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Der Mörder lebt viele Jahre mit einem Schatten auf seiner Seele, weil er vor langer Zeit einem Verbrechen beiwohnte, das er nicht verhindern konnte. Oder doch? Diese Frage quält ihn und langsam reift sein Entschluss: Die anderen, die daran beteiligt waren, sollen endlich bezahlen – mit ihrem Leben. Mit größter Präzision beginnt er, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen. Eine ohnmächtige Hilflosigkeit überkommt die Ermittler; lange Zeit suchen sie vergeblich nach einem Motiv und können keinen roten Faden finden. Erst ganz langsam lichtet sich das Dunkel. Was ist Recht? Was ist Gerechtigkeit? Wo fängt die Rache an? Diese Gedanken treiben den Mörder um und er versucht die Moral zu seiner Verbündeten zu machen. Macht ihn dieser Versuch frei?
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Seitenzahl: 295
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© 2017 Rainer Kretzschmar
Umschlag, Illustration: tredition GmbH
Lektorat, Korrektorat: Barbara Kretzschmar
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7345-6169-6
e-Book
978-3-7439-1537-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Das Buch
Der Mörder lebt viele Jahre mit einem Schatten auf seiner Seele, weil er vor langer Zeit einem Verbrechen beiwohnte, das er nicht verhindern konnte. Oder doch? Diese Frage quält ihn und langsam reift sein Entschluss: Die anderen, die daran beteiligt waren, sollen endlich bezahlen – mit ihrem Leben. Mit größter Präzision beginnt er, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen. Eine ohnmächtige Hilflosigkeit überkommt die Ermittler; lange Zeit suchen sie vergeblich nach einem Motiv und können keinen roten Faden finden. Erst ganz langsam lichtet sich das Dunkel. Was ist Recht? Was ist Gerechtigkeit? Wo fängt die Rache an? Diese Gedanken treiben den Mörder um und er versucht die Moral zu seiner Verbündeten zu machen. Macht ihn dieser Versuch frei?
Alle namentlich genannten Personen sind rein fiktiv.
Der Autor
Rainer Kretzschmar, geboren 1944, ist ein Autor, der erst spät sein Hobby entdeckt hat.
Zusammen mit seiner Frau lebt er seit 40 Jahren in einem Dorf bei Kiel. Die beiden haben drei erwachsene Kinder sowie drei Enkelkinder.
Seit jeher hat ihn zudem die in vielen Ländern unterschiedliche Auslegung von Recht und Gerechtigkeit, Moral und Wertevermittlung beschäftigt.
Rainer Kretzschmar
Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Barbara, die mir immer zur Seite gestanden, mich ermutigt und unterstützt hat, meinen Traum zu verwirklichen.
Auch Susann und meiner Tochter Ann-Kathrin möchte ich herzlich danken. Sie haben mit unerschöpflicher Geduld und Geschick dafür gesorgt, dass aus einem Manuskript ein richtiges Buch geworden ist.
Das Unheil nahm seinen Lauf, langsam, unvorhersehbar. Keiner der Anwesenden konnte erahnen, wie dieser Tag enden sollte und welche Folgen er haben würde.
Ein Turnier, das über mehrere Tage stattgefunden hatte, war zu Ende gegangen. Handballmannschaften aus verschiedenen Ländern waren zu spannenden Wettkämpfen zusammengetroffen. Einige der Kieler Spieler hatten sich zu einem Abschiedsabend am Lagerfeuer eingefunden. Eifrig wurde bei Bier und Stockbrot in gelöster Stimmung über die Spiele und deren Ausgang diskutiert. Langsam setzte die Dämmerung ein und schnell wurde noch einmal Holz gesammelt, um dem Feuer neue Nahrung zu geben. Mittlerweile hatten sich drei dänische Mädchen zu den sechs Männern gesellt und feierten kräftig mit. Die Wärme der prasselnden Flammen und der Alkohol trugen dazu bei, dass schon nach kurzer Zeit kleine Neckereien und Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden.
Als die Mitternacht anbrach, verabschiedeten sich zwei der Mädchen und erst jetzt fiel auf, dass Siegfried und Jenny fehlten. Hans-Jürgen fragte überrascht: „Hey, wo ist denn Siegfried?“
Andreas hatte es bereits bemerkt und flüsterte: „Der liegt da hinten mit Jenny, und ich kann mir schon vorstellen, was da abgeht.“
Die anderen waren neugierig geworden und schlichen sich vorsichtig an. Sie fanden eine halbnackt am Boden liegende Jenny und den erschöpft ausgestreckten Siegfried daneben.
Wer es war, der dann die Kontrolle verlor, war später nicht mehr festzustellen. Wie von Sinnen fielen drei von ihnen über Jenny her. Meinhard und Hans-Jürgen beobachteten entsetzt das Treiben. Jenny wehrte sich heftig, weinte, schrie und drohte mit der Polizei, hatte jedoch gegen die drei kräftigen Männer keine Chance. Was harmlos begann, endete in einer brutalen Vergewaltigung!
Plötzlich lag Jenny ganz still da und einer von ihnen raunte fassungslos: „Die bewegt sich nicht mehr – Scheiße, die ist tot!“
Nach einer Schrecksekunde folgerte Sebastian messerscharf: „Die muss weg, verdammt noch mal! Los, ihr müsst jetzt alle mit ran, los – packt mal mit an!“
Hans-Jürgen war der einzige, der zögerte. Verzweifelt versuchte er, die anderen zu beeinflussen: „Mensch, das könnt ihr doch nicht machen, seid ihr verrückt geworden?“
„Los, du Schlappschwanz, fass mit an, los, es muss schnell gehen“, forderte Sebastian ihn hektisch auf.
Widerstrebend fügte er sich. Sie schleppten Jenny zum nahe gelegenen Hafen und ließen sie an der dunkelsten Ecke eines Seitenarms in das trübe Wasser gleiten.
Jetzt erst setzte das Entsetzen in vollem Umfang ein. Urplötzlich wurde allen klar, dass sie zu Mördern geworden waren. Ein Zurück war nicht mehr möglich. Eine unheimliche Stille legte sich bleischwer auf sie, und sie schworen sich mit klopfenden Herzen, niemals irgendjemandem etwas davon zu erzählen.
Ich habe mich entschieden! Über 20 Jahre habe ich mich gequält und jetzt bin ich fest entschlossen, es zu tun! Mich treibt die Reue und das Verlangen nach Gerechtigkeit! Was ist überhaupt gerecht? Das habe ich mich in der Vergangenheit oft gefragt. Sind Recht und Gerechtigkeit das Gleiche? Muss gesprochenes Recht auch immer gerecht sein? Gerade aus unserer Vergangenheit müssten wir eigentlich etwas gelernt haben. Ich frage mich wieder und wieder, weshalb auch ich zum Täter geworden bin. Oder war ich nur Mittäter? Praktisch ohne aktive Schuld? Lange Zeit habe ich mich nun schon mit diesen Gedanken gequält und komme doch zu keiner Antwort. Jedenfalls bin ich seitdem nicht mehr der, der ich war.
Wir alle hatten uns damals geschworen, uns nach einem Jahr noch einmal in Kiel zu treffen, und dieses Treffen hat meinen Entschluss von heute entscheidend beeinflusst. Erschwerend kam dann noch hinzu, dass damals in der Kieler Presse folgender Aufruf zu finden war:
Am 11.Juli 1988 wurde in Odense die Leiche eines Mädchens aus dem Nebenarm des Hafens geborgen. Es handelt sich um die neunzehnjährige Jenny Larsson aus Kolding. Der Tod trat durch Ertrinken ein; eine Vergewaltigung kann aufgrund der Verletzungen nicht ausgeschlossen werden. Möglicherweise gibt es Verbindungen zu einem zeitgleich stattgefundenen internationalen Handballturnier, an dem auch Kieler Vereine teilgenommen haben sollen. Wir bitten um sachdienliche Hinweise von Sportlern, die zu der Zeit in Odense gewesen sind.
Vertrauliche Hinweise hierzu nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Diese Pressenotiz hatte mich schwer mitgenommen. Der Tod trat durch Ertrinken ein? Oh mein Gott – wir hatten das Mädchen also lebend ins Wasser geworfen? Welch` eine Schande!
Bei unserer Zusammenkunft führte – wie immer – Sebastian das große Wort, ohne Scham, ohne Reue und sehr selbstsicher. Als ich die Pressemitteilung erwähnte, hatte er mich sogar ausgelacht, verhöhnt und gedroht: Du Schlappschwanz, du bist auch mit dran, wenn es auffliegt! Selbst die Tatsache, dass wir damals das Mädchen noch hätten retten können, schien keine Auswirkung auf seine Stimmung zu haben, und auch den anderen war keinerlei Betroffenheit anzumerken! Tatsächlich kam es mir so vor, als wenn die anderen das alles einfach nur aufregend fanden. Und alle schienen sich sehr sicher zu sein, mit dieser abscheulichen Tat niemals wieder konfrontiert werden zu müssen.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir: Ja, es ist richtig, was ich tun will! Ja, ich werde es tun!
Kurz vor Feierabend wählt Sandra Fröhlich die interne Telefonnummer von Siegfried Teuerkauf:
„Hallo Siegfried, du sollst zum Chef kommen – bitte möglichst sofort.“
„Was gibt´s denn? Ist was los?“, kommt die etwas verunsicherte Rückfrage.
„Sein Gesicht sah entspannt aus, deshalb glaube ich, dass nichts Besonderes anliegt“, beruhigt sie ihn.
Siegfried Teuerkauf atmet noch einmal tief durch, bevor er an die Tür seines Chefs klopft und hört ein forsches ‚Herein‘. Dr. Helmut Sund blickt von seinem Schreibtisch auf, lehnt sich bequem im Ledersessel zurück und bedeutet ihm mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Das Herz pocht Siegfried bis zum Hals, als er vernimmt:
„Herr Teuerkauf, Sie wissen ja, dass wir unsere Abteilung Immobilien mit einer Führungskraft besetzen wollen?“
Siegfried nickt beklommen. Mit der Entscheidung dieser Überlegungen hat er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gerechnet und so schnell kann er nicht realisieren, ob nun er oder sein Widersacher, der sich momentan auf einer Dienstreise befindet, das Rennen machen wird.
„Ja, das weiß ich“, antwortet er mit vor Aufregung heiserer Stimme.
„Na das ist ja gut. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind der der richtige Mann dafür. Ihr neues Büro werden Sie wohl erst zum nächsten Ersten beziehen können, aber ich möchte, dass Sie sich schon mal darauf einstellen.“
„Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Herr Dr. Sund. Ich werde mich voll in die neue Aufgabe hinein knien.“
„Prima – alles Weitere besprechen wir später. Heute habe ich es eilig, ich muss gleich nach Frankfurt fliegen.“
Mit einem festen Händedruck und einem nochmaligen ‚Danke‘ verlässt Siegfried das Büro. Im Vorzimmer umarmt er die Sekretärin Sandra und wirbelt sie durch den Raum, bevor er ihr stolz von seiner Beförderung erzählt. Voller Elan stürmt er in sein Büro, ordnet noch schnell einige Papiere auf seinem Schreibtisch und ruft dann seine Frau an, die hocherfreut diese gute Nachricht aufnimmt. Mit federnden Schritten eilt er zu seinem Wagen und verlässt das Firmengelände um einiges schneller als sonst. Während der Fahrt denkt er an die stürmische Affäre mit Sandra Fröhlich. Drei Jahre ist es jetzt her, dass er mit ihr nach einem Betriebsfest eine heiße Nacht verlebt hatte. Eine Woche später, er war damals noch von der ersten Nacht ganz berauscht, ermöglichte ihm eine Tagung in Hamburg, an der auch sie teilnahm, ein erneutes Treffen mit ihr – diesmal sogar für zwei Nächte. Als er Wochen später wieder versuchte, ein Treffen zu organisieren, bekam er eine ernüchternde Antwort:
„Hör mal, mein Lieber, alles hat seine Zeit. Du bist verheiratet, ich bin ledig. Ich werde gewiss nicht in deine Ehe einbrechen, also nimm bitte zur Kenntnis, dass es vorbei ist!“
Zwei Tage hatte es gedauert, bis sein Stolz es zuließ, die Realität zu begreifen und auch anzunehmen. Seitdem sind sie locker befreundet, und sie begegnen sich oft mit einem Lächeln und wissen, dass auch der andere daran denkt, was sie gemeinsam erlebt haben. Mit diesen Erinnerungen findet er sich plötzlich in seinem Carport wieder. Er hat überhaupt nicht bemerkt, dass er schon da ist, so sehr haben ihn die Gedanken an die Vergangenheit bewegt. Jetzt erblickt er seine Frau, die vor der Tür steht und ihm freudig zuwinkt. Viele gemeinsame Interessen verbinden ihn mit ihr, wenngleich er bedauert, dass ihr Sexualleben sehr kontrolliert abläuft. Er springt aus dem Wagen, umarmt sie, drückt ihr einen Kuss auf die Wange und entdeckt beim Betreten des Wohnzimmers einen festlich gedeckten Tisch, auf dem neben einem Brettchen mit Käsewürfeln zwei gefüllte Rotweingläser im Kerzenschein funkeln. Zwei Stufen auf einmal nehmend springt er die Treppe hinauf, um sich etwas Bequemes anzuziehen, damit er zum gemütlichen Teil des Abends übergehen kann.
Den dunklen Fleck seiner Vergangenheit hat er aus seinem Gedächtnis verbannt. Allerdings hat er das Geschehen vor Jahren schriftlich fixiert, alles einer alten Kladde anvertraut und diese gut versteckt. Irgendwie hatte er damals das Bedürfnis verspürt, die Wahrheit festzuhalten – so, als könne er damit etwas wieder gutmachen oder aber sich dadurch freisprechen?
Das Ehepaar Teuerkauf verbringt einen harmonischen Abend miteinander. Beide ahnen nicht, was sich am Montagmorgen ereignen wird; beide sind arglos und können die bevorstehende Katastrophe nicht spüren.
Im Restaurant `Falkenhorst´, hoch oben über dem Strand von Kiel-Falkenstein, gegenüber dem Marine-Ehrenmal Laboe, bricht der Abend an. Nach einem schönen, sonnigen Tag zieht sich jetzt der Nebel wie ein weißer Schleier über die Kieler Förde.
Hauptkommissar Stefan Kaiser feiert sein fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum mit seiner Familie und mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Der Chef der Kripo Kiel, Dr. Simon Schneider, steht neben einem mit Blumen dekorierten Geschenketisch und hält eine Rede:
„Lieber Herr Kaiser, 25 Jahre ist es her, dass Sie als junger, hoffnungsvoller Polizeischüler in den Dienst eingetreten sind. Sie haben die einzelnen Stationen Ihrer Laufbahn gewissenhaft und mit Bravour gemeistert und sich Anerkennung und Respekt verdient. Wir beide kennen uns jetzt seit gut fünf Jahren. Es gibt aber Kollegen, die Sie seit viel längerer Zeit begleitet haben. Ich denke da z.B. an unseren Oberkommissar Hans Sommer, mit dem Sie – allerdings mit einer kleinen Unterbrechung – seit fast 24 Jahren zusammen arbeiten. Von ihm und auch von den anderen Kollegen weiß ich, welche Wertschätzung Sie erfahren und wie alle – mich eingeschlossen – Ihre Hilfsbereitschaft, Ihre Kompetenz, Ihren Witz und auch Ihren Charme schätzen. Diese Charaktereigenschaften kann nicht jeder auf sich vereinigen. Selbst in den schwierigsten Situationen behalten Sie die Übersicht und die Kontrolle und mit Ihrer Besonnenheit schaffen Sie es immer wieder, Ruhe in die Runde zu bringen. Für diese hervorragende und fruchtbare Zusammenarbeit bedanke ich mich auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich bei Ihnen. Aber jetzt will ich nicht noch mehr Lob ausschütten, denn etwas muss man sich ja auch noch für spätere Gelegenheiten aufbewahren. Für die Zukunft wünsche ich Ihnen – und ich schließe alle Kolleginnen und Kollegen ausdrücklich mit ein- Gesundheit und Wohlergehen. Ich bitte jetzt alle Anwesenden, ihre Gläser zu erheben und rufe Ihnen zu: „Auf Ihr Wohl, Herr Hauptkommissar Stefan Kaiser!“
Bewegt von diesen Worten nimmt Sabine Kaiser ihren Mann in den Arm, küsst ihn und flüstert ihm ins Ohr: „Du kannst stolz auf dich sein. Alle mögen dich, alle schätzen dich und ich hab´ dich lieb!“
Mit einem festen Händedruck bedankt sich Stefan Kaiser bei seinem Chef und wendet sich dann an seine Gäste:
„So viel Lob muss ich erst einmal verkraften! Hoffentlich werde ich dem auch in Zukunft gerecht. Für die netten Worte noch einmal herzlichen Dank, Herr Dr. Schneider. Und euch allen gilt mein Dank für die nette, vertrauensvolle und effektive Zusammenarbeit. Meine engsten Mitarbeiter, Lena Gutzeit und Hans Sommer, haben mir immer zur Seite gestanden – wir sind ein gutes Team, danke euch beiden dafür. Danke auch an dich, Sabine, du hast mir immer den Rücken frei gehalten, auch wenn es manchmal sehr spät geworden ist und für unser Familienleben nicht immer die Zeit blieb, die wir uns gewünscht hätten. Und jetzt wollen wir feiern, ich wünsche allen einen schönen Abend und viel Vergnügen. Hiermit ist das Buffet eröffnet.“
Oberkommissar Hans Sommer, sein engster Mitarbeiter, schüttelt ihm die Hand und gleich danach wird er von der Oberkommissarin Lena Gutzeit umarmt. Sie gehört zu seinem engsten Team, ist erst 31 Jahre alt, sehr attraktiv, sehr kommunikativ, sehr impulsiv und mit einem außergewöhnlichen Spürsinn ausgestattet, den sie schon des Öfteren unter Beweis stellen konnte.
