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Seit dem Selbstmord ihres Mannes Robert ist in Kareens Welt nichts mehr wie es war. Die Familie ihres Mannes will sie von ihrem fünfjährigen Sohn Max trennen und setzt sie unter Druck. Und Risch, ihr Chef, mit dem sie eine Nacht verbracht hat, stellt ihr nach. Dann verschwindet ihr Sohn plötzlich aus dem Kindergarten und bei seiner Rückkehr hat er eine verstörende Nachricht bei sich. Nur ein Zettel aus einer Reihe vieler mysteriöser Botschaften, die seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes erhält. Kareens Angst wächst: Angst um ihren Sohn, Angst um sich selbst. Hat Robert wirklich Selbstmord begangen? Und wer steckt hinter den mysteriösen Anrufen, Nachrichten und Drohungen, die Kareen seit einiger Zeit erhält?
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Seitenzahl: 422
Seit dem Selbstmord ihres Mannes Robert ist in Kareens Welt nichts mehr wie es war. Die Familie ihres Mannes will sie von ihrem fünfjährigen Sohn Max trennen und setzt sie unter Druck. Und Risch, ihr Chef, mit dem sie eine Nacht verbracht hat, stellt ihr nach.
Dann verschwindet ihr Sohn plötzlich aus dem Kindergarten und bei seiner Rückkehr hält er eine
Nur ein Zettel aus einer Reihe vieler mysteriöser Botschaften, die seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes erhält
Kareens Angst wächst: Angst um ihren Sohn, Angst um sich selbst. Hat Robert wirklich Selbstmord begangen? Und wer steckt hinter den mysteriösen Anrufen, Nachrichten und Drohungen, die Kareen seit einiger Zeit erhält …
Der Thriller wurde vormals unter dem Pseudonym Michaela Schwarz veröffentlicht.
Über Reinhard Rohn
Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman »Rote Frauen«, der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.
Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über »Matthias Brasch«. Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.
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Reinhard Rohn
Schmetterlingskinder
Roman
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Prolog
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Zweiter Teil
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Impressum
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind rein zufällig. Bei der Schilderung real existierender Schauplätze habe ich mir einige kleinere Freiheiten erlaubt.
Sie fror in ihrer Latzhose und dem T-Shirt. Hier oben standen nur vereinzelt Bäume, und der Wind war eisig. Jemand mit einem guten Fernglas oder einem Nachtsichtgerät würde sie nun gut erkennen können. Hoffentlich hatte man nicht beobachtet, wie sie die Schuhe hinter sich geworfen hatte. Aber das Handy rührte sich nicht.
Feindselige Stille hüllte sie ein, die nur dann und wann von dem Rauschen eines fernen Autos gestreift wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie gegangen war, als plötzlich am Nachthimmel ein Turm auftauchte – ein alter Kirchturm. Dann bemerkte sie in dem schwachen Licht, das ein halber Mond zwischen zerrissenen Wolken hervorwarf, weitere Gebäude. Ein Dorf hier mitten im Nichts? Wie konnte das sein?
Sie ging weiter, glaubte, tiefe Wagenspuren vor sich im Sand auszumachen, aber die Furchen konnten Tage oder gar Wochen alt sein und mussten nicht von einem Geländewagen stammen.
War es nicht Wahnsinn, was sie da tat?
Sie lief weiter durch die Dunkelheit. Ihr war kalt, und das Herz pochte ihr bis zum Hals. Sie hatte das sichere Gefühl, dass jemand sie beobachtete – irgendwo wartete man auf sie. Da lagen sie auf der Lauer. Der lange Weg war nun zu Ende. Vier Menschen waren gestorben, und auch sie würde sterben, wenn sie nicht bald ihren Sohn in die Arme schließen konnte.
Sie spürte, wie das Handy in ihrer Hand vibrierte. JETZT, las sie auf dem Display.
Im nächsten Moment wurde sie in ein gleißendes Licht getaucht.
Vor manchen Dingen bot nicht einmal eine Gefängniszelle Schutz: Holger kam herein.
So lief es immer, bis ich den Tibeter traf. Holger konnte durch Wände gehen oder durch die Decke fallen, ganz wie er wollte. Gitter konnten ihn nicht aufhalten. Für ihn war nur wichtig, dass der Mond schien und es still war. Laute Geräusche mochte er nicht. Er war immer freundlich; niemals machte er mir Vorwürfe. Wir wussten beide, dass er tot war, aber es schien keine Rolle zu spielen. Er rückte den Stuhl zurecht, um ihn zu erklettern und sich mir gegenüber hinzusetzen. Er machte sich immer ein wenig kleiner, als er war, und hatte etwas Zwergenhaftes.
»Ich weiß, dass ich dich umgebracht habe«, sagte ich. Ich hatte Zeit, ihn genau zu betrachten. Er trug immer dieselben Sachen, blaue Jeans, ein gelbes Hemd, das ihm eigentlich zu lang war. So hatte ich ihn bei seinem Tod nicht gesehen. Nur seine Brille stimmte – ein billiges silberfarbenes Drahtgestell.
Er sagte nichts, schlug nur kurz die Augen nieder. Irgendwann verschwand er, löste sich auf, als ich kurz den Blick abgewandt hatte.
Sie nannten ihn den Tibeter. Ich hatte keine Ahnung, wo er herkam. Plötzlich beim Freigang schob er sich neben mich.
»Wer bist du? Du gehörst hier nicht hin!«, raunte er mir zu. Er sprach einen seltsamen Dialekt, den ich nicht einordnen konnte.
Wenn ich ehrlich war, hatte ich Angst vor ihm. Ich sah ihn deshalb gar nicht richtig an. Ich versuchte mich nur darauf zu konzentrieren, im Kreis zu gehen, einen Schritt sorgsam vor den anderen zu setzen.
Als ich dann doch aufschaute, war er schon wieder von meiner Seite verschwunden. Ich sah nur noch sein langes schwarzes Haar, das geflochten war wie bei einer alten Frau. Oder wie bei einem Indianer.
Das nächste Mal begegnete ich ihm drei Tage später. Ich kann nicht sagen, dass ich mich eingewöhnt hatte. Die Welt, in der ich feststeckte, war mir so fremd, als hätte man mich auf eine Zeitreise geschickt – hinein in eine graue, düstere Ödnis, die noch dazu gefährlich war. Der ersten Prügelei war ich nur knapp entgangen.
»Du musst aufschauen. Lerne den Blick nach oben zu richten«, sagte der Tibeter zu mir. »Ich heiße Gyantse.«
Er sah wirklich wie ein Indianer aus: dunkle, wettergegerbte Haut, Augen wie aus Kohle, aber voller Neugier und Forscherdrang.
»Kommst du zurecht?« Er lächelte. Oben rechts fehlten ihm zwei oder drei Zähne.
Ich nickte, obwohl es nicht stimmte. Ich kam nicht zurecht. Nicht mit mir, nicht mit meiner Schuld. Nicht mit den anderen.
»Du lügst«, sagte der Tibeter, und seine Kohleaugen schimmerten noch dunkler. »Ich kann in deine Seele sehen.«
Ich lachte boshaft und wandte mich ab. Solche Sätze konnte ich nicht leiden. Was sollte das? War er eine Art Priester, ein Schamane? Wollte er hier Leute bekehren?
»Lass mich in Ruhe!«, sagte ich.
»Schon besser!« Er packte mich mit einer schnellen Bewegung am Arm, als fänge er ein Tier. »Wusste ich es doch! Es ist noch ein Funken Leben in dir.«
Ich schaute auf. Er war sehr kräftig, noch kräftiger als erwartet.
»Ich habe gleich gesehen, dass du hier nicht hingehörst. Ich gebe dir einen Ort, wo du deinen Frieden hast, wohin du dich zurückziehen kannst, wenn es dir schlecht geht.«
Ich lachte verlegen, ohne seinen Arm abzuschütteln, wie ich es eigentlich hätte tun müssen.
