Schatten des Wolfes - Patricia Briggs - E-Book

Schatten des Wolfes E-Book

Patricia Briggs

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gefährliche Liebe

Bis Anna überfallen und gebissen wurde, wusste sie nicht, dass sie existieren: Werwölfe. Nun ist sie selbst einer, und nach drei harten Jahren unter diesen unberechenbaren Wesen weiß sie, wie man der Gefahr aus dem Weg geht. Doch dann begegnet ihr Charles Cornick, Sohn und Erbe des mächtigsten Werwolfs Amerikas. Charles will die schöne junge Frau als seine Gefährtin, denn er hat ihr Geheimnis entdeckt: Anna ist eine der wenigen Omega-Werwölfe, und nur mit ihrer Hilfe kann er einen dunklen Widersacher vernichten …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 612

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Die Autorin
Die MERCY-THOMPSON-Serie
Widmung
Wie alles begann: – ALPHA UND OMEGA
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
SCHATTEN DES WOLFES
PROLOG – Nordwest-Montana, Cabinet Wilderness: Oktober
Kapitel 1 – Chicago, November
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4 – Nordwest-Montana Cabinet Wilderness
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Danksagung
Copyright
Das Buch
Bis Anna überfallen und gebissen wurde, wusste sie nicht, dass sie existieren: Werwölfe. Nun ist sie selbst einer und nach drei harten Jahren unter einem unerbittlichen Rudelführer weiß sie, wie man der Gefahr aus dem Weg geht. Vor allem aber hat sie gelernt, niemals dominanten männlichen Werwölfen zu trauen. Doch dann begegnet ihr Charles Cornick, Sohn des mächtigsten Werwolfs Amerikas. Charles entdeckt, was Anna bislang selbst nicht wusste: Sie ist eine der seltenen Omega-Werwölfe, die zwar selbst keine Macht ausüben, sich aber den zwingenden Anordnungen eines Alpha-Wolfes entziehen können. Charles verliebt sich in die junge schöne Frau und will sie als seine Gefährtin. Doch auf das Paar wartet bereits ein gefährlicher Gegner, den sie nur gemeinsam besiegen können...
Schatten des Wolfes ist der atemberaubende Auftakt einer neuen Mystery-Saga aus der Welt von Mercy Thompson
Die Autorin
Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Phantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Neben erfolgreichen und preisgekrönten Fantasy-Romanen wie Drachenzauber und Rabenzauber widmet sie sich ihrer Mystery-Saga um Mercy Thompson. Nach mehreren Umzügen lebt die Bestsellerautorin heute gemeinsam mit ihrer Familie in Washington State.
Die MERCY-THOMPSON-Serie
Erster Roman: Ruf des Mondes
Zweiter Roman: Bann des Blutes
Dritter Roman: Spur der Nacht
Vierter Roman: Zeit der Jäger
Amanda, Fashionista, Musikerin und Haarkünstlerin, das hier ist für dich.
Wie alles begann:
ALPHA UND OMEGA
1
Der Wind war kalt, und die Kälte ließ ihre Zehen gefrieren. An einem dieser Tage würde sie wohl nachgeben und Stiefel kaufen müssen – zumindest, wenn sie nicht essen wollte!
Anna lachte, steckte die Nase in die Jacke und trabte die letzte halbe Meile heim. Ja, ein Werwolf zu sein verlieh ihr größere Kraft und Zähigkeit, selbst in Menschengestalt, aber die Zwölf-Stunden-Schicht, die sie gerade bei Scorci’s hinter sich gebracht hatte, genügte, dass auch ihr die Knochen wehtaten. Man sollte annehmen, die Leute hätten an Thanksgiving Besseres zu tun, als zum Italiener zu gehen.
Tim, der Restaurantbesitzer – ein Ire, kein Italiener, obwohl er die besten Gnocchi in Chicago machte – ließ sie Extraschichten übernehmen, aber insgesamt nicht länger als fünfzig Stunden in der Woche arbeiten. Der größte Bonus bestand in der Mahlzeit, die es in jeder Schicht gratis gab. Dennoch, sie fürchtete, einen zweiten Job annehmen zu müssen, um ihre Ausgaben bestreiten zu können: Das Leben als Werwolf, hatte sie festgestellt, war finanziell ebenso teuer, wie es persönlich Kraft kostete.
Sie schloss die Haustür auf. In ihrem Briefkasten gab es nichts, also holte sie Karas Post und die Zeitung heraus und stieg die Treppe zu Karas Wohnung im Zweiten Stock hoch. Als sie die Tür öffnete, sah Karas Siamkatze Mouser sie nur kurz an, fauchte angewidert und verschwand dann hinter der Couch.
Sie fütterte die Katze nun schon seit sechs Monaten, wann immer ihre Nachbarin nicht da war – und das passierte häufig, denn Kara arbeitete in einem Reisebüro, das Touren veranstaltete -, aber Mouser hasste sie immer noch. Von seinem Versteck aus schimpfte er, wie es nur Siamkatzen können.
Seufzend warf Anna die Zeitung und die Post auf den kleinen Tisch im Essbereich und öffnete eine Dose Katzenfutter, die sie neben die Wasserschale stellte. Dann setzte sie sich müde an den Tisch und schloss die Augen. Sie wäre nur zu gern einen Stock höher in ihre eigene Wohnung gegangen, musste aber warten, bis die Katze gefressen hatte. Wenn sie Mouser allein mit seinem Fressen ließ, würde sie am nächsten Morgen eine Dose mit unberührtem Katzenfutter finden. Mouser konnte sie zwar nicht ausstehen, fraß aber nicht, solange nicht jemand dabei war – selbst wenn es sich bei diesem jemand um einen Werwolf handelte, dem er nicht traute.
Normalerweise schaltete sie Karas Fernseher ein und sah sich an, was immer gerade lief, aber an diesem Abend war sie zu müde, um das auch nur zu versuchen, also faltete sie die Zeitung auf, um zu sehen, was geschehen war, seit sie vor ein paar Monaten das letzte Mal die Nachrichten gelesen hatte.
Sie ging ohne großes Interesse die Schlagzeilen auf der ersten Seite durch. Unter immer noch lauten Beschwerden erschien Mouser und stakste verärgert zu seinem Futter.
Sie blätterte um, damit Mouser wusste, dass sie wirklich las – und holte scharf Luft, als sie das Foto eines jungen Mannes entdeckte. Es war ein Porträt, offenbar ein Schulfoto, und neben ihm befand sich ein ähnliches Bild eines Mädchens im gleichen Alter. Die Bildüberschrift lautete: »Blut am Tatort stammt von vermisstem Teen aus Naperville.«
Ein wenig nervös las sie den ausführlichen Artikel über das Verbrechen, der für Leute wie sie gedacht war, die die ursprünglichen Berichte nicht gelesen hatten.
Vor zwei Monaten war Alan MacKenzie Frazier von einer High-School-Party verschwunden, und in der gleichen Nacht hatte man die Leiche seiner Freundin auf dem Schulgelände gefunden. Die Todesursache war schwer festzustellen, da die Leiche des Mädchens von Tieren verstümmelt worden war – es hatte ein paar streunende Hunde gegeben, die schon die letzten Monate über die Gegend unsicher gemacht hatten. Die Autoritäten waren unsicher gewesen, ob der vermisste junge Mann verdächtig war oder selbst ein weiteres Opfer. Nun hatten sie sein Blut am Tatort gefunden und nahmen eher das Letztere an.
Anna berührte Alan Fraziers lächelndes Gesicht mit zitternden Fingern. Sie wusste es. Sie wusste es.
Sie sprang vom Tisch auf, ignorierte Mousers verärgertes Miauen und ließ sich an der Spüle kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, denn sie wollte sich nicht auch noch übergeben. Der arme Junge!
Mouser brauchte noch eine geschlagene Stunde, um fertig zu fressen. Inzwischen kannte Anna den Artikel auswendig – und war zu einem Entschluss gekommen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie schon gewusst, was sie tun musste, als sie die Überschrift las, aber diese Stunde gebraucht, um den Mut zum Handeln aufzubringen. Wenn sie in ihren drei Jahren als Werwolf eines gelernt hatte, dann, dass man auf keinen Fall die Aufmerksamkeit eines dominanten Wolfes wecken sollte. Und den Marrok anzurufen, der alle Wölfe in Nordamerika beherrschte, würde zweifellos Aufmerksamkeit erregen.
Da sie kein Telefon in ihrer Wohnung hatte, nahm sie Karas. Sie wartete, dass ihre Hände und der Atem sich beruhigten, aber das geschah nicht, also wählte sie die Nummer auf dem zerknitterten Fetzen Papier dennoch.
Es klingelte dreimal – und ihr wurde klar, dass elf Uhr nachts in Chicago nicht elf Uhr nachts in Montana war, denn dort rief sie laut Vorwahlnummer an. War es ein zwei- oder dreistündiger Zeitunterschied? Früher oder später? Hastig legte sie wieder auf.
Was wollte sie ihm denn auch sagen? Dass sie den Jungen Wochen nach seinem Verschwinden gesehen hatte, offensichtlich das Opfer eines Werwolfangriffs, und zwar in einem Käfig im Haus ihres Alpha? Dass sie annahm, der Alpha habe den Angriff befohlen? Leo musste Bran nur erwidern, dass er dem Jungen später begegnet war und den Angriff nicht genehmigt hatte. Vielleicht stimmte das ja auch. Vielleicht ging sie zu sehr von ihren eigenen Erfahrungen aus.
Sie wusste nicht einmal, ob der Marrok etwas gegen den Angriff einzuwenden haben würde. Vielleicht war es Werwölfen ja gestattet, jeden anzufallen, den sie angreifen wollten. Ihr selbst war schließlich genau das zugestoßen.
Sie wandte sich wieder vom Telefon ab und sah das Gesicht des jungen Mannes, der sie aus der aufgeschlagenen Zeitung heraus anblickte. Nachdem sie ihn noch einen Augenblick länger angestarrt hatte, wählte sie die Nummer noch einmal – der Marrok würde sich doch sicher wenigstens daran reiben, dass dieser Fall so viel Öffentlichkeit erregt hatte. Diesmal wurde ihr Anruf beim ersten Klingeln beantwortet.
»Hier spricht Bran.«
Er klang nicht bedrohlich.
»Ich heiße Anna«, sagte sie und wünschte sich, ihre Stimme würde nicht beben. Es hatte Zeiten gegeben, dachte sie ein wenig verbittert, in denen sie keine Angst vor ihrem eigenen Schatten gehabt hatte. Wer hätte gedacht, dass sie ein Feigling werden würde, sobald man sie zum Werwolf gemacht hatte? Aber nun wusste sie aus erster Hand, dass es auf der Welt wirklich Ungeheuer gab.
So wütend sie auf sich selbst auch sein mochte, sie konnte kein anderes Wort herausbringen. Wenn Leo erführe, dass sie den Marrok angerufen hatte, konnte sie sich auch gleich mit dieser Silberkugel erschießen, die sie vor ein paar Monaten gekauft hatte, und ihm den Ärger ersparen.
»Rufst du aus Chicago an, Anna?« Das erschreckte sie einen Moment, aber dann erkannte sie, dass er ein Telefon mit Display haben musste. Er klang nicht verärgert, als hätte sie ihn gestört – und das wiederum passte so gar nicht zu einem Dominanten. Vielleicht war das nur sein Sekretär? Die Privatnummer des Marrok war wohl kaum etwas, was einfach so herumgereicht wurde.
Die Hoffnung, nicht wirklich mit dem Marrok zu sprechen, beruhigte sie ein bisschen. Selbst Leo hatte Angst vor dem Marrok. Sie ignorierte die Frage – er kannte die Antwort ja bereits. »Ich rufe an, um mit dem Marrok zu sprechen, aber vielleicht könntest du mir auch helfen.«
Es gab eine kleine Pause, dann sagte Bran ein wenig bedauernd: »Ich bin der Marrok, Kind.«
Panik erfasste sie, aber noch bevor sie sich entschuldigen und auflegen konnte, fügte er beruhigend hinzu: »Es ist in Ordnung, Anna. Du hast nichts falsch gemacht. Sag mir, warum du anrufst.«
Sie holte tief Luft und wusste, dass dies die letzte Gelegenheit war, zu ignorieren, was sie gesehen hatte, und damit sich selbst zu schützen.
Stattdessen erklärte sie, dass sie den Artikel in der Zeitung gesehen hatte und den vermissten Jungen vom Haus ihres Alpha her kannte, wo er in einem der Käfige gesessen hatte, die Leo für neue Wölfe besaß.
»Ich verstehe«, murmelte der Wolf am anderen Ende der Leitung.
»Ich konnte nicht beweisen, dass etwas nicht stimmte, bevor ich die Zeitung sah«, berichtete sie.
»Weiß Leo, dass du den Jungen gesehen hast?«
»Ja.« Es gab zwei Alphas in der Gegend von Chicago. Einen Moment fragte sie sich, wieso er gewusst hatte, von welchem der beiden sie sprach.
»Wie hat er reagiert?«
Anna schluckte angestrengt und versuchte zu vergessen, was nach ihrer Entdeckung passiert war. Nachdem sich Leos Gefährtin eingemischt hatte, hatte der Alpha eigentlich damit aufgehört, sie je nach Laune unter den anderen Werwölfen herumzureichen, aber an diesem Abend war Leo der Ansicht gewesen, dass Justin eine Belohnung verdient hatte. Aber das würde sie dem Marrok doch sicher nicht sagen müssen?
Er ersparte ihr die Demütigung, indem er seine Frage deutlicher machte. »War er zornig, weil du den jungen Mann gesehen hattest?«
»Nein. Er war dem Mann, der ihn zu ihm gebracht hatte, sehr, äh, dankbar« Justin hatte immer noch Blut im Gesicht gehabt und nach der Aufregung der Jagd gerochen.
Leo war auch dankbar gewesen, als Justin Anna zu ihm gebracht hatte. Es war Justin gewesen, der sich geärgert hatte – er hatte nicht erkannt, dass sie ein unterwürfiger Wolf war. Diese Unterwürfigkeit bedeutete, dass Annas Platz sich ganz unten im Rudel befand. Justin war schnell zu dem Schluss gekommen, dass es falsch gewesen war, sie zu verwandeln. Sie fand das auch.
»Ich verstehe«, sagte der Marrok.
Aus irgendeinem Grund hatte sie das seltsame Gefühl, das er das ehrlich meinte.
»Wo bist du jetzt, Anna?«
»In der Wohnung einer Freundin.«
»Noch ein Werwolf?«
»Nein.« Er befürchtete vielleicht, dass sie jemandem gesagt hatte, was sie war – etwas, das strengstens verboten war – und erklärte schnell: »Ich habe kein Telefon in meiner Wohnung. Meine Nachbarin ist weg, und ich kümmere mich um ihre Katze. Ich habe ihr Telefon benutzt.«
»Aha«, sagte er. »Ich möchte, dass du dich im Augenblick von Leo und deinem Rudel fernhältst – es könnte gefährlich für dich werden, falls jemand herausfindet, dass du mich angerufen hast.«
Das war noch untertrieben. »Gut.«
»Zufällig«, sagte der Marrok, »habe ich in der letzten Zeit von Problemen in Chicago erfahren.«
Die Erkenntnis, dass sie ihr Leben unnötig aufs Spiel gesetzt hatte, bewirkte, dass sie seine nächsten paar Worte nicht einmal hörte.
»- mich normalerweise an das nächste Rudel gewandt. Aber wenn Leo Leute umbringt, glaube ich nicht, dass der andere Alpha in Chicago nichts davon weiß. Da Jaimie sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat, muss ich annehmen, dass beide Alphas bis zu einem gewissen Grad in die Sache verstrickt sind.«
»Es ist nicht Leo, der die Werwölfe macht«, sagte sie. »Es ist Justin, sein Stellvertreter.«
»Ein Alpha ist für die Taten seines Rudels verantwortlich«, erwiderte der Marrok kühl. »Ich habe einen, äh, Ermittler ausgeschickt. Er wird heute Nacht in Chicago landen. Ich möchte, dass du ihn kennenlernst.«
Und aus diesem Grund stand Anna schließlich nach Mitternacht nackt zwischen ein paar geparkten Autos am O’Hare International Airport. Sie hatte kein Auto und nicht das Geld für ein Taxi, aber der Flughafen lag nur etwa fünf Meilen Luftlinie von ihrer Wohnung entfernt. Es war nach Mitternacht, und in Wolfsgestalt war sie tiefschwarz und ziemlich klein für einen Werwolf. Die Chancen, dass jemand sie sehen und für etwas anderes als einen streunenden Hund halten würde, waren eher gering.
Es war kälter geworden, und sie schauderte, als sie das T-Shirt anzog, das sie mitgebracht hatte. In ihrem kleinen Rucksack war nicht genug Platz für eine Jacke gewesen, nachdem sie Schuhe, Jeans und ein Oberteil eingepackt hatte – Kleidungsstücke, die sie alle notwendiger brauchte.
Sie war noch nie zuvor im O’Hare gewesen und brauchte eine Weile, um das richtige Terminal zu finden. Als sie es erreichte, wartete er bereits auf sie.
Erst nachdem sie das Telefon aufgelegt hatte, war ihr klar geworden, dass der Marrok ihr keine Beschreibung seines Ermittlers gegeben hatte. Sie hatte sich deshalb auf dem ganzen Weg zum Flughafen Sorgen gemacht, aber das erwies sich als unnötig. Er war nicht zu verwechseln. Selbst in dem geschäftigen Terminal blieben Leute stehen und starrten ihn an, bevor sie verstohlen wieder wegschauten.
Eingeborene Amerikaner waren in Chicago zwar relativ selten, aber nicht so sensationell, dass sie all die Aufmerksamkeit gerechtfertigt hätten, die er erhielt. Wahrscheinlich hätte keiner der Leute, die an ihm vorbeikamen, erklären können, wieso sie einfach hinschauen mussten – aber Anna wusste es. Das war bei allen sehr dominanten Wölfen so. Auch Leo hatte das an sich – aber nicht in diesem Ausmaß.
Dieser Mann war hoch gewachsen, sogar größer als Leo, und er trug sein tiefschwarzes Haar in einem dicken Zopf, der bis unter seinen perlenbestickten Ledergürtel hing. Seine Jeans waren dunkel und sahen neu aus, ganz anders als seine abgetragenen Cowboystiefel. Als er den Kopf drehte, fiel das Licht auf den goldenen Knopf, den er in einem Ohr trug. Irgendwie sah er nicht wie die Art Mann aus, der sich die Ohren durchstechen ließ.
Seine Züge unter der jugendlich straffen, teakbraunen Haut waren breit und flach und hatten einen in ihrer Leere bedrückenden Ausdruck. Er ließ die schwarzen Augen über die wimmelnde Menge schweifen, als suche er nach etwas. Sie blieben einen Moment an ihr hängen, und das ließ sie den Atem anhalten. Dann wanderte sein Blick weiter.
Charles konnte das Fliegen nicht ausstehen. Und besonders hasste er Flüge, bei denen jemand anderes in der Pilotenkanzel saß. Er war selbst bis nach Salt Lake geflogen, aber mit seinem kleinen Jet in Chicago zu landen, hätte seine Beute aufscheuchen können – und er zog es vor, Leo zu überraschen. Außerdem war er nach der Schließung von Meigs Field nicht mehr selbst nach Chicago geflogen. Es gab um O’Hare und Midway einfach zu viel Luftverkehr.
Großstädte mochte er auch nicht. Es gab so viele Gerüche, dass sie seine Nase verstopften, und so viel Krach, dass er Fetzen von hundert unterschiedlichen Gesprächen aufschnappte, ohne sich auch nur darum zu bemühen – aber es war durchaus möglich, dass ihm entging, dass sich jemand von hinten an ihn anschlich. Auf der Gangway, als er das Flugzeug verlassen hatte, war jemand gegen ihn gestoßen, und er hatte sich wirklich anstrengen müssen, nicht erheblich fester zurückzuschubsen. Die späte Ankunftszeit half, wenigstens das schlimmste Gedränge zu vermeiden, aber es gab hier seiner Ansicht nach immer noch zu viele Menschen.
Er konnte auch Handys nicht leiden. Als er seines nach der Landung wieder eingeschaltet hatte, wartete bereits eine Nachricht von seinem Vater auf ihn. Jetzt würde er also nicht direkt zum Autoverleih und dann in sein Hotel gehen können, sondern musste eine bestimmte Frau finden und bei ihr bleiben, damit Leo oder seine anderen Wölfe sie nicht umbrachten. Und er kannte nur ihren Vornamen – Bran hatte es nicht für nötig befunden, ihm eine Beschreibung zu geben.
Er blieb vor den Sicherheitstoren stehen und sah sich um, in der Hoffnung, dass seine Instinkte ihm helfen würden, die Frau zu finden. Normalerweise konnte er andere Werwölfe riechen, aber die Lüftung im Flughafen verhinderte, dass er eine Witterung genau wahrnahm. Sein Blick blieb zuerst an einer jungen Frau mit whiskeyfarbenem Haar und der typisch blassen Haut einer irischer Herkunft hängen; sie hatte den besiegten Blick von jemandem, der regelmäßig geschlagen wurde. Sie sah müde aus, fror offensichtlich und war viel zu dünn. Es machte ihn wütend, ihre Verfassung zu sehen, und er war bereits zu ärgerlich, um seiner Intuition wirklich trauen zu können, also zwang er seinen Blick wieder von ihr weg.
Dann war da eine Frau in einem schlichten Kostüm, das das warme Schokoladenbraun ihrer Haut aufgriff. Sie sah nicht ganz wie eine Anna aus, aber wie jemand, von dem man erwarten könnte, dass sie sich über ihren Alpha hinwegsetzen und den Marrok anrufen würde. Offensichtlich hielt sie nach jemandem Ausschau. Er wäre beinahe auf sie zugegangen, aber dann veränderte sich ihre Miene, als sie die Person entdeckte, auf die sie wartete – und das war nicht er.
Er begann, sich die Menge noch einmal anzusehen, als eine leise, zögernde Stimme links von ihm fragte: »Sir, kommen Sie gerade aus Montana?«
Es war die junge Frau mit dem whiskeyfarbenen Haar. Sie war wohl näher gekommen, während er sich weiter umgesehen hatte – etwas, wozu sie nicht unbemerkt in der Lage gewesen wäre, wenn sie nicht inmitten eines verdammten Flughafens stünden.
Wenigstens musste er nun nicht mehr nach der Kontaktperson seines Vaters suchen. Als sie so nahe war, konnte nicht einmal die künstliche Luftströmung verbergen, dass sie ein Werwolf war. Aber es war nicht seine Nase, die ihm sagte, dass er etwas viel Selteneres als einen gewöhnlichen Werwolf vor sich hatte – sie war ein echter Omega-Wolf.
Die meisten Werwölfe waren mehr oder weniger dominant. Personen von sanfterem Naturell verfügten für gewöhnlich nicht über die Sturheit, die brutale Veränderung vom Menschen in einen Werwolf zu überleben. Was bedeutete, dass unterwürfige Werwölfe wirklich selten waren.
Aber er hatte auch bemerkt, dass das plötzliche Nachlassen seiner Wut und das unvernünftige Bedürfnis, sie vor der Menge beschützen zu wollen, noch etwas deutlich machten. In diesem Augenblick wusste er, was immer sonst er in Chicago tun würde, er würde die Personen umbringen, die für ihr niedergeschlagenes Aussehen verantwortlich waren.
Von Nahem gesehen war er sogar noch beeindruckender; sie konnte spüren, wie seine Energie sie so leicht berührte, wie eine Schlange ihre Beute kostete. Anna richtete den Blick voll zu Boden und wartete auf seine Antwort.
»Ich bin Charles Cornick«, sagte er. »Der Sohn des Marrok. Du musst Anna sein.«
Sie nickte.
»Bist du hierher gefahren oder hast du ein Taxi genommen?«
»Ich habe kein Auto«, sagte sie.
Er knurrte etwas, das sie nicht ganz verstehen konnte. »Kannst du fahren?«
Sie nickte.
»Gut.«
Sie fuhr gut, wenn auch ein wenig übervorsichtig, was ihn nicht im Geringsten störte, aber nicht davon abhielt, sich mit einer Hand am Armaturenbrett des Leihwagens abzustützen. Sie hatte nichts gesagt, als er sie anwies, sie zu ihrer Wohnung zu fahren, aber ihre Verlegenheit war ihm nicht entgangen.
Er hätte ihr sagen können, dass sein Vater ihm aufgetragen hatte, für ihr Überleben zu sorgen, falls das möglich war – und um das zu tun, musste er in ihrer Nähe bleiben. Er wollte sie nicht noch mehr verängstigen. Er hätte ihr sagen können, dass er nicht vorhatte, mit ihr zu schlafen, aber er versuchte für üblich, nicht zu lügen. Nicht einmal gegenüber sich selbst. Also schwieg er.
Als sie in dem geliehenen SUV den Expressway entlangfuhren, war der mörderische Zorn seines Wolfsbruders zu einer entspannten Zufriedenheit verblasst, wie sie Charles niemals zuvor verspürt hatte. Die beiden anderen Omega-Wölfe, denen er während seines langen Lebens begegnet war, hatten etwas Ähnliches bewirkt, aber nicht in diesem Ausmaß.
So muss es sich anfühlen, wenn man einfach nur ein Mensch ist.
Der Zorn und die Wachsamkeit des Jägers, die sein Wolf immer an den Tag legte, waren nun nur noch eine schwache Erinnerung, und es blieb nur die Entschlossenheit, diese da zu seiner Gefährtin zu machen – Charles hatte nie auch nur etwas Vergleichbares empfunden.
Ja, sie war durchaus hübsch, obwohl er sie gerne besser ernährt und den steifen Argwohn in ihren Schultern beseitigt hätte. Der Wolf wollte mit ihr schlafen und sie für sich nehmen. Charles selbst war etwas vorsichtiger als sein Wolf und würde lieber warten, bis er ein wenig mehr über sie in Erfahrung gebracht hatte, bevor er beschloss, sie zu umwerben.
»Meine Wohnung ist nichts Besonderes«, sagte sie in einem offensichtlichen Versuch, das Schweigen zu brechen. Ihre Stimme war ein wenig rau, was ihm sagte, dass ihre Kehle trocken sein musste.
Sie hatte Angst vor ihm. Als Scharfrichter seines Vaters war er daran gewöhnt, dass man ihn fürchtete, obwohl er das nie genossen hatte.
Er lehnte sich an die Tür, um ihr ein wenig mehr Raum zu geben, und betrachtete die Lichter der Stadt, damit sie sich sicher fühlen würde, ihn hin und wieder anzusehen, wenn sie das wollte. Er war ruhig geblieben, damit sie sich an ihn gewöhnen würde, aber jetzt dachte er, dass das vielleicht ein Fehler gewesen war.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte er. »Ich bin nicht anspruchsvoll. Wie deine Wohnung auch sein mag, sie ist sicher zivilisierter als die indianische Hütte, in der ich aufgewachsen bin.«
»Eine indianische Hütte?«
»Ich bin ein bisschen älter, als ich aussehe«, sagte er und lächelte leicht. »Vor zweihundert Jahren war eine indianische Hütte in Montana eine ziemlich gute Heimstatt.« Wie die meisten alten Wölfe sprach er nicht gerne über die Vergangenheit, bemerkte aber, dass er durchaus Schlimmeres als das tun würde, um sie zu beruhigen.