Hans Sommer, der ebenfalls zu seinen engsten Mitarbeitern gehört, ist ein etwas untersetzter Mittvierziger mit Glatze. Gerade legt er die Hand auf Stefans Schulter und sagt warmherzig: „Stefan, ich wünsche dir und mir weiterhin eine so gute Zusammenarbeit wie schon all die Jahre.“
Gerührt antwortet Stefan Kaiser: „Danke Hans, das machen wir schon. Was soll sich denn bei unserem eingespielten Team ändern?“
Ein beschwingter Abend mit einem hervorragenden Essen beginnt. Draußen senkt sich die Dämmerung auf die Kieler Förde, Lichtpunkte von kleineren Schiffen sind in der Ferne zu erkennen. Langsam gleitet die hell erleuchtete Norwegen-Fähre ‚Color Magic‘ vorüber und schwimmt im Zeitlupentempo auf die offene See zu. Es ist ein beeindruckendes Bild – selbst die vielen Kieler unter den Anwesenden können sich dem Zauber der Atmosphäre nicht entziehen.
Stefan, Hans, Lena sowie alle anderen Kollegen können nicht wissen, dass am Montagmorgen, dem 6. August 2012, alles anders werden wird.
Zunächst sieht es nach Routine aus, dann aber bricht eine Zeit an, die in vielerlei Hinsicht schicksalhaft sein wird.
„Sigi, das Frühstück ist fertig. Kommst du oder willst du wieder erst laufen?“
„Ja, ich laufe erst. Erika, kannst du mal kommen? Ich hab einen Knoten im Schnürsenkel und krieg den nicht auf, weil ich meine Brille oben gelassen habe.“
Sich über den Schnürsenkel beugend rät Frau Teuerkauf ihrem Mann: „Nimm deinen Windbreaker mit, heute scheint zwar die Sonne, aber der Wind ist doch frisch.“
Alles ist wie immer. Das Frühstück steht bereit und Siegfried Teuerkauf macht sich voller Vorfreude auf Kaffee und Brötchen auf seine morgendliche Laufrunde. In der Haustür verkündet er noch schnell: „Ach, übrigens, ich muss heute erst um 11 Uhr im Büro sein, da hab ich nachher noch Zeit, die Zeitung zu lesen. Ich lauf heute sowieso nicht die große Runde, die ist morgen erst wieder dran.“
„Ok, aber denkst du nachher bitte noch an die Buchung unserer Reise?“
„Ja klar, aber das mache ich erst nach dieser langweiligen Besprechung. So, tschüss denn, bis gleich“, mit diesen Worten ist er zur Tür hinaus. Er überquert die ‚Drachenbahn‘ und biegt so wie immer in das gegenüber liegende Sumpfgebiet. Er mag es, wenn keine Menschenseele zu sehen ist. Er liebt es, sich in der Einsamkeit voll auf den gleichmäßigen Atem zu konzentrieren. Gerade passiert er eine dicht gewachsene Heckengruppe, als er ein ungewohntes Geräusch vernimmt. Was war das? Ein Tier? Oder nur der Wind in seinen Ohren? Etwas weiter vorn fällt ein Schatten auf den Weg und schemenhaft erkennt er einen Menschen, der dort regungslos steht. Er verhält etwas den Schritt, kneift die Augen zusammen und erschrickt. Ein ungutes Gefühl sagt ihm, dass dieser Mensch dort auf ihn wartet. Er atmet heftig. Jetzt erkennt er, wer dort steht!
Ich warte auf Siegfried. Eigentlich sollte er gleich kommen. Er ist ein Mensch mit festen Gewohnheiten. Mein Herz bebt! Was mute ich mir eigentlich zu? Ich hocke hier hinter einer Hecke, auf die er gleich zukommen muss.
Oh mein Gott, da – da ist er schon! Meine Hände zittern und ich fasse die Parabellum fester. Jetzt liegt sie sicher in der Hand. Kein Mensch ist in der Nähe, ich werde also gut wieder wegkommen!
