Schönheit: schulterlanges, rotes Haar, etwa eins-siebzig groß und wohlproportioniert … Sie steckte in einem schwarzen Hosenanzug, als käme sie direkt von einer Party. Vor allem aber besaß sie die goldenen Augen der Velianer! Canya!, durchzuckte ihn der eiskalte Schauder der Erkenntnis, der ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Sprachlos musterte er die weibliche Gestalt vor ihm. Doch es konnte nicht Canya sein! Canya war seit über vier Jahren tot. Das Bergungskommando in den erbärmlichen Trümmern der TITANIA hatte ihre Überreste im Maschinenraum gefunden; nur der DNS-Test hatte sie identifizieren können. Und er – er war einer von fünf Überlebenden der knapp vierhundert Besatzungsmitgliedern gewesen: mehr tot als lebendig, zugegeben, war er aus dem Wrack geborgen worden. Sie hatten ihn zusammengeflickt, der weit fortgeschrittenen medizinischen Technik seiner Zeit nur hatte er sein Überleben zu verdanken. Die Wunden hatte die Zeit geheilt. Doch niemand fragte nach den Narben die auf seiner Seele wie hässliche Flecken zurückblieben. Nein, es konnte nicht Canya sein! Doch die Frau sah ihr impertinent ähnlich! Wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hätte ihre jüngere Zwillingsschwester oder ihr Klon sein können. Schon allein deshalb musste er ihr einfach helfen! »Lass’ es gut sein«, legte er die Hand auf die Schulter des Flottenkerls und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös er war durch den Anblick dieses Geistes aus seiner persönlichen Vergangenheit.
»Was bis’n du für ehna?«, musterte der Mann aus den Schenk-Kolonien ihn abschätzend von oben bis unten, und seine Hände, die bislang nicht fündig geworden waren, kamen aus der Hose und wurden zu Fäusten, die sich aggressiv in die Hüfte stemmten.
Also auf die harte Tour! Bevor der Typ imstande war, die Initiative zu er- und ihn anzugreifen, rammte sich Wallaces Knie in seinen Magen. Und als sich der Schenk’ler teils vor Schmerz, hauptsächlich jedoch aus Überraschung zusammenkrümmte, packten ihn Wallaces Hände im Nacken und rammten sein Gesicht gegen die blankpolierte Tresenkante. Zähne splitterten – nichts, das die plastische Chirurgie nicht beheben konnte. Wie von der mächtigen Sense des Reapers gefällt, sackte Mr. Streitkräfte wie ein nasser Sack zu Boden.
»Denk’ nicht mal dran!«, warnte er den Tarakianer, dessen filigrane, viergliedrige Finger sich heimlich dem Shocker an seinem Gürtel näherten; in Wallaces Rechten war das Messer wie hingezaubert erschienen, das er im Genick, unter seiner Jacke, trug; er hielt ihm die Spitze in das mittlere seiner Nasenlöcher. Die Klinge vibrierte leicht. »Oder etwa doch?« Seine Augen funkelten jetzt wie die eines angriffslustigen Raubtiers, es bestand kein Zweifel, dass er auch Willens war, es einzusetzen.
»Kein Problem«, sagte der Tarakianer, überraschend nüchtern geworden. Beschwichtigend hob er beide Hände und wollte ihm Glauben machen, er sei ähnlich unschuldig wie das Christkind und der Osterhase in einer Person. Er war wohl doch nicht angetrunken genug gewesen, um das mörderische Glitzern in Wallaces Augen völlig zu ignorieren und es darauf ankommen zu lassen, wer bei einem harten Fight am Ende als Sieger hervorgehen würde.
Das genügte ihm, von dem hatte er keine Schwierigkeiten mehr zu erwarten: Zeit und Gelegenheit für ihn, sich der Frau zuzuwenden: Sie stand immer noch an ihrem Platz wie ein vor der Kneipe angebundener Albedo-Wolfshund und hatte lediglich schweigsam zugesehen.
»Wen suchen Sie?«, fragte er sie direkt.
»Den Besitzer dieser … dieser Bar.« Sie machte mit ihren Armen eine ausladende Geste, die sein komplettes Establishment umfassen sollte.
Stoisches Nicken, als er sie zur Seite nahm und sich bemühen musste, sie nicht kurzerhand in die Arme zu nehmen, sie zu küssen und das unverhoffte Wiedersehen zu feiern. »Warum?«
»Ich soll ihn aufsuchen … er würde mir in einer verzweifelten Notlage helfen.« Lange ruhten ihre goldenen Velianer-augen auf ihm, dann: »Sie sind Wallace Stone?«
Abermals ein wortloses Nicken, während er sie an einen der wenigen freien Tische, ganz hinten an der Wand und nur für ihn reserviert, führte. Hier waren sie durch eine blickdichte Pflanzendekoration ein wenig vom allgemeinen Tohuwabohu abgeschirmt.
»Ich heiße Pandora Shako«, stellte sie sich vor, als sie sich setzte.
»Mhm.« Er nahm die Hand, die sie ihm reichte, und als er ihre Haut auf der seinen spürte, meinte er, Milliarden gelber Killer-Ameisen würden darüber hinwegziehen. »Wer hat Sie geschickt?«
»Stefanos M’enga.«
Er hob überrascht eine Augenbraue. Stefanos, sein alter Kumpel von der Akademie, heute beim Geheimdienst in Lohn und Brot stehend. Er war sein Trauzeuge gewesen, doch Wallace hatte ihn eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Die Erde war weit und der Weltraum schier unendlich.
»Ich soll Ihnen Grüße bestellen.« Er starrte sie weiterhin nur an, leckte sich ein wenig nervös über die Lippen.
»Schön …« Wallace kam sich plötzlich vor wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal einen Antrag erhält.
»Ich komme direkt vom Sirius, von Kangor, um genau zu sein. Ich arbeite ebenfalls für den Geheimdienst. Wie M’enga. Allerdings in der wissenschaftlichen Abteilung. Wussten Sie, Steve ist inzwischen dort stationiert? Als Sektionsleiter.« Ihre Stimme hatte einen tiefen, kehligen Ton angenommen, der auf seiner Haut wohlige Schauder verursachte.
Dass Steve jetzt dort einen Posten innehatte, das war ihm neu.
»Ich trage ein Implantat, das zu einer Forschungsstation im Beteigeuze-System muss. Wichtige Daten. Man hat mir zwei Bodyguards zur Seite gestellt, doch die wurden vorhin, kurz nachdem ich Mashkar erreicht habe, aus dem Hinterhalt umgelegt. Also habe ich Steves Rat befolgt: Wenn es hier Probleme gibt, soll ich mich an Sie wenden, Sie würden mir helfen. Ich … ich belästige Sie nicht gern, wirklich nicht, aber … ich kenne mich auf dieser Welt nicht aus. Außerdem bin ich Wissenschaftlerin, keine Soldatin …«
Das sah Steve ähnlich! Der war sich freilich darüber im Klaren gewesen, Wallace würde ihr allein ihres Aussehens wegen so beistehen, als sei es seine Canya.
»Wer ist hinter Ihnen her?« Eine Falte tauchte auf seiner Stirn auf.
Anstatt zu antworten, wurden ihre Augen größer und größer, schienen plötzlich aufzuleuchten wie zwei Supernovae. »Die da!«
Ihr rechter Arm schoss nach vorn, zielte an seiner linken Schulter vorbei auf etwas, das sich hinter seinem Rücken befinden musste. Vorsichtig drehte er den Kopf. Sein ganzer Körper wirkte wie eine gespannte Feder.
Im Eingang des Clubs waren drei Xenobiten erschienen: unübersehbar! Sie mussten sich bücken, um durch das Portal zu gelangen mit ihren fast vier Metern Größe. Jeder von ihnen ruhte auf zwei derben Beinpaaren in plumpen Stiefeln und einem muskulösen Schwanz. Gekleidet waren sie in silbern blitzenden Rüstungen wie ein alter römischer Gladiator. Ihre Arme wirkten wie Baumstämme und endeten in gefährlichen Krallen; der klobige Kopf mit dem grellbunten Federschmuck im Nacken beherbergte zwei kleine Knopfaugen und ein Maul mit rasiermesserscharfen Zähnen.
Wie zur Hölle sind die an den Türstehern vorbeigekommen? fragte sich Wallace, doch dann dachte er rasch um. Es war der Gesundheit nicht dienlich, sich Xenobiten in den Weg zu stellen, und falls sein Türsteherteam tatsächlich so dämlich gewesen war, es zu versuchen, konnte er nur zu welchen Göttern auch immer beten, dass sie noch lebten.
