Sinnvoll zu betrachten - Geshe Kelsang Gyatso - E-Book

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Geshe Kelsang Gyatso

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Beschreibung

Sinnvoll zu Betrachten ist ein hochgelobter Kommentar zu dem berühmten spirituellen Gedicht Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattva, des großen indischen buddhistischen Meisters Shantideva, einem der beliebtesten und wichtigsten Texte des Mahayana-Buddhismus. Er enthüllt mit poetischer Schönheit und tiefer spiritueller Einsicht, wie man in den buddhistischen Pfad zur Erleuchtung eintritt, auf ihm fortschreitet und ihn vollendet. Viele Menschen haben den mitfühlenden Wunsch, anderen zu nützen, aber nur wenige verstehen es, dies im täglichen Leben erfolgreich umzusetzen. Bodhisattvas sind Freunde der Welt, die über ein so starkes Mitgefühl verfügen, dass sie in der Lage sind, all ihre täglichen Handlungen zum Wohle anderer auszuüben. Der Weg des Bodhisattvas wurde von dem Meister aus dem 8. Jahrhundert Shantideva in dem allseits beliebten Gedicht Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattva, vorzüglich erklärt. Mit diesem Kommentar wird die volle Wirksamkeit und Tiefgründigkeit dieses wunderbaren Gedichts in vollem Umfang offenbart und für unsere Zeit anwendbar gemacht. Dieses praktische Handbuch ist von essentieller Bedeutung für diejenigen, die eine Lebenseinstellung anstreben, die sich durch größeres Einfühlungsvermögen und Mitgefühl für andere auszeichnet. "Unsere gegenwärtige Situation kann mit der folgenden Analogie verstanden werden. Wenn ein Mensch ein Goldstück findet, aber seine Seltenheit und seinen Wert nicht erkennt, kann er es leicht wegwerfen. Im Moment haben wir ein kostbares menschliches Leben erreicht, das weitaus wertvoller ist als Gold, aber wenn wir seinen Wert nicht erkennen, neigen wir dazu, es mit sinnlosen und nutzlosen Tätigkeiten zu verschwenden." Geshe Kelsang Gyatso Rinpoche

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GESHE KELSANG GYATSO

Sinnvoll zu betrachten

DIE LEBENSWEISE EINES BODHISATTVAS

Originaltitel: Meaningful to Behold

© 2000 Deutsche Übersetzung

Geshe Kelsang Gyatso und Manjushri Centre

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Reproduktion ist unzulässig, außer zur Verwendung kurzer Passagen für privates Studium, Forschung und Buchbesprechungen.

Herausgeber: Tharpa Verlag Zürich

Übersetzung: Gen Kelsang Nyima

Umschlagbild: Shantideva vom tibetischen Künstler Chating Jamyang Lama

Gestaltung des Umschlags: Stefan Killen 

Photo Geshe Kelsang Gyatsos: René Knopfel

Satz: Tharpa Verlag

ISBN 3-908543-10-X - Druckausgabe

ISBN 978-3-908543-15-0 - E-Book (ePub)

ISBN 978-3-908543-18-5 - E-Book (Kindle)

Druck: Freiburger graphische Betriebe, Freiburg, Deutschland

Säurefreies Papier (Lebensdauer 250 Jahre)

Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur englischen Ausgabe
Danksagung der englischen Ausgabe
Vorwort des deutschen Herausgebers
Einleitung
Die herausragenden Qualitäten des Autors
Eine Einleitung zum Text
Die eigentliche Erklärung des Textes
1. Kapitel. Der Nutzen von Bodhichitta
Die vorbereitende Erklärung
Die eigentliche Erklärung der Stufen des Pfades zur Erleuchtung
2. Kapitel. Das Aufdecken von Negativität
Die vorbereitenden Übungen
Das Bekenntnis der Nichttugend
3. Kapitel. Vollständiges Annehmen von Bodhichitta
Die vorbereitenden Übungen zum Ansammeln von Verdiensten
Vollständiges Annehmen von Bodhichitta
Abschließende Übungen
4. Kapitel. Gewissenhaftigkeit
Wie man über die Methode der Gewissenhaftigkeit meditiert, damit die Praxis von Bodhichitta und die Grundsätze nicht degenerieren
Eine kurze Erklärung der Gewissenhaftigkeit
Eine ausführliche Erklärung der Gewissenhaftigkeit
Zusammenfassung
5. Kapitel. Wachsamkeit
Die Methode, die Praxis zu beschützen, ist, den Geist zu beschützen
Die Methode, den Geist zu beschützen, ist, Achtsamkeit und Wachsamkeit zu praktizieren
Wie moralische Disziplin mittels Achtsamkeit und Wachsamkeit praktiziert wird
Wie unsere Praxis vor dem Degenerieren bewahrt wird
Schlussfolgerung: Die Notwendigkeit, der Bedeutung und nicht nur den Worten der Praxis zu folgen
6. Kapitel. Geduld
Die Methode, über Geduld zu meditieren
Die Methode, Geduld zu praktizieren
7. Kapitel. Bemühen
Eine Ermutigung, sich in Bemühen zu schulen
Bemühen erkennen
Die Gegenkraft von Bemühen überwinden
Die Stärke des Bemühens steigern
8. Kapitel. Konzentration
Warum wir Ruhiges Verweilen erlangen müssen
Eine Ermutigung, die Gegenkräfte des Ruhigen Verweilens zu überwinden
Wie die Gegenkräfte des Ruhigen Verweilens überwunden werden
Wie man Ruhiges Verweilen entwickelt
9. Kapitel. Weisheit
Warum diejenigen, die Befreiung erlangen wollen, Leerheit realisierende Weisheit entwickeln müssen
Die Darlegung der zwei Wahrheiten
Der Grund, warum diejenigen, die nur persönliche Befreiung erstreben, Leerheit realisierende Weisheit entwickeln müssen
Eine ausführliche Erklärung der logischen Begründungen, die Leerheit festlegen
Eine Ermutigung für den Praktizierenden, nach der Entwicklung dieser Weisheit zu streben
10. Kapitel. Widmung
Die Erklärung der kurzen Widmung
Die Erklärung der ausführlichen Widmung
An Güte denken und sich verbeugen
Abschluß
Der Autor des Werkes
Die Übersetzer
Anhang - Zusammenfassung der Bedeutung des Textes
1. Kapitel. Der Nutzen von Bodhichitta
2. Kapitel. Das Aufdecken von Negativität
3. Kapitel. Vollständiges Annehmen von Bodhichitta
4. Kapitel. Gewissenhaftigkeit
5. Kapitel. Wachsamkeit
6. Kapitel. Geduld
7. Kapitel. Bemühen
8. Kapitel. Konzentration
9. Kapitel. Weisheit
10. Kapitel. Widmung
Glossar
Bibliographie
Bücher
Sadhanas und andere Broschüren
Studienprogramme
Tharpa Niederlassungen weltweit
Buchempfehlungen

Vorwort zur englischen Ausgabe

von Yongdzin Trijang Rinpoche,

dem verstorbenen Lehrer

Seiner Heiligkeit des Vierzehnten Dalai Lama

Der ausgezeichnete Lehrer, der große Spirituelle Meister Kelsang Gyatso, der unzählige buddhistische Schriften am berühmten Je-Kollegium der großen Klosteruniversität von Sera, Tegchen Ling, studierte, praktizierte die Unterweisungen, die er empfing, und wurde ein weiser, gewissenhafter und verwirklichter Lehrer. Aus dem Regen des weiten und tiefgründigen Dharmas, den er seinen vom Glück begünstigten Schülern gewährt hat, gab er kürzlich ausführliche Unterweisungen über den großen Bodhisattvacharyavatara (Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas). Dieser Kommentar ist jetzt auf englisch mit dem Titel Meaningful to Behold erhältlich. Im Tibetischen ist er als tong pa dön dän bekannt.

Dieser Text ist die Essenz aller Sugatas der drei Zeiten und die unübertroffene Praxis der großen Söhne der Eroberer. Er erklärt auf klare Weise den Geist des Bodhichittas, der durch das Gleichstellen und Austauschen vom Selbst mit anderen entwickelt wird. Dieser Geist ist die Grundlage der Lebensweise eines Bodhisattvas. Der Text erklärt weiter die Vorteile dieses Mahayana-Geistes und die Art und Weise, wie wir diesen Geist beschützen und die großen Wogen der Sechs Vollkommenheiten ausüben sollten, nachdem wir Bodhichitta einmal entwickelt haben. Als große Ansammlung der Pfade der Mahayana-Tradition verdient es dieser Text viele Blumen der Lobpreisung, die mit Anerkennung gewährt werden, zu empfangen.

Ich bete und mache die Widmung, daß alle fühlenden Wesen aufrichtig die Bedeutung der Anweisungen, die in diesem Text erklärt werden, ausüben mögen und dadurch mühelos ihre eigenen Wünsche und die Wünsche anderer erfüllen können. Mögen sie durch das Vollenden aller Stufen der spirituellen Ebenen und Pfade schnell den erleuchteten Zustand der vier Körper erlangen.

Yongdzin Trijang Rinpoche,

Lehrer Seiner Heiligkeit

Danksagung der englischen Ausgabe

Ursprünglich gab der Ehrwürdige Geshe Kelsang Gyatso Rinpoche die Unterweisungen, die in diesem Buch enthalten sind, als eine Reihe von Unterweisungen für seine Schüler am Manjushri Mahayana Buddhist Centre in Ulverston, England. Im Jahre 1977 kommentierte Geshe Kelsang mehr als drei Monate lang Vers für Vers Shantidevas Meisterwerk aus dem achten Jahrhundert, den Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas, einen der berühmtesten und wichtigsten Texte des Mahayana-Buddhismus.

Aus tiefstem Herzen danken wir dem Autor, dem Ehrwürdigen Geshe Kelsang Gyatso, für seine unermeßliche Güte, dieses Buch verfaßt zu haben. Während der gesamten Vorbereitung dieses Buches hat Geshe Kelsang durch sein Mitgefühl, seine Weisheit und seine unerschöpfliche Geduld gezeigt, daß der Bodhisattva-Pfad zur Erleuchtung auch 1200 Jahre nach Shantideva und 2500 Jahre nach Buddha Shakyamunis Tod immer noch beschritten wird. Es gibt keinen besseren Beweis für den ungeheuren Wert der Lebensweise eines Bodhisattvas als das lebende Beispiel eines verwirklichten Meisters, wie er es ist.

Großer Dank geht an Tenzin Phunrabpa, den Übersetzer, an Jon Marshall, der das ursprüngliche Manuskript niederschrieb, und an die vielen Mitglieder des Manjushri Centres, die das Manuskript abgeschrieben und für die Veröffentlichung vorbereitet haben. Besonderer Dank geht an Jonathan Landaw, der bei der endgültigen Redaktion des Buches eng mit dem Autor zusammenarbeitete.

Geshe Kelsang folgte mit seinem mündlichen Kommentar der tibetischen Standardausgabe von Shantidevas Urtext. Er umschrieb die Originalverse und fügte Klarstellungen, Beispiele, Geschichten und wenn nötig auch weitere erläuternde Bemerkungen hinzu. Der gesamte Kommentar wurde gemäß Geshe Kelsangs eigener Textübersicht gestaltet, die der Reihe nach in diesem Buch präsentiert wird.

In dieser vierten Ausgabe wurden im einleitenden Teil und im Anhang einige Änderungen vorgenommen, um das Buch neueren Veröffentlichungen Geshe Kelsangs anzupassen. Die Anmerkungen wurden durch ein Glossar ersetzt, das unter der mitfühlenden Leitung des Autors zusammengestellt wurde. Der Hauptteil des Textes blieb ohne Veränderung. Die Nummern in eckigen Klammern verweisen auf die Versnummern in Shantidevas Urtext Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas.

Roy Tyson,

Administrativer Direktor,

Manjushri Mahayana Buddhist Centre,

Februar 1994

Vorwort des deutschen Herausgebers

Das vorliegende Buch bietet den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern zum ersten Mal die Möglichkeit, einen vollständigen Kommentar zum wohl wichtigsten Werk des Mahayana-Buddhismus, Shantidevas epochalem Werk Bodhisattvacharyavatara (dt. Die Lebensweise eines Bodhisattvas) zu erhalten. Durch das Werk von Geshe Kelsang Gyatso können wir ein tiefgründiges Verständnis des gesamten Bodhisattva-Pfades gewinnen, der zur vollständigen Erleuchtung eines Buddhas führt. Wir können das Tor zur authentischen Praxis eines Bodhisattvas öffnen, der Praxis, mit der wir für uns selbst und für andere das höchste Glück erlangen können. Die Veröffentlichung dieses Werkes ist ein weiterer Meilenstein in unserem Bemühen, buddhistische Weisheit und Praxis in eine für den Westen angemessene Form zu bringen.

Wir danken allen Schülern Geshe Kelsang Gyatsos, die an der Herausgabe dieses Buches beteiligt waren. Ganz besonders danken wir dem Übersetzer Kelsang Nyima, den Redakteuren Kelsang Ananda und Andrea Schumacher sowie Roy Zimmermann für die Gestaltung.

Kadam Björn Clausen,

Reto Bühler,

Tharpa Verlag Zürich,

September 2000

 

Einleitung

Der vorliegende Text ist ein Kommentar zu Shantidevas Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas (Skrt. Bodhisattvacharyavatara). Der Kommentar hat drei Teile:

1. Die herausragenden Qualitäten des Autors

2. Eine Einleitung zum Text

3. Die eigentliche Erklärung des Textes

DIE HERAUSRAGENDEN QUALITÄTEN DES AUTORS

Es ist üblich, daß zu Beginn von Kommentaren wie diesem eine Biographie des Autors, in diesem Fall des großen indischen Pandits Shantideva (687-763 n. Chr.), angeführt wird. Die nachfolgende kurze Zusammenfassung seiner Lebensgeschichte stammt aus traditionellen Quellen.

Shantideva wurde als Kronprinz einer königlichen Familie in Gujarat, einem Königreich in Westindien, geboren. Sein Vater war König Kushalavarmana (Rüstung der Tugend), und seine Mutter wurde als Ausstrahlung der tantrischen Gottheit Vajrayogini angesehen. Bei seiner Geburt bekam der Prinz den Namen Shantivarmana (Rüstung des Friedens).

Schon als sehr kleiner Junge zeigte Shantivarmana große Fähigkeiten in spirituellen Belangen, und im Alter von sieben Jahren war er bereits sehr bewandert in der inneren Wissenschaft der Religion. Sein wichtigster Lehrer zu jener Zeit war ein Yogi, der die durchdringende Weisheit so vollkommen realisiert hatte, daß es hieß, er sei mit Manjushri eins geworden. Manjushri ist die persönliche Gottheit, die die Weisheit aller erleuchteten Wesen verkörpert. Als Shantivarmana selbst ein Meditations-Retreat durchführte, empfing auch er eine direkte Vision von Manjushri und viele glückverheißende Zeichen. 

Kurz danach starb König Kushalavarmana, und Shantivarmana sollte den Thron erben. In der Nacht vor der geplanten Krönung aber erschien ihm Manjushri in einem Traum. Er sagte zu dem Prinzen, daß er seinem Königreich entsagen und ein enthaltsamer Mönch werden solle. Shantivarmana floh sofort, nachdem er aufgewacht war, aus dem Palast, und verschwand im Wald, um zu meditieren. Einmal mehr hatte er eine Vision Manjushris, der ihm ein symbolisches hölzernes Schwert überreichte. Als er das Schwert annahm, erlangte er acht perfekte Realisationen. Dann reiste er zur großen Klosteruniversität von Nalanda, wo er vom Abt Jayadeva (Gott des Sieges) ordiniert wurde und den Ordinationsnamen Shantideva (Gott des Friedens) erhielt.

In Nalanda konnte Shantideva in seiner spirituellen Entwicklung schnell Fortschritte erzielen. Der Grund dafür war in erster Linie seine Praxis der tiefgründigen und anspruchsvollen Methoden des Tantras. Da er aber alle Übungen geheim und in der Nacht ausführte und sich am Tag ausruhte, schien es, als ob er nur drei Dinge täte: Essen, Schlafen und auf die Toilette gehen. Aus diesem Grund nannten ihn die anderen Mönche sarkastisch «Die drei Realisationen». Da sie ihn für einen sehr verantwortungslosen Mönch hielten, der eine Schande für ihre vornehme Universität war, schmiedeten sie einen Plan, um ihn loszuwerden. Da sie irrtümlicherweise annahmen, daß seine meditativen Fähigkeiten und sein Verständnis der Schriften sehr mangelhaft seien, arrangierten sie einen Vortrag, den Shantideva vor der ganzen Universität halten sollte. Sie dachten sich, daß seine Unwissenheit bloßgestellt und er dadurch so gedemütigt werden würde, daß er aus Scham die Universität verlassen müßte.

Am Tag der geplanten öffentlichen Erniedrigung bestieg Shantideva den Thron und gab zur Verblüffung der Anwesenden eine Abhandlung, die, nachdem sie niedergeschrieben worden war, unter dem Namen Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas (Skrt. Bodhisattvacharyavatara) bekannt wurde. Sie gilt auch heute noch als die beste jemals verfaßte Anweisung, wie man ein Bodhisattva wird - ein Wesen, das die volle Erleuchtung zum Wohle aller anstrebt. Als er das neunte Kapitel erläuterte, das von der Weisheit handelt, die die wahre Natur der Wirklichkeit festhält, sagte er: «Alles ist wie Raum.» Dann begann er sich in den Himmel zu erheben und flog immer höher und höher hinauf, bis man ihn nicht mehr sah. Seine Stimme konnte man aber trotzdem noch klar hören. Auf diese wundersame Weise wurden der Rest des neunten Kapitels und das ganze zehnte Kapitel vorgetragen.

Da Shantideva nicht nach Nalanda zurückzukehren wollte, reiste er nach Südindien. Die Mönche, die er zurückließ, waren natürlich tief beeindruckt und etwas verwirrt durch seine Unterweisung und die Demonstration von übernatürlichen Kräften. Kurz danach entbrannte ein Streit um die Unterweisung. Die Pandits aus Kaschmir behaupteten, daß Shantideva nur neun Kapitel gelehrt hätte, während einige Gelehrte aus Magadha, die ein besonders gutes Erinnerungsvermögen besaßen, argumentierten, daß er eigentlich zehn Kapitel gelehrt hätte. Es wurde beschlossen, daß man diese Uneinigkeit nur durch ein abermaliges Hören der Unterweisung bereinigen könne. Deshalb verließen mehrere Mönche Nalanda, um denjenigen zu suchen, den sie einmal verachtet hatten, und baten um eine Wiederholung der Abhandlung. Shantideva erfüllte diese Bitte und gab ihnen zudem den Text seines Handbuches der Schulungen (Skrt. Shikshamuchchaya); darin sind ebenfalls die Übungen eines Bodhisattvas erläutert. Seit dieser Zeit blühten das Studium und die Praxis der Schriften Shantidevas in Indien und anderen Ländern mahayanabuddhistischer Ausrichtung.

Der Ruhm Shantidevas verbreitete sich immer weiter, und viele nichtbuddhistische Lehrer wurden neidisch. Einer ihrer größten Lehrer, Shankadeva, forderte Shantideva zu einer Debatte heraus, mit der Bedingung, daß der Verlierer seine eigene Lehre zugunsten derjenigen des Gewinners aufgeben müsse. Durch seine übernatürlichen Kräfte und seine unfehlbare Logik ging Shantideva als Gewinner hervor. So wurden Shankadeva und alle seine Anhänger Buddhisten.

Bei einer anderen Gelegenheit, als eine große Hungersnot in Südindien herrschte, gab Shantideva bekannt, daß er große Freigebigkeit zeigen wolle. Am nächsten Tag versammelten sich viele Menschen, um zu sehen, was er machen würde, und Shantideva stillte den Hunger der gesamten Menschenmenge mit einer einzigen Schale Reis! So entwickelten die Ortsansässigen großes Vertrauen in Shantideva und nahmen die buddhistische Lebensweise an.

Dies war nur eine kurze Biographie des großen Bodhisattvas Shantideva, der sein ganzes Leben lang zahllose Handlungen ausführte, um den Dharma zu verbreiten und fühlenden Wesen zu helfen. Auch heute noch können Menschen, die das Glück haben, seine herausragenden Texte zu lesen, zu studieren und darüber zu meditieren, in ihnen eine Quelle großer Einsicht und Hilfe finden.

EINE EINLEITUNG ZUM TEXT

Wie ist Shantidevas Leitfaden zusammengesetzt, und was ist sein Inhalt? Er besteht aus zehn Kapiteln, und wir sollten uns sehr bemühen, die Bedeutung jedes einzelnen dieser Kapitel zu verstehen. Sonst gleichen wir dem Dummkopf, der von seiner Familie in einen Laden geschickt wurde, um zu schauen, was es dort zu kaufen gab. Als er nach Hause zurückkehrte und gefragt wurde, was erhältlich sei, mußte er antworten: «Ich weiß es nicht. Ich hab's vergessen.» Sein Gang zum Laden war eine reine Zeitverschwendung. Ähnlich sollten wir uns schämen, wenn wir uns nach dem Durcharbeiten dieses Textes nicht daran erinnern können, was in jedem einzelnen Kapitel enthalten ist. Wenn sich das Studium dieses Textes lohnen und keine reine Zeitverschwendung sein soll, dann sollten wir nicht nur die Worte lesen, sondern uns auch sehr bemühen, ihre Bedeutung zu verstehen.

Es folgt jetzt eine kurze Beschreibung, was jedes einzelne der zehn Kapitel des Urtextes zum Inhalt hat.

1. KAPITEL

Das endgültige Ziel der buddhistischen spirituellen Praxis ist die Erlangung des voll erwachten Geisteszustandes. Dieser vollkommene Zustand, der als Erleuchtung, Buddhaschaft oder das höchste Nirvana bekannt ist, kann von jedem erreicht werden, der die groben und subtilen Behinderungen, die seinen Geist bedecken, entfernt und die positiven geistigen Qualitäten voll entwickelt. Wir können diesen voll erwachten Zustand aber nicht erreichen, wenn wir nicht zuerst Bodhichitta, den Erleuchtungsgeist, entwickeln. Was ist Bodhichitta? Es ist der ununterbrochene und spontane Geisteszustand, der unablässig die Erlangung dieser vollkommenen Erleuchtung anstrebt, einzig zum Wohl aller Lebewesen. Wie später im Kommentar erläutert wird, wird Bodhichitta entwickelt, indem der Geist durch eine von zwei Methoden aufgebaut wird: entweder durch die Praxis der siebenfachen Ursache und Wirkung (auf der Erinnerung an die Mutterliebe beruhend) oder durch das Austauschen vom Selbst mit anderen.

Um diesen kostbaren Bodhichitta zu entwickeln, müssen wir gründlich über seine zahlreichen Vorteile nachdenken. Ein Geschäftsmann wird sich sehr anstrengen, um einen Handel abzuschließen, wenn er erkennt, daß er dabei einen großen Profit erzielen wird. Genauso werden wir ständig bemüht sein, Bