Schild überm Regenbogen - Anflug Alpha 1 - Wolfgang Held - E-Book

Schild überm Regenbogen - Anflug Alpha 1 E-Book

Wolfgang Held

4,8

Beschreibung

Wolfgang Held erzählt in seinem Roman von einem der faszinierendsten Berufe, die es gibt: dem des Fliegers. - Wie silberne Speere stoßen die schlanken Maschinen in das Blau des Himmels. Auf ihren Flügeln blitzen die Strahlen der Morgensonne; tief unten zerschmelzen ein paar Wolkenreste in der Wärme des aufziehenden Tages ... Das Leben eines Piloten ist schwer und voller Verantwortung. Leutnant Lenz verliert für Sekunden die Nerven und vertraut den Instrumenten nicht mehr. Fliegt die MiG noch horizontal, funktioniert der Autopilot? Die Überschallgeschwindigkeit stellt höchste Anforderungen an die Kondition und Konzentration der Piloten. Leutnant Lenz muss katapultieren. Aber die Genossen der Kette Milan halten zu ihm, beweisen echte Kameradschaft, und auch seine Freundin Anke besteht die Bewährungsprobe. Wolfgang Held berichtet von Fliegern, tapferen Frauen, von Mut und Liebe. »Schild überm Regenbogen« ist ein Buch voller Spannung und Abenteuer. Es schildert die Begeisterung junger Menschen für das Fliegen und beschreibt ihre Gedanken und Gefühle. Das erstmals 1973 beim Militärverlag der DDR erschienene Buch entstand nach dem DEFA-Film "Anflug Alpha eins" von 1971 (mit Alfred Müller, Stefan Lisewski, Peter Aust, Jürgen Frohriep, Jutta Wachowiak, Gerry Wolf, ...).

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Impressum

Wolfgang Held

Schild überm Regenbogen – Anflug Alpha 1

ISBN 978-3-86394-950-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1973 beim Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

I. Kapitel

Der Strand brodelte.

Kofferradios spien schroffe Rhythmen aus. Ein Volleyball flog von Mannschaft zu Mannschaft. Unter einem Sonnenschirm stritten drei bleichhäutige Skatspieler, als ginge es für jeden um ein Jahr seines Lebens. Ein paar Meter entfernt kreischten nackte Knirpse vergnügt im Wellenschaum. Grelle Lichtreflexe tanzten über die See bis hin zum Horizont.

In einer Kuhle, abseits vom Menschengewimmel, lagen Ulrich Herzog und Sigrid Salten. Der Lärm wehte über sie hinweg, die Stimmen erreichten sie nicht. Sie ließen in ihre Stille nur das gleichmäßig sanfte Rauschen der Brandung eindringen. Der Sand war weich und warm wie ein Katzenfell. Sie bewegten sich kaum, hielten die Augen geschlossen und atmeten ruhig wie im Schlaf. Zu ihren Füßen lag, fast lebensgroß, ein pralles gelbes Gummikrokodil.

Ulrich Herzog war hinter seinen gesenkten Lidern hellwach. Sigrid Salten, deren Hautwärme er spürte, war er vor siebzehn Tagen hier am Strand zum ersten Mal begegnet. Sie hatte einen aufgeweckten kleinen Jungen bei sich gehabt. Wo sie auch ging, war ihr ein Dutzend Männerblicke gefolgt. Vierundzwanzig Stunden später hatte er gewusst, dass der Kleine ihr Sohn war, dass sie vor zwei oder drei Jahren ihren Mann durch einen Unfall verloren hatte und nun schon zum zweiten Mal ihren Sommerurlaub im Ferienheim »Möwe« verbrachte.

Weitere vierundzwanzig Stunden danach aßen Ulrich Herzog, Sigrid Salten und ihr Sohn Frank das erste Mal gemeinsam zu Mittag. Sie verstanden einander. Schon nach einigen Tagen gab es Feriengäste, von denen die drei für eine beneidenswerte, glückliche Familie gehalten wurden. Dieser Eindruck wurde besonders durch das Verhalten des kleinen Frank hervorgerufen, dessen anfängliches Misstrauen gegen den Verehrer seiner Mutter sehr bald in kindlich-leidenschaftliche Zuneigung umgeschlagen war, die keinem Betrachter verborgen bleiben konnte. Ulrich Herzog empfand das durchaus nicht als unangenehm. Die Rolle des Familienvaters behagte ihm angesichts der neidvollen Bewunderung, die er überall, wo er mit Sigrid erschien, in den Augen der Männer aufblitzen sah. In diesem Gefühl schwang auch ein wenig der natürliche männliche Stolz des erfolgreichen Eroberers mit, trotzdem gehörte Ulrich Herzog ganz und gar nicht zu jenem Typ, der mit Liebeleien sein lädiertes Selbstbewusstsein zu stärken und übertriebenen Geltungsdrang zu befriedigen suchte. Wenn er sich verliebte, entsprang sein Werben und Zärtlichsein, mehr oder weniger bewusst, immer der geheimen Sehnsucht nach einer Lebensgefährtin. Dabei blieb ihm allerdings die Fähigkeit des kritischen Denkens erhalten und bewahrte ihn vor übereilten Entschlüssen.

Als Ulrich Herzog nach einigen Enttäuschungen die Medizinstudentin Agnes kennengelernt und sich einige Monate später mit ihr verlobt hatte, hielt er das Kapitel Brautschau in seinem Lebensbuch für abgeschlossen. Nach ihrem Staatsexamen wollten sie heiraten. Damals lagen vor Agnes noch zwei Studienjahre. Sie sahen sich nur an wenigen Wochenenden und während der Ferien. Vierundvierzig Tage im Jahr, wie er einmal in einem seiner zahlreichen Briefe an sie ausgerechnet hatte. Sie bestand das Examen mit Auszeichnung. Er kaufte zwölf Nelken und fuhr zu ihr. Als er in das Studentenheim kam, musste er einsehen, dass vierundvierzig Tage im Jahr für ein Mädchen wie Agnes zu wenig gewesen waren. Verlegen überließ sie einem bärtigen jungen Mann die Erklärung der Situation. Er tat es ungezwungen und sachlich, als wäre die Rede von einer komplizierten Blinddarmoperation. Eine Verlobung müsse sowieso nur als kleinbürgerliches Überbleibsel gewertet werden, meinte er. Außerdem wäre eindeutig erwiesen, dass Agnes und er auf den entscheidenden Gebieten des Zusammenlebens synchrone Interessen und Bedürfnisse hätten.

Diesmal ist es ganz anders als mit Agnes, dachte er. Sigrid ist eine Frau, die man sich nicht einfach ausspannen lässt. Um sie werde ich kämpfen, wenn es sein muss.

Ihm war, als kenne er Sigrid Salten genau, obwohl er mit dem, was er über sie und ihr Leben wusste, kaum eine Schreibheftseite hätte füllen können: Fünfundzwanzig Jahre alt, irgendwo in Sachsen auf dem Land geboren, Lehrerin für Sport und Geschichte, Tennisspielerin in der Bezirksklasse. Sie begeisterte sich für Bücher und Bilder, liebte Leonhard Frank, Erich Kästner, Ernest Hemingway und die Aquarelle von Paul Signac, spottete über Dummheit, Phrasen und Kriechertum und war misstrauisch gegen Komplimente und statistische Angaben. Einem Kaderleiter wäre das zu wenig gewesen, doch Ulrich Herzog maß mit anderer Elle. Für ihn zählte allein, dass ihm warm unter der Haut wurde, wenn Sigrid ihn anlächelte, wenn sie ihm mit einer kleinen, flüchtigen Handbewegung ein Staubkorn vom Hemdkragen wischte oder wenn er sie beim Zeitunglesen beobachtete und aus ihren Zügen die Fähigkeit zu echter, innerer Anteilnahme herauslesen konnte. An ihr faszinierten ihn im gleichen Maße die reizvollen weiblichen Linien, ihre freimütig-heitere Art, von den Dingen zu reden, die sie beschäftigten, und die natürliche Anmut, die ihren Bewegungen eigen war, ob sie nun das Frühstücksmesser in der Hand hielt, eine Nähnadel oder das Pinselchen für das Augen-Make-up. Kurz, für ihn war alles, was sie tat, vom Glanz des Einmaligen und Liebenswerten umgeben.

Ulrich Herzog richtete sich auf und schaute zum Ufer. »Suchst du Frank?«, fragte Sigrid. Ihre Augen blieben geschlossen.

»Ich sehe ihn. Sie bauen ein Riesending von einer Schlammburg.«

»Aber sie lassen das kleine Mädchen nicht mitspielen. Typisch Mann. - Oder darf sie jetzt mitmachen?«

»Ein Mädchen ... Ja, da steht so eine Kleine und sieht zu.« Er betrachtete Sigrid erstaunt. »Ich dachte, du schläfst.«

»Nur mit den Augen.« Um ihre Lippen spielte ein Lächeln. »Die Ohren sind wach. - Wie spät ist es?«

»Gleich zwölf. Soll ich Bockwürste holen? Oder Eis?«, fragte er. Sie hatten schon seit einigen Tagen nicht mehr an einem Mittagstisch gesessen. Bei sechsundzwanzig Grad Wärme, einundzwanzig Grad Wassertemperatur und einem Himmel wie aus tiefblauer Seide lockte sie nichts in die überfüllten Speiseräume. Er stand auf und fegte den Sand von der Haut. »Ich nehme den Jungen mit. - He, Frank!«

»Nein!«, widersprach sie ruhig und hob die Lider. Dann stützte sie sich auf die Ellenbogen und blinzelte, von der grellen Sonne geblendet, zu ihm empor. Das Licht legte einen kupferfarbenen Schimmer auf ihr dunkles, bis über die Schultern fallendes Haar. »Nein, heute wollen wir essen gehen. Richtig groß, meine ich. - Erstklassig, Uli!«

Er war überrascht.

Frank stürmte heran und krähte, er habe überhaupt keinen Hunger und müsse sofort zu seiner Burg zurück und könne höchstens zwei oder drei Portionen Eis vertragen. Ulrich Herzog stemmte das ausgelassene Kerlchen in den Reitersitz auf die Schultern und beugte damit erst einmal allen eventuellen Fluchtversuchen vor.

»Erstklassig?«, erkundigte er sich neugierig. »Hat jemand Geburtstag oder so?«

»Warum?« Sigrid lächelte. Dann stand sie ebenfalls auf und strich den glitzernden Sandschleier von ihrer Haut. »Das ist ja gerade das Schöne am Urlaub: Du kannst jeden Tag zum Fest erklären. - Und heute ist ein Festtag. Was dagegen?«

»Gegen Festtage nie!«

Ulrich Herzog merkte bald, dass es sich dabei keineswegs um eine plötzliche Laune handelte. Irgendetwas Besonderes musste dahinterstecken, aber Sigrid hatte für seine Vermutungen nur die rätselhaft-hintergründige Miene einer Sphinx. Er setzte sie und Frank mit seinem ziemlich verschmutzten Wartburg am Ferienheim »Möwe« ab und fuhr dann zum Campingplatz, wo sein kleines Steilwandzelt stand. Das Umziehen dauerte fünf Minuten, doch dann brauchte er fast eine Viertelstunde, bis ihm der Knoten der bunt gemusterten, ungewöhnlich breiten Krawatte endlich einigermaßen zufriedenstellend gelungen war. Wenig später stoppte er, herausgeputzt wie für ein Festbankett des Diplomatischen Korps, seinen Wagen vor der »Möwe«.