»Ich hatte vergessen, dass du älter sein könntest, als du aussiehst«, sagte sie entschuldigend. Sie hatte das Lächeln gesehen, dachte er, denn das Niveau ihrer Furcht sank, und das fand er sehr angenehm. »Es gibt keine älteren Wölfe im Rudel hier.«
»Ein paar«, widersprach er und stellte fest, dass sie von »dem Rudel« und nicht von »meinem Rudel« sprach. Leo war Siebzig oder Achtzig, und seine Frau war erheblich älter als das – alt genug, dass sie eigentlich schätzen mussten, was für ein Geschenk eine Omega war, statt zu erlauben, dass sie zu diesem geschlagenen Kind wurde, das zusammenzuckte, wann immer man sie zu lange ansah. »Manchmal ist es schwierig zu sagen, wie alt ein Wolf wirklich ist. Die meisten Wölfe reden nicht darüber. Es ist schwer genug, sich daran zu gewöhnen, ohne ununterbrochen über die alten Tage zu schwatzen.«
Sie antwortete nicht, und er suchte nach etwas anderem, worüber sie reden konnten. Konversation war nicht gerade seine Stärke; er hatte das immer seinem Vater und seinem Bruder überlassen, die beide flinke Zungen hatten.
»Zu welchem Stamm gehörst du?«, fragte sie, noch bevor er ein Thema gefunden hatte. »Ich weiß nicht viel über die Stämme in Montana.«
»Meine Mutter war eine Salish«, sagte er. »Vom Flathead-Stamm.« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und registrierte seine vollkommen normale Stirn. Ah, dachte er erleichtert, das war eine gute Geschichte, die er ihr erzählen konnte. »Weißt du, woher die Flatheads ihren Namen haben?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Miene war so ernst, dass er versucht war, etwas zu erfinden, um sie zu necken. Aber dafür kannte sie ihn nicht lange genug, also sagte er die Wahrheit.
»Viele Indianer des Columbia-Beckens, überwiegend andere Salish, sorgten dafür, dass die Stirnen ihre Kinder wirklich flach waren – die Flatheads waren einer der wenigen Stämme, die das nicht taten.«
»Und weshalb wurden gerade sie Flatheads genannt?«, fragte sie.
»Weil die anderen Stämme nicht vorhatten, die Stirnform der Kinder zu ändern, sie wollten eine Erhöhung des Kopfes. Da die Flatheads das nicht taten, nannten die andern Stämme uns ›flache Köpfe‹. Und das war nicht schmeichelhaft gemeint.«
Der Geruch ihrer Angst wurde noch geringer, als sie der Geschichte aufmerksam lauschte.
»Wir waren die hässlichen, barbarischen Vettern«, sagte er lachend. »Ironischerweise verstanden die weißen Trapper den Namen falsch. Wir waren lange Zeit berüchtigt für etwas, das wir nicht einmal praktizierten. Aber die Weißen hielten uns für Barbaren, ebenso, wie unsere Vettern es taten.«
»Du sagtest, deine Mutter sei Salish«, bemerkte sie. »Ist der Marrok ein Eingeborener?«
Er schüttelte den Kopf. »Vater ist Waliser. Er kam her und jagte nach Fellen, als die Felltrapper ihr Handwerk begannen, und blieb, weil er sich in den Duft der Kiefern und des Schnees verliebt hatte.« Genau so drückte es sein Vater immer aus. Charles lächelte wieder, diesmal ein richtiges Lächeln, und er spürte, wie sie sich noch mehr entspannte – und sein Gesicht tat dabei nicht einmal weh. Er würde seinen Bruder Samuel anrufen und ihm sagen müssen, dass er endlich gelernt hatte, dass sein Gesicht keine Risse bekam, wenn er lächelte. Und es hatte nicht mehr als einen Omega-Werwolf gebraucht, um ihm das zu beweisen.
Sie bog in eine Gasse ein und fuhr dann auf einen kleinen Parkplatz hinter einem der allgegenwärtigen vierstöckigen Wohnhäuser, die überall in diesem Teil der Stadt standen.
»In welchem Stadtteil sind wir denn?«, fragte er.
»Oak Park«, antwortete sie. »Heim von Frank Lloyd Wright, Edgar Rice Burrougs und Scorci’s.«
»Scorci’s?«
Sie nickte und sprang aus dem Auto. »Das beste italienische Restaurant in Chicago – und mein derzeitiger Arbeitsplatz.«
Ah, deshalb riecht sie nach Knoblauch.
»Deine Meinung ist also vollkommen objektiv?« Er glitt aus dem Auto und fühlte sich erleichtert. Sein Bruder machte immer Witze darüber, weil er keine Autos mochte, da nicht mal ein schlimmer Unfall ihn umbringen würde. Aber Charles machte sich auch keine Gedanken ums Sterben – Autos waren ihm einfach zu schnell. Er konnte kein Gefühl für das Land bekommen, durch das sie fuhren. Und wenn ihm unterwegs ein wenig nach dösen zumute war, konnten sie den Weg nicht allein finden. Charles war lieber zu Pferd unterwegs.
Nachdem er seinen Koffer aus dem Kofferraum geholt hatte, schloss Anna das Auto mit der Fernbedienung ab. Das Auto hupte einmal, erschreckte ihn damit, und er versetzte ihm einen gereizten Blick. Als er sich wieder umdrehte, starrte Anna angestrengt zu Boden.
Sein Zorn, der in ihrer Gesellschaft verschwunden war, kam zurück, als er die Stärke ihrer Angst spürte. Jemand hatte sie wirklich fertig gemacht.
»Tut mir leid«, flüsterte sie. Wenn sie in Wolfsgestalt gewesen wäre, hätte sie sich geduckt und den Schwanz unter sich gezogen.
»Was?«, fragte er und konnte dabei nicht verhindern, dass der Zorn seine Stimme eine Oktave tiefer klingen ließ. »Dass Autos mich nervös machen? Nicht deine Schuld.«
Er musste diesmal vorsichtig sein, erkannte er, als er versuchte, den Wolf wieder unter Kontrolle zu bekommen. Normalerweise ging er eiskalt vor, wenn sein Vater ihn ausschickte, um Ärger zu beenden. Aber mit einem angeschlagenen Omega-Wolf in der Nähe, einer Wölfin, auf die er auf so vielen Ebenen reagierte, würde er sich wirklich zusammenreißen müssen.
»Anna«, sagte er, als er sich wieder vollkommen unter Kontrolle hatte. »Ja, ich bin der Killer meines Vaters. Das ist meine Aufgabe als sein Zweiter. Aber das bedeutet nicht, dass ich mich darüber freue. Ich werde dir nicht wehtun, darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Ja«, sagte sie, aber es war eindeutig, dass sie ihm nicht glaubte.
Er erinnerte sich, dass in diesen modernen Zeiten das Wort eines Mannes nicht mehr viel zählte. Es half jedoch ein wenig, bei ihr ebenso viel Zorn wie Angst zu riechen – sie war nicht vollkommen gebrochen worden. Vielleicht hatte Leo vergessen, dass »unterwürfig« nicht »schwach« bedeutete. Besonders bei Werwölfen. Eine schwache Person hätte die Veränderung nicht überlebt.
Er kam zu dem Schluss, dass weitere Versuche, sie zu beruhigen, nur das Gegenteil bewirken würden. Sie würde lernen müssen, zu akzeptieren, dass er ein Mann war, der sein Wort hielt. In der Zwischenzeit würde er ihr etwas zum Nachdenken geben.
»Außerdem«, sagte er freundlich, »ist mein Wolf mehr daran interessiert, dich zu umwerben, als seine Dominanz klarzustellen.«
Er ging an ihr vorbei, bevor er darüber lächeln musste, wie ihre Angst und ihr Zorn auf der Stelle verschwanden und von Schock ersetzt wurden... und etwas, das vielleicht der Beginn von Interesse sein konnte.
Sie hielt den Schlüssel zur Haustür des Gebäudes in der Hand und führte ihn in den Eingang und das Treppenhaus hinauf, ohne ihn noch einmal anzusehen. Im zweiten Stock war ihr Geruch nur noch matt und strahlte kaum mehr Emotionen aus, nur noch Müdigkeit.
Sie musste sich sichtlich weiterschleppen, als sie die Treppe zum obersten Stockwerk hinaufging. Ihre Hand zitterte, als sie versuchte, den Schlüssel in das Schloss einer der beiden Türen ganz oben zu stecken. Sie brauchte mehr zu essen. Werwölfe sollten nicht zu dünn werden – das konnte gefährlich für ihre Umgebung sein.
Er war anders als jeder Dominante, dem sie je begegnet war – ein Scharfrichter, sagte er, ausgeschickt von seinem Vater, um Probleme bei den Werwölfen zu schlichten. Er musste also noch gefährlicher sein als Leo, um so etwas zu überleben. Sie konnte spüren, wie dominant er war, und sie wusste, wie Dominante sich verhielten. Also musste sie wachsam bleiben – und bereit, mit Schmerz und Panik fertig zu werden, damit sie nicht weglaufen und alles noch schlimmer machen würde, wenn er aggressiv würde.
Aber weshalb gab er ihr dann, je länger er in ihrer Nähe war, ein immer stärkeres Gefühl der Sicherheit?
Er war ihr die Treppen hinauf ohne ein Wort gefolgt, und sie würde sich nicht noch einmal für ihre Wohnung entschuldigen. Schließlich war er es, der sich eingeladen hatte. Es war sein eigener Fehler, dass er auf einem Einzelbett-Futon schlafen würde statt in einem angenehmen Hotelbett. Sie wusste auch nicht, was sie kochen sollte – hoffentlich hatte er unterwegs schon gesessen. Morgen würde sie schnell etwas kaufen, sie hatte schließlich noch den Scheck von Scorci’s an ihrem Kühlschrank hängen, der darauf wartete, auf die Bank gebracht zu werden.
Im obersten Stockwerk hatte es einmal zwei Wohnungen mit jeweils zwei Schlafzimmern gegeben, aber in den Siebzigern hatte jemand den dritten Stock zu einer Wohnung mit drei Schlafzimmern und Annas Ein-Zimmer-Wohnung gemacht.
Ihr Zuhause sah schäbig und leer aus und hatte keine weiteren Möbel als den Futon, einen Kartentisch und zwei Klappstühle. Nur der polierte Eichenboden verlieh ihm einen gewissen Charme.
Sie warf Charles einen Blick zu, als er hinter ihr durch den Eingangsbereich kam, aber sein Gesicht drückte nur wenig aus, wenn er das nicht wollte. Sie konnte nicht erkennen, was er dachte, aber sie bildete sich ein, dass sein Blick ein wenig länger an dem Futon hängen blieb, der für sie genügte, aber für ihn viel zu klein sein würde.
»Dort ist das Bad«, sagte sie unnötigerweise, denn die Tür stand offen, und die Badewanne war deutlich zu sehen.
Er nickte und sah sie mit einem undurchschaubaren Blick an. »Musst du morgen arbeiten?«, fragte er.
»Nein. Erst am Samstag wieder.«
»Gut. Dann können wir uns morgen früh unterhalten.« Er nahm seinen kleinen Koffer mit ins Bad.
Sie versuchte, nicht den ungewohnten Geräuschen eines anderen Menschen zu lauschen, der sich für die Nacht fertig machte, während sie in ihrem Schrank nach der alten Decke suchte, die sie dort aufbewahrte. Wieder einmal wünschte sie sich einen netten billigen Teppichboden statt des glänzenden Holzfußbodens, der zwar schön aussah, aber kalt an den nackten Füßen war und sich sicher hart an ihrem Rücken anfühlen würde, wenn sie auf dem Boden schlief.
Die Tür öffnete sich, als sie auf dem Boden kniete und versuchte, die Decke zu einer behelfsmäßigen Matratze zu falten, so weit wie möglich von der Stelle entfernt, an der er schlafen würde. »Du kannst das Bett nehmen«, fing sie an, als sie sich umdrehte und ihre Augen plötzlich auf gleicher Höhe waren wie ein großer rotbrauner Werwolf.
Er wedelte mit dem Schwanz und lächelte über ihre offensichtliche Überraschung, bevor er sich an ihr vorbei schob und auf der Decke zusammenrollte. Er verlagerte ein wenig das Gewicht, dann legte er den Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen, und es sah aus, als wäre er wirklich sofort eingeschlafen. Sie wusste es besser, aber er regte sich nicht, als sie selbst ins Bad ging und in ihrem wärmsten Trainigsanzug wieder herauskam.
Sie hätte mit einem Mann in ihrer Wohnung nicht schlafen können, aber irgendwie war der Wolf weniger bedrohlich. Dieser Wolf war weniger bedrohlich. Sie legte den Riegel vor, machte das Licht aus, und als sie ins Bett kroch, fühlte sie sich sicherer als je zuvor seit der Nacht, als sie herausgefunden hatte, dass es tatsächlich Monster auf der Welt gab.
Die Schritte auf der Treppe am nächsten Morgen störten sie zunächst nicht. Die Familie, die gegenüber wohnte, war zu allen Tages- und Nachtzeiten unterwegs. Sie zog nur das Kissen über den Kopf, um den Lärm auszublenden, aber dann erkannte sie, dass der forsche Schritt Kara gehörte, und dass sie einen Werwolf in ihrer Wohnung hatte. Sie setzte sich pfeilschnell auf und starrte Charles an.
Der Wolf war im Tageslicht noch schöner als bei Nacht, mit wirklich rotem Fell und schwarzen Markierungen an den Beinen und Pfoten. Er hob den Kopf, als sie sich hinsetzte, und stand gleichzeitig mit ihr auf.
Sie legte einen Finger an die Lippen, als Kara fest an ihre Tür klopfte.
»Anna, bist du da, Mädchen? Weißt du, dass wieder einer auf deinem Parkplatz steht? Soll ich den Abschleppdienst anrufen oder hast du zur Abwechslung mal einen Mann da drinnen?«
Kara würde nicht einfach so verschwinden.
»Ich bin hier, nur eine Minute.« Sie sah sich hektisch um, aber man konnte einen Werwolf nirgendwo verbergen. Er würde nicht in den Schrank passen, und wenn sie die Badezimmertür schloss, würde Kara nur wissen wollen, warum – und sie würde auch nachhaken, wieso Anna plötzlich einen Hund von der Größe eines irischen Wolfshundes in der Wohnung hatte, der nicht annähernd so freundlich aussah, wie man es von diesen Tieren erwartete.
Sie bedachte Charles mit einem weiteren hektischen Blick, dann eilte sie zur Tür, und er trabte ins Bad. Sie hörte die Badezimmertür hinter ihm zufallen, als sie die Wohnungstür öffnete.
»Ich bin wieder da«, sagte Kara fröhlich, als sie hereinkam und zwei Tüten auf den Tisch stellte. Ihre Haut war schwarz wie die Nacht und sah im Augenblick satter aus als sonst, da sie eine Woche Tropensonne hinter sich hatte. »Ich bin auf dem Heimweg am Laden vorbeigegangen und habe uns Frühstück geholt. Du isst nicht mal genug, um eine Maus am Leben zu halten.«
Dann warf sie einen Blick zu der geschlossenen Badezimmertür. »Du hast tatsächlich jemanden hier.« Sie lächelte, aber in ihren Augen lag Misstrauen. Kara machte kein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie Justin nicht mochte, den Anna durchaus wahrheitsgemäß als Exfreund bezeichnete.
»Mmm.« Anna war sich der Tatsache schrecklich bewusst, dass Kara nicht gehen würde, bis sie gesehen hatte, wer sich in ihrem Bad befand. Aus irgendeinem Grund hatte Kara die junge Frau unter ihre Fittiche genommen, gleich als Anna kurz nach ihrer Veränderung hier eingezogen war.
Im diesem Augenblick öffnete Charles die Tür zum Bad. »Hast du ein Haargummi, Anna?«
Er war vollkommen angezogen und in menschlicher Gestalt, aber Anna wusste, dass das unmöglich war. Es hatte weniger als fünf Minuten gedauert, seit er ins Bad gegangen war, und ein Werwolf brauchte normalerweise erheblich länger, um sich wieder in einen Menschen zurück zu verwandeln.
Sie warf einen wilden Blick zu Kara – aber ihre Nachbarin war zu sehr damit beschäftigt, den Mann in der Badezimmertür zu betrachten, um Annas Schock zur Kenntnis zu nehmen.
Karas hingerissener Blick ließ Anna ebenfalls noch einmal hinschauen. Charles sah mit seinem blauschwarzen Haar, das offen und glatt bis zur Taille hing, irgendwie seltsam nackt aus, obwohl er vollkommen anständig in ein Flanellhemd und Jeans gekleidet war. Sie musste zugeben, dass er tatsächlich einen Anblick bot, der es wert war, angestarrt zu werden. Er lächelte Kara kurz an, bevor er die Aufmerksamkeit wieder Anna zuwandte.
»Ich habe meins offenbar verlegt. Hast du noch ein Gummiband?«
Sie nickte ruckartig und fegte an ihm vorbei ins Bad. Wie hatte er sich so schnell verändert? Aber sie konnte ihn wohl kaum danach fragen, solange Kara noch in der Wohnung war.
Er roch sogar gut. Selbst nach drei Jahren war es für sie verstörend, solche Dinge an Menschen zu bemerken. Für gewöhnlich versuchte sie zu ignorieren, was ihre Nase ihr sagte – aber diesmal musste sie sich zwingen, nicht stehen zu bleiben und seinen intensiven Duft einzuatmen.
»Und wer sind Sie?«, hörte Anna Kara misstrauisch fragen.
»Charles Cornick.« Sie konnte dem Klang seiner Stimme nicht entnehmen, ob er sich an Karas Unfreundlichkeit störte oder nicht. »Und Sie?«
»Das ist Kara, meine Nachbarin aus der Wohnung unter meiner«, sagte Anna und reichte ihm ein Haargummi, als sie an ihm vorbei wieder ins Zimmer ging. »Tut mir leid, ich hätte euch gleich vorstellen sollen. Kara, das hier ist Charles Cornick aus Montana, zu Besuch in der Stadt. Charles, das ist Kara Mosley, die unter mir wohnt. Und jetzt gebt euch die Hände und vertragt euch.«
Das meinte sie als Mahnung an Kara, die wirklich bissig werden konnte, wenn sie jemanden nicht mochte – aber Charles zog eine Braue hoch, bevor er sich wieder Kara zuwandte und ihr eine langfingrige Hand hinhielt.
»Aus Montana?«, fragte Kara, nahm seine Hand fest in die ihre und schüttelte sie kurz.
Er nickte und fing an, sein Haar mit raschen, geübten Bewegungen zu flechten. »Mein Vater hat mich hierher geschickt, weil er gehört hat, dass ein Mann Anna Ärger macht.«
Und Anna wusste, dass er mit dieser kleinen Anmerkung Kara vollkommen für sich gewonnen hatte.
»Justin? Sie werden sich um diese Ratte kümmern?« Sie sah Charles abschätzend an. »Na ja, Sie sind gut in Form, verstehen Sie mich nicht falsch, aber Justin ist wirklich ein übler Typ. Ich habe in Cabrini Green gewohnt, bis meine Mama schlau wurde und einen guten Mann geheiratet hat. Diese Siedlungen bringen eine bestimmte Art von Raubtier hervor – die Art, die Gewalt wirklich mag. Die toten Augen von diesem Justin haben mich zwanzig Jahre zurückversetzt, gleich als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Der da hat schon öfter Leuten wehgetan, und es hat ihm gefallen. Männer wie ihn werden Sie nicht nur mit einer Warnung loswerden können.«
Charles’ Mundwinkel bogen sich nach oben, und seine Augen wurden wärmer, was sein Aussehen vollkommen veränderte. »Danke für die offenen Worte«, sagte er zu ihr.
Kara nickte mit königlicher Würde. »Wie ich Anna kenne, gibt es in der ganzen Wohnung keine Lebensmittel, da gestern Zahltag war und sie den Scheck noch nicht zur Bank bringen konnte. Sie müssen dieses Mädchen gut füttern! In den Tüten auf dem Tisch sind Bagels und Frischkäse – und nein, ich habe nicht vor, zu bleiben. Ich habe eine ganze Woche Arbeit nachzuholen, aber ich kann nicht gehen, ohne zu wissen, dass Anna etwas isst.«
»Ich kümmere mich darum, dass sie das tut«, sagte Charles, das kleine Lächeln immer noch im Gesicht.
Kara griff weit nach oben und tätschelte seine Wange mit einer mütterlichen Geste »Danke.« Sie umarmte Anna schnell, zog einen Umschlag aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch neben die Bagels. »Und das hier ist für das Aufpassen auf den Kater, denn sonst müsste ich ihn in einen Zwinger bringen, mit all diesen Hunden, die er nicht ausstehen kann, und viermal so viel bezahlen. Und wenn ich es wieder in meiner Keksdose finde, werde ich ihn das nächste Mal dort hinbringen, aus reiner Bosheit, weil ich weiß, dass du dann Schuldgefühle hast.«
Und damit verschwand sie.
Anna wartete, bis sie den Klang ihrer Füße im nächsten Stock hörte, dann fragte sie: »Wie hast du dich so schnell verändert?«
»Knoblauch oder Blaubeeren?«, fragte Charles und öffnete die Tüte.
Als sie seine Frage nicht beantwortete, legte er beide Hände auf den Tisch und seufzte. »Du meinst, du hast noch nie vom Marrok und seiner indianischen Schönheit gehört?« Sie konnte seine Stimme nicht deuten, und das Gesicht hatte er abgewandt, also half ihr auch das nicht.
»Nein«, sagte sie.
Er lachte kurz, aber sie dachte, dass keine Heiterkeit in diesem Lachen lag. »Meine Mutter war schön, und das rettete ihr das Leben. Sie war unterwegs, um Kräuter zu sammeln, und überraschte dabei einen Elch. Er rannte über sie hinweg, und sie wäre an ihren Verletzungen gestorben, als mein Vater, angezogen von dem Lärm, sie sah. Er rettete meiner Mutter das Leben, indem er sie zu einem Werwolf machte.«
Er holte die Bagels heraus und legte sie und die Servietten aus der Tüte auf den Tisch. Dann setzte er sich und winkte sie zu dem anderen Platz. »Fang an zu essen, und ich erzähle dir den Rest der Geschichte.«
Er hatte ihr die Blaubeeren gegeben. Sie setzte sich neben ihn und aß einen Bissen.
Er nickte zufrieden und fuhr dann fort. »Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, offenbar beiderseits, und es muss zunächst nur ums Aussehen gegangen sein, weil anfangs keiner die Sprache des anderen beherrschte. Alles ging gut, bis sie schwanger wurde. Die Flathead wussten viel über Kräuter, und ihre Welt war voller seltsamer, wunderbarer Dinge, die die Europäer bereits weit von sich gewiesen hatten. Der Vater meiner Mutter verfügte über eine gewisse Magie, und er half ihr, als sie ihm sagte, dass sie bis zu meiner Geburt ein Mensch bleiben musste. Also blieb sie bei jedem Vollmond ein Mensch, während mein Vater und mein Bruder unter dem Mond jagten. Und jeder Mond machte sie schwächer und schwächer. Mein Vater stritt sich mit ihr und ihrem Vater, denn er machte sich Sorgen, dass sie sich umbringen würde.«
»Warum hat sie das getan?«, fragte Anna.
Charles sah sie Stirn runzelnd an. »Wie lange bist du schon ein Werwolf?«
»Im vergangenen August drei Jahre.«
»Werwolffrauen können keine Kinder bekommen«, sagte er. »Der Fötus kann die Veränderung nicht verkraften. Sie haben im dritten oder vierten Monat eine Fehlgeburt.«
Anna starrte ihn an. Das hatte ihr nie jemand gesagt.
»Alles in Ordnung?«
Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Sie hatte nicht unbedingt geplant, Kinder zu haben – besonders, nachdem ihr Leben in den letzten paar Jahren so aus den Fugen geraten war. Aber sie hatte auch nicht geplant, keine Kinder zu bekommen.
»Das hätte dir erklärt werden müssen, lange bevor du dich entschlossen hast, dich zu verändern«, sagte Charles.
Nun war es an ihr zu lachen. »Niemand hat mir irgendwas erklärt. Nein, es ist schon in Ordnung. Bitte erzähl mir den Rest deiner Geschichte.«
Er beobachtete sie lange Zeit, dann nickte er seltsam feierlich. »Trotz der Proteste meines Vaters hielt sie bis zu meiner Geburt durch. Geschwächt von der Magie, die nötig war, gegen den Ruf des Mondes anzukämpfen, überlebte sie die Geburt nicht. Ich kam als Werwolf zur Welt und wurde nicht verändert wie die anderen. Das hat mir ein paar zusätzliche Fähigkeiten gegeben – ich kann mich zum Beispiel schneller verändern.«
»Das muss angenehm sein«, sagte sie nachdenklich.
»Es tut immer noch weh«, stellte er fest.
Sie spielte mit einem Stück Bagel. »Wirst du nach dem vermissten jungen Mann suchen?«
Sein Mund wurde schmal. »Nein. Wir wissen, wo Alan Frazier ist.«
Etwas in seiner Stimme verriet es ihr. »Er ist tot?«
Er nickte. »Ein paar gute Leute untersuchen seinen Tod, und sie werden herausfinden, wer dafür verantwortlich war. Er wurde ohne seine Zustimmung verändert, und das Mädchen, das bei ihm war, ist dabei umgekommen. Dann wurde er verkauft, um als Versuchskaninchen in einem Labor zu dienen. Die Person, die dafür verantwortlich ist, wird für ihre Verbrechen zahlen.«
Sie starrte ihn an, um ihm noch mehr Fragen zu stellen, aber dann wurde die Tür zu ihrer Wohnung aufgerissen, und Justin stand im Eingang.
Sie hatte sich so auf Charles konzentriert, dass sie nicht einmal gehört hatte, wie Justin die Treppe heraufkam. Und sie hatte die Tür nicht mehr verschlossen, nachdem Kara gegangen war. Nicht, dass ihr das viel genutzt hätte. Justin hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung.
Sie konnte nicht anders, sie zuckte zusammen, als er hereinkam, als gehöre die Wohnung ihm. »Zahltag«, verkündete er. »Du schuldest mir einen Scheck.« Er sah Charles beiläufig an. »Zeit zu gehen. Die Dame und ich haben Geschäfte zu erledigen.«
Anna konnte kaum glauben, dass Justin Charles gegenüber, der doch so dominant war, diesen Ton anschlug. Sie sah ihn an, um seine Reaktion einzuschätzen und entdeckte, wieso Justin so herausgeplatzt war, während er besser geschwiegen hätte.