Dann griff der Tibeter mit seiner Linken in die Hosentasche. »Hier«, sagte er, »hier ist dein geheimer Ort. Konzentriere dich darauf – und dann gehst du auf die Reise!« Er ließ mich los und drückte mir ein Stück bedrucktes Papier in die Hand, das mehrmals gefaltet war.
»Dazu musst du dir den Wind vorstellen – Wind, der wie Musik ist, wenn er über die Steine streicht. Vergiss es nicht!« Er blickte mich noch einmal an, bevor er sich umdrehte und zwischen den anderen verschwand.
Ich steckte das Papier ein und ging weiter, ohne zu ahnen, was das alles zu bedeuten hatte.
Erst in der Nacht wagte ich, das Papier hervorzuziehen. Vorsichtig faltete ich es auseinander. Zuerst verstand ich nicht, was ich vor mir sah. Ich hatte eine Botschaft erwartet, vielleicht irgendeinen Sinnspruch, doch es war ein Foto, das der Tibeter offenbar aus einem Buch gerissen hatte. Ein Yak stand da in einer kargen Ebene im Mondlicht. Er schien zu grasen, obwohl in dieser Landschaft kaum ein Grashalm wachsen konnte, und warf einen langen Schatten. Ein Stück weiter schimmerte silbrig eine Lehmhütte. Menschen waren nicht zu sehen. Im Hintergrund waren im Mondlicht schneebedeckte Gipfel zu erahnen, eine majestätische Bergkette.
Den Tibeter habe ich nie wiedergesehen, aber jede Nacht habe ich das Bild hervorgeholt und daran gedacht, wie es wäre, allein unter einem Sternenhimmel in dieser Ebene zu sitzen. Außerdem begann ich zu trainieren – meinen Körper und meinen Geist. Ich versuchte, nicht länger in Selbstmitleid und Schuld zu versinken.
Drei Monate später, als man mich einmal schlafend über meinem Bild fand, lachte man mich aus und nannte mich fortan den Tibeter. Es war als Spott gemeint, doch für mich klang es wie ein Kompliment.
Ich ahnte nun, worum es mir in meinem Leben noch gehen konnte: darum, Schönheit und Liebe zu suchen und den Berg der eigenen Schuld zu überwinden.
Der Himmel war schwarz, als sie aus dem Sender kam. Nur in der Ferne schien noch ein Licht über der Stadt zu schweben. Kareen spürte, wie müde sie war. Viel zu lange war sie im Studio gewesen; sie hatte die Nachrichten gelesen, dann zwischendurch ein Feature über Sartre, das ziemlich kompliziert und eigentlich unlesbar gewesen war, und zum Schluss hatte sie sogar noch für die Sportmeldungen einspringen müssen. Dabei hasste sie Sportnachrichten, aber wahrscheinlich kannte Risch auch diese Abneigung und hatte sich einen Spaß daraus gemacht, wie sie sich dreimal versprochen hatte. Die Namen russischer Eishockeyspieler waren nun einmal schwer auszusprechen. Sie hätte niemals mit Risch schlafen dürfen. Neuerdings teilte er Kareen sogar für den Nachtdienst ein, Nachrichten und Verkehrsmeldungen, als würde sein Zorn auf sie mit der Zeit nicht kleiner, sondern immer noch größer werden.
Als sie das Studio verlassen hatte, war Risch noch in seinem Büro gewesen. Er hatte in der Tür gestanden und ihr nachgeschaut, reglos, mit starrer Miene und ohne einen Gruß. Manchmal blieb er die halbe Nacht im Sender, saß am Fenster und rauchte. Er vergeudete sein Leben und schien sich diese Sinnlosigkeit auch selbst noch vorzuführen, aber irgendwie tat sie das ja auch.
Nein, sie hatte Max. Ihr Kind war trotz allem ihr Glück. Wenn er nicht gewesen wäre, ihr scheuer, verletzlicher Schmetterling, würde sie ihre Zeit vielleicht auch wie ein lichtscheues Wesen in einem düsteren Büro verbringen.
Kurz vor den Einundzwanzig-Uhr-Nachrichten hatte sie Max angerufen. Er hatte zwar heiser geklungen, hatte aber kein Fieber mehr gehabt. Dennoch hatte sie Claudine, ihr kanadisches Aupair-Mädchen, ermahnt, ihm noch einen Tee zu machen. Im Hintergrund war der Fernseher gelaufen, so laut, dass sie Max beinahe gar nicht verstehen konnte, irgendein Videokanal, der furchtbare Musik brachte. Aber vielleicht hätte sie diese Normalität trösten sollen.
Während Kareen den Wagen aufschloss und losfuhr, kam ihr wieder der Gedanke, der sie in den letzten drei Wochen ständig überfiel, wenn sie müde war und nicht klug genug, sich sofort abzulenken. Man müsste aus seinem Leben wie aus einem Bus aussteigen und sich ein neues suchen. Irgendwohin gehen, in neuen Kleidern, mit anderen Gedanken. Drei Tage nach Roberts Tod hatte sie sich aus einer Laune heraus bei einem kleinen deutschen Sender auf Mallorca beworben, und als man sie bat, Referenzen beizubringen, hatte sie sich zwei Wochen lang schon ausgemalt, wie sie mit Max auf der Insel bei anderem Licht, anderen Temperaturen leben würde. Vielleicht täte ihm das Klima ja gut.
Gestern war die Absage gekommen. Man habe sich für eine andere Bewerberin entschieden, die perfekt Spanisch und Englisch spreche, und wünsche ihr viel Glück.
Kareen bog auf die Hauptstraße, als ihr Mobiltelefon klingelte. Max, dachte sie, er kann ohne einen Gutenachtkuss wieder nicht einschlafen. Doch als sie das Gespräch annahm, hörte sie nur, wie jemand tief ein- und ausatmete. Auf dem Display tauchte keine Nummer auf. Solche Anrufe hatte sie in den letzten zwei Wochen bereits einige Male erhalten. Sie hatte Risch in Verdacht, dass er nachts durch irgendwelche Büros schlich und sie dann anrief, ohne dass man das Telefonat zu ihm zurückverfolgen konnte. Oder es war Jakob, ihr Schwager. Nein, Jakob würde nicht bloß in den Hörer atmen, sondern sie wortreich beschimpfen und ihr Vorhaltungen machen.
Seelenruhig, eine Hand am Lenkrad, wartete sie, bis es knackte und die Verbindung abbrach.
Den Umschlag, der unter ihrem rechten Scheibenwischer klemmte, bemerkte sie erst, als sie in der Nähe ihres Hauses einen Parkplatz gefunden hatte und ausstieg. Wie ein Reklamezettel sah das Stück Papier aus, sodass sie eigentlich gar nicht zurückgehen wollte. Wofür wurde nicht neuerdings auf diese Art geworben? Nagelstudios, Auspuffdienste, lukrative Nebenbeschäftigungen, hinter denen wahrscheinlich irgendwelche unseriösen Versicherungsleute steckten.
Auf dem Umschlag stand ihr Name in einer unpersönlichen Blockschrift. Kareen. Nichts weiter.
Hatte jemand aus dem Sender eine persönliche Nachricht für sie? Ute, die Toningenieurin, mit der sie manchmal essen ging? Oder Babette, ihre Sprecherkollegin?
Noch auf der Straße, im Schein einer Straßenlaterne, öffnete Kareen den Umschlag. Ein schmales weißes Blatt befand sich darin. Sie drehte es ins Licht. Jemand hatte ihr mit derselben unpersönlichen Schrift eine Botschaft geschickt.
Aus dem Tal zum Gipfel, stand da. Der Wind ist wie Musik, wenn er über die Steine streicht. Der Tibeter.
Kareen schaute sich um, als könne jemand in der Nähe sein, der sie beobachtete und vielleicht diesen Zettel geschrieben hatte, aber natürlich war da niemand. Die Straße war dunkel und leer, nur eine Katze hockte in einem Hauseingang und starrte sie an. Gelbliches Licht reflektierte in ihren Augen. Was sollte das? Der Tibeter? Wollte sich Risch einen Scherz mit ihr erlauben, oder war er dahintergekommen, dass sie tatsächlich gern einmal nach Tibet reisen würde? Risch wurde zu einer unheimlichen Macht, die ihr Leben mehr und mehr durchdrang. Kareen steckte den Zettel in ihre Jackentasche und beeilte sich. Vielleicht war Max noch wach und wartete auf sie.
Claudine saß in der Küche und telefonierte. In Kanada war es nun später Nachmittag. Sie lächelte Kareen nur zu und winkte leichthin mit der linken Hand. Vor ihr stand ein halbvoller Aschenbecher. Sie sprach so schnell Französisch, dass Kareen kein Wort verstand. Da Claudine ihre Stimme nicht zu einem Flüsterton senkte, vermutete Kareen, dass sie mit ihrer Mutter und nicht mit ihrem Freund sprach. Wahrscheinlich hatte die Siebzehnjährige sich niemals ausgemalt, dass sie in Deutschland ein krankes Kind pflegen müsste.
Kareen ging zum Kinderzimmer hinüber und öffnete vorsichtig die Tür. Ein schmaler Streifen Licht fiel in den Raum. Max schlief und atmete ruhig vor sich hin. Seine Hände steckten in dünnen weißen Handschuhen, sein Gesicht war eingecremt. So weit schien alles in Ordnung zu sein. Auch die Kissen hatte Claudine ordentlich im Bett und auf dem Boden drapiert. Jede kleinste unbedachte Berührung mit einem festen Gegenstand konnte für Max gefährliche Folgen haben. Es tat Kareen gut, ihr Kind so friedlich daliegen zu sehen. Über dem Bett hing das Foto eines großen gelben Schmetterlings. »Mein Zeichen«, hatte Max gesagt. »Weil ich ja auch ein Schmetterling bin.«
Erst als Kareen die Tür wieder geschlossen hatte, entdeckte sie den Umschlag auf der Kommode in der Diele. Sofort wurde ihr unbehaglich zumute. Briefe bedeuteten in der letzten Zeit nichts Gutes. Jakob, fiel ihr ein, er würde seinen Kampf um Max nicht so schnell aufgeben, auch wenn er nur der Onkel war, aber ein Onkel mit Geld und Einfluss.
Der Brief kam von der Lebensversicherung.
Betreff: Todesfall Robert Hagen, stand da. Liebe Frau Hagen, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir noch keine Auszahlung der Versicherungssumme in Aussicht stellen können, da die genauen Umstände des Todes des Versicherungsnehmers weiterhin nicht völlig geklärt sind. Der abschließende Bericht der Staatsanwaltschaft wird in ca. zwei Monaten vorliegen. Bis dahin bitten wir von weiteren Eingaben abzusehen.
Mit freundlichen Grüßen …
Kareen hörte, wie Claudine sich wortreich verabschiedete und dann mit einem seltsamen Lachen auflegte. Nichts bedeutet dieser Brief, dachte sie, nur dass ich vorerst kein Geld bekommen werde.
Claudine tauchte in der Küchentür auf. »Bonsoir«, sagte sie. »Ich habe gekocht. Schokoladenpudding. Hat Max auch gegessen.« Es war immer schön, ihren französischen Akzent zu hören, der jedem Wort etwas Spielerisches verlieh.
»Bedauere, ich habe keinen Hunger.« Kareen strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hätte allenfalls ein Glas Rotwein vertragen können.
»Max war sehr lieb. Er hat auch Besuch gehabt.« Claudine lächelte, als hätte sie eine Überraschung parat. Ihre makellosen weißen Zähne funkelten, und ihre langen schwarzen Haare flogen. Zum ersten Mal fiel Kareen auf, dass sie sich geschminkt hatte.
»Besuch? Heute Abend noch? Davon hat er mir gar nichts erzählt.«
»Sein Onkel Jakob … Er hat sogar ein Geschenk mitgebracht, einen nagelneuen Discman.« Claudine machte eine vage Handbewegung. »Damit Max sich abends im Bett Märchen-CDs anhören kann, wenn du im Sender bist. Hat Jakob gesagt.«
Kareen spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Es war das zweite Mal in den letzten drei Wochen, dass Jakob scheinbar zufällig vorbeigekommen war, und jedes Mal war sie nicht zu Hause gewesen. Am liebsten wäre ihr der Gedanke gewesen, dass er wegen Claudine kam, um eine wunderschöne junge Frau anzuschauen und mit ihr zu flirten, aber sie wusste, dass er andere Gründe hatte. Er wollte Max, und vor allem wollte er sie zermürben und ihr Angst machen. Vor zwei Wochen hatte sie ihn angeschrien: »Ich bin nicht schuld an Roberts Tod!« – »Doch, das bist du«, hatte er gesagt. »Robert war immer schon zu weich, aber du hast ihn im Stich gelassen, hast ihm das Gefühl gegeben, ein Versager zu sein – als Mann und als Arzt.«
Claudine verzog sich in ihr Zimmer. Sie schien mit wenig Schlaf auszukommen, vier, fünf Stunden genügten ihr, während Kareen das Gefühl hatte, seit Roberts Tod nicht mehr richtig geschlafen zu haben. Zuerst war es die Leere neben ihr gewesen, an die sie aber eigentlich gewohnt sein musste, da er schon lange nicht mehr neben ihr geschlafen hatte; dann hatten wirre, schreckliche Träume, in denen sie Max suchte und nicht fand, ihren Schlaf gestört.
Mitten in der Nacht klingelte das Telefon neben ihrem Bett. Die Anzeige auf dem Radiowecker zeigte drei Uhr vierzehn. Sie war sofort wach und hörte jemanden atmen, schnell und beinahe erregt. Dann sagte eine verstellt klingende Stimme: »Gehen Sie fort! Und passen Sie auf sich und Ihr Kind auf!« Es knackte in der Leitung, und die Verbindung brach ab.
Der Tibeter, dachte Kareen, oder Risch – oder Risch ist der Tibeter und will mich nun ganz und gar verrückt machen. Aber warum sollte er Drohungen ausstoßen? Und war es nicht die Stimme einer Frau gewesen?
Morgens in aller Frühe hatte Max seine glücklichsten Augenblicke, da kam er lachend in ihr Zimmer und erzählte von seinen Träumen. Er war trotz seiner Krankheit ein heiteres Kind.
»Guck mal, was Onkel Jakob mir geschenkt hat!«, rief er und stieß die Tür auf. Wenn die Blasen auf seiner Stirn nicht gewesen wären, hätte man ihn für einen gewöhnlichen Fünfjährigen halten können.
Kareen blickte auf die Uhr. Es war zwanzig nach sechs. Vorsichtig trippelte Max heran. Immerhin hatte er sich angewöhnt, mit kleinen, wohlgesetzten Schritten zu gehen. Als er einmal ausgerutscht war, war sein ganzer Oberkörper auf einer Seite wund gewesen und hatte Blasen geworfen.
»Wie schön, mein Schmetterling!«, sagte Kareen und ließ sich den Walkman vorführen. Eine Märchen-CD hatte Jakob gleich mitgeschenkt. »Rotkäppchen« lief.
Gleich vermutete Kareen, dass ihr Schwager einen Hintergedanken gehabt hatte. Wollte er Max Angst einjagen? Er wusste doch, dass den Jungen sogar ein böser, furchterregender Gedanke verletzen konnte.
Max hielt ihr einen Ohrhörer hin. »Kannte ich schon, das Märchen. Hab deshalb auch keine Angst gehabt«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten.
Mit einem kurzen Blick suchte Kareen sein Gesicht und seine Hände ab. In manchen Nächten verletzte er sich so schwer, dass er nicht in den Kindergarten gehen konnte. Dann war auf seiner Wange eine große Blase aufgetaucht, die bei der kleinsten Berührung aufplatzen und sich infizieren konnte.
Kareen drückte Max so leicht, dass er es kaum spürte, ihre Lippen auf die Stirn, und dann glitt er unter ihre Decke.
»Kannst du mir auch eine Geschichte erzählen?«, fragte er.
Sie vermied es, ihn zu umarmen.
»Klar«, sagte sie, »was möchtest du hören?« Dabei wusste sie genau, welche Erwiderung auf diese Fragen folgen würde.
»Erzähl mir, was Papa im Himmel so macht.« Max verzog den Mund zu so einem breiten Lächeln, dass sie schon fürchtete, er könne sich verletzen.
Darauf liefen alle Geschichten hinaus: Was tat sein Vater im Himmel? Sie versuchte den Jungen zu trösten, indem sie für Robert ein neues Leben über den Wolken erfand. Sein Vater war nicht tot, er war nur von einer dunklen Welt in eine helle gesprungen und blickte von dort auf sie herab.
»Oh, ich schätze, er ist heute genauso früh aufgestanden wie wir und ist dann zu einem Wolkenfluss gegangen, um zu angeln.«
»Was angelt er denn da?« Max schob sich neugierig näher an sie heran. Eine Blase auf seiner Stirn nässte ein wenig. Ansonsten sah sein Gesicht viel besser aus als in den ersten Tagen nach Roberts Tod. Da hatte er sich kaum bewegen können.
»Im Himmel gibt es auch Fische – blaue, beinahe durchsichtige Sonnenfische. Er fängt sie aber nicht, um sie zu essen, sondern weil jeder Sonnenfisch ein besonderes Lied singen kann. Hat er einen Fisch an der Angel und hebt ihn aus dem Wolkenfluss, fängt der sofort an zu singen. Dann, wenn das Lied verklungen ist, wirft dein Vater den Fisch sofort zurück in das Himmelswasser.«
»Toll!«, rief Max und schien ehrlich erstaunt zu sein.
»Willst du heute in den Kindergarten?«, fragte Kareen. Diese Frage stellte sie ihm an jedem Werktag. Max wusste selbst am besten, ob er sich einen ganzen Tag mit anderen Kindern zutrauen konnte oder nicht.
»Klar«, sagte er und hüpfte aus dem Bett, um ins Bad zu laufen. Mittlerweile konnte er sich selbst die Zähne putzen, ohne sich zu verletzen, und er tat es mit großer Ausdauer und Geduld. Bei ihm dauerte alles viel länger, besonders aber das Waschen und Anziehen.
Die Diagnose »Epidermolysis Bullosa« kurz nach seiner Geburt war ein Schock gewesen. Nicht einmal Robert hatte zuvor von dieser Krankheit gehört gehabt. Zuerst hatte es wie eine Neurodermitis bei Neugeborenen ausgesehen, aber dann hatten weiterreichende Untersuchung einen anderen Befund gebracht: Bei Max lag ein genetischer Defekt vor. Seine Haut war so verletzlich, dass sie bei jeder Berührung einreißen oder Blasen werfen konnte. Auch wenn die Krankheit bei ihm nicht so ausgeprägt war wie bei anderen Kindern, gab es keine Chance auf eine Heilung. Allenfalls Linderung konnte man durch Salben und eine vitaminreiche Kost erreichen. Vor allem musste man dafür sorgen, dass Max keinen übermäßigen Stress erlitt. Jede Aufregung konnte eine Verschlimmerung der Krankheit bedeuten.
Deshalb hatte Kareens erster Gedanke auch Max gegolten, als ein Polizist vor ihrer Tür stand und ihr mit ungelenken Worten von Roberts tödlichem Unfall berichtete. Wie sollte sie Max beibringen, dass sein Vater nicht zurückkommen würde, ohne dass es ihm die Haut buchstäblich zerriss?
Es konnte nur eine fromme Lüge sein. Dein Vater ist im Himmel. Ein Unfall – der Wagen ist von der Straße abgekommen. Ganz plötzlich hat der liebe Gott ihn zu sich gerufen.
Dein Vater ist kein verzweifelter Trinker gewesen, kein ratloser Arzt, der kaum noch etwas hört und der schon seit einiger Zeit in einer dunklen Wolke gelebt hat …
Ihre eigene Trauer war später gekommen. Nein, eigentlich war sie noch gar nicht gekommen. Eigentlich wartete sie noch darauf, dass sie sich nach dem Mann sehnte, den sie geheiratet hatte und der nach der Geburt von Max allmählich verschwunden war.
In ihren geheimsten Gedanken wusste sie, dass Jakob recht hatte. Robert war tatsächlich absichtlich gegen diesen Brückenpfeiler gefahren – mit fast siebzig Stundenkilometer, wie die Berechnung eines Gutachters ergeben hatte. Bremsspuren hatten sich keine gefunden. Einen Defekt am Auto hatte man ebenfalls ausgeschlossen.
Claudine schlief noch, als sie beide frühstückten. Dann fuhr Kareen ihren Sohn zum Kindergarten. Mit Mütze und Handschuhen sah er aus, als käme er aus dem tiefsten Winter, dabei waren die Temperaturen für Mitte September noch sehr mild.
Kareen verabschiedete sich, indem sie ihm eine Kusshand zuwarf, bevor Max in seine Gruppe trippelte. Mittlerweile kannte man ihn und wusste, was ein Schmetterlingskind war. Niemand ging grob mit ihm um, nur die neuen Kinder zeigten sich noch irritiert wie jeder, der Max zum ersten Mal sah. Allerdings war das am Anfang ganz anders gewesen. Von einem Leprakind hatten einige Eltern geredet und gedroht, ihr Kind abzumelden, wenn Max im Kindergarten bliebe. Erst als Robert mit der Autorität des Arztes mit der Leiterin gesprochen und allen schriftlich versichert hatte, dass die Erkrankung nicht ansteckend sei, hatte sich der Aufruhr gelegt.
Oben in der ersten Etage stand Max am Fenster und winkte mit seiner bandagierten Hand. Das war ihr Ritual. Da stand er immer, wenn Kareen den Kindergarten verließ und auf die Straße hinausging. Sie winkte gleichfalls, und er verneigte sich wie ein Künstler, der seinen verdienten Applaus entgegennahm.
Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung, dachte Kareen plötzlich, und es geschieht ein Wunder: Max wird gesund, ein normaler Junge mit einer schönen, kräftigen Haut.
Der Gedanken verlor sich, als sie auf die Straße zu ihrem Wagen trat. Risch fuhr an ihr vorbei; allerdings nicht in seinem alten gelben Mercedes, den sie mittlerweile kannte, sondern in einem silberfarbenen BMW. Aber sie glaubte sein Gesicht hinter der Windschutzscheibe erkannt zu haben: die fahlen Wangen eines Kettenrauchers, braune forschende Augen, in denen so viel Misstrauen lag, sein glattes, streng zurückgekämmtes Haar, aus dem sich gelegentlich eine Locke löste.
Sie hätte beinahe vor Wut aufgeschrien und wäre auf die Straße gelaufen, um ihm etwas nachzurufen. Warum ließ er sie nicht in Ruhe? Es war alles ein Irrtum gewesen, wie es eben manchmal passierte – die Verwirrung einer Frau, deren Mann sie im Stich gelassen hatte. Als sie sein Gesicht neben sich gespürt und seinen Schweiß gerochen hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass sie einen Fehler gemacht hatte, ohne allerdings zu ahnen, welche Ausmaße dieser Fehltritt annehmen würde.
Der silberfarbene BMW wurde langsamer auf der engen Kopfsteinpflasterstraße, jetzt flammten sogar die Bremslichter auf. Als wolle Risch auf sie warten! Kareen hastete zu ihrem Golf und schloss ihn auf. Fast fürchtete sie, seine große, grobe Hand könne sich jeden Moment auf ihre Schulter legen.
Sie setzte sich hinter das Lenkrad und verriegelte die Tür. Wolfram Risch war ihr Chef. Verdammt, sie konnte doch niemandem sagen, dass ihr Chef sie verfolge, weil er sich einbilde, sie könnten ein Paar werden.
Als sie endlich die Kraft fand, den Wagen zu starten, klingelte ihr Mobiltelefon. Zögernd nahm sie das Gespräch entgegen.
»Spreche ich mit Frau Kareen Hagen?«, fragte eine nüchterne Stimme.
»Ja, am Apparat …« Sofort dachte sie an Max, aber das konnte niemand aus dem Kindergarten sein. Außerdem hatte er vor ein paar Momenten noch unversehrt am Fenster gestanden.
»Hauptwachtmeister Pütz, Polizei Düren. Besitzen Sie ein Haus in Heimbach, unterhalb der Talsperre?«
»Ja, mein Mann … Meinem verstorbenen Mann … und seiner Familie gehört …« Kareen bemerkte, wie sie ins Stottern geriet.
»Nun, das Haus ist heute in den frühen Morgenstunden abgebrannt. Die Feuerwehr konnte nicht mehr viel tun. Ein Nachbar auf der anderen Seite des Sees hat angerufen. Leider zu spät.«
»Verstehe«, sagte Kareen. Dann fiel ihr ein, dass Robert sich in den letzten Monaten vor seinem Tod in das Sommerhaus am See zurückgezogen hatte.
»Könnten sich Personen in dem Haus aufgehalten haben?«, fragte der Polizist. Es klang mäßig interessiert, als müsse er einen Punkt auf einer Liste abhaken.
»Ich weiß nicht«, stammelte Kareen. »Ich glaube nicht … Nur mein Mann ist in letzter Zeit in dem Haus gewesen … und er ist vor drei Wochen tödlich verunglückt. Autounfall.«
Der Polizist schwieg einen Moment. »Tut mir leid«, sagte er dann ein wenig sanfter. »Wissen Sie, ob Ihr Mann Chemikalien in dem Haus aufbewahrt hat?«
»Nein, ich glaube nicht. Warum fragen Sie?«
»Die Kollegen der Feuerwehr sind noch vor Ort. Sie haben einen großen verkohlten Benzinkanister gefunden. Sieht alles nach Brandstiftung aus. Gibt es irgendwelche Leute, die Sie oder Ihre Familie nicht besonders mögen?«
Das Haus hatte seine besondere Geschichte. Hier hatte Kareen vor acht Jahren zum ersten Mal mit Robert geschlafen. Er hatte sie an einem Frühlingsabend mit hinausgenommen, als er wusste, dass sie ungestört sein würden, weil sowohl sein Bruder als auch seine Eltern in ihrem Hotel beschäftigt waren. Ein kleines ockerfarbenes Backsteinhaus, irgendwann in den sechziger Jahren an einem Hang erbaut, mit Holzdecken und einer wunderschön geschwungenen Treppe, die in das obere Stockwerk führte, wo sich zwei winzige Schlafzimmer befanden. Vom Bett aus hatten sie auf den kleinen See blicken können, der in unglaublicher Stille dalag. Allenfalls ein Schwan glitt dann und wann auf dem Wasser dahin. Ihr hatte das Haus sofort gefallen, und nach ihrer ersten Nacht waren sie manchmal sogar mitten in der Woche hinausgefahren, nur um die Sonne am See aufgehen zu sehen. Dann war Max auf die Welt gekommen … Und drei Nächte später war Roberts Vater, Meinhart Hagen, auf der Holztreppe gestürzt und hatte sich tödlich am Kopf verletzt. Danach hatte das Haus meistens leer gestanden, aber seltsamerweise hatte man es nicht verkaufen wollen. Zita, Roberts Mutter, hatte darüber nachgedacht, Jakob war jedoch dagegen gewesen. Schließlich, in den letzten Monaten vor seinem Tod, hatte Robert das Haus zu einer Art Versteck gemacht.
Kurz vor dem Wasserkraftwerk bog Kareen in die Seitenstraße ein, die zum See führte. Der Himmel war grau. An manchen Tagen wirkte dieses Tal wie abgeschnitten von der Welt. Sie hatte rauchende Trümmer erwartet, doch die Feuerwehr hatte bereits ganze Arbeit geleistet. Kareen parkte ihren Wagen und lief dann zum Haus hinüber. Der ganze Stolz, den es früher ausgestrahlt hatte, war dahin. Das Dach war eingestürzt, die Mauern, die noch standen, waren schwarz vor Ruß. Nur ein Stück der Veranda schien unversehrt zu sein. Ein Feuerwehrmann, der einen Metallkasten auf seinen Löschwagen hob, schaute sie an.
»Da ist nichts mehr zu machen«, rief er ihr zu. Er schien sie zu kennen. »Die Flammen schlugen schon aus dem Dach, als wir ankamen. Mit drei Löschfahrzeugen waren wir hier.«
Kareen nickte und spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. So lange war sie nicht mehr hier gewesen! Als Robert hier vor Monaten buchstäblich einzog, hatte er ihr verboten, sie zu besuchen, aber sie hatte ohnehin kaum Zeit gehabt, weil sie sich um Max kümmern musste.
»Sie sind die Besitzerin?«, erkundigte sich der Feuerwehrmann. »Hat die Polizei schon mit Ihnen gesprochen?« Kareen nickte. »Ein Sachverständiger ist unterwegs. Wir müssen die Brandursache prüfen lassen. Es gibt Hinweise …«
»Wer tut so etwas – ein Haus anzünden?«, fragte sie leise. Trauer spürte sie, als wäre das Haus ein lebendiges Wesen, das nun den Tod gefunden hatte. Tatsächlich lief ihr eine Träne über die Wange.
»Verrückte gibt es sogar in dieser Gegend.« Der Mann zuckte mit den Achseln.
Kareen bemerkte, dass ein zweiter Mann im Führerhaus des Löschwagens saß und Radio hörte. Ein Schlager drang herüber. Die Tür war offen, und der Mann wandte sich kurz, aber mäßig interessiert zu ihr um.
Kareen machte ein paar Schritte auf das Haus zu. Durch das geborstene Fenster sah sie, dass auch im Innern alles verkohlt war. Der Boden vor dem Haus war aufgeweicht und matschig. Trotz des Geruchs von verbranntem Holz fiel ihr ein, wie es hier früher gerochen hatte – immer ein wenig nach nassem Laub, selbst in der Hitze des Sommers. Gelegentlich war sie auch mit Robert in den See hinausgeschwommen, obwohl es eigentlich verboten war. Wenn der Mond hoch am Himmel gestanden hatte, hatten sie das Gefühl gehabt, durch flüssiges Silber zu schwimmen. Aber da waren sie jünger und ganz andere Menschen gewesen. Der Tod von Roberts Vater hatte dem Haus eine andere Aura verliehen. Kareen fragte sich, was Robert wohl in den letzten Wochen hier gemacht hatte. Jahrelang hatte er das Haus gemieden, und dann hatte er sich plötzlich hierher zurückgezogen.
»Schön, dass auch meine Schwägerin nach dem Rechten sieht.« Kareen zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass Jakob sich näherte.
»Die Polizei hat mich angerufen!« Sie registrierte zu ihrem eigenen Ärger, dass ihre Worte wie eine Rechtfertigung klangen, aber so war es immer mit Jakob gewesen. Er verteilte die Rollen – er war der Chef, der Ankläger, der Antreiber, je nachdem.
»Was macht mein kleiner Freund – ist er im Kindergarten?«, fragte er, als würde ihn das niedergebrannte Haus gar nicht interessieren.
Kareen nickte.
»Seine Großmutter würde Max gern mal wieder sehen, hat richtig Sehnsucht nach dem Kleinen.« Jakob machte einen Schritt an Kareen vorbei, vorsichtig setzte er einen Fuß auf die Veranda, die aber sofort nachgab. »Kann man abreißen, die Hütte. Hätten wir vielleicht schon vor fünf Jahren tun sollen.«
Jakob drehte sich um und sah Kareen zum ersten Mal an. Er war immer der gut gekleidete Hotelier – hellbrauner Kaschmirmantel, teure italienische Schuhe, die nach diesem Ausflug wieder ordentlich geputzt werden mussten, aber dafür hatte er ja etliche Zimmermädchen, die ihm auf seinen Wink hin auch die Füße küssen würden. Jakob hatte nur eine Schwäche – er war klein, kaum einen Meter siebzig, viel kleiner, als Robert gewesen war. Und er hatte keine Ahnung, dass es neben Bilanzen und Zahlen vielleicht noch ein paar andere Dinge im Leben gab, die eine Bedeutung hatten.
Aus dem Tal zum Gipfel, fiel ihr plötzlich ein. Der Wind ist wie Musik, wenn er über die Steine streicht. Nein, Risch konnte nicht der Tibeter sein – und Jakob schon gar nicht.
»Deine Mutter kann Max jederzeit sehen, wenn sie möchte«, erklärte Kareen mit fester Stimme.
»Ja, sicher«, sagte Jakob wie abwesend. Er bückte sich und hob etwas auf, das wie ein Stück Draht aussah. Er besah es und warf es durch das Fenster ins Innere des Hauses. »Kareen«, sagte er dann. »Wir sollten uns bald einmal unterhalten. Wir haben nur abgewartet, dass sich nach Roberts Tod die Dinge ein wenig beruhigen, aber, ehrlich gesagt, glauben wir, dass du allein mit der Pflege von Max überfordert bist. Wir bieten dir unsere Hilfe an.«
Es klang nicht nur wie eine Drohung, es sollte auch eine sein.
Kareen sah, dass die beiden Feuerwehrleute näher kamen, dann aber plötzlich innehielten, als spürten sie, dass da etwas im Gange war, das sie nichts anginge.
»Ich kümmere mich nicht allein um Max. Claudine hilft mir.«
»Ein siebzehnjähriges Mädchen, das kaum Deutsch spricht und den ganzen Tag Musik hört – das kann doch wohl keine Hilfe sein.« Jakob lachte kurz und trocken auf. Es klang, als zerplatze ein Luftballon. Diese Art zu lachen hatte er von seiner Mutter geerbt, und neuerdings hatte auch Esther, seine Frau, diese Angewohnheit übernommen.
»Außerdem hat sich Robert schon vor seinem Tod nicht groß um den Jungen gekümmert.«
»Ich weiß. Auch deshalb machen wir uns Sorgen um dich. Du hast in den letzten Monaten viel zu viel ertragen müssen.«
»Und was habt ihr euch für mich überlegt?« Kareen schob sich näher an Jakob heran. Nun hatte sie Eis in ihre Stimme gelegt – es mochte ihr an der Härte und Skrupellosigkeit fehlen, die Jakob besaß, aber ihre Stimme gehorchte ihr wie ein Instrument. Wenn sie eisig sein wollte, gelang ihr das spielend.
»Denk darüber nach, den Jungen eine Weile zu uns zu geben – und fahr irgendwo ans Meer, um richtig auszuspannen. Die Kanarischen Inseln sind um diese Jahreszeit sehr schön. Vielleicht solltest du auch überlegen, für eine gewisse Zeit aus Köln wegzugehen. Sind doch ziemlich viele schlimme Dinge passiert.«
Kareen hatte plötzlich Schwierigkeiten einzuatmen. »Ihr wollt mich von Max trennen!« Sie keuchte auf, und nun verlor sich schon die Festigkeit ihrer Stimme, auf die sie vorhin noch so stolz gewesen war. »Ihr legt mir tatsächlich nahe, Max zurückzulassen …« Sie starrte Jakob wütend an, aber dieser Blick zeigte keine Wirkung.
Er hob die Arme und flüchtete in ein Lächeln. »Wir legen dir gar nichts nahe … Wir haben uns nur unsere Gedanken gemacht. Wir glauben nicht, dass du das alles schaffst – dich um Max zu kümmern, dann im Sender deine Ansagen zu machen.«
Kareen begriff mit einer plötzlichen Klarheit, dass Jakob ihre Arbeit noch nie geschätzt hatte – Ansagen machen … Nun hätte sie all ihre Gründe aufführen können – dass Roberts Praxis nicht so gut gelaufen war, dass er kein Geld von seiner Mutter haben wollte, dass sie also arbeiten musste –, aber sie schwieg. Mit Jakob war nicht zu reden.
Ein grauer Kombi fuhr vor, ein Wagen, der in seiner Farblosigkeit nach Behörde aussah. Zwei Männer stiegen aus und liefen auf die Feuerwehrleute zu.
»Weißt du eigentlich, was Robert hier so getrieben hat?«, fragte Jakob unvermittelt, als er auch die Männer bemerkt hatte. »Hast du ihn hier mal besucht?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er wollte das nicht.«
»Könnte er irgendwelche Arzneien hier gehabt haben? Irgendetwas, das sich entzündet hat?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Die Feuerwehr glaubt, dass es Brandstiftung war. Deshalb haben sie einen Gutachter gerufen.«
Die Feuerwehrleute begannen gestenreich etwas zu erklären, und einer der Männer, der einen kittelartigen Mantel trug, nickte.
Jakob starrte wieder zum Haus, als hätte er ihre letzten Worte gar nicht gehört.
Plötzlich lächelte er. »Jammerschade um das Haus. Wenn ich hier so stehe, kommen mir viele Erinnerungen. Als Kinder haben wir hier Frösche gefangen und uns ein Floß gebaut, und einmal haben wir den Nachbarhund mitten auf dem See ausgesetzt und zugesehen, wie er …« Abrupt wandte er sich um. »Könntest du dir vorstellen, dass Robert eine Waffe im Haus hatte?«, fragte er, während er die Männer beobachtete.
»Eine Waffe?« Kareen verstand nicht. »Wieso sollte er eine Waffe gehabt haben?«
»Ich meine«, sagte Jakob, »ich möchte nicht, dass die Leute hier etwas finden, was ein schlechtes Licht auf Robert werfen könnte.«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, straffte er sich und ging auf die beiden Sachverständigen zu.
»Guten Tag, meine Herren, ich bin Jakob Hagen. Mir und meiner Familie gehört dieses Haus«, erklärte er, als wäre Kareen gar nicht da.
Risch hatte ihr aufgelauert. Das erkannte sie sofort, als er den Kopf zur Tür hereinstreckte. Fast hätte sie ihn bemitleidet, wie er sie mit seinem Hundeblick anschaute. Eine kleine Geste von ihr, und er hätte auf Knien vor ihr gelegen, aber nicht die leiseste Art von Entgegenkommen würde sie über sich bringen. Nach ihrer einzigen Nacht, drei Tage vor Roberts Tod, verabscheute sie ihn, seinen Geruch, seinen verfetteten, fahlen Körper … seine Aufdringlichkeit. Aber nein, vielleicht lag ihre Antipathie auch daran, dass sie sich selbst diesen Fehltritt nicht verzieh.