Frank wartete schon am Eingang. Er trug seinen Sonntagsanzug, machte ein missmutiges Gesicht und hielt den Kopf merkwürdig steif, weil er die ihm von seiner Mutter aufgezwungene Kragenschleife wie ein enges Dressurhalsband empfand. Es tröstete ihn einigermaßen, dass auch Ulrich Herzog kein Hehl aus seiner Abneigung gegen jede Art von modischer Verzierung machte.

Als Sigrid erschien, vergaßen ihre beiden Kavaliere die Halsfesseln und machten große Augen. Sie trug einen eleganten cremefarbenen Hosenanzug, der Ebenmaß und Reife ihrer Figur unaufdringlich unterstrich. Ihr langes Haar hatte sie zu einer festlichen Frisur aufgesteckt. Ulrich Herzog war so beeindruckt, dass ihm jedes Wort der Bewunderung zu banal erschien. Er half ihr beim Einsteigen und tat dann das, was er bisher in Filmen immer belächelt hatte: Er küsste ihr die Hand. Diese Geste kam ihm im Augenblick ganz und gar nicht altmodisch oder komisch vor.

»Toll, Mutti!«, urteilte der kleine Frank. »Jetzt bist du sogar noch schöner als die Ansagerin im Fernsehen.«

Die »Schwarze Kogge« galt als das vorzüglichste Restaurant im Umkreis von fünfzig Kilometern. In den holzgetäfelten Räumen atmete jedes Detail Gediegenheit und gastronomische Exklusivität. Hier gab es kein Gedränge. Niemand stand hinter einem besetzten Stuhl ungeduldig auf der Lauer, denn es gab Tische nur auf Vorbestellung. Und die »Schwarze Kogge« war stets vierzehn Tage im Voraus ausgebucht. Ulrich Herzog wusste das. Er hatte selbst schon erfolglos versucht, kurzfristig einen Tisch zu bekommen. Sigrid musste dieses Mittagessen also schon vor geraumer Zeit geplant haben.

Der Ober erschien in einem blassroten Frack. Er brachte die Speisekarte, eine Pergamentrolle, von der ein handtellergroßes Siegel herabhing. Beinahe andächtig breitete Ulrich Herzog das Dokument aus. Gemeinsam studierten sie das lukullische Angebot und einigten sich auf den »Original Piratenspieß«, eine Spezialität des Hauses. Sie brauchten ihre Wahl nicht zu bereuen. Als der Ober wenig später den Spieß mit ausgesuchten Steaks am Tisch mit Weinbrand übergoss und anzündete, staunte Frank und machte ein Gesicht wie am Weihnachtsabend vor dem Lichterbaum.

Weder der Küchenmeister noch der Ober im blassroten Frack trugen Schuld daran, dass Ulrich Herzog die »Schwarze Kogge« missgestimmt verließ. Er war gekränkt. Sigrid hatte in einem unbemerkten Augenblick die Rechnung beglichen und auch seine nachträgliche Beteiligung an den Kosten entschieden abgelehnt. Auf dem Weg zum Parkplatz kam keine Silbe über seine Lippen. Auch Frank spürte die Spannung zwischen den Erwachsenen, und man merkte ihm an, dass er darunter litt.

Als Ulrich Herzog den Motor anlassen wollte, legte Sigrid ihre Hand auf seinen Arm.

»Nein«, sagte sie leise. »Die Gebrüder Groll und Grimm sind Unfallteufel.«

»Hm ...« Er nahm die Finger vom Zündschlüssel und sah sie unentschlossen an. Sie lächelte ihm zu. »Also gut«, sagte er, und seine Stimme bekam einen scherzhaften Unterton. »Und wer bezahlt die nächsten drei Mahlzeiten?«

»Du, mein Herr und Gebieter!«

Ihr Blick irritierte ihn. War es Spaß oder Spott, was da in ihren Augen flimmerte? Er entschied sich für Spaß.

»Einverstanden!«, sagte er. »Und jetzt? In meinen Harem?«

»Zur ,Möwe', Pascha!«

»Ich dachte, wir machen eine kleine Spazierfahrt, nach Stralsund vielleicht. Seid ihr schon mal dort gewesen?«

Noch ehe seine Mutter antworten konnte, reagierte Frank von der hinteren Sitzbank aus. »Au ja! Nach Stralsund! Gibt's dort auch Esel?«

Zu Pfingsten war Sigrid mit ihrem Sohn in Eisenach gewesen, und sie hatten die Wartburg besucht. Die Eselsstation und der Ritt auf einem der grauen Vierbeiner hinauf zur Burg waren für Frank ein besonderes Erlebnis gewesen.

»Nein, keine Esel, aber dafür eine Menge Friseurgeschäfte, die alle heute offen haben«, erklärte sie ihm. Sie kalkulierte seine tiefe Abneigung gegen alles, was mit Haarschneiden zu tun hatte, richtig ein. Frank verstummte. Das Thema Stralsund war für ihn erledigt. Offene Friseurgeschäfte und keine Eselsstation, für so eine Stadt hatte er nur ein Naserümpfen. Sigrid konnte sich nun ungestört an Ulrich Herzog wenden. »Vielleicht ein anderes Mal, Uli. Heute Nachmittag habe ich noch etwas zu erledigen. Ja, ich brauche Frank dabei. -Kannst du gegen halb acht zur ,Möwe' kommen?«

Ulrich Herzog fühlte, dass sie ihn loswerden wollte. Er rechnete an den Fingern zusammen: »Bis halb acht ... Das sind sechs Stunden, Sigrid! Bist du böse? Ich weiß, manchmal ist es mit mir ziemlich ...«

»Ganz schön sogar«, bestätigte sie ihm.

»Aber ich bin besserungsfähig, ehrlich.« Er setzte eine so kindlich-bekümmerte Miene auf, dass Sigrid lachen musste.