Die Kolosse mussten sich nicht wie jeder andere den Weg durch die Menschenmenge bahnen, man machte ihnen besser freiwillig Platz, eingeschüchtert von der beeindruckenden Erscheinung, den opulenten Rüstungen und den streitaxtähnlichen Waffen auf ihren Rücken. Davon unabhängig musste man sich ohnehin vor den wild peitschenden Schwänzen in Acht nehmen, die keinerlei Rücksicht auf Tische, Sessel oder Menschen nahmen. Dementsprechend teilte sich automatisch die Menge respektvoll. Besser, man kam ihnen nicht in die Quere.
Solange Wallace sich erinnerte, war noch nie ein Xenobit hier im Club aufgetaucht. Glücklicherweise! Entweder verhökerten sie ihre Drogen, fingen Streit an oder taten beides gleichzeitig, was sowieso ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein schien; die Truppen der ALLIANZ hatten mit den Fremden ihre liebe Mühe, sie auf den Menschenwelten in Zaum zu halten, und nicht immer gelang das mit Worten.
Die drei Neuankömmlinge hatten es eindeutig auf seine Gegenüber abgesehen: einer deutete in ihre Richtung und grollte etwas in ihrer gutturalen Sprache zu seinen Begleitern.
Wallace bekam feuchte Handflächen.
»Hauen wir ab«, schlug er vor. Mitunter war es besser, den Schwanz einzuziehen, als draufgetreten zu bekommen. Ein Besoffener der Streitkräfte war eine Sache – drei Xenobiten hingegen Selbstmord. Er nahm Pandora mit sich, schnellte von seinem Stuhl auf und zog sie zu einem Gang in ihrer Nähe. Nur weg von hier! Drei dieser Saurier genügten völlig, den Club in Schutt und Asche zu legen. Xenobiten waren prinzipiell nicht nur nicht versichert, sondern auch äußerst schwer umzubringen.
Mit der Frau im Schlepptau lief er durch die schwarzen Tischreihen, über ihnen befand sich der Boden des zweiten Stockwerks. Er hoffte, die Echsen ließen sich von der Deckenhöhe aufhalten, normalerweise passten sie nicht durch.
Keine Chance! Wie Berserker und angesichts ihres Körperbaus erstaunlich schnell bahnten sie sich ihren Weg, schafften sich eine Schneise aus umherfliegenden Möbeln und durch die Luft sausende Körper. Es krachte und knirschte; überall waren Schreie in der Luft und das Stöhnen der Verletzten.
Längst war das Chaos ohrenbetäubend geworden trotz der lauten Musik, die unvermindert weiter dudelte. Die Gäste flüchteten sich in die hintersten Winkel, weit möglichst von dem Trio entfernt. Hilfe war von ihnen nicht zu erwarten, und so sinnvoll es auch war, die Waffen vor der Tür abzugeben und so viele gewalttätige Auseinandersetzungen diese Regel auch schon verhindert haben mochte – Wallace hätte sich gerade jetzt die halben, bis an die Zähne bewaffneten Streitkräfte hier gewünscht. Dafür hätte er freiwillig und eigenhändig die drei xenobischen Kadaver vom Boden aufgeleckt.
Ungestüm und unaufhaltsam trampelten die drei Biester ihnen hinterher, selbst als Wallace Pandora die Wendeltreppe hochschob und ihr rasch folgte. Die Xenobiten kehrten in den Hof zurück und streckten ihre Pranken nach dem Geländer der zweiten Ebene aus. Dann rissen sie gemeinsam die verbürgt unzerstörbare Balustrade hinunter, als bestünde sie aus Pappe. Mit ihren Klauen krallten sie sich im Boden der zweiten Etage fest, hakten sich ein, klammerten sich mit ihren mächtigen Armen fest und begannen, sich unaufhaltsam nach oben zu ziehen.
»Was sollen wir tun?« Pandora konnte nur zusehen, wie sich ihre Verfolger erfolgreich bemühten, ihnen hinterher zu kommen.
»Nicht umdrehen!«, zischte er nur und drückte sie in Richtung der anderen Wendeltreppe, die in die oberste Ebene führte, während hinter ihnen – nach dem Radau zu urteilen – der halbe Club zu Bruch ging. Nur nicht daran denken!
Sie hasteten weiter nach oben, mussten sich beeilen, wollten sie den drei Killern lebend entkommen. Sie beide eilten durch die Reihen der längst verwaisten Tische und Sessel, hinüber zur sperrangelweit offenen Tür des Notausgangs, die in den letzten Sekunden reichlich benutzt worden war. Dahinter wartete auf sie die blauschwarze Finsternis Asgards mit seinen vier funkelnden Blutmonden, die wie in Samt gebettete Juwelen aussahen.
Der tosende Lärm, den die Xenobiten nebenbei anrichteten, wurde nur unmerklich leiser, als sie den kleinen Korridor erreichten, der hinaus ins Freie führte.
»Stopp!« Er hielt Pandora zurück, die einfach nur abhauen wollte, als sei ein Konvertierungstrupp der ‚Arkadischen Kirche des Blutes und des Feuers’ hinter ihr her. Nur nicht wählerisch sein, sich irgendwo verkriechen und einfach den Kopf in den Sand stecken schien ihre Devise. Beide keuchten vor Anstrengung.
Die tausend Fragen ihrer staunend aufgerissenen Goldaugen ignorierend schlug er mit der flachen Hand gegen eine der Keramikplatten. Darunter befand sich ein verborgener Mechanismus, und prompt öffnete sich im Schwarz der Wände ein versteckter Zugang. Hinter dem Schott tat sich ein kleiner Raum auf, der sich vor allem durch das auszeichnete, was darin stand: Die Replik eines schwarzen Corvette-Cabrios, 20. Jahrhundert altchristlicher Zeitrechnung. Die Räder des Autos waren uralt, fast profillos, doch mehr war angesichts der Antigravaggregate auch nicht nötig. Hier steckte ein Sammlerherz ein kleines Vermögen in seine Leidenschaft, und neue Reifen waren nirgends aufzutreiben.
»Das Ding fliegt?« Ihre Skepsis war immerhin nicht so groß, dass sie nicht sofort den Raum betrat, selbst wenn ein Rudel Shorgs auf sie gelauert hätte.
»Und wie dieses fabelhafte Meisterwerk fliegt!«, griente Wallace. »Sogar bedingt weltraumtauglich, ich wohne auf Kalewski, einem der vier Monde.« Er zeigte mit der ausgestreckten rechten Hand über sie zur Decke. »Kurztrippassagen zu den Monden müssen nicht angemeldet werden.« Er grinste einen Moment über beide Ohren, wie ein Junge, der sein erstes Date gerade hatte klarmachen können.
Diese Erklärung genügte ihr völlig, das Cabrio unaufgefordert zu besteigen.
Das Schott hinter ihnen rastete hörbar ein, und während Wallace den Mechanismus drückte, der das Dach öffnete und nach seinen Code-Schlüsseln suchte, beschloss er, sich besser nicht vorzustellen, was ihn morgen früh – wenn er hier wieder nach dem Rechten zu sehen gedachte –erwartete. Anderseits war heute bekanntlich der Zeitpunkt, wo die Show lief, morgen war einfach ein anderer Tag.
»Du bist früh dran«, begrüßte ihn Tuisk-Lah, als Wallace und Pandora aus der Garage kamen. Das Wohnzimmer war groß, ebenso wie die ganze Wohnung: Ein Barbesitzer konnte sich das leisten, wenngleich es zum guten Ton jeden Geschäftsmanns, der etwas auf sich hielt, gehörte, über schlechten Umsatz zu jammern, selbst wenn es mehr Aufträge für ihn gab, als er je erfüllen konnte.
»Hat ein bisschen Ärger im Club gegeben.«
»Hast dich wohl aus dem Staub gemacht …« Ein Lächeln huschte über ihr blaues Gesicht, das von silberweißem Haar umschlossen wurde. Ihr starrer, lebloser Blick war ins Nichts gerichtet.
»Bei drei Xenobiten ist es besser, den Arsch zusammenzukneifen. Sie hatten es hier auf diese Frau abgesehen.«
»Freut mich«, nickte Tuisk-Lah, ohne sie zu sehen.
»Mich auch«, erwiderte Pandora höflich, desinteressiert und hilflos.
»Dann mache ich euch am besten was zu essen …«
»Das wäre großartig …«
Sie verließ das Wohnzimmer, vorwiegend weil sie es für angebracht hielt, die beiden allein zu lassen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wich sie den Möbeln aus und verließ den Raum, ohne irgendwo anzustoßen.
»Ist sie … blind?«, wollte Pandora wissen, als Tuisk-Lah verschwunden war.
»Sie sollte Avcry-Priesterin werden.«
»Ja und?« Diesen Namen schien sie noch nie zuvor gehört zu haben.
»Man hat sie als Kind geblendet, es gibt da eine besondere Methode. Inoperabel, selbst für die Technik des Reiches. Nachdem die Avcry-Sekte zerschlagen wurde, hat sie ein paar Jahre lang im Club als Fellatrice gearbeitet. Seit ich mich da reingesetzt habe, schmeißt sie mir den Haushalt.«
»Ah …«, machte sie überrascht und fragte sich höchstwahrscheinlich, ob sie exklusiv für ihn ihren alten Job weiterhin ausübte. Doch sie verkniff es sich, das auszusprechen.
»Setzen Sie sich …« Wallace blieb stehen, hakte die Daumen im Gürtel ein und fühlte sich ein wenig wie der große Kommissar beim Verhör. »Als wir gestört wurden, wollten Sie mir von Ihrer Mission erzählen …«
»Ja, richtig«, setzte sie sich auf das Chaiselongue und zog die Beine an, umfasste sie mit beiden Armen.
Ihm stockte der Atem. In diesem Moment sah sie ungeheuer zerbrechlich aus, wie Glas von den Buroughsmonden: selten, teuer und äußerst fragil.
Wallace fühlte ein leichtes Schwindelgefühl.
Fast wie früher, fast wie Canya. Doch das war leider lange vorüber und eben nur so fast, nicht dasselbe wie die Erinnerung an eine einzigartige Frau, die vor langer Zeit bereits gestorben war..
»Meine beiden Begleiter wurden von den Xenobiten ermordet. Im Hinterhalt aufgelauert und praktisch zerfetzt. Ich konnte mit knapper Not davonkommen …« Sie hob die rechte Hand und machte mit Daumen und Zeigefinger eine Geste, die nur wenig Platz ließ zwischen den Fingern.
»Mhm«, knurrte er nur.
»Kennen Sie Stardust?«
Er lachte auf, doch es entbehrte jeden Humors. »Falls Sie’s nicht wissen – ich bin die ganze Nacht im LAZAR. Da hört man oft mehr als der Geheimdienst.«
»Dann sind Sie darüber also im Bilde – die xenobische Wirtschaft exportiert fast ausschließlich diese Droge.«
»Jeder weiß das. Außer Stardust haben die Xenobiten kaum etwas zu bieten. Ohne das Zeugs wäre das Xenobische Reich längst die Dritte Welt.« Er nahm nicht an, dass sie dieses uralte Wortspiel wirklich verstand.
»Vermutlich. Die Pflanze, aus der Stardust gewonnen wird, wächst ausschließlich auf ihrem Heimatplaneten. Ihr streng gehütetstes Geheimnis – quasi ein Staatsgeheimnis.« Sie schloss abrupt den Mund, und ihre goldenen Augen fixierten ihn, während die Lider zu schmalen Schlitzen wurden. »Haben Sie es schon mal probiert?«
Die Frage lag bleischwer im Raum. Wallace senkte die Stimme ein wenig: »Falls ja, wäre ich vermutlich nicht hier.«
»Schon nach der ersten Dosis braucht man es ständig. Oder man geht elendig zugrunde.« Die Fingerspitzen der einen Hand berührten die der anderen, und ihre Stimme klang aufs Äußerste besorgt. »Als es die Xenobiten vor drei Jahren geschafft haben, ihre Droge im Grundwasser der Willkox-Kolonie zu deponieren, wurden alle Bewohner süchtig. Über 14 Millionen Kunden auf einen Schlag! Seitdem kauft die ALLIANZ Stardust von den Xenobiten, damit ihre Leute nicht krepieren.«
Plötzlich war Wallace interessiert. Er beugte sich vor, diese Information kannte er bislang noch nicht. Für ihn war Stardust bislang lediglich ein Aufputschmittel für Top-Leistungsträger gewesen, ähnlich Kokain, nur weitaus effizienter. Angeblich konnte man damit zwei volle Tage lang ununterbrochen durchbumsen. Und nicht zu vergessen die abgewrackten Typen, die es nahmen, um dazuzugehören.
»Warum legt man ihnen nicht einfach das Handwerk?«
»Wie denn?«, bellte sie ihn an wie ein Kettenhund. »Jeder weiß, nur die Xenobiten können das getan haben, doch es gibt keine Beweise. Keine Chance, den Gerichtsrat einzuberufen. Und einen Krieg anfangen? Die xenobische Flotte ist riesig. Denken sie nur daran, wenn eines unserer Schiffe von denen geentert wird …« Vielsagend winkte sie ab.
Sie mochte zwar nicht den Streitkräften angehören, doch sie hatte Recht. Beachtlich! Wenn auch nur halb so beachtlich wie ihre Oberweite, die Wallace zum wiederholten Male weidlich musterte. Gewaltsam riss er sich von diesem delikaten Anblick ab, trat ans Fenster. Gedankenverloren sah er hinunter auf den funkelnden Moloch Mashkar, der nachts kaum dunkler war als am Tag. Nur dass nachts das Leben besonders wild zu tosen schien. Viele Gebäude waren so riesig, dass man sie selbst vom Mond aus mit bloßem Auge erkennen konnte, wenn man sich ein wenig anstrengte und der Himmel wolkenlos war.
»Was will man dagegen tun?«, erkundigte er sich.
»Wir brauchen ein Mittel gegen Stardust, nur so kann man den Xenobiten den Geldhahn abdrehen. Etwas Wirkungsvolles, mit dessen Hilfe man clean wird, ohne elendig ins Gras zu beißen.« Sie seufzte. »Im Beteigeuze-System existiert ein großer Forschungskomplex. Die Wissenschaftler dort setzen sich Tag und Nacht mit diesem Problem auseinander. Man hat viele Fortschritte gemacht und glaubt, dass nur noch wenige Komponenten fehlen um diesem tückischen Stoff endlich Herr zu werden …«
»Und da kommen Sie ins Spiel«, vermutete er, ohne sich umzudrehen.
»Richtig. Unser Geheimdienst konnte eine der Pflanzen, aus denen das Teufelszeug gewonnen wird, auf Xenobia erbeuten, und unsere Wissenschaftler haben ihre DNS-Struktur entschlüsselt.«
»Die sich auf Ihrem Implantat befindet, das nach Big-B muss?«
»So ist es. Doch irgendwie müssen die Xenobiten von der Aktion Wind bekommen haben.«
»Sobald das Mittel entwickelt ist, können sie ihr Stardust selbst fressen«, sinnierte Wallace leise vor sich hin
»M’enga hat wohl geahnt, dass man uns hier auflauern wird, sonst hätte er mir nicht geraten, mich an Sie zu wenden. Aber Sie wissen selbst, Beteigeuze liegt im Niemandsland zwischen den Sternen. Von Sirius aus fliegt kein Schiff dorthin, nicht einmal in die Nähe. Asgard-Point ist nun mal der größte Hafen.«
Es leuchtete ihm zwar nicht ein, weshalb man trotz aller angebrachter Geheimniskrämerei keinen Langstreckenjet benutzt hatte, nichtsdestotrotz kam er zum Entschluss, es war ein Ziel, für das es sich einzustehen lohnte. Nichts, das sich mit dem Rest von Anstand, den er sich bewahrt hatte, nicht vereinbaren ließ. Andererseits, bei Pandoras Aussehen hätte er ihr wohl auch beigestanden, wenn sie vorgehabt hätte, die Theokratie mit Menschenopfern einzuführen.
»Einverstanden«, sagte er schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihr. Er war zu einem Entschluss gekommen, mit dem er und sein Gewissen gut leben konnten. »Ich kümmere mich um die Passage und begleite Sie zu Big-B.«
»Ich will Sie nicht mehr belästigen, als nötig«, kam lahmer Widerstand, den er mit einer Geste vom Tisch fegte.
Um ihn mit diesem Aussehen nicht zu belästigen, hätte sie einen weiten Umweg um Asgard machen müssen.
Wallace war kein Materialist, jedenfalls behauptete er das von sich. Dennoch hatte er sich unruhig von einer Seite seines Betts auf die andere gewälzt; an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Womöglich lag es an der vertraut-fremden Gestalt, die in sein Leben getreten war und die Wunde des Verlusts wieder aufgerissen hatte, eventuell aber auch an der Sorge, wie er den Club vorfinden würde.
Wie auch immer er es sich vorgestellt hatte – seine fürchterlichsten Ahnungen wurden am nächsten Tag bei seiner Ankunft noch bei weitem übertroffen!
Inmitten von Plastik- und Metalltrümmern, die einst Tische, Stühle, Treppen, der Tresen und das dahinterliegende Regal mit Gläsern, Flaschen und Gefäßen gewesen waren, stand Tycoon mit einem Besen und fegte tapfer gegen das Chaos an. Eine Lebensaufgabe, selbst für einen nahezu unsterblichen Androiden. Wo die Xenobiten versucht hatten, Wallace und Pandora zu folgen, waren die Böden der zweiten und der dritten Ebene aufgerissen; blanker Stahl ragte wie ein Gerippe daraus hervor, und zu all dem Schutt fehlte eigentlich nur noch die Asche.