Charles beschäftigte sich mit dem Teller, den Blick auf seine Hände gerichtet. Die erstaunliche Macht seiner Persönlichkeit war irgendwo verwahrt, wo man sie nicht sah.
»Ich glaube nicht, dass ich lieber gehen sollte«, murmelte er und schaute immer noch nach unten. »Sie braucht vielleicht meine Hilfe.«
Justin verzog verächtlich das Gesicht. »Wo hast du den denn her, Miststück? Warte, bis ich Leo erzähle, dass du einen Streuner aufgelesen und ihm nichts davon erzählt hast.« Er durchquerte den Raum und griff ihr ins Haar. Manchmal nutzte er das, um sie hochzuziehen und gegen die Wand zu drücken, auf eine Art, die gleichzeitig sexuell und gewalttätig war. Doch diesmal beugte er sich zu ihr hinunter. »Warte ab. Vielleicht wird er wieder zulassen, dass ich dich bestrafe. Mir hat es gefallen.«
Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als er sie bestrafen durfte, und sie ihre Reaktion nicht ganz hatte unterdrücken können. Er genoss ihre Panik und drückte sich so dicht an sie, dass sie es spüren konnte.
»Ich glaube nicht, dass sie diejenige ist, die bestraft werden wird«, sagte Charles, immer noch mit leiser Stimme. Aber etwas in Anna lockerte sich. Er würde nicht zulassen, dass Justin ihr wehtat.
Sie hätte nicht sagen können, warum sie das wusste – schließlich hatte sie schnell herausgefunden, dass ein Wolf ihr vielleicht nicht wehtun, aber deshalb einen anderen auch nicht unbedingt davon abhalten würde.
»Ich habe dir nicht gestattet, zu sprechen«, fauchte Justin und drehte ruckartig den Kopf, um den anderen Mann wütend anzusehen. »Mit dir werde ich reden, wenn ich fertig bin.«
Die Beine von Charles’ Stuhl machten ein knirschendes Geräusch auf dem Boden, als er aufstand. Anna konnte hören, wie er sich leicht den Staub von den Händen rieb.
»Ich denke, du bist schon fertig«, sagte er mit vollkommen anderer Stimme. »Lass sie los.«
Sie spürte, wie die Macht dieser Worte durch ihre Knochen fuhr und ihren Magen wärmte, der kalt vor Angst gewesen war. Justin fand noch mehr Spaß daran, sie zu verletzen, als dass er ihren unwilligen Körper haben wollte. Sie hatte gegen ihn angekämpft bis ihr klar geworden war, dass ihm das nur noch mehr Vergnügen bereitete. Außerdem wusste sie, dass es für sie keine Möglichkeit gab, einen Kampf gegen ihn zu gewinnen. Er war stärker und schneller, und das einzige Mal, dass sie sich von ihm losgerissen hatte, hatten die anderen aus dem Rudel sie für ihn niedergehalten.
Auf Charles’ Worte hin jedoch ließ Justin sie so schnell los, dass sie taumelte, obwohl sie das nicht langsamer machte, als sie so weit von ihm wegrannte wie sie konnte – in die Küche. Dort griff sie nach dem Nudelholz aus Marmor, das einmal ihrer Großmutter gehört hatte, und hielt es argwöhnisch fest.
Justin hatte ihr den Rücken zugewandt, und für einen kurzen Moment lächelten Charles’ Augen ihr zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Justin richtete.
»Wer bist du, verdammt?«, spuckte Justin zornig aus, aber Anna hörte unterhalb des Zorns seine Angst.
»Das könnte ich dich ebenfalls fragen«, sagte Charles. »Ich habe eine Liste aller Werwölfe in den Rudeln von Chicago, und dein Name steht nicht darauf. Aber das ist nur ein Teil meiner Geschäfte hier. Geh nach Hause und sag Leo, dass Charles Cornick hier ist, um mit ihm zu sprechen. Ich werde ihn in seinem Haus treffen, um sieben Uhr heute Abend. Er kann seine ersten sechs und seine Gefährtin mitbringen, aber der Rest seines Rudels wird wegbleiben.«
Zu Annas Schock fletsche Justin die Zähne, aber dann ging er ohne weiteren Protest.
2
Der Wolf, der Anna so sehr erschreckte, hatte nicht gehen wollen, aber er war nicht dominant genug, irgendetwas dagegen zu unternehmen, solange er sich in Charles’ Blickfeld befand. Weshalb Charles ein paar Sekunden wartete und ihm dann leise die Treppe hinunter folgte.
Im nächsten Stockwerk fand er Justin vor einer Tür und im Begriff anzuklopfen. Er war ziemlich sicher, dass es sich um Karas Tür handelte. Irgendwie überraschte es ihn nicht, dass Justin nun nach einer anderen Weise suchte, Anna für seinen erzwungenen Rückzug zu bestrafen. Charles verursachte mit dem Absatz seines Stiefels ein Geräusch auf der Treppe und sah zu, wie der andere Wolf erstarrte und den Arm senkte.
»Kara ist nicht zu Hause«, sagte Charles. »Und ihr wehzutun, wäre nicht ratsam.«
Er fragte sich, ob er Justin nicht besser auf der Stelle töten sollte... aber er hatte einen Ruf, den zu verlieren sein Vater sich nicht leisten konnte. Er brachte nur Wölfe um, die gegen die Regeln des Marrok verstießen, und auch das nur, wenn ihre Schuld bewiesen war.
Anna hatte seinem Vater gesagt, Justin sei der Wolf, der Alan MacKenzie Frazier gegen seinen Willen verändert hatte, aber in Leos Rudel waren so viele Dinge nicht in Ordnung, dass es vielleicht mildernde Umstände gab. Anna war seit drei Jahren ein Werwolf, und niemand hatte ihr gesagt, dass sie keine Kinder haben konnte. Und wenn Anna so wenig wusste, war es durchaus möglich, dass dieser Wolf die Regeln ebenfalls nicht kannte.
Aber egal, ob der Wolf wusste, dass er Regeln brach oder nicht, Charles wollte ihn immer noch umbringen. Als Justin sich zu ihm umdrehte, bedachte ihn Charles mit seinem beeindruckendsten Blick und sah, wie der andere Wolf blass wurde und den Kopf einzog.
»Du solltest Leo suchen und ihm die Botschaft überbringen«, sagte Charles. Diesmal machte er Justin klar, dass er ihm folgte, und ließ ihn – nur ein wenig – spüren, wie es war, die Beute eines größeren Raubtiers zu sein.
Er war zäh, dieser Justin. Er drehte sich immer wieder herum, um sich Charles zu stellen – nur um dann seinem Blick zu begegnen und wieder und wieder weggezwungen zu werden. Die Jagd erregte Charles’ Wolf, und Charles, der immer noch wütend über die Weise war, wie Justin mit Anna umgesprungen war, ließ dem Wolf ein klein wenig mehr Freiheit, als empfehlenswert war. Es fiel ihm schwer, an der Haustür stehen zu bleiben und Justin gehen zu lassen. Der Wolf hatte seine Jagd bekommen, aber sie ging viel, viel zu schnell zu Ende.
Es hatte Bruder Wolf auch nicht gefallen, Anna verängstigt zu sehen. Er hatte seinen Anspruch abgesteckt, und es hatte Charles’ alle Beherrschung gekostet, Justin nicht schon in Annas Wohnung umzubringen. Nur der starke Verdacht, dass sie dann wieder Angst vor ihm haben würde, hatte ihm gestattet sitzen zu bleiben, bis er sicher war, sich wieder unter Kontrolle zu haben.
Drei Treppen hinaufzugehen, hätte ihm genug Zeit geben sollen, den Wolf zur Ruhe zu bringen. Das wäre auch der Fall gewesen, hätte nicht Anna, das Nudelholz in der Hand, auf dem Treppenabsatz ein Stockwerk unterhalb ihrer Wohnung gewartet.
Er hielt auf halbem Weg inne, und sie drehte sich ohne ein Wort um. Er folgte ihr nach oben zu ihrer Wohnung und in den Küchenbereich, wo sie das Nudelholz auf einen Ständer stellte – neben einen kleinen Topf, in dem sich eine Handvoll Messer befanden.
»Warum ein Nudelholz und nicht ein Messer?«, fragte er, die Stimme heiser von dem Bedürfnis, etwas zu unternehmen.
Sie schaute ihn zum ersten Mal wieder an, seit sie ihn auf der Treppe entdeckt hatte. »Ein Messer würde ihn nicht langsamer machen, aber gebrochene Knochen brauchen Zeit, um zu heilen.«
Das gefiel ihm. Wer hätte gedacht, dass er eine Frau mit einem Nudelholz attraktiv finden würde? »Aha«, sagte er. »Na gut.«
Dann drehte er sich abrupt um und ließ sie vor der Theke stehen, denn wenn er dort geblieben wäre, hätte er Anna verführt. Die Wohnung war nicht groß genug, um auf und ab zu gehen, oder ihm viel Abstand zu gewähren. Annas Geruch, vermischt mit Angst und Erregung, war gefährlich. Er brauchte eine Ablenkung.
Er drehte einen der Stühle herum, setzte sich und lehnte sich zurück, bis der Stuhl nur noch auf zwei Beinen stand. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und nahm eine entschlossen entspannte Pose ein, schloss halb die Augen und sagte: »Ich will, dass du mir von deiner Veränderung erzählst.« Nein, die Hinweise waren ihm nicht entgangen, dachte er, als er sie ein wenig zusammenzucken sah. Etwas stimmte nicht damit, wie sie verändert worden war. Er konzentrierte sich darauf.
»Warum?«, fragte sie herausfordernd – immer noch gefangen in dem Adrenalinrausch von Justins Besuch, nahm er an. Dann fing sie sich und wandte sich ab, wobei sie ihm immer wieder verstohlene Blicke zuwarf, als erwartete sie, dass er explodieren würde.
Er schloss die Augen vollkommen. Noch einen Moment, und er würde all die Höflichkeit, die sein Vater ihm beigebracht hatte, beiseite fegen und sie nehmen, ob sie wollte oder nicht. Ja, das würde sie sicher lehren, keine Angst vor ihm zu haben, dachte er.
»Ich muss wissen, wie Leos Rudel funktioniert«, sagte er geduldig, obwohl ihm das im Augenblick vollkommen egal war. »Ich würde mir lieber zuerst durch dich einen Eindruck verschaffen, und dir dann Fragen stellen. Es wird mir eine bessere Einsicht in das geben, was Leo tut und warum.«
Anna sah ihn argwöhnisch an, aber er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie konnte immer noch den Zorn in der Luft spüren, aber vielleicht war das auch nur ein Überrest von Justins Besuch. Charles war ebenfalls erregt – und sie stellte fest, dass sie darauf reagierte, obwohl sie wusste, dass das unter Angehörigen des männlichen Geschlechts eine häufige Reaktion auf einen Sieg bei einer Konfrontation war. Er ignorierte es, also konnte sie das auch.
Sie holte tief Luft, und sein Duft füllte ihre Lungen.
Nervös räusperte sie sich und versuchte, den Anfang ihrer Geschichte zu finden. »Ich habe in einer Musikalienhandlung im Loop gearbeitet, als ich Justin kennen lernte. Er sagte, er spiele Gitarre, so wie ich, und er kam mehrmals in der Woche, kaufte Saiten, Noten... Kleinigkeiten. Er flirtete mit mir und neckte mich.« Sie schnaubte, gereizt über ihre eigene Dummheit. »Ich hielt ihn für nett. Als er mich fragte, ob ich mit ihm Mittagessen gehen würde, sagte ich ›ja, sicher‹.«
Sie schaute Charles an, aber er sah aus, als wäre er möglicherweise eingeschlafen. Die Muskeln in seinen Schultern waren entspannt, sein Atem ruhig und zügig.
»Wir gingen ein paar Mal zusammen aus. Schließlich brachte er mich zu diesem kleinen Restaurant in der Nähe des Waldes, in einem Naturschutzgebiet. Nach dem Essen führte er mich nach draußen zu einem Spaziergang im Wald. ›Um den Mond anzusehen‹ sagte er.« Selbst jetzt, nachdem dieser Abend lange vorbei war, konnte sie die Anspannung in ihrer Stimme fühlen. »Er bat mich, einen Moment zu warten und erklärte, er werde sofort zurückkommen.«
Er war aufgeregt gewesen, erinnerte sie sich, beinahe hektisch vor lauter unterdrückten Gefühlen. Er hatte seine Taschen getätschelt, dann behauptet, etwas im Auto gelassen zu haben. Sie hatte sich Gedanken gemacht, dass er einen Verlobungsring holen wollte. Während sie auf ihn wartete, hatte sie überlegt, wie sie ihn auf vorsichtige Weise abweisen konnte. Sie hatten nur sehr wenig gemeinsam, und die Chemie zwischen ihnen stimmte überhaupt nicht. Er schien nett zu sein, aber sie hatte langsam das Gefühl, dass etwas an ihm auch ein wenig seltsam war, und ihr Instinkt sagte ihr, sie solle die Beziehung abbrechen.
»Er brauchte länger als eine Minute, und ich wollte gerade selbst zum Auto zurückkehren, als ich etwas im Gebüsch hörte.« Ihre Gesichtshaut kribbelte vor Angst, genau, wie sie es in jener Nacht getan hatte.
»Du wusstest nicht, dass er ein Werwolf war?« Charles’ Stimme erinnerte sie daran, dass sie sich sicher in ihre Wohnung befand.
»Nein. Ich dachte immer, Werwölfe gäbe es nur in Geschichten.«
»Was geschah nach dem Angriff?«
Sie brauchte ihm nicht zu sagen, wie Justin sie über eine Stunde lang verfolgt hatte, wie er sie jedes Mal vom Rand des Schutzgebietes wieder nach innen getrieben hatte, wenn sie kurz davor stand, auszubrechen. Charles wollte nur über Leos Rudel Bescheid wissen. Anna verbarg ihren erleichterten Seufzer.
»Ich wachte in Leos Haus auf. Er war zuerst aufgeregt. Es gab nur eine andere Frau im ganzen Rudel. Dann entdeckten sie, was ich bin.«
»Und was bist du, Anna?« Seine Stimme war wie Rauch, dachte sie, sanft und gewichtslos.
»Unterwürfig«, sagte sie. »Die Unterste der Unteren.« Und dann, weil seine Augen immer noch umschattet waren, fügte sie hinzu: »Nutzlos.«
»Das ist es, was sie dir gesagt haben?«, fragte er nachdenklich.
»Es ist die Wahrheit.« Sie hätte aufgeregter sein sollen – selbst wenn Wölfe sie nicht direkt verachteten, behandelten sie sie bestenfalls mit Mitleid. Aber sie wollte auch nicht dominant sein und Anteil an den Spielen und offenen Kämpfen haben, die dazu gehörten.
Er sagte nichts weiter, also fuhr sie mit ihrer Geschichte fort und versuchte, ihm alle Einzelheiten zu schildern, an die sie sich erinnern konnte.
Er stellte ein paar Fragen. »Wer hat dir geholfen, den Wolf beherrschen zu lernen?« (Niemand, das hatte sie selbst getan – wieder ein Makel, der zeigte, dass sie nicht dominant war, hatten sie gesagt.)
»Wer hat dir die Telefonnummer des Marrok gegeben?« (Leos Dritter, Boyd Hamilton.)
»Wann und warum?« (Kurz bevor Leos Gefährtin eingeschritten war und ihn davon abgehalten hatte, sie an männliche Rudelmitglieder weiterzureichen, die er belohnen wollte. Anna versuchte angestrengt, höherrangigen Wölfen wie Boyd aus dem Weg zu gehen – sie hatte keine Ahnung, wieso er ihr diese Nummer gegeben hatte, und auch nicht den Wunsch, ihn danach zu fragen.)
»Wie viele neue Mitglieder sind seit dir ins Rudel gekommen?« (Drei, alle männlich – aber zwei von ihnen konnten sich nicht beherrschen und mussten getötet werden.)
»Wie viele Mitglieder hat das Rudel?« (Sechsundzwanzig).
Als sie schließlich schwieg, war sie beinahe überrascht, auf dem Boden zu sitzen, Charles gegenüber und mit dem Rücken an der Wand. Langsam ließ Charles seinen Stuhl wieder zu Boden fallen und kniff sich in die Nasenwurzel. Er seufzte schwer und sah sie dann das erste Mal, seit sie ihre Erzählung begonnen hatte, direkt an.
Sie hielt den Atem an, als sie das helle Gold seiner Augen bemerkte. Er war sehr dicht an einer Veränderung, die durch starke Gefühle erzwungen wurde – aber obwohl sie es an seinen Augen sehen konnte, konnte sie es nicht an seinem Körper oder Geruch erkennen – dort verbarg er es weiterhin vor ihr.
»Es gibt Regeln. Als erstes darf keine Person gegen ihren Willen verändert werden. Zweitens darf niemand verändert werden, bevor er oder sie beraten wurde und einen einfachen Test bestanden hat, um zu zeigen, dass die in Frage kommende Person versteht, was die Veränderung bedeutet.«
Anna wusste nicht, was sie sagen sollte, aber sie erinnerte sich endlich daran, den Blick vor seinem intensiven Starren zu senken.
»Nach dem, was du gesagt hast, fügt Leo seinem Rudel neue Wölfe hinzu, und dafür fehlen ihm andere – das hat er dem Marrok nicht berichtet. Letztes Jahr kam er mit seiner Gefährtin und seinem Vierten – diesem Boyd Hamilton – zu unserem jährlichen Treffen und sagte, sein Zweiter und Dritter hätten zu tun.«
Anna sah ihn Stirn runzelnd an. »Boyd war sein Dritter, so lange ich im Rudel bin, und Justin sein Zweiter.«
»Du sagtest, es gibt außer dir nur eine einzige Frau im Rudel?«
»Ja.«
»Es sollten vier sein.«
»Niemand hat andere erwähnt«, erwiderte sie.
Er schaute zu dem Scheck an Kühlschrank hin.