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Wenn einer das Leben in seinen mannigfaltigen Formen in Worte fassen kann, dann ist es Andreas Altmann. Dass seine Erzählungen zum Träumen und ab und zu auch zum Schaudern anregen, hat er schon oft bewiesen. In seinem neuen Reportagenband begleiten wir Altmann einmal um den Globus. Dabei lässt er seine Leserschaft durch seine unverwechselbare Erzählkunst an Begegnungen überall auf der Welt teilhaben. Es geht von Mexiko nach Südafrika, nach Sibirien, Paris und ans andere Ende der Welt – nach Sydney. Andreas Altmann sorgt mit diesem Best-of seiner Geschichten für ganz viel Sehnsucht nach Leben.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover & Impressum
WIDMUNG
MOTTO
VORWORT
STÄDTE MIT BREITEN SCHULTERN
CHICAGO
Viel Lärm um viel
JAKARTA
Eine Metropole geht unter
ACAPULCO
Vom Märchenstrand zur gefährlichsten Stadt der Welt
SHANGHAI
Alter ferner Zauber
MARSEILLE
Gleichheit, Freihheit, Brüderlichkeit – wer Glück hat
CHICAGO
JAKARTA
ACAPULCO
SHANGHAI
MARSEILLE
FORDERNDES LEBEN
PESCHAWAR
Elend und Größe des Menschen
DREI-SCHLUCHTEN-DAMM
Der Wahn des Machbaren
LES MAROLLES
Hier lebe ich, ich kann nicht anders
THE MARCH ON EUROPE
Marschieren, um zu sterben
DIE WEISSE RECHTE
Der Aufstand der Rechthaber
PARIS
Draußen vor der Tür
DIE INDER IN DURBAN
Eine Minderheit will siegen
FERlA DE ABRIL
Die Sehnsucht nach Heimat
PESCHAWAR
DREI-SCHLUCHTEN-DAMM
LES MAROLLES
THE MARCH ON EUROPE
DIE WEISSE RECHTE
PARIS
DIE INDER IN DURBAN
FERlA DE ABRIL
LEICHTES LEBEN
GOA
Die Sanftmut des Lebens
LAPPLAND
Ein Volk erholt sich
PARIS
Be in love with love
KATHMANDU
Grandiose Spinner an jeder Ecke
HIGH IN SIBIRIEN
Ein Rausch mitten in der Taiga
DER MAGIER
Der schöne Wahnsinn auf Erden
PALI
Im Namen weiblicher Schönheit
GOA
LAPPLAND
PARIS
KATHMANDU
HIGH IN SIBIRIEN
DER MAGIER
PALI
DIE TAPFEREN
LA LUCHA LIBRE
To be somebody
GURU HANUMAN
Starker Mann, gütiges Herz
ISLAND
Helden bei Sturm und Wind
LA LUCHA LIBRE
GURU HANUMAN
ISLAND
DIE GENIES
PHILIPPE DUFOUR
Der Ästhet
EVGEN BAVCAR
Der blinde Fotograf
PHILIPPE DUFOUR
EVGEN BAVCAR
DIE GERISSENE
HUMMINGBIRD
HUMMINGBIRD
RECKEN IM SÜDCHINESISCHEN MEER
DAS INSELDUELL
DAS INSELDUELL
UMWEGE ZUM ZIEL
GEGEN DIE WAND
GEGEN DIE WAND
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Heidrun und für Engelbert, mein Lieblingspaar,beide gewiss ein oder zwei Nuancen gaga, aber garantiert unterhaltsam.
Jack Kerouac:
Be in love with your life.
Sartre:
L’enfer, c’est les autres./Die Hölle, das sind die anderen.
Soeur Emannuelle:
Le paradis, c’est les autres./Das Paradies, das sind die anderen.
Vor nicht langer Zeit erzählte mir ein Freund, dass er sich verliebt hatte. Auf einem Festival. Nach vier Tagen schworen sie sich gegenseitig Liebe. Dann mussten sie auseinander, jeder zurück in seine Stadt. Mit dem feurigen Versprechen, sich so bald, nein, so schnell wie möglich wiederzusehen.
Zwei Wochen später besuchte er sie, die neue Liebe. Und nach zwei Stunden, so ungefähr, krachte es. Zu verschieden ihr beider Blick auf die Welt, zu diametral ihre Pläne für die Zukunft, zu rechthaberisch sie, zu rechthaberisch er.
Ach, mit welchem Donner war er angereist. Und welch stille Heimfahrt.
Ich umarmte meinen Freund und tröstete ihn mit dem Hinweis, dass derlei Desaster uns allen passieren. Weil wir Menschlein immer derselben Versuchung unterliegen: nicht das zu sehen, was ist, sondern das, was wir sehen wollen.
Die Sehnsucht ist ein vielschneidiges Schwert. Und die Sehnsucht nach Liebe wohl die gefährlichste. Jede weiß es, jeder weiß es. Dennoch, alle treibt sie an, aber nicht alle kommen ans Ziel. Ich kenne Leute, die nahmen ihre Sehnsucht mit ins Grab. Zu fordernd war sie, zu hochtrabend, zu unerfüllbar.
Die einen sehnten sich nach dem Traummann, die anderen nach der Traumfrau. Sie haben nie begriffen, dass es die beiden nicht gibt. Sie wollten keine echten Menschen, sie wollten den Traum.
Todesursache: Überdosis Illusionen.
Sorry, ich bin leicht vom Thema abgekommen. Hier soll die Sehnsucht nach Leben verhandelt werden. Und doch, die zwei Sehnsüchte haben etwas gemeinsam, das Wichtigste: Sie müssen in der Nähe der Wirklichkeit angesiedelt sein.
Ein – rein theoretisches – Beispiel, durchaus lustig und aberwitzig: Ich träume davon, eines Tages wie Shakespeare schreiben zu können. Das ist ein ungeheuer vorlauter Traum, der nie in Erfüllung gehen wird. Auch dann nicht, wenn ich täglich von zehn Literaturnobelpreisträgern unterrichtet werden würde, nicht, wenn ich zuletzt nur noch aus Buchstaben und Worten bestünde. Es ist ein schwachsinniger Traum, an dem ich zerbräche. Denn zwischen mir und dem Genie des englischen Weltwunders liegen die tausend Sonnen, die nur ihm gehören.
Bin ich einsichtig, dann erlaube ich mir zu jedem Jahresende die Sehnsucht, dass ich die nächsten zwölf Monate ein, zwei Nuancen eleganter mit der deutschen Sprache umgehe – federleichter, geschmeidiger, raffinierter. So eine Sehnsucht ist realitätstauglich, die schaffe ich. Bisweilen.
Martin Walser: »Abends gehen wir der Sehnsucht ins Netz.«
Sehr stimmig. Nachts liegen wir im Bett und spüren, dass manches nicht stimmt: entweder die Frau nicht oder der Mann oder der Beruf oder das ganze Leben. Und dann sehnen wir uns und träumen.
Nelly Sachs: »Alles beginnt mit der Sehnsucht.«
Gut so. Fantasie als erster Schritt in eine verlockendere Zukunft. Nur sollten sich die Wünsche nicht überschlagen, nicht zu größenwahnsinnig, nicht zu gigantomanisch unser Herz besetzen. Solche Kopfgeburten landen im Aus, sie ersticken uns, kommen nie zur Welt.
»Alles ist möglich«, was für ein esoterisches Gebabbel, was für eine Abzocker-Phrase für Coaches, was für eine Einladung zum Unglücklichsein.
Eine Sehnsucht – eine realistische (!) – vom Kopf ins tatsächliche Leben zu zerren: Das fordert Schneid und die Bereitschaft, Niederlagen auszuhalten. Und jeden Tag dem Gravitätsgesetz zu widerstehen – das so penetrant zu Trägheit und Stillstand verführt.
Sein Leben upgraden, das ist ein anstrengendes, ein grandioses Unternehmen. Doch wie selig der Mensch, der da ankommt, wo er hinwollte. Er genießt den Triumph umso mehr, je zäher er dafür geschuftet hat. Lieber nicht hoffen, nicht beten, nicht »Wünsche ins Universum schicken«, vielversprechender wäre: einen Plan machen und sich ein Ziel einprägen. Und dann loslegen.
Wie ängstigend wäre die Vorstellung, ziemlich dem Ende entgegen, dass man nicht das Leben hatte, das man sich vorstellte. Dass man aus irgendeinem Grund – und Gründe gibt es viele – irgendwann falsch abgebogen ist. Aus Bequemlichkeit, weil geistig träge, weil leichtfertig trügerischen Spuren gefolgt.
Die Tapferen beichten Fehler, die weniger Mutigen suchen nach Ausreden. Und verteilen die Schuld auf die Eltern, die Schule, die Gesellschaft, auf immer andere. Wer nun tatsächlich verantwortlich ist, ist dem Leben egal. Es blühte nicht, und das ist eine traurige Nachricht.
Michel Houellebecq: »Alles kann im Leben passieren – vor allem nichts.«
Das ist eine bedrohliche Bemerkung. Das Nichts ist ein Todesurteil. Ein bisschen Glut sollte schon sein. Und die Freude am Leben – um die heillosen Tage zu überstehen. Und Poesie, das wäre das Vergnügen, denken und fühlen zu wollen. Und auf einer Arbeit bestehen, die bereichert – und nicht in den Stumpfsinn treibt. Und von einer Handvoll Menschen wissen, die einen lieben. Und – wichtiger – selbst lieben, ein paar Frauen und Männer entlang der Zeit.
Das ist unglaublich viel verlangt, aber das Leben darf das. Es ist ein einmaliges, einzigartiges Geschenk. Wer es nicht achtet, wer nichts dafür hergeben will, der bekommt kein Leben. Bekommt nur Jahre, die glanzlos an ihm vorbeiziehen.
Über dem Eingang einer Kneipe in Cali, in Kolumbien, stand: »Me gusta la gente que vibra, que no hay que empujar, que no hay que decirle, que hagan las cosas«, mir gefallen die Leute, die vibrieren, die man nicht anschubsen muss, denen man nichts anschaffen muss, die einfach machen.
»Vibrar«, vibrieren, das ist ein treffliches Synonym für das Wort leben.
Am nächsten Morgen, noch immer in derselben Stadt, bat ich die Rezeptionistin um eine Quittung für meine vorausbezahlten Nächte. Die vielleicht Zwanzigjährige kam eher schleppend voran, da sie jeden Buchstaben auf dem Computer suchen musste. Das Hotel war fast leer, sie hätte sicher viel Zeit gehabt, um ihre Fertigkeiten zu verbessern. Doch neben dem Laptop stand ein Fernseher, wo gerade eine Soap mit schönen Menschen zu sehen war. Sie konnte den Blick kaum abwenden, man spürte, dass sie dazugehören wollte. Hier wollte sie nicht sein. Sie wollte aber auch nicht kämpfen, sie schaute lieber auf eine Welt der gut aussehenden Lügen und Märchen.
Consuela, so soll sie heißen, trieb eine Sehnsucht um, die keine Folgen haben wird. Das ist schmerzhafter, als gar keine Sehnsüchte zu haben. Denn der Frust wird sich in ihr Herz bohren und dort schwären. Auf ewig.
Aber ja, Glück sei willkommen – auf dem Weg zu dem, was man sein und haben will. Der reine Wille reicht nicht.
Um zu erklären, auf wie vertrackte Weise das Glück einem zugutekommen kann, darf ich kurz von mir berichten. Denn ich hatte Glück, ich hatte es leichter als viele.
Ich wuchs in einem Sumpf aus Anmaßung, Bigotterie und Gewalt auf, in einem Kraal unauslotbarer Ignoranz. Kein Wunder, dass die Sehnsucht nach einem anderen Leben zu übermächtig wurde, um nicht eines Tages, noch minderjährig, davonzurennen. Weg in die große weite Welt.
Und nochmals Glück, da ich für alle Studien und Berufe, die ich fast zwanzig (!) Jahre lang ausübte, auszuüben versuchte, nicht taugte. Zu minderbegabt? Zu unwillig? Zu müßig? Vielleicht die drei zusammen.
Und doch, welch Glückssträhne! Denn am Ende dieses Abstiegs entdeckte ich die deutsche Sprache, das Schreiben, tatsächlich ein Tun, das mich begeisterte. »Last Exit«, absolut letzte Ausfahrt Richtung Sinn, Richtung Innigkeit und Anerkennung. Und – wie irdisch und erfreulich – Geld, das ich für Anstrengungen kassierte, die zu überwinden ein Gefühl erstaunlicher Befriedigung auslöste.
Gewiss, manche Leute in meiner Umgebung waren heller als ich, kamen früher an. Ich brauchte die Umwege.
»Sehnsucht Leben« heißt das Buch, und es besteht (fast) ausschließlich aus Geschichten von Frauen und Männern, die ich beneide und bewundere. Die mich – ohne es je auszusprechen – antrieben, ja mich ansteckten mit ihrem Lebenswillen und der unbedingten Bereitschaft, jeder Art trübsinnigen Daseins aus dem Weg zu gehen.
Manche von ihnen strandeten. Ich vermute, sie mussten ohne Glück auskommen, ohne »serendipity«, diesen glückreichen Zufall, der anschiebt in Notzeiten.
Ich erinnere mich an ein Interview mit einem französischen Gefangenen, der wegen zentnerschweren Kokainhandels einsaß. Ich stellte ihm die denkbar banalste Frage: »Warum haben Sie das getan?«, und Luc antwortete auf überaus verblüffende Weise: »Weil ich mein Leben nicht liebte.«
Der Satz gefiel mir. Aber ja, die Liebe zum Leben ist die Mutter aller Sehnsüchte.
Viel Lärm um viel
Schuld hatte die dumme Kuh von Missis O’Leary. An einem warmen Herbstabend 1871 stieß sie die Stalllaterne um und zündete Chicago an. »Brecher und Wogen aus Feuer«, so erzählte man später, rasten zwei Nächte lang – vom achten bis zum zehnten Oktober – über die Häuser. Dreihundert Tote, hunderttausend Obdachlose, über siebzehntausend Ruinen. Nach 48 Stunden schlichen die Überlebenden zurück. Selbst die armen Teufel, die kein anderes Versteck als die leeren Gräber auf dem Friedhof gefunden hatten. Sie zogen Bilanz und stellten fest, dass ihnen nicht allzu viel geblieben war. Immerhin ihr nacktes Leben. Und ihre Stadt, auch die nackt, auch die in Sack und Asche.
Doch die Kuh hatte zweimal Schuld. Einmal als Brandstifterin und einmal als Verantwortliche eines grandiosen Satzes. Denn die Chicagoer packten ihre Muskeln aus und legten los. Wieder wollten sie zeigen, dass das hier keine »sissy town« war, keine Stadt für Jammerlappen. Und ein gewisser Mister W. D. Kerfoot lieferte den ultimativen Beweis dafür. Noch zwischen den verkohlten Resten zimmerte er eine kleine Bude und nagelte über den Eingang seines provisorischen Immobilienbüros jenen gigantesken Ausspruch, der ohne die dumme Kuh nie zur Welt gekommen wäre: »Alles verloren, außer Frau und Kinder. Und ENERGIE.«
»Energy«, das ist das eine Wort für diesen Ort. Keines passt besser hierher. Von Anfang an. Schon die Indigenen (»Indianer« in meiner Jugend) nannten die Gegend »Checagou«, was stinkende Zwiebeln und – wie witzig – große Kraft bedeutete. Die wird ihr bleiben, bis ans Ende aller Zeiten. Sie blieb auch, nachdem ihr berühmtester Dichter, Carl Sandburg, ihr einen neuen Namen verpasste. Einen, der völlig anders klingt und genau dasselbe meint: »City of the Big Shoulders«, Stadt der breiten Schultern.
Wer in Chicago vorbeikommt, muss früh losrennen und lang aufbleiben. Denn ein Superlativ jagt den andern. Wer ausschlafen will, sollte nicht auf Chicagos O’Hare Airport landen. Er gilt bis heute als der am besten vernetzte Flughafen – weltweit.
Dass mein Taxifahrer zu den 999 dicksten Taxifahrern der westlichen Hemisphäre zählt, soll noch notiert werden. Nicht aus Bosheit, eher aus Bewunderung über Teds Geschick, mit so einem US-Bauch hinter sein Steuerrad zu kugeln. Die elegante Drehung verrät auch etwas von der amerikanischen Leichtigkeit. Beneidenswert.
Es gibt die schöne Legende von einem jungen Kerl, der an einem glühend heißen Julitag 1922 am hiesigen Hauptbahnhof ankam, behutsam den kleinen schwarzen Koffer mit seinem Werkzeug unter den Arm klemmte und auf dem Weg zum Ausgang – so wird er es später berichten – spürte, »wie ein Gefühl von unbändiger Kraft in mir aufwallte«.
Seit Louis Daniel Armstrong in Chicago seine Trompete auspackte und mit seinen Mordsbacken vom Kampf und der Trauer seines Volks erzählte, haben sie hier einen Blues, für den man alle Rekorde, einst und jetzt, wieder herschenkt. Wenn man bedenkt, dass das Wort »Jazz« – über mehrere semantische Umwege – früher ein Slangwort für hitzigen Geschlechtsverkehr war, dann verbreitet sich eine Ahnung von dem, was sie hier aufführen, wenn sie ihre Instrumente traktieren und eine oder einer das Mikrofon hernimmt und loslegt.
Manche dieser Kaschemmen liegen in der Stadt. Und überall spielen Weltmeister. Sag ich, der nichts versteht von Noten, nur verliebt ist in die Musik der Schwarzen. Ich gehe ins Blues Chicago und Willie Kent & His Gents stehen heute auf dem Programm. Eine Frau, vier Mann, drei Gitarren, ein Klavier. Und ein Synthesizer. Der Laden ist voll. Eine möblierte Bruchbude mit großer Theke in der Mitte und einer Luft für Lungenkrebssüchtige. Anders funktioniert es nicht. Nachtschattig muss es sein, abgerissen, immer in Reichweite von dem, wovon sie erzählen.
Die Stones sind gerade auf Achse durch die Staaten – mit 250 Roadies auf der Gehaltsliste. Hilfsarbeiter, die ihre 56 Lastwagenladungen Requisiten auf die Bühne hieven. Eine halbe Woche brauchen sie dazu. Wie anstrengend, wie unsinnlich. Hier, im Club neben der North State Street, hievt sich nun die stämmige Karen Carroll aufs Podest. Weil nun Zeit ist, dass jemand den Blues singt. Damit alle still sind und die Frau und die vier Gentlemen anbeten.
Stunde der wahren Empfindung. Weil diese Schwarze mit einer Stimme auftrumpft, für die Mister Jagger noch dreimal wiedergeboren werden müsste: »I’m good, I know I’m good in the morning, in the night, in the evening.« Später wird sie uns mit einem Song aus Blues Brothers erledigen, dem Kultfilm, der hier gedreht wurde: »Oh, baby don’t you wanna go back to that same old place?«
Anspielung auf Chicago als Fluchtpunkt für viele, die dem Rassismus und der Armut des bigotten Südens entkommen wollten.
Wer hätte die Kraft, jetzt Nein zu sagen, Widerstand zu leisten gegen Töne, die wie schlingernde Küsse klingen, wie Lockrufe, die schwächen und einlullen: »Roll me, Baby, roll me the whole night long.«
Dass gegenüber dem Bluesladen Frenchy’s Sexshop liegt, hat sicher praktische Gründe. Um sich nun endgültig von allen provozierten Regungen zu erlösen. Welche Musik triebe zielstrebiger zueinander als eine, die so oft von den Niederlagen der Liebe erzählt?
Erfreulich ist der großflächige Hinweis neben der Eingangstür, dass gerade Amerikas neuestes Sensationsvideo eingetroffen ist: »John Wayne Bobbitt – uncut«. Es handelt sich dabei um die wunderliche Geschichte von Ex-Marine John Wayne Bobbitt, dessen von seiner erbosten Frau mittels Küchenmesser abgeschnittenes Männerglied – »cut!« – durch die Weltpresse ging. Inzwischen ist John Wayne wieder vollständig. Und funktionstüchtig. Dank einer sechsstündigen Operation, nachdem die Polizei den von der Gattin in ein Kornfeld geschleuderten Penis gefunden hatte. Damit das keinem entgeht, hat die einschlägige Filmindustrie die erstaunlichen Folgen dieser chirurgischen Höchstleistung festgehalten – ungeschnitten: John Wayne Bobbitt als Steherwunder zwischen willigen Damen auf einer Million Videokassetten.
Das Hinweisschild ist wichtig. Weil der Verkauf dieses Hardcore-Streifens ein weiteres Indiz dafür ist, dass Chicago nicht nur Weltrekorde abliefert, sondern tatsächlich eine Weltstadt geworden ist, ja vergessen lassen will den Geruch puritanischer Provinzialität, der lang und hartnäckig an ihr hing. Wer so versessen schuftet, vernachlässigt zuweilen ein paar Dinge im Leben, die ebenso zählen.
Freilich, für Fremde hat die amerikanische Version von Sex und Erotik auch etwas leicht Verwunderliches. Ein Besuch in The Dollhouse weiht ein. Gedämpfte Lichtspiele, lautlose Teppiche, zwei Bars, edel bezogene Sitzflächen. Und dazwischen die Aufregung – »the table dance«.
Über dreißig Girls streifen durch den Nightclub. Wer von den anwesenden Herren bereit ist, zwanzig Dollar zu investieren, dem widerfährt fünf Minuten später eine durchaus spektakuläre Überraschung. Ein Ober stellt ein niedriges, kreisrundes Podest, »the table«, vor den Kunden. Der sitzt. Und sogleich rankt sich geschmeidig eine der Schönen vor ihrem momentanen Arbeitgeber. Zieht sich alles vom bald paradiesischen Leib. Bis auf einen siebeneinhalb Quadratzentimeter winzigen Slip. Und bis auf die mit einer (durchsichtigen) Latexschicht eingepinselten Spitzen ihrer sekundären Geschlechtsmerkmale. Anstarren erlaubt, anfassen auf keinen Fall.
Träten die Mädchen ungepinselt auf, käme es bei gleichzeitigem Alkoholgenuss – so Jeremy, der Geschäftsführer – zu zügellosen Handgreiflichkeiten. Der Lack bremst, heißt es. So können die Mädels unbesorgt ablegen. Zwanzig (versiegelte) Nackedeis schlängeln sich bei Hochbetrieb zur selben Zeit. Ein postmoderner Tempeltanz, mitten in Chicago.
Ob ich das »richtig« finde, dass Damen sich vor Männern räkeln, ist nicht Thema dieser Reportage. Ich bin nicht als Moralapostel unterwegs, sondern als Reporter. Der bescheidenerweise nur von der Wirklichkeit berichten soll. Und wenn Leute sich treffen, um sich zu amüsieren und alle, ja alle Beteiligten mit freiem Willen und bei geistiger Gesundheit damit einverstanden sind, dann darf es so sein. Unbedingt.
Witzige Weltstadt. Ich gehe in einen Buchladen und frage nach einem Stadtplan. Der höfliche Verkäufer will sogleich wissen: »Are you going to do a lot of shopping?« Und greift zur »Shopping Map«.
So sind sie hier. Sehr amerikanisch. Das menschlichste Bedürfnis heißt ganz offensichtlich Einkaufen. Alle anderen Sehnsüchte müssen sich hintanstellen. Shop till you drop! Bis zum Umfallen. Ihre North Michigan Avenue nennen sie hier die »Magnificent Mile«. Beim Wandern entlang der 100 000 mal 100 000 Quadratmeter Schaufenster erinnere ich mich plötzlich an den Sohn eines Ölscheichs, den ich als Taxifahrer ein paar Stunden bei seiner Einkaufstour in einer Großstadt in Deutschland begleitete. Als Fahrer und Lastenträger. Tarid war ein sympathischer, spendabler Nichtstuer, der immer aus einer Schuhschachtel die Geldscheine holte, um cash zu bezahlen. Für die Michigan Avenue hätten seine drei Kilo Banknoten nicht gereicht. Eher ein Koffer oder zwei. So schamlos, so charmant buhlen sie hier um »green money«.
Hinschauen und bewundern ist umsonst. Neben der Shopping Map liegt die »Wandering through Chicago Map«. Wer durch die Stadt wandert, wird einmal mehr von der Schwierigkeit erfahren, unbeschädigt seine gesammelten Vorurteile über Amerikaner zu behalten. Bestimmt oft Meister bodenloser Geschmacklosigkeiten und bestimmt oft Schöpfer souveräner Eleganz. Immerhin kamen hier drei der begabtesten Architekten des 20. Jahrhunderts vorbei – Louis Sullivan, Frank Lloyd Wright und Ludwig Mies van der Rohe. Was das Trio hier an bravourösem Erbe hinterließ, beweist nur wieder, wie spielerisch Architektur die Lebensfreude befeuern kann. Die Fassaden, die Ecken, die Kurven, die Giebel, die wiesengrünen Parklandschaften, ganze Häuserschluchten und das Umwerfendste: die fünfzig Zugbrücken, die den Chicago River und seine Nebenflüsse überspannen. Bewacht von fünfzig Helden, dem halben Hundert Brückenfrauen und Brückenmännern, die über 30 000-mal pro Jahr die beispiellose Zivilcourage besitzen, den Straßenverkehr lahmzulegen: welch bewegender Gedanke, dass in einer so autonärrischen Gesellschaft Tausende bremsen und anhalten müssen – weil ein Schiff Vorfahrt hat.
Spätabends wird es wunderlich romantisch. Keiner hetzt mehr, keiner hupt und will noch durch die Absperrung wischen. Nichts davon, nur: Eine Glocke bimmelt, eine hellrote Lampe blinkt, und mit leisem Tuckern nähert sich ein Boot. Lässig winkt der Kapitän. Lautlos senkt sich die Brücke wieder.
Von einem muss noch berichtet werden. Einem Weltberüchtigten, einem Weltberühmten. Seine Eltern wanderten von Neapel nach New York aus, wo er zur Welt kommt, inmitten von acht Geschwistern. Mit vierzehn fliegt er von der (katholischen) Schule, nachdem er einen Lehrer verprügelt hat. Er hat ein Händchen für Gewalt und erledigt für den lokalen Chefgangster erste »Missionen«. Nebenbei wird er Schuhputzer, Kuchenverkäufer und heuert in seiner Freizeit in verschiedenen Gangs an. Als Rausschmeißer holt er sich seine unverkennbare Narbe auf der linken Wange, geritzt vom Rasiermesser eines Gegners. Alphonse heißt ab nun »the scarface«, das Narbengesicht. Wird er fotografiert, versucht er, die lädierte Seite zu verstecken. Wird er darauf angesprochen, erfindet er sich eine Kriegsverletzung.
Er zieht nach Chicago um und mordet sich seinen Weg nach oben. Er ist ein ungemein fleißiger Verbrecher, liefert heimlich Alkohol und unterläuft so das Prohibitionsgesetz, erpresst Schutzgelder, organisiert illegale Glücksspiele, richtet Bordelle ein und sorgt gewissenhaft dafür, Polizisten und Politiker zu schmieren. Eine Win-win-Situation für alle.
Tief im Süden der Michigan Avenue, wo sie schon lange nicht mehr »magnificent« heißt, wo sie heute nur noch Teil eines in die Brüche gegangenen Stadtviertels ist, wo es nach billigem Chickengrill riecht, wo sich die Treppenhocker und lauthals Verzweifelten, die Abfallwühler und Erlösungsprediger, die Bierdosensammler und die auf alle Zukunft Abgemeldeten herumtreiben, da steht noch immer ein ramponierter Prachtbau. Mit zugenagelten Türen und zerbrochenen Fensterscheiben, zehnstöckig, zugedeckt von dreckig schwarzem Backstein.
Hier strahlte einst das Lexington Hotel, hier bezog Al Capone im Sommer 1928 sein Hauptquartier, »his castle«. Zwei komplette Stockwerke, mit Blick von seinem Büro auf die Kreuzung. Um ungehindert auf familienfremde Halunken zielen zu können, die nicht wahrhaben wollten, dass keiner hier bleifrei die Straße überquert.