Seine Augen wussten nicht, wohin sie zuerst sehen sollten – zu schauderhaft war der Anblick. Plötzlich machte sich psychosomatischer Schmerz in seinem Magen breit, und er hatte das Gefühl, er müsse an Ort und Stelle platzen. Oder wenigstens die Toilette aufsuchen.
»Hi«, hob Wallace schuldbewusst die Hand, als er den Hof betrat.
»Hi zurück.« Tycoon sah nicht auf, sondern fegte tapfer weiter. Neben ihm eine Schaufel und ein Schubkarren.
»Tut mir leid.«
»Was?«
»Dass ich abgehauen bin.«
»Hey, das ist dein Laden! Selbst schuld, wenn du ihn vernachlässigst. Außerdem musstest du ja diese P-Tágh in Sicherheit bringen.« Er war eine biomechanische Lebensform aus einer Fabrik und lediglich eingeschränkt emotionsfähig. Dennoch schien er fast ein wenig beleidigt zu sein. »Hat sie dich rangelassen?«
Wallace stutzte kurz und verkniff sich aber eine Antwort.
»Wo ist sie?«
»Hab sie in mein Büro gesetzt.«
Dumpfes Grunzen, in dem wenig Begeisterung schwang.
»Was ist mit den Türstehern? Sind sie in Ordnung? Ich meine …«
»Die sind clever genug gewesen, sich ihnen nicht in den Weg zu stellen.«
»Gut.« Das beruhigte Wallace. Wenigstens keine Toten, die er kannte. »Was ist gestern – nach meinem Abgang – noch passiert?«
»Nachdem du mit dem Wagen abgedüst bist?« Demonstrativ pustete er die Luft aus. Tycoon atmete nicht. Doch er hatte es sich angewöhnt, humanoide Mimik und Verhalten zu imitieren – mit Erfolg. Er stellte sich auf und den Besen neben sich hin. »Deine drei Freunde haben überall nach euch gesucht, wie du siehst. Dass ’ne Menge zu Bruch gegangen ist, muss ich ebenfalls nicht erwähnen. Aber dann kam die Militärpolizei vorbei, den Burschen einzusammeln, den du hingelegt hast. Sie sind reingeplatzt, haben den Schlamassel gesehen und wollten natürlich die Xenobiten fangen.«
Unbeholfen scharrte Wallace einige Scherben auf einen Haufen, um wenigstens irgendetwas zu tun.
Tycoon zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Dann ging’s hier erst recht hoch her! Die MP hat auf die Echsen geschossen, die Schüsse wurden von ihren Rüstungen reflektiert, und es kam zu einem heftigen Gerangel. Na ja … schau dich um …« Seine Lippen wurden zu zwei schmalen, definitiv blutleeren Strichen im kantigen Gesicht.
»Und jetzt?«
»Ein Gutachter war vorhin da und hat alles unter die Lupe genommen.«
Sorge tauchte in seinem Gesicht auf. »Nun spann’ mich nicht auf die Folter!«
»Halbe Million Schaden, schätzt er. Dafür hat er uns aber auch garantiert, dass wir in einer Woche wieder aufmachen.«
»Die Versicherung zahlt natürlich nicht.«
»Nur, wenn es Gäste gewesen wären. Leider haben die Viecher nichts getrunken …«
»Scheiße.« Das war ein Tiefschlag, den er nicht er ohne weiteres verkraftete. Allein dafür gebührte den Xenobiten Rache bis aufs Blut! »Eine Woche? Ich hoffe, ich bin bis dahin zurück.«
»Du hast vor, Urlaub zu machen? Flitterwochen vielleicht?« Als stille Aufforderung, mit Hand anzulegen packte er sich wieder seinen altmodischen Besen und kehrte erneut.
»Nicht ganz«, schüttelte er den Kopf. »Sie muss wo hin, und nach dem Trouble mit den Sauriern will ich sie nicht allein lassen.«
»Sie sieht Canya ziemlich ähnlich.«
»Ach nee«, knurrte er, »ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Ich fühle mich schuldig«, gestand Pandora mit hängenden Schultern. Ihre deprimierende Stimmung stand im krassen Kontrast zum strahlend blauen Asgardhimmel, als in Richtung Neu-Avalon flogen. »Die Verwüstung Ihrer Bar ist allein meine Schuld.«
Was hätte er darauf erwidern sollen, außer ihr zuzustimmen? Doch das zu unterlassen gebot ihm nicht nur die Höflichkeit, sondern vor allem auch ihr Aussehen.