Jetzt – jetzt muss ich mich entscheiden! Ich versperre ihm den Weg und presse hervor: „Guten Morgen, Siegfried, jetzt musst du büßen!“
Gleichzeitig mit der Frage ‚Was machst du denn hier?‘ erkennt er die Gefahr, aber es ist schon zu spät. Mein Finger krümmt sich, die Salve ist dank des Schalldämpfers leiser als ich dachte. Lautlos bricht er zusammen. Sein Blick bleibt an meinem haften. In seinen brechenden Augen zeigt sich Verstehen. Siegfried ist tot; er hat bezahlt, aber hat er auch bereut?
Stefan Kaiser sitzt versunken an seinem Schreibtisch. Noch ganz erfüllt von den vielen Ehrungen zu seinem Dienstjubiläum schaut er auf die vor ihm liegende Akte und freut sich, dass wieder ein Fall abgeschlossen ist. Er genießt die Ruhe und überlegt, ob er sich noch einmal an einen alten ungeklärten Fall machen soll, als Lena herein wirbelt und fröhlich ruft:
„Danke für den schönen Abend, Stefan, es war einfach toll!“
Stefan nickt: „Ja, für mich war es auch sehr schön. Ist Hans schon da?“
Lena schüttelt den Kopf: „Nein, Hans hat doch heute seinen Arzttermin, der kommt heut später.“
„Ach ja, das hatte ich ganz vergessen.“
Lena verschwindet in ihrem Büro, schaut kurz in ihren Terminplaner und vertieft sich dann in eine Akte, um nach neuen Erkenntnissen zu suchen. Manchmal findet sich so ganz nebenbei eine neue Spur, denn auch der allerkleinste, noch so belanglos erscheinende Hinweis könnte eine Wende bringen.
Ein Blick auf die Uhr zeigt ihr, dass es Zeit wird, sich auf den Weg zur morgendlichen Dienstbesprechung zu machen, die gewöhnlich um 9:30 Uhr beginnt, heute jedoch auf 10:30 Uhr verschoben wurde in der Hoffnung, dass auch Hans Sommer bis dahin von seinem Arztbesuch zurück ist. Sie klemmt sich den Aktenstapel unter den Arm, verlässt ihr Büro und stößt fast mit Hans zusammen, der völlig außer Atem herein stürzt.
„Moin moin, Hans – na, was sagt der Doc?“
„Tja, mein Blutdruck ist zu hoch, ich muss wohl etwas kürzer treten und vor allem gesünder leben, meint der.“
„Pass bloß auf dich auf, wir brauchen dich“, mahnt Stefan besorgt und treibt die beiden dann zur Eile an: „So, lasst uns rüber gehen, es wird Zeit.“
Das Sitzungszimmer, ausgestattet mit einem langen Konferenztisch und 16 Stühlen, ist bereits gefüllt. Die Besprechungen dauern meist nicht allzu lange, wenn nichts Besonderes anliegt. Die große Richtung ist vorgegeben und die diversen Aufgabengebiete sind gut verteilt und allen bekannt. Sie kommen gerade herein, als das Telefon klingelt. Hans Sommer, der direkt neben dem Apparat steht, hebt ab, lauscht kurz und fragt dann: „Wo? Ok, wir kommen sofort.“ Er legt auf, räuspert sich und berichtet dann mit ernster Stimme:
„Ein Mord zwischen Schilksee und Strande, direkt gegenüber der Straße ‚Drachenbahn‘. Es soll wie eine Hinrichtung aussehen! Wer soll hinfahren, Stefan?“
Stefan überlegt kurz und entscheidet dann: „Komm, Lena, das machen wir beide. Hans, du kannst ja hier weitermachen.“
Die beiden eilen über den Parkplatz zu Stefans Dienstwagen. Er klemmt sich hinter das Steuer und kaum ist Lena angeschnallt, passieren sie mit quietschenden Reifen die Ausfahrt. Vorbei an morgendlichen Läufern geht die Fahrt das Hindenburgufer entlang. Für die ‚Stena-Germanica‘, die gerade in den Hafen einläuft, haben beide zu diesem Zeitpunkt keinen Blick, denn die Erfahrung hat sie gelehrt, sich auf die ersten Eindrücke zu konzentrieren. In sich gekehrt steuern sie die Hochbrücke an, als Lena das Schweigen bricht:
„Was uns wohl erwartet? Es ist immer wieder das Gleiche – ich muss mich immer wieder neu überwinden; hoffentlich sieht es nicht allzu schlimm aus.“
„Das stimmt“, erwidert Stefan, „ich habe auch stets aufs Neue ein mulmiges Gefühl, obwohl man schon so viel gesehen hat.“
Kurz vor Schilksee blicken sie besorgt auf die dunkle Wolkenwand, die sich am Himmel zusammenschiebt, nehmen aber auch den frischen Wind wahr, der die Regenwolken in Richtung Laboe treibt. Erleichtert mutmaßt Stefan:
„Na, der Wind ist stark genug, es wird wohl nicht regnen. Dann kann die Spurensicherung wohl ohne Schwierigkeiten arbeiten.“
Das Olympiazentrum taucht vor ihnen auf und sie halten vor der Polizeiabsperrung. Sie weisen sich aus, betreten den Tatort und warten etwas abseits. Die Kollegen der Spurensicherung haben bereits ihre Arbeit aufgenommen. Es wird fotografiert, herumliegende Gegenstände werden eingetütet und katalogisiert. Behutsam treten die beiden näher, nehmen die Folie, unter der unschwer die Leiche zu erkennen ist, wahr und wenden sich dann an die Rechtsmedizinerin Barbara Unterhuber, die sich gerade ihre letzten Notizen macht.