Zu dieser Zeit »verdiente« Al, mehr als jeder andere US-Bürger, pharaonische 105 Millionen Dollar. Damals! (Das wären heute weit über eine Milliarde.) Der Dicke mit dem Schmiss hatte es geschafft. Und wie alle Proleten, die schnell zu Geldhaufen kommen, warf er mit den Scheinen um sich, protzte mit Gold und Edelsteinen, erwarb prächtige Immobilien, versteckte den unappetitlichen Leib unter teuerster Maßschneiderei und kaufte sich Damen en gros. Al hatte keine Freunde, Al hatte Interessen.
Das vielleicht bizarrste Gesetz der amerikanischen Geschichte war mitverantwortlich für seine fulminante Karriere – die »Prohibition«. Das Verbot, Alkohol herzustellen, zu transportieren und zu verkaufen. Von 1920 bis 1933. Der Erlass wurde auch »The Noble Experiment« genannt. Man liest das nicht ohne Grinsen.
Das Glück, ungestraft und gut gelaunt das Leben eines übergewichtigen Schwerverbrechers zu führen, war aber bald nach seinem 32. Geburtstag zu Ende. Obwohl es der Staatsanwaltschaft nie gelang, ihn für seine Morde, seine vielfachen Morde zur Rechenschaft zu ziehen, musste er zuletzt wegen »Steuerhinterziehung« ins Zuchthaus. Ein Witz, gewiss, doch zu viele trauten sich nicht auszusagen, waren feig oder gekauft, fielen im letzten Moment um und erfanden abstruse Alibis.
Als Zuchthäusler ging es rapide abwärts mit ihm, bald wurden Gonorrhoe und Syphilis bei ihm diagnostiziert – zu viele Nutten. Bald gab die Nasenscheidewand den Geist auf – zu viel Koks. Als der harte Schanker das Hirn verseucht, verdämmert Al, der Ex-Superstar. Nach acht Jahren wird er entlassen, seine Frau holt ihn nach Florida, nach Palm Island, wo er tatsächlich noch Besitzer einer mit Blutgeld erworbenen Villa ist. Dort siecht er dahin, geisteskrank, körperkrank. Mit ziemlich genau 48 ist er, längst multimorbid, tot. Auf dem Grabstein steht in (kindlichem) Englisch: »My Jesus Mercy«. Was immer die drei Wörter sagen wollen, viele wünschten ihm, dass er zur Hölle fahre.
Chicago hat sich beruhigt. Für amerikanische Verhältnisse gilt die Stadt heute als zivilisiert. Auch wartet am O’Hare-Flughafen nicht mehr die »TOP«, die Tourist Oriented Police, eine Spezialeinheit der Polizei, um ankommende Reisende ins Zentrum zu begleiten. Damit sie schusswundenfrei ihr Hotelzimmer erreichen.
Einer soll unbedingt noch erwähnt werden. Er ist weltberühmt in Amerika, kein Killer, kein Krösus, eher einer, der zu lawinenartigen Lachsalven verführt. Seine Sendung auf NBC – The Jerry Springer Show – war vulgär, schamlos, dreist und beispiellos obszön. Aber die 45 Minuten – tagtäglich, mit Publikum – verführten zu wollüstigem Schluchzen und surrealen, aberwitzigen Szenen. Doch fast immer kamen Wahrheiten zum Vorschein, die sich unter anderen Umständen nie ans Tageslicht getraut hätten. Regelmäßig musste sich der begnadete Bürgerschreck – sein Erzfeind: die Scheinheiligkeit – vor Gericht verantworten, weil sich ehemalige Teilnehmer über die verhängnisvollen Folgen beklagten, die sie nach der Ausstrahlung heimsuchten. Oft bewusst von ihnen selbst verursacht.
Vor der Aufzeichnung an diesem Dienstag kann ich Mister Springer in seiner Garderobe interviewen. Er kam in London zur Welt und zog als Fünfjähriger mit seinen Eltern in die Staaten, er hat einen Doktortitel, arbeitete für Robert Kennedy und wurde (demokratischer) Bürgermeister von Cincinnati. Anfang der Neunzigerjahre begann seine Show.
Obwohl er weiß, dass ich Deutscher bin, ist er freundlich und zuvorkommend, amerikanisch cool und beneidenswert entspannt. Seine Eltern flohen vor den Nazis, ein Teil seiner Verwandten kam in Auschwitz ums Leben. Ungemein bewundernswert: Springer rechtfertigt sich nicht für seine Auftritte, er lässt sich nicht einschüchtern, er ist kein Duckmäuser, der bei Gegenwind einknickt.
Kurz vor Beginn geht der »gum monitor«, der Kaugummibeauftragte, durch die Reihen. Um etwaigen »chewing gum« einzusammeln. Dann tritt der Studioregisseur als Einpeitscher auf. Mit beiden Händen wedelt er eine große Tafel mit der Aufschrift: GONUTS! Wir sollen verrückt werden, ausrasten, wenn uns etwas gefällt. Nach dem ersten gellenden Probejohlen springt Jerry Springer auf die Bühne und kündigt das heutige Thema an: THREESOME! Jetzt kommt das wahre Johlen, die hemmungslose Freude über einen hemmungslosen Zustand: der erotische Dreier, der Vierer, der Fünfer, der Rudelsex. Und der Gastgeber bittet seine Gäste um ihren Auftritt. Und sie kommen, begleitet vom Geschrei der Zuschauer.
Als Weltwunder vorneweg, »specially flown in from Florida«: Honey Mellons – mit Doppel-L(!) geschrieben. Das ist ihr Künstlername, zugleich unübersehbares Markenzeichen. In ihrem nur Blinden und Heiligen zumutbaren Dekolleté liegen zwei von zweieinhalb Dutzend Silikonspritzen wohlaufbereitete Melonen. Um keinen Millimeter umfangschwächer als die saftigen Früchte in der Natur. Nach Honey nehmen ihr Gatte Steve, die gemeinsame Tochter Jacky und George, deren Ehemann, Platz. Der Clou: Honey tingelt als Stripperin übers Land, Steve ist ihr Manager. Hinterher, wie voraussehbar, kommen Männer und Frauen auf die Melonen zu und betteln um Sex. Und hier beginnt der (amerikanische) Skandal. Denn der Nackedei und ihr Gemahl sagen Ja, laden die erregte Kundschaft in den Wohnwagen ein – »and have fun«. Tochter Jacky und Schwiegersohn George sind seit Jahren außer sich und zutiefst entrüstet über die Schweinigeleien von Vater bzw. Schwiegervater. Steve lässt sich nicht beeindrucken, auf wundersam einfache Weise gibt er Bescheid: »Ihr hockt vor der Glotze und schaut Football, ich will nicht zuschauen, ich will leben.«
Springer vermittelt zwischen den zwei Hälften des Publikums, der tobenden, sofort ebenfalls höchst entrüsteten Mehrheit und der dagegenkreischenden Minderheit, die heldenhaft mutig ihr Verlangen nach den Melonen und dem Wohnwagenbett kundtut. Dass alle vergnügt bleiben, dass alle »nuts« gehen, dass bis zuletzt kein erbitterter Geifer ausbricht, das ist, gerade für Europäer, eine durchaus erfreuliche Erfahrung. Unter tumultuösem Gelächter endet der erste Teil der Aufzeichnung.
Schon klar, Springer liefert auch Hardcore-Spektakel, alle auf Youtube zu begutachten. Dann lädt er verfeindete Nachbarn ein. Oder Ex-Ehepaare. Oder Ex-Geschäftspartner. Die alle nur eins verbindet – der nackte Hass. Bei diesen Auftritten bleibt es nicht bei wüsten Beleidigungen und Ankündigungen künftiger Rachefeldzüge, nein, hier rennen sie aufeinander los und holen aus und prügeln und catchen. Mitten auf der Bühne, vor allen Leuten und allen Millionen Zuschauern. Und erst wenn Verletzungen drohen, erst dann greifen die Sicherheitskräfte ein, Männer mit Muskelbergen, und zerren die Todfeinde auseinander. Und die Wortschlachten gehen weiter, und die nächste Runde Faustkämpfe kommt bestimmt.
»Windy City« nannten Spötter einst Chicago. Nicht, weil hier so heftige Winde bliesen, wohl weil zur Zeit der Weltausstellung 1893 der Bürgermeister und der Rest der Einwohner »so viel Wind« um ihre Stadt machten. Lautstarke, heitere Angeber, die in alle Himmelsrichtungen verkündeten, dass Chicago allemal eine Reise wert sei. Mehr als hundert Jahre später schreien und protzen sie noch immer. Und noch immer heiter. Und noch immer soll ihnen keiner widersprechen. Weil sie recht haben. Viel Lärm um viel. That’s Chicago!
Eine Metropole geht unter
Früher war keiner geschockt. Wenn jemand von einem Ende der Welt an das andere Ende der Welt reiste, dann hatte er Zeit. Die Reise war lang und langsam. Seine fünf Sinne, sein Herz, seine Gedanken wanderten im Schritttempo, vielleicht im Kameltempo. Tag für Tag, monatelang war Gelegenheit, sich an das Fremde, an die Fremde zu gewöhnen.
Wie ein Stoffhändler auf der Seidenstraße. Mit jeder Nacht, die er in einer Karawanserei verbrachte, kam er näher. Und immer waren die Frauen und Männer, das Essen und Trinken, die Hitze und Kälte ein wenig verschieden. Wie ein Taucher machte er Pausen. Um sein Herz zu schonen. So war der Reisende vorbereitet, wenn er sein Ziel erreichte.
Jetzt, heute, ist alles anders. Einer von den vielen Schocks, die uns zusetzen, heißt Kulturschock. Weil wir nicht mehr wandern, sondern mit (halber) Schallgeschwindigkeit dahinrasen. Keine Rast mehr, um das Hirn und den Körper auf die Rätsel des Neuen einzustellen.