»Halb so schlimm«, winkte er nonchalant ab; es fiel viel zu gönnerhaft aus und war ihm im Nachhinein ein wenig peinlich. »Das Geld für die Renovierung hol’ ich mir grinsend von Steve, der zwackt das aus irgendeiner schwarzen Kasse ab.«
»Und der Verdienstausfall?«
»Den auch. – Zerbrechen Sie sich darüber bloß nicht den Kopf!«
Ihr dankbares Nicken bedeutete ihm, er hatte ausnahmsweise die richtigen Worte gefunden. Meist kämpfte er händeringend damit, und seine mitunter große Klappe machte sich mitunter selbständig.
Neu-Avalon tauchte am Horizont auf. Wallace loggte sich ein und verriegelte die Handsteuerung. Vor ihnen, über und unter ihnen tauchten weitere Luftfahrzeuge auf. Je näher sie dem Zentrum des Stadtteils kamen, desto undurchdringlicher wurde der Verkehr. Zwischen den gewaltigen Wohn- und Geschäftstürmen, die sich manchmal über eine Meile in den wolkenlosen Himmel erstreckten, einige verbunden mit Brücken und Übergängen, schlängelte sich ein schier endloser Strom von Gefährten, die manchmal wie glitzernde Perlen an einer unsichtbaren Schnur aufgereiht schienen.
Der Verkehr war höllisch, kaum zu ertragen. Wie üblich. Trotz der eingerichteten Flugwege, mindestens zweihundert über- und nebeneinander, wimmelte es von Fähren, Taxis, Lastenträgern und nahezu allem, das mehr oder weniger elegant oder schnell flog. Jeder im Umkreis von fünf Parsecs schien unterwegs zu sein und irgendwo hinzuwollen. Und das schnellstens! Es war zum Aus-der-Haut-Fahren! Doch für einen Materietransmitter, dafür genügte selbst Wallaces hohe Kante nicht.
»Was ist mit Tuisk-Lah?« Ihr Blick traf ihn von der Seite, während die Corvette einem riesigen Containergleiter auswich, der ein Antigravbike überholte.
»Was soll mit ihr sein?«
»Warum ist sie bei Ihnen?«
»Sie schmeißt mir den Haushalt, hab ich schon gesagt. Und sie gibt mir das Gefühl, eine Familie zu haben … wenn ich eine brauche.«
»Tuisk-Lah hat mir ein Holofoto gezeigt. Ich dachte zunächst, es wäre eins von mir.«
Abrupt fuhr sein Kopf zu ihr herum. »Aber es war keins von Ihnen.« Mühsam gelang es ihm, die Fasson zu bewahren.
Sich nur nichts anmerken lassen! Bloß das nicht!!!
»Sie sind hier bei mir, weil ich Ihrer toten Frau ähnlich sehe?«, schoss sie ins Blaue.
»Nein«, entschied er viel zu schnell. »Ich bin hier, weil Steve wusste, ich kann Ihnen nichts abschlagen.« Er wagte es nicht, ihr ausgerechnet jetzt in die goldenen Augen zu blicken. Ganz sicher hätte sie seine Flunkerei sofort erkannt.
Tycoon behauptete, wer eine Passage an den vielzitierten Allerwertesten des Universums brauchte, also in ein Gebiet, das jeder vernünftig denkende Sterbliche mied, weil es dort nichts aber auch absolut gar nichts gab, das es aufzusuchen lohnte, musste angeblich ins CHAINS. Kneipe und Reisebüro in einem, lag in Neu-Avalon, am südwestlichen Rand des Raumhafens.
Seltsamer- oder logischerweise, geisterte es in Wallaces Kopf, scharten sich besonders rund um Asgard-Point die Kneipen, Pinten, Clubs, Bars, Sexshops und Bordelle für sämtliche Bedürfnisse humanoider und nichthumanoider Rassen. Wie ein Wall drumherum, an dem man nicht vorbeikam. Seitdem die Erde ebenfalls einen Stützpunkt eingerichtet hatte mit einem Kontingent von achtzehntausend Männern und Frauen, tobte hier die dreiundzwanzig Stunden, die der Planet für eine komplette Umdrehung brauchte, permanent das pralle Leben.
Obwohl Wallace wusste, auch sein Club hatte nicht unbedingt das beste Publikum, sehnte er sich sofort dorthin zurück, als er die Tür des CHAINS aufstieß: Hier hatte sich der Abschaum des Universums versammelt. Jedem dieser Burschen, die hier herumlungerten und auf bessere Zeiten warteten, traute er zu, für einen Rachenputzer jemandem die Kehle durchzuschneiden.