»Was für ein Unsinn, weshalb sollte ich böse sein? Nun fahr aber los, sonst ist der Nachmittag vorüber, ohne dass ich mein Pensum geschafft habe.«

Ulrich Herzog dachte darüber nach, wo sie am Abend hingehen sollten. Er hoffte, dass Sigrid einmal über Nacht bei ihm im Steilwandzelt bleiben würde. Über einen Kuss war er bisher noch nicht hinausgekommen. Heute werde ich nicht locker lassen, nahm er sich vor, dieser Abend soll unser Abend werden!

Als Sigrid ihm dann beim Abschied vor der »Möwe« die Hand ein paar Sekunden länger drückte als sonst und dabei einen merkwürdigen Glanz in den Augen hatte, stieg ihm unwillkürlich das Blut ins Gesicht. Ihm war, als hätte sie ihm die Gedanken von der Stirn abgelesen. Er gab so heftig Gas, dass die Vorderräder beim Anfahren den Splitt hochschleuderten. Im Rückspiegel sah er, dass Sigrid und Frank ihm nachwinkten.

Noch auf dem Weg zum Campingplatz kam Ulrich Herzog zu der Einsicht, dass er ein paar Stunden ohne Sigrid und Frank eigentlich ganz gut gebrauchen konnte, denn es wurde höchste Zeit, sich wieder einmal gründlich um den Wagen zu kümmern. Er hatte den Wartburg während der zurückliegenden drei Wochen vernachlässigt. Wie sehr, das merkte er wenig später auf dem Waschplatz.

Aus einem der weit geöffneten Fenster des Ferienheims »Möwe« klang das Abendlied des Fernseh-Sandmännchens, als Ulrich Herzog vorfuhr. Sein Wagen blitzte wie ein Modell vom Messestand der Eisenacher Automobilwerker. Es störte ihn nicht, dass er eine reichliche halbe Stunde zu früh erschien. Vergnügt pfiff er eine Melodie vor sich hin und winkte beim Durchqueren des Empfangsraumes dem in der Schlüsselausgabe hantierenden Hausmeister einen Gruß zu. Es war nicht das erste Mal, dass er Sigrid Salten von ihrem Zimmer abholte.

»Moment mal!«, rief ihm der Mann nach.

Ulrich Herzog blieb auf dem Treppenabsatz stehen.

Der Hausmeister kam hinter seinem Schalter hervor. »Frau Salten, wenn Sie zu der wollen, Kollege, die ist weg.«

»Sie ist nicht oben?« Ulrich Herzog begriff nicht. »Wieso? Und Frank?«

»Das wissen Sie nicht? Und ich dachte immer ... Schau an!« Der Hausmeister schlurfte heran und sagte: »Weg. Abgereist! Schon heute Nachmittag. Was sind schon einundzwanzig Tage, sage ich immer.«

»Das kann nicht stimmen«, murmelte Ulrich Herzog verwirrt und sah am Hausmeister vorbei zum Schlüsselbrett. »Wir waren doch verabredet. - Sie verwechseln das irgendwie. - Ganz bestimmt!«

»Was soll ich? Verwechseln? Nee, mein Bester, so was kommt bei mir nicht vor«, polterte der Mann gutmütig. »Das habe ich ... Aber was ist denn? Warten Sie doch, Kollege! He, Sie!«

Seine Worte erreichten den Besucher nicht mehr, denn immer drei Stufen auf einmal nehmend, hetzte Ulrich Herzog die Treppe zum zweiten Stock empor und eilte den Gang entlang zum Zimmer 34. Wie bei den meisten anderen Räumen dieses Stockwerks stand auch hier die Tür offen. Zwei abgezogene Betten, zum Lüften hochgestellte Matratzen, die gähnende Leere eines Kleiderschranks. Keine Koffer, keine Handtücher in der Waschnische. Sigrid war wirklich abgereist. Ohne ein Wort, ohne Abschied! Das erstklassige Essen war ein Schlussstrich gewesen, lange schon für den letzten Urlaubstag geplant.

Ulrich Herzog wandte sich um und kehrte langsam in den Empfangsraum zurück. Ihm war flau im Magen, als hätte er verdorbenen Fisch gegessen.

Weshalb hat sie das getan, fragte er sich. Er fand keine Antwort.

»Na, glauben Sie mir nun?« Der Hausmeister erwartete ihn an der Treppe. »So was ist gar nicht so selten bei uns, da könnte ich Ihnen Dinge erzählen ... Tragödien! Übrigens hat Frau Salten einen Brief für Sie hiergelassen. Sie sind doch Herr Ulrich Herzog?« Er ließ einen Umschlag in der Hand wippen, zog ihn aber schnell weg, als Herzog nickte und zugreifen wollte. »Erst ausweisen?«

Ulrich zeigte seinen Dienstausweis.

Der Hausmeister hob die Brauen. Gewissenhaft verglich er das Gesicht auf dem Passbild mit dem des Ausweisinhabers und war zufrieden. »Nichts für ungut, Genosse, aber Sie wissen ja: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!«

Bleischwer lag der Brief in Herzogs Hand, doch er bezwang seine Ungeduld und ging zum Wagen, wo er dem neugierigen Blick des Hausmeisters nicht länger ausgesetzt war. Hinter dem Lenkrad sitzend, riss er den Umschlag auf. Er enthielt nur eine schmale weiße Karte. Herzog las die wenigen Sätze immer wieder, ohne sie zu begreifen, so als wären sie in einer schwer zu übersetzenden Fremdsprache geschrieben.

»Lieber Uli«, stand da in zierlicher, gestochen scharfer Schrift. »Bitte sei mir nicht böse, aber ich mag nun mal keine Abschiedsszenen. Leider geht auch der schönste Urlaub einmal zu Ende. Und es war herrlich, Uli. Ich danke Dir für jede unserer gemeinsamen Stunden. Du warst für mich und für Frank das große Urlaubserlebnis. So soll es in unserer Erinnerung bleiben. Und nicht mehr, verstehst Du, lieber Uli, nicht mehr! Darum bitte ich Dich. Wir wünschen Dir alles Gute und Schöne. Adieu. Sigrid und Frank.«

Keine Adresse.

Keine Silbe von einem Wiedersehen. Aus und vorbei.

Seine Hände umklammerten das Lenkrad. Du kennst mich zu wenig, dachte er. So geht das mit mir nicht, liebe Sigrid. So nicht!

»Gegen Mittag können sich Quellwolken ausbilden. Es muss mit starker Turbulenz gerechnet werden«, erklärt der Meteorologe und unterstreicht seine Worte mit knappen Hinweisen auf der Wetterkarte.

Im Flugvorbereitungskabinett des 5. Jagdfliegergeschwaders sitzen die Flugzeugführer der dritten Staffel an den Tischen. Auch die Kette Milan ist vollzählig anwesend. Für Oberleutnant Ulrich Herzog sind Ostseestrand und Campingplatz nur noch schöne Erinnerungen. Sein Urlaub ist vor elf Tagen zu Ende gegangen. Er hat Sigrid Salten und den kleinen Frank nicht mehr gesehen, aber er besitzt jetzt ihre Adresse. Bis zu der Kreisstadt, in der sie wohnt, kann er es vom Standort aus mit dem Wagen in weniger als einer Stunde schaffen. Ein Brief von ihm ist bereits unterwegs. Das Glück ist auf meiner Seite, hat er ihr geschrieben. Schließlich hättest du dein Stübchen ja auch irgendwo hinter dem Inselsberg haben können. Nicht, dass mir der Weg zu weit geworden wäre, aber je größer die Entfernung, um so weniger Zeit bleibt füreinander.

In diesem Brief hat Herzog für den kommenden Sonnabend seinen Besuch angemeldet. Sicherheitshalber hat er vorher mit Major Milan und dem Staffelkommandeur gesprochen. Sie gaben grünes Licht: Keine Alarmbereitschaft für Oberleutnant Herzog. Sonnabend und Sonntag dienstfrei. Auch heute, am Dienstag, zeichnen sich für sein Wochenendvorhaben keinerlei Hindernisse ab. Doch daran denkt er jetzt nicht, sondern seine Gedanken sind ganz auf den bevorstehenden Flugdienst konzentriert. Alles zu seiner Zeit!

Der Meteorologe, der heute zugleich Flugleiter ist, meldet dem Staffelkommandeur: »Ausführungen beendet!«

»Danke!« Major Schrader sieht in die aufmerksamen, hellwachen Gesichter der Flugzeugführer. Dann geht er zu dem Tisch, an dem Oberleutnant Herzog und Leutnant Lenz sitzen, denn es ist ihm während der Ausführungen des Meteorologen aufgefallen, dass der Leutnant unablässig mitzuschreiben schien. Dieser Eifer hat sein Misstrauen geweckt, und er sagt: »Genosse Leutnant, wiederholen Sie!«

Nur für Sekundenbruchteile ist Siegfried Lenz verwirrt, dann springt er auf und leiert die Wetterlage beinahe wörtlich herunter, wie sie vom Meteorologen gegeben worden ist. Er schaut dabei über die Schulter seines Vorgesetzten hinweg zur Wand, wo auf einer übergroßen Demonstrationstafel die für einen Laien verwirrende bunte Fülle von Skalen, Zeigern, Schaltern und Kontroüämpchen an der Kabinenfront einer MiG zu sehen ist.

Die anderen Flugzeugführer beobachten den Zwischenfall. Major Milan, zu dessen Kette der Leutnant gehört, schmunzelt zufrieden. Unseren Fridolin legt auch ein Staffelkommandeur nicht so leicht aufs Kreuz, denkt er. Das ist und bleibt ein Pfiffikus!

Major Schrader kneift kaum merklich den linken Mundwinkel ein. Wer ihn kennt, weiß, was das zu bedeuten hat. Der Staffelkommandeur ist verstimmt! Es ist erst drei Wochen her, dass er den Leutnant mit einem Verweis bestraft hat. Den Grund nannten die Flugzeugführer hinter der vorgehaltenen Hand »Wecken über der Wohnzone«. Siegfried Lenz war absichdich mit Überschallgeschwindigkeit in niedriger Höhe über die Hochschule geflogen, an der seine Freundin studiert. Der rollende Donner, der im Gebäude wie ein Knall zu hören war und die Fensterscheiben klirren ließ, sollte ein Geburtstagsglückwunsch sein. Für dich lasse ich die Erde zittern, hatte er seinem Mädchen versprochen.

»Zeigen Sie doch mal her!«, sagt Major Schrader und greift nach dem Notizbuch, das aufgeschlagen vor dem Leutnant liegt. Ein Blick genügt ihm. Überführt! Auf der ganzen Seite ist keine Silbe vom Bericht des Meteorologen zu finden. Stattdessen hat Siegfried Lenz die Ränder mit vielen kleinen Fantasieblumen und Ornamenten verziert, die vier fingerlange, kunstvoll verschnörkelte Buchstaben umkränzen: einen Mädchennamen. Sie heißt Anke.

Das Grinsen des Majors ist jetzt breit und schadenfroh. »Volkskunst, wie?«

Er gibt das Notizbuch zurück und geht wieder zur Stirnseite des Raumes. Von dort aus blickt er noch einmal zu dem Leutnant hin.

»Also, Genosse Leutnant, wenn wieder mal Losungen gemalt werden müssen, zum Ersten Mai oder so: Ich denke an Sie ...« Dann wendet er sich an die Wetterflieger. »Wie ist das Ergebnis des Wetterfluges?«

Die beiden Offiziere sitzen an einem Tisch ganz vorn. Einer von ihnen erhebt sich.

»Das taktische Wetter entspricht der Lage, die der Meteorologe erläutert hat«, liest er von einem Blatt ab. An den Tischen werden wieder Kugelschreiber in Bewegung gesetzt. »Sicht nach Start fünf Kilometer. Sicht im Landeanflug bei zwei bis drei. Untergrenze sechshundert Meter, Obergrenze null-Komma-fünfundneunzig. Die Sicht in den Wolken liegt über fünfzig Meter. Durchstoßen der Wolkendecke in geschlossener Gefechtsordnung ist möglich. Die Sicht zwischen den Wolkenschichten liegt unter einem Kilometer.«

Siegfried Lenz beugt sich vor und sieht hinüber zur Fensterseite. Er sucht den Blick eines Oberleutnants, der dort sitzt. Es ist das vierte Kettenmitglied, Helmut Wendland, der aufmerksam die Ausführungen des Wetterfliegers verfolgt. Doch dann spürt er, dass ihm jemand ins Gesicht schaut, und wendet den Kopf. Siegfried Lenz hat erreicht, was er wollte. Er blinzelt mit den Augenlidern und verzerrt seinen Mund wie ein Zirkusclown. Das soll spaßig wirken und so viel bedeuten wie: Na, war das nicht Klasse? Der gute Schrader ist glatt ins Leere gebraust!

Du bist unmöglich, denkt Helmut Wendland. Wir werden ein paar ernste Worte mit dir sprechen müssen. Wenn dich deine Anke nicht bald umkrempelt, bleibst du bis zum Rentenalter der Staffelfridolin. - Mensch, reiß dich doch am Riemen!

Siegfried Lenz versteht genau, was der Oberleutnant und Parteigruppenorganisator ihm sagen wollen. Er senkt das Kinn auf die Brust und setzt die Miene eines reumütigen Sünders auf. Wieder eine seiner Posen, bei denen keiner ernst bleiben kann. Helmut Wendland schaut schnell in eine andere Richtung.

Indessen hat der zweite Wetterflieger das Wort.

»Aufgrund der Schichtung der Wolken besteht die Möglichkeit, dass Schräglagen-Illusionen auftreten«, erklärt der Offizier. »Fliegen Sie also nicht nach dem Gefühl, sondern steuern Sie das Flugzeug ausschließlich nach den Geräten.« Er wendet sich an den Flugleiter. »Ausführungen beendet!«

Nachdem der Meteorologe das Flugvorbereitungskabinett verlassen hat, erläutert Major Schrader, welche Variante an diesem Tag geflogen wird, dann fordert er die Steuermannszeit.

»In zehn Sekunden zehn Uhr zweiunddreißig Minuten!«, meldet der Genosse mit der Armbinde des Steuermanns, und die Flugzeugführer regulieren ihre Uhren.

Eine Stunde später ist draußen auf der Betonpiste der Flugbetrieb in vollem Gange. Triebwerke heulen auf. Die Warte und Techniker an der Vorstartlinie, wo die silberglänzenden MiG des Jagdgeschwaders in langer Reihe aufgestellt sind, tragen dicke Lärmschutzklappen auf den Ohren.

Nur wenige Hundert Meter von der Piste entfernt liegt der unterirdische Gefechtsstand. Hier ist es dämmerig und ruhig. Die Stille wird nur von den leisen Stimmen der Steuerleute gestört, die den Flugzeugführern ständig alle für die Orientierung am Himmel erforderlichen Koordinaten durchgeben.

Bei zweieinhalbfacher Schallgeschwindigkeit bleibt den Männern oben in den schmalen Kabinen auch nicht der Bruchteil einer Sekunde für die eigene Standortberechnung. Jeder der Steuerleute hat ein Rundsichtgerät vor sich, und seine konzentrierte Aufmerksamkeit gilt dem kreisenden Lichtstrahl, der bei jeder Umdrehung alles aufleuchten lässt, was der Funkmessstrahl am Himmel erfasst. An einer wandhohen, durchsichtigen Luftlagekarte tragen Auswerter ununterbrochen die Standortmeldungen ein, die sie über Funk von den Messstationen erhalten. Nur hier gibt helles Licht den Zeichen und Zahlen scharfe Konturen.

Flugbetrieb, das ist für die Genossen der Luftstreitkräfte das fugenlose Ineinandergreifen des Räderwerks einer Präzisionsmaschine. Jeder beherrscht seine Aufgabe, denn jeder Handgriff, jedes Kommando ist hundertfach geübt. Wo Sekunden über Leben und Tod entscheiden können, darf kein Millimeter Raum für Hektik oder Unsicherheit bleiben.

Major Schrader hält sich in der Flugleitung auf, die sich in einem Lastwagen mit Spezialaufbauten befindet. Alle wichtigen Überwachungs-, Kontroll- und Funksprechanlagen sind hier auf engstem Raum untergebracht und lassen den Menschen nur geringe Bewegungsfreiheit. Von einem erhöhten Sitz aus kann der Flugleiter mit dem Fernglas die Betonpiste überschauen.

»Alpha eins! Alpha eins! Hier Fünf-null-vierundzwanzig«, schnarrt eine Stimme im Lautsprecher. »Fahrwerk ist ausgefahren. Erlauben Sie Landung!«

Fünf-null-vierundzwanzig, das ist Oberleutnant Herzog.

»Die Landung ist für Sie erlaubt, Fünf-null-vierundzwanzig!«, erwidert Major Schrader über Funk. Er setzt das Fernglas an die Augen, um den Landevorgang zu beobachten. Mit günstiger Geschwindigkeit erscheint die Maschine genau in der von Funkfeuern markierten Einflugschneise. Gleitend setzt das Fahrwerk auf und behält sofort Bodenkontakt. Es gibt kein Springen oder Schaukeln. Der Major nickt kaum merklich. Es ist Anerkennung. Eine Landung wie aus dem Bilderbuch, urteilt er in Gedanken und verfolgt den Rollweg der MiG. Ohne das Glas von den Augen zu nehmen, wendet er sich an den Unteroffizier, der vor dem Rundsichtgerät sitzt. «Fragen Sie mal im Gefechtsstand, wo die Fünf-null-dreiundzwanzig steckt.« Es ist die Nummer der Maschine, die von Leutnant Lenz geflogen wird.

Der Unteroffizier schaltet das Wechselsprechgerät ein. »Gefechtsstand! Wo befindet sich die Fünf-null-dreiundzwanzig?«

Es knackt und knistert im Lautsprecher.

»Hundertzehn Kilometer vom Platz. Kurs hundertsiebzig. - Genosse Lenz fliegt unsauber. Wir mussten schon mehrfach Kurskorrekturen geben.«

Major Schrader hat mitgehört. Über seiner Nasenwurzel graben sich zwei kleine, gegeneinanderlaufende Falten ein. »Sie sollen ihn an uns übergeben!«, befiehlt er.

Die Wolken sind wie Wände aus Watte.

Die MiG mit der Nummer fünf-null-dreiundzwanzig auf dem schlanken Rumpf schwankt, als werde sie von Sturmböen geschüttelt. Die grauen, dichten Schleier teilen sich vorn nur zäh und fließen hinter der Maschine sofort wieder ineinander. Es gibt für den Piloten keinen Himmel und keine Erde mehr, kein Oben und kein Unten. Der Horizont ist im fahlen Nebel ertrunken.

Schweißperlen glitzern auf der Stirn des Mannes, dessen Hände den Steuerknüppel umklammern. Seit Minuten ist jeder Muskel seines Körpers gespannt wie unter einer Zentnerlast. Seine Lippen sind verkrampft, in den Augen flackert Ratlosigkeit. Es ist ein Gesicht, in das die Angst ihre Zeichen schreibt. Siegfried Lenz wird von Illusionen genarrt.

Begonnen hat es damit, dass er plötzlich die Messwerte der Bordgeräte anzweifelte. Der künstliche Horizont zeigte korrekten Geradeausflug an, aber eine innere Stimme flüsterte ihm zu, er flöge in Schräglage. Er verließ sich auf sein Gefühl und korrigierte die Lage der Maschine allein nach seinen Empfindungen. An der Armaturentafel pendelte sich die Anzeige des künstlichen Horizonts auf erhebliche Schräglage nach der linken Seite ein.

Halt dich an die Instrumente, befahl seine Vernunft. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass dich Illusionen in die Zange nehmen. Du bist immer damit fertig geworden. Konzentrier dich! Die Instrumente sind unbestechlich.

Zögernd betätigte er die Steuerung, doch wenig später siegte erneut der innere Zweifel. Die Skalen und Kontrolllämpchen wurden für ihn zu Irrlichtern, die ihn narren wollten.

Jetzt hat der Leutnant den Punkt erreicht, an dem er völlig ohne Orientierung ist. Er weiß nicht mehr genau, ob er im Steil- oder im Sturzflug dahinjagt. Die Maschine ist schneller als der Knall eines Schusses. Eingezwängt in einen Kabinenkäfig, umgeben von undurchdringlichem, beklemmendem Nebel, wird er von der Vorstellung gepeinigt, ins Leere zu stürzen. Wie viel Sekunden noch bis zum Aufprall? Seine Hände sind wie gelähmt.

»Fünf-null-dreiundzwanzig! Hier spricht Alpha zwei!«, dröhnt es ihm aus dem Kopfhörer in die Ohren. »Nehmen Sie Verbindung mit Alpha eins auf!«

»Alpha zwei, verstanden! Melde mich bei Alpha eins.« Seine Stimme klingt rau. Sein Blick hetzt über die Armaturen. Er nimmt eine Hand vom Steuerknüppel und dreht überhastet am Kanalwähler. Im Kopfhörer bleibt es still. Eine unbedachte Bewegung mit dem Steuerknüppel verstärkt noch das Schwanken der Maschine. Seine Nervosität wächst. Endlich findet er den richtigen Kanal und meldet sich.

Major Schrader lässt sich nicht anmerken, dass er innerlich aufatmet. Er verlangt von Siegfried Lenz Angaben über Kurs, Höhe und Entfernung. »Fliegen Sie mein Funkfeuer an!«, befiehlt er dann in klarem und sehr bestimmtem Ton. »Nehmen Sie die von Alpha zwei befohlene Höhe von null-vierzig ein!«

Siegfried Lenz atmet hastig, und sein Blick irrt hinaus in den Wolkennebel, sucht irgendwo eine Lücke, eine Handbreit vom Blau des Himmels. Nichts als nasses, trostloses Grau. Seine Finger krampfen sich um den Steuerknüppel. Die Maschine steigt, ist bereits auf fünftausend Meter Höhe.

Da meldet aus dem Lautsprecher des Wechselsprechgeräts in der Flugleitung eine sachliche Stimme: »Genosse Major, die Fünf-null-dreiundzwanzig fliegt das Funkfeuer nicht an, hat zurzeit einen Kurs von zweihundertvierzig Grad.«

Unwillig schüttelt Major Schrader den Kopf. Dann beugt er sich ein wenig näher zum Mikrofon. »Fünf-null-dreiundzwanzig! Geben Sie mir Ihre Flugparameter!«

Ein paar Sekunden vergehen, ehe die Antwort kommt.

»Mein Kurs ist zurzeit zweihundertvierzig ... Kurve wieder auf befohlenen Kurs ... Höhe null-dreiundfünfzig ... Nehme befohlene Höhe null-vierzig ein!«

Wieder wiegt Major Schrader den Kopf. Die Antworten des Flugzeugführers kommen ihm zu überstürzt.

»Kann er 'raus aus den Wolken?«, fragt er den Meteorologen.

»Nein!«, lautet die Antwort. »Die Obergrenze ist inzwischen zu hoch, die Untergrenze zu niedrig.«

»Verdammt!«, flucht Major Schrader, hat sich aber gleich wieder in der Gewalt. »Dann muss er in dem befohlenen Flugregime damit fertig werden. - Unser Fridolin!« Dieser Spitzname klingt plötzlich gar nicht mehr spaßig. Major Schrader drückt die Taste des Wechselsprechgeräts. »Landesystem! Beachten Sie genau den Flugweg der Fünf-null-dreiundzwanzig! Geben Sie alle Kommandos klar und ruhig. Genosse Lenz hat Illusionen.«

»Verstanden!«, klingt es aus dem Lautsprecher.