»Du bist zu spät«, sagte er mit leiser, trotzdem unfreundlicher Stimme, als er ihr abweisendes Gesicht sah.
»Dreizehn Uhr fünfundvierzig stand auf dem Dienstplan«, sagte Kareen, während sie sich an ihren Schreibtisch setzte und flüchtig ihre Hauspost durchsah.
»Der Dienstplan hat sich geändert. Du hättest um eins hier sein sollen, um mit Johan einen Text für das Feature heute Abend zu lesen. Über Alois Alzheimer und seine erste Patientin.« Er zog an seiner Zigarette. »Nun habe ich Babette dafür eingeteilt. Vielleicht passt ihre Stimme auch besser, obwohl sie jünger ist als du.«
Ihr gefiel nicht, wie er das Du betonte. War er tatsächlich in dem silberfarbenen BMW an ihr vorbeigefahren? Sollte sie ihn ganz direkt fragen? Plötzlich war sie sich da nicht mehr so sicher.
»Wann hat sich der Dienstplan geändert?«, fragte sie angriffslustig.
»Ist doch egal.« Er beugte sich an ihr vorbei, um seine Zigarette in dem Aschenbecher auf Babettes Schreibtisch auszudrücken. Seine rechte Hand streifte dabei fast ihre Wange.
Kareen unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und ihm ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen strich sie sich das Haar zurück. Risch hatte nachträglich den Dienstplan geändert. Eine neue Schikane, die sie noch vor ein paar Tagen nicht für möglich gehalten hätte.
»Noch etwas hat sich geändert. Du musst heute keine Nachrichten lesen. Es reicht, wenn du dich um die Verkehrsmeldungen kümmerst. Wäre schön, wenn du die Versprecher weglassen würdest.«
Er ging hinaus, aber nicht, ohne ihr noch einen eisigen Blick zuzuwerfen, in dem gleichzeitig ein verrücktes Verlangen nach Zuneigung lag.
Als sie ihre Post schon wieder beiseiteräumen wollte, sah sie ein bunt bedrucktes Papier, das ein wenig größer war: Tibet, las sie, das Land, wo der Mensch den Himmel berührt. Darunter das Foto einer zerklüfteten Berglandschaft. Die Einladung zu einem Dia-Vortrag von einem Fotografen, den sie nicht kannte. In zwei Tagen in der Trinitatis-Kirche.
Hatte Risch ihr den Zettel in die Post geschmuggelt? War er deshalb so unfreundlich und zugleich aufgekratzt gewesen, weil sie ihn beinahe erwischt hatte, wie er seine geheimen Botschaften ablegte?
Kareen steckte das Papier ein und schaffte es eben noch, Claudine anzurufen, bevor sie ins Studio musste. Max sei gutgelaunt aus dem Kindergarten gekommen, erklärte das Mädchen. Nun sitze er auf seinem Bett und sehe sich einen Comic an.
Drei Minuten nach zwei betrat Kareen das Nachrichtenstudio. Johan Waller, ein neuer Kollege, der erst seit zwei Monaten im Sender arbeitete, verlas die letzten Einschätzungen von der Börse, dann, nach einem kurzen Wetterbericht, zwinkerte er ihr zu, und sie war an der Reihe. Es war eine klare Degradierung, sich mit Verkehrsmeldungen abgeben zu müssen, aber Kareen versuchte sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. Routiniert spulte sie die erste Stauwarnung ab, bis ihr Computerbild plötzlich zu flackern begann und erlosch. Sie verstummte abrupt und wiederholte dann hilflos »Kamener Kreuz, acht Kilometer Stau …« – die letzten Worte, die ihr im Gedächtnis geblieben waren.
Eine weitere Pause entstand, in der sie nur tief und ratlos einatmete. Schließlich hörte sie, wie Johan ohne jede Aufregung und beinahe so, als wäre es abgesprochen, übernahm, weil sein Computer noch funktionierte. »Am Kamener Kreuz, acht Kilometer Stau in Richtung Köln wegen eines liegen gebliebenen LKW. Ortskundige werden gebeten, das Kamener Kreuz weiträumig zu umfahren …«
Kareen stürzte aus dem Studio und schlug die Tür heftig hinter sich zu. Seit über vier Jahren war sie im Sender, aber noch nie hatte sie gehört, dass ein Computer inmitten der Nachrichten ausfiel.
An Anna Loos, Rischs Sekretärin, vorbei, die sie nur entgeistert anblickte, stürmte sie in das Büro ihres Chefs. Er saß vor einer Unterschriftenmappe und schien Verträge abzuzeichnen. Aus dem Lautsprecher im Hintergrund drang Johans wohlklingende Stimme, der noch immer Staumeldungen verlas.
Ohne die Tür hinter sich zu schließen, fragte Kareen voller Zorn: »Was soll das alles? Willst du mich aus dem Sender ekeln?«
Risch blickte auf, als hätte er sie noch gar nicht bemerkt. »Was soll was?«, erwiderte er. Seelenruhig nahm er seine Lesebrille ab, mit der er noch älter wirkte.
»Hast du meinen Computer manipuliert? Auf einmal war das Bild weg …« Sie verstummte abrupt, als sie sein Lächeln sah, das seltsam sanft und verständnisvoll wirkte.
»Was redest du für einen Unsinn?« Er ging ohne Hast oder Zorn an ihr vorbei und schloss die Tür. »Wie kommst du darauf, dass ich deinen Computer manipuliert haben könnte? Die alten Dinger geben von Zeit zu Zeit ihren Geist auf, aber da muss man sich zu helfen wissen und darf nicht den Kopf verlieren. Bei einer Panne zeigt sich, wer ein wahrer Profi ist.«
Sie spürte seine Hände auf ihren Schultern. Vorsichtig, als wolle er ihr auf keinen Fall wehtun, drückte er sie hinunter auf einen Stuhl.
»Wir wissen alle, was du durchgemacht hast – und ich weiß es noch besser als jeder andere«, sagte er, ohne dass ein anderer Tonfall als milde Freundlichkeit in seiner Stimme lag. »Vielleicht hast du doch zu früh wieder angefangen zu arbeiten. Aber ich verstehe dich – du willst vergessen, Arbeit lenkt ab …« Er griff nach einer Zigarette und steckte sie sich an. »Ich würde dir gern helfen …« Der letzte Satz klang wie ein Friedensangebot, nein, nach anderen, viel weiterreichenden Dingen, die sie sich lieber gar nicht vorstellen wollte.
»Heute ist das Haus abgebrannt, in dem Robert die letzten Wochen gelebt hat«, sagte Kareen leise wie zur Entschuldigung für ihren Ausbruch.
Risch runzelte die Stirn, als bereite ihm diese Nachricht Schmerzen. »Wenn ich dir helfen kann, musst du es nur sagen. Und jetzt solltest du nach Hause gehen. In diesem Zustand darf ich dich nicht mehr vors Mikro lassen, wenn ich meinen Job nicht verlieren will.«
Sie hatte sich vorgenommen, den freien Nachmittag mit Max zu genießen; vielleicht mit ihm in den Zoo zu gehen oder zum Rhein hinunter, Schiffe zählen, was er besonders liebte, und im Schokoladenmuseum ein Eis essen, um auf andere Gedanken zu kommen, aber dann fand sie sich an Roberts Grab wieder, scheinbar ohne zu wissen, warum. Der Waldfriedhof in Fühlingen, vor den Toren Kölns, die große, mächtige Marmorgruft der Familie Hagen, in die man schon seine Großeltern bestattet hatte. Kareen hatte es nicht verhindern können, dass man ihn zu seinem Vater ins Grab legte, obwohl er genau das nicht gewollt hatte. Doch Jakob hatte sich rigoros über diesen Wunsch hinweggesetzt. Auch wenn Robert anders gewesen sei als der Rest der Familie, gehöre er an die Seite seines Vaters. Darüber könne es keine Diskussionen geben.
Meinhart Hagen, 1935–2003
Robert Hagen, 1969–2008
Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er ihr keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, keinen Brief und kein Testament. Wenn es tatsächlich Selbstmord war, dann hätte er ihr etwas erklären müssen. Warum war sein Leben nach der Geburt von Max so aus dem Ruder gelaufen? Sie hatten doch alles versucht – die Krankheit war schlimm, aber doch nicht so schlimm, dass man alle Lebenslust verlor.
Und wenn Robert sie aus Zufall mit Risch gesehen hatte? Dieser Gedanke quälte sie seit seinem Tod. Nein, er hatte sich kaum noch für sie interessiert, und aufgelauert hatte er ihr nie. Eifersucht war ihm selbst kurz nach ihrer Hochzeit fremd gewesen. Trotzdem … Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich in einem noblen italienischen Restaurant auf der Luxemburger Straße sitzen, sie hörte sich reden, von Max und der Krankheit und dann, gegen ihren Willen, auch von Robert, der sie mehr und mehr im Stich ließe. Risch hatte zugehört, manchmal genickt und ihr zugeprostet. Irgendwann hatte er nach ihrer Hand gegriffen, und sie hatte sie nicht abgeschüttelt, sondern es geschehen lassen. Wenn sie ehrlich war, hatte ihr diese Berührung in diesem Moment sogar gefallen. Später hatte sie Risch dafür bewundert, wie es ihm gelang, sie aufzuheitern, indem er Anekdoten aus dem Sender erzählte, von dem alten Intendanten, von Betriebsfesten, die zu halben Orgien ausgeartet waren. Zwischendurch hatte sie einen klaren Gedanken gehabt: dass Risch ebenfalls ein Verlierer war. Als vielversprechender Journalist gestartet, war er nun Chef vom Dienst, verantwortlich für kaum mehr als Dienstpläne und Sprecherbesetzungen. Nach einem vollkommen missglückten Interview mit dem Innenminister, das Proteste und fast eine Regierungskrise ausgelöst hatte, hatte er sich nicht mehr vor ein Mikrofon gesetzt. Aber dieser eine klare Gedanke hatte sie nicht daran gehindert, mit ihm in seine Wohnung zu gehen, die nur eine Querstraße entfernt gelegen hatte.
Vielleicht verfolgte Risch sie gar nicht wirklich; vielleicht bildete sie sich alles nur ein. Einzig die Schuldgefühle wegen ihres Fehltritts verfolgten sie, und darum sah sie überall seinen Schatten. Und darum hatte sie auch noch niemandem von Risch und seinen Nachstellungen erzählt. Allein ihrer besten Freundin Anja gegenüber hatte sie ein paar Andeutungen gemacht.
Nein, wenn schon alles um sie herum in Unordnung geraten war, durfte sie sich nicht irre machen lassen. Zum ersten Mal hatte sie Risch einen Tag nach der Beerdigung vor ihrem Haus bemerkt. Er hatte auf der anderen Straßenseite gestanden und reglos zu ihr hinübergestarrt. Sie war entsetzt und voller Scham zurückgewichen, hatte sich umgedreht und daran gedacht, zurück ins Haus zu laufen, aber im nächsten Moment war er verschwunden gewesen, als besäße er die Fähigkeit, sich in Luft aufzulösen.
Sie starrte auf das Grab, als müsse sie da eine Lösung finden, doch nichts als zwei Namen starrten ihr entgegen, die sie plötzlich als nichtssagend empfand. Von ihrer Mutter wusste sie, dass sie oft zum Grab ihres Mannes gegangen war, weil sie dort seine Nähe zu spüren glaubte, aber Kareen selbst empfand nichts, nur Ferne, als wäre Robert schon länger aus ihrem Leben verschwunden.
Hastig wandte sie sich um und verließ den Friedhof. Wenn sie sich beeilte, konnte sie mit Max noch zum Rhein hinunterlaufen und den Nachmittag genießen.
Laute Musik dröhnte ihr aus ihrer Wohnung entgegen, als sie das Treppenhaus heraufkam. Claudine hörte liebend gerne Hip-Hop, aber eigentlich durfte sie das nur, wenn Max im Kindergarten war und sie sich nicht um ihn kümmern musste.
Als Kareen eintrat, entdeckte sie sofort Claudine, die bei offener Tür im Schlafzimmer, das sie eigentlich nicht betreten durfte, vor dem großen Spiegelschrank Tanzschritte übte. Entrückt, mit verklärtem Gesicht starrte das Mädchen sich an und verfolgte die eigenen Bewegungen.
Wo war Max?
Kareen stürmte in sein Zimmer, aber da war er nicht. Nur seine Kindergartentasche und ein aufgeschlagenes Comic-Heft lagen auf seinem Bett. Dann eilte sie ins Wohnzimmer und stellte den CD-Spieler ab.
Die plötzliche Stille stürzte auf sie ein; ihr Herz begann schneller zu schlagen. Niemals durfte Max allein auf die Straße hinuntergehen, nicht einmal, um sich am Kiosk Süßigkeiten zu holen.
Claudine tauchte in der Tür auf. Ihr T-Shirt und ihre langen schwarzen Haare waren völlig verschwitzt, als habe sie schon eine geraume Weile so vor dem Spiegel getanzt.
»Oh«, sagte sie atemlos, »ich habe dich nicht gehört. Wieso bist du schon da?«
Kareen bedachte sie mit einem unfreundlichen Blick, der Claudine aber nicht zu stören schien. Sie lächelte, ohne eine Spur verlegen zu sein.
»Wo ist Max? Wieso ist er nicht da?« Kareens Blick fiel auf seine schwarzen Hausschuhe, ohne die er in der Wohnung keinen Schritt tun durfte. Ihr Herz schlug noch einen Takt schneller.
»Oh«, sagte Claudine wieder und wischte sich mit einer übertriebenen Geste über den Mund, als müsse sie ein tieferes Lachen unterdrücken. »Da war diese Frau mit den strengen weißen Haaren …« Sie kicherte nun, als hätte sie einen Witz gemacht.
Kareen brauchte einen Moment, um zu verstehen. Sie spürte, wie ihr eine zornige Röte den Hals hinaufkletterte. Die stolze, vornehme Familie Hagen – oder was von ihr übrig geblieben war – hatte sich augenscheinlich vorgenommen, sich nun besonders intensiv und ohne sie zu fragen um ihren Sohn zu kümmern.
»Die Großmutter von Max war da?«
Claudine nickte heftig und lächelte wieder. »Grandmère – ja! Für einen kleinen Ausflug!«
Am liebsten hätte Kareen ihr das Lachen aus dem Gesicht geschlagen, obschon sie wusste, dass ihr Zorn eigentlich nicht Claudine galt. Kleine Geschenke, kleine Ausflüge – was sollte das? Warum hatte Zita Hagen neuerdings entdeckt, dass sie einen Enkel hatte? Vor wenigen Wochen war es ihr noch peinlich gewesen, mit Max, dem kranken, verunstalteten Kind, gesehen zu werden.
»Hat sie gesagt, wann die beiden zurückkommen?« Kareen versuchte sich zu beruhigen. Vielleicht steckt nichts dahinter, dass erst Jakob und nun Zita aufgetaucht ist, sagte sie sich, obschon sie es besser wusste. Jakob hatte noch nie etwas ohne Berechnung getan.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Claudine, plötzlich ernst geworden. »Ich habe ein wenig getanzt … Ich hoffe, es hat dich nicht gestört.«
»Doch«, sagte Kareen. »Es hat mich gestört – besonders wenn du mein Schlafzimmer behandelst, als würde es dir gehören.«