„Guten Morgen, Frau Doktor“, grüßen beide fast im Duett. „Guten Morgen“, erwidert sie und fährt fort: „Es sieht nach einer gezielten Tötung aus. Ich möchte fast sagen, nach einer Hinrichtung. Es kann kein Zufall sein, hier hat jemand gewartet und aus nächster Nähe abgedrückt.“
„Wer ist es?“, fragt Lena.
„Das wissen wir noch nicht, er hat keine Papiere bei sich. Er trägt nur Sportzeug. Der Temperatur nach zu urteilen kann es so zwischen 7 und 9 Uhr gewesen sein. Die Waffe hatte eine starke Durchschlagskraft, sein Herz ist praktisch zerfetzt worden – es war ein schneller Tod.“
„Gibt es Spuren im Umfeld?“, will Stefan wissen.
„Die Kollegen suchen noch“, schüttelt sie den Kopf, „es sieht aber nicht gut aus.“
„Wir müssen wissen, wer er ist“, sagt Lena und macht Kollegen Platz, die die Leiche jetzt in die Pathologie bringen wollen.
„Wir sehen uns später. Ich melde mich, sobald ich Genaueres sagen kann“, mit diesen Worten steigt die Medizinerin in ihren Wagen und fährt davon. Stefan und Lena beobachten die letzten Aktivitäten der Spurensicherung, als der Klingelton von Stefans Handy beide zusammenzucken lässt. Er lauscht eine Weile, fragt dann kurz angebunden:
„Das könnte passen, wie ist die Adresse?“ Er wendet sich Lena zu und erklärt ihr:
„Das war Robert Koch von der Bereitschaft. Eine Frau Teuerkauf aus Schilksee macht sich Sorgen. Ihr Mann ist überfällig. Er war joggen und müsste schon lange wieder zu Hause sein. Sie wohnt in der Strandallee 2 – los, komm, da müssen wir hin.“
Als sie ins Auto steigen, macht sich bei beiden ein starkes Unwohlsein bemerkbar. Beide wissen, was jetzt wohl auf sie zukommen wird. Eine Todesnachricht überbringen zu müssen ist jedes Mal eine besondere, psychische Belastung; es gibt kein Patentrezept dafür. Jeder einzelne Fall ist schlimm und die Vorgehensweise ergibt sich meist erst vor Ort. Bei solchen Gelegenheiten hadert Lena manchmal mit ihrer Berufswahl, obwohl sie eigentlich voll dahinter steht, denn auch ihr Vater ist Polizist und immer noch im Dienst. Außerdem hat es auch seinen Reiz, komplizierte Zusammenhänge ergründen zu müssen und diverse Sachverhalte zu einem Ganzen zusammenfügen zu können.
Sie biegen in die Strandallee ein und halten vor dem Haus Nr. 2. Eine aufgelöste Frau kommt weinend auf sie zu und ruft: „Sind Sie von der Polizei? Bitte helfen Sie mir, was kann passiert sein? Mein Mann müsste längst zurück sein, wo ist er nur?“
Stefan zückt seinen Ausweis: „Frau Teuerkauf, nehme ich an? Mein Name ist Stefan Kaiser von der Mordkommission Kiel, das ist meine Kollegin Lena Gutzeit.“ Frau Teuerkauf weicht entsetzt zurück: „Oh Gott, Mordkommission?“
Behutsam fasst Lena sie am Arm und fragt: „ Können wir herein kommen? Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“
Verstört nickt sie und führt die beiden ins Wohnzimmer, vorbei an einem unberührten Frühstückstisch. Der Tisch ist noch gedeckt und es duftet nach frischem Kaffee. Lena fasst sich ein Herz und fragt vorsichtig: „Können Sie uns sagen, was Ihr Mann an hatte, als er das Haus verließ?“
„Ja, natürlich. Sportzeug. Er wollte ja joggen, wie jeden Morgen. Bitte bitte, sagen Sie mir, was passiert ist!“
Mit ernstem Gesicht antwortet Stefan: „Frau Teuerkauf, es sieht nicht gut aus. Wir haben eine männliche Leiche ganz hier in der Nähe gefunden und es könnte sich um Ihren Mann handeln.“
Fassungslos ruft Frau Teuerkauf: „Das kann doch nicht sein, er war doch eben noch hier!“
Lena übernimmt es, ihr mitfühlend zu erklären: „Bitte, Frau Teuerkauf, wir wissen, wie Ihnen jetzt zumute ist, aber wir müssen Sie bitten, mit uns in die Pathologie zu kommen, um Gewissheit zu bekommen, für Sie und auch für uns.“
Mit einem Weinkrampf sinkt Frau Teuerkauf auf die Couch und stammelt: „Ich kann doch nicht weg, die Kinder kommen doch nachher aus der Schule. Was soll ich denn bloß machen, was soll ich ihnen sagen. Oh Gott, mir ist schlecht.“
Leise bittet Stefan Lena, den Polizeiarzt zu rufen und das Kriseninterventionsteam einzuschalten. Als Lena nach dem Telefonat wieder ins Zimmer kommt, schenkt Frau Teuerkauf gerade mit zitternden Händen für beide eine Tasse Kaffee ein. Nach einigen Minuten des Schweigens beginnt Lena vorsichtig mit den für sie so wichtigen Fragen:
„War heute Morgen alles so wie sonst auch? Lief Ihr Mann immer um die gleiche Zeit? Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hatte er Feinde oder mit jemandem Streit?“
„Ich kann gar nicht klar denken, er ist doch überall beliebt und anerkannt. Er ist doch gerade erst am Freitag befördert worden und Streit hat es auch nicht gegeben, soweit ich weiß.“
Das Gespräch wird vom Klingeln des Polizeiarztes Dr. Peter Auweiler unterbrochen, der Frau Teuerkauf behutsam auf die Couch drückt und ihr beruhigend erklärt: „Ich werde jetzt erst einmal Ihren Blutdruck messen und dann sehen wir weiter.“
Das Ergebnis ist wie erwartet schlecht, der Blutdruck ist auf 70/40 gesunken. Weinend lässt sie es geschehen, dass er ihr eine Spritze gibt.
Nach einer Weile fragt Stefan, nicht ohne vorher einen Blick mit dem Arzt gewechselt zu haben: „Trauen Sie sich zu, uns jetzt in die Pathologie zu begleiten? Fühlen Sie sich kräftig genug?“
„Ich glaube ja, aber die Kinder sind noch in der Schule.“ „Wie lange noch?“ wirft Lena ein.
„Bis um 14 Uhr sind sie weg.“
„Bis dahin sind Sie wieder hier“ beruhigt Stefan sie und fügt noch hinzu:
„Wir haben das Kriseninterventionsteam eingeschaltet, die werden nachher hier bei Ihnen sein und die Kinder mit empfangen. In den ersten Stunden werden Sie nicht allein gelassen, Frau Teuerkauf, das ist versprochen.“
Dr. Auweiler gibt noch einige Ratschläge und verabschiedet sich dann. Stefan und Lena nehmen Frau Teuerkauf in ihre Mitte und verlassen das Haus. Beide Frauen setzten sich auf die Rückbank des Dienstwagens, Stefan übernimmt das Steuer und beschleunigt schnell, denn auch er will Klarheit haben.
Aus Erfahrung weiß er, dass Ungewissheit noch schlimmer zu ertragen ist als eine endgültige, traurige Wahrheit. Die Fahrt verläuft schweigend. Kurz vor der Pathologie fragt Frau Teuerkauf mit zittriger Stimme:
„Gibt es noch eine Chance?“
Lena schüttelt den Kopf: „Frau Teuerkauf, ich glaube nicht. Es wird jetzt sehr schwer, aber es muss sein. Bringen wir es hinter uns.“
Die langen Gänge sind weiß gestrichen, es riecht nach Formalin. Barbara Unterhuber wartet bereits und stellt sich mit den Worten vor:
„Guten Tag, ich bin die Rechtsmedizinerin, ich werde Sie jetzt zur Identifizierung begleiten.“
Der Raum ist mit drei rostfreien Untersuchungsbahren bestückt. Einer der Tische ist mit einem grünen Laken abgedeckt. Unschwer ist zu erkennen, dass hier ein Leichnam liegt. Es ist sehr kalt in dem Raum und Frau Teuerkauf sucht bebend bei Lena Halt. Lena umfasst sie und dann treten beide gemeinsam an den Tisch heran. Die Medizinerin Barbara Unterhubert fragt leise:
„Geht es?“
Langsam schlägt sie das Laken zurück und dann ist es klar. Frau Teuerkauf nickt, signalisiert damit, dass es ihr Mann ist. Sie wankt und Lena führt sie in einen Nebenraum, während Stefan die Ärztin fragt:
„Haben Sie schon etwas Genaueres? Den Zeitpunkt oder die Waffe?“
„Das war, wie ich schon sagte, wie eine Hinrichtung. Der Tod muss so gegen 8 Uhr eingetreten sein. Das Projektil wird noch untersucht. Den Bericht erhalten Sie in Kürze.“
Stefan geht in den Nebenraum hinüber und beauftragt Lena, sich um Frau Teuerkauf zu kümmern und alles zu veranlassen, was sie jetzt benötigt.
Er überlässt Lena den Passat, damit sie Frau Teuerkauf nach Hause bringen kann. Er selbst geht zu Fuß zur Dienststelle zurück, um auf dem Weg genau überlegen zu können, wie es jetzt weitergehen soll.
Die frische Luft tut ihm gut; ihm ist klar, dass jetzt der gesamte Apparat in Bewegung gesetzt werden muss. In der Dienststelle angekommen betritt er das Büro von Hans. Er informiert ihn über alles und beauftragt ihn mit einem Besuch bei der Commerzbank und dem Kontakt zur Spurensicherung. Hans macht sich sofort auf den Weg, um die Besuche zu erledigen.
Es ist bereits 13 Uhr, als er telefonisch Bericht erstattet:
„Hallo Stefan, bei der Bank habe ich nichts Brauchbares herausfinden können. Sicher ist aber, dass es vor einigen Wochen etwas Unruhe, so will ich das mal nennen, gegeben hat.“
„Warum denn das?“, will Stefan wissen.
„Naja, es sollte eine neue Führungsposition vergeben werden und zwei Mitarbeiter kamen in Frage, unser Opfer und ein Horst Klünder. Wie mir die Sekretärin erzählte, fiel die Entscheidung am letzten Freitag. Unser Opfer sollte den Posten am nächsten Ersten übernehmen.“
„Hast du mit seinem Vorgesetzten gesprochen?“
„Nein, der war in Frankfurt, ich habe nur mit der Chefsekretärin gesprochen. Mir kam es so vor, als wenn die beiden mal etwas miteinander gehabt haben. Sie war völlig aufgelöst und hatte praktisch einen kleinen Nervenzusammenbruch.“
„Hans, meinst du, da kann man ansetzen?“
„Ich glaube nicht. Sie hat mir erzählt, dass sie in einer lockeren Beziehung lebt mit einem Mann, der zur See fährt und der jetzt übrigens gerade in Korea ist.“
„Ok, gehst du noch zur Spurensicherung?“
„Ja, ich bin bereits auf dem Weg. Ich melde mich nachher noch mal bei dir.“
„Danke Hans, bis dann!“
Stefan zwingt sich zur Ruhe, um den ersten Ansatz zu finden. Er muss unbedingt Licht ins Dunkel bringen. Er überlegt: Meistens kennen sich Täter und Opfer, das ist fast immer so. Auch jetzt müsste es so sein, denn der Täter hatte ganz offensichtlich auf sein Opfer gewartet, um effektiv handeln zu können.
Kurz vor Feierabend ruft Lena an und meldet sich ab. Sie ist die ganze Zeit in Schilksee gewesen, um Beistand zu leisten und will von dort aus gleich nach Hause fahren. Einige Zeit später erstattet auch Hans noch einmal Bericht zu den Ergebnissen der SpuSi:
„Es sind einige Kippen eingesammelt worden, außerdem ein Kondom und drei Papiertaschentücher. Alles wird untersucht, aber die genaue Analyse dauert ca. zwei Tage.“
„Danke Hans, dann mal einen schönen Feierabend.“
„Hallo Karin, hallo Gunnar“, mit diesen Worten wird das Ehepaar Schröder von ihrer Nachbarin Eva Kunze begrüßt. Horst Kunze steht bereits im Garten und hat Probleme mit dem Grill. Es ist absolut windstill und die Kohle braucht mehr Luftzufuhr. Während er seine Gäste begrüßt, wedelt er mit einer alten Zeitung und bemerkt aufatmend die ersten züngelnden Flammen.
Die beiden Frauen begeben sich in die Küche und Gunnar Schröder tritt zu seinem Freund und lästert:
„Na Horst, brennt kein Feuer mehr?“
„Du Witzbold, denkst du, ich bemerke diese Zweideutigkeit nicht? Sei bloß ruhig, sonst suche ich mir für dich die passende Strafe aus.“
„Ok, Spaß beiseite, ich freue mich auf heute Abend. Ich bin durch mit meinem Fall, das Urteil steht und dann ist endlich etwas Ruhe angesagt.“
Horst Kunze wedelt immer noch, aber inzwischen glühen viele Kohlestücke schon. Gerade kommen die Frauen mit den Salaten aus der Küche und die erste Flasche Wein wird entkorkt.
„Los, lasst uns auf diesen Abend anstoßen“, ruft Horst und schenkt den anderen ein. Eva meckert scherzhaft: „So Horst, kann es jetzt endlich losgehen?“
„Komm, nun lass ihn doch in Ruhe“, steht Karin ihrem Nachbarn und Freund zur Seite.
„Endlich ist auch mal eine Frau auf meiner Seite“, witzelt Horst und legt die ersten Fleischstücke auf den Grill. Die Vier sitzen entspannt im Kreis und unterhalten sich lebhaft. Horst ist als Abteilungsleiter in einem weltweit bekannten Unternehmen tätig. Oft politisieren sie, sind nicht immer einer Meinung, was aber der Freundschaft über lange Jahre hinweg niemals geschadet hat. Zu später Stunde sind sie bei den Ungerechtigkeiten in der Welt angelangt. Es ist ein großes Thema für sie.
Sie diskutieren darüber, ob es die nächsten Kriege wohl um das Wasser geben wird. Auch über die Privatisierung von Müll, Autobahnen und vielem mehr wird lebhaft, aber meist übereinstimmend, spekuliert. Gunnar bemerkt so ganz nebenbei:
„Wisst ihr eigentlich, was Privatisierung heißt?
Profit für wenige und die Kosten trägt das Volk, also wir alle. Außerdem kommt das Wort privat von privare, also aus dem Lateinischen. Weiß einer, wie das heißt?“
Keiner der drei anderen kann dazu etwas sagen.
„Privare heißt berauben!“, doziert Gunnar und wartet genüsslich auf Reaktionen, die auch nicht lange auf sich warten lassen.
„Mensch, das ist ja ein Hammer, das habe ich nicht gewusst“, staunt Horst und die Frauen stimmen ihm zu. Die Unterhaltung geht noch eine Zeitlang hin und her, bis Gunnar sagt: „So, Kinder, lasst uns für heute Schluss machen, ich muss morgen früh raus und mich noch einmal voll auf mein Urteil konzentrieren.“
Sie verabschieden sich in aller Herzlichkeit und ahnen nicht, dass es das letzte Mal sein wird.
Langsam, ganz langsam nimmt das Unheil seinen Lauf.
Der vorsitzende Richter des Oberlandesgerichts Schleswig schließt die Akten. Das Urteil ist gesprochen, ein ‚lebenslänglich‘ ist dabei herausgekommen.
Es war ein Indizienprozess. Eine Sicherungsverwahrung, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, wird nicht angeordnet. Gunnar Schröder hat Olaf Kranz verurteilt und immer dann, wenn es keine direkten Zeugen gibt und nur nach Indizien verurteilt wird, geht es um die Glaubwürdigkeit. Und genau diese lässt bei dem Täter sehr zu wünschen übrig, dafür wiegen die Indizien dann umso schwerer. Und doch hat Gunnar Schröder lange überlegt und abgewägt.
Gut, beruhigt er sich, ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, aber vielleicht wird ja doch noch Revision eingelegt. Hoffentlich nicht.
Unwillig schüttelt er den Kopf, als seine Gedanken – wie schon so oft – zu dem dunklen Punkt in seiner Vergangenheit wandern. Die Erinnerung an das dänische Mädchen, das die Unbeherrschtheit von vier jungen Männern mit dem Leben bezahlen musste, schnürt ihm die Kehle zu und er spürt beschämt, dass er trotz der Schwere der damaligen Tat dankbar ist, dass er so gut davon kommen konnte.