Der Major schaltet wieder das Sprechfunkgerät ein, das ihn mit Siegfried Lenz verbindet.

»Fünf-null-dreiundzwanzig! Hier Alpha eins. Konzentrieren Sie sich auf die Geräte. Nehmen Sie Horizontalflug nach dem künstlichen Horizont ein ... Vergleichen Sie mit den anderen Geräten!«

In seiner Stimme ist nichts von der Sorge und der Erregung zu spüren, die ihn bewegen. Er spricht so, als sei alles nur eine Übung am Flugsimulator. Er will, dass die Radiowellen nicht nur seine Worte, sondern auch seine Besonnenheit auf den Flugzeugführer oben in der MiG übertragen. »Melden Sie mir die anliegenden Regimes!«

Zwei, drei stumme Sekunden.

»Hier Fünf-null-dreiundzwanzig. Mein künstlicher Horizont ist ausgefallen ... Höhe null-fünfundzwanzig. - Ich befinde mich in der Rückenlage ... Nein, nicht ... Doch, in der Rückenlage!«

Major Schrader stößt mit einer heftigen Bewegung seine Schirmmütze in den Nacken, aber seine Stimme bleibt ruhig.

»Schalten Sie das Horizontalflugregime des Autopiloten ein!«, ordnet er an. Vor Spannung wird ihm der Kragen zu eng. Jetzt reiß dich am Riemen, Fridolin, denkt er beschwörend. Du darfst dich nicht selbst verrückt machen. Dein künstlicher Horizont ist in Ordnung. Begreif doch, dass der Defekt allein hinter deiner Stirn sitzt. Mit dir selbst musst du jetzt fertig werden, Junge. - Mit dir! Und das schaffst du auch!

»Fünf-null-dreiundzwanzig. Mein Autopilot ist ausgefallen! Er arbeitet nicht«, klingt es wie ein verzweifelter Hilferuf heiser aus dem Lautsprecher.

Der anwesende Unteroffizier schaut den Major an. »Er wird nicht damit fertig, Genosse Major«, sagt er, und sein Blick ist eine stumme, ernste Frage. Der Flugleiter versteht sie.

»Welche Höhe liegt an?«, fragt er beherrscht ins Mikrofon.

»Höhe null-zwanzig!«, antwortet Siegfried Lenz.

Hinter der Stirn des Majors jagen sich die Überlegungen. Katapultieren? Die teure Maschine aufgeben? Gibt es keinen anderen Weg, den Leutnant unbeschadet zur Erde zurückzubringen? Er weiß, dass ihm nur wenige Sekunden für eine Entscheidung bleiben, die ihm niemand abnehmen kann. Er ist der Flugleiter, er allein trägt die Verantwortung. Er muss alle Möglichkeiten blitzschnell abwägen. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass Siegfried Lenz schon in zwei Minuten zu logischem Denken und Handeln zurückfindet und die Maschine sicher landet. Es kann aber auch passieren, dass er bereits in einer Minute mit Überschallgeschwindigkeit im Sturzflug bodenwärts jagt, in einen Acker stößt, in eine Ortschaft ... Nein! Major Schrader braucht nicht viel Fantasie, um sich die Auswirkungen einer solchen Katastrophe vorzustellen. Eine MiG ist zwar teuer, aber ein Menschenleben unersetzbar!

»Fünf-null-dreiundzwanzig!« Seine Miene verrät, dass er den Entschluss gefasst hat. »Hier Alpha eins. - Katapultieren Sie!« Dann wendet er sich an den Unteroffizier und befiehlt, Rettungsalarm auszulösen. Danach wiederholt er: »Hier Alpha eins. - Katapultieren Sie! - Katapultieren Sie!«

Wolkenfetzen rasen am Kabinenfenster vorbei. Die klare, kühle Stimme des Majors dringt ins Unterbewusstsein des völlig verstörten Siegfried Lenz. Aussteigen! Er zögert. Was wird mit der Maschine? Sie darf niemanden in Gefahr bringen. Bin ich auf Nordkurs? Noch zehn Sekunden, Genosse Flugleiter! Noch fünf Sekunden ...

»Katapultieren Sie!« Jetzt ist der Kommandoton wie ein Hieb. Siegfried Lenz reagiert automatisch. Tausendfach geübte Griffe entscheiden nun über sein Leben. Das Kabinendach wird fortgerissen. Der Treibsatz zündet und schleudert den Sitz mit dem Flugzeugführer von der stürzenden Maschine weg. Gleich darauf löst sich Mann und Gerät. Über Siegfried Lenz öffnet sich mit lautem Knall der Fallschirm. Er fällt pendelnd einer glatten, grüngrauen Fläche entgegen. Die Ostsee!

Seine Beine stechen wie Dolche ins Wasser, und im nächsten Augenblick trifft ihn ein Schmerz, als tauche er in glühende Lava. Ein riesiger, schwarzer Rachen schnappt nach ihm, und alle Lichter verlöschen. Leutnant Lenz hat das Bewusstsein verloren.

Major Schrader ordnet an, den Flugbetrieb einzustellen. So wie er warten auch die anderen Genossen auf dem Platz und im Gefechtsstand ungeduldig auf eine Nachricht. Zwei Hubschrauber sind gestartet, um nach Siegfried Lenz zu suchen und ihn zu bergen. Das Planquadrat, in dem der Leutnant aufgekommen sein muss, ist schon berechnet worden. Ein paar Quadratkilometer graues Meer. Es ist mäßig bewegte See, wie aus dem Wetterbericht hervorgeht. Die Hubschrauber suchen einen kleinen hellen Punkt zwischen Gischt und Wellenbergen.

Die Minuten schleichen dahin, und die Spannung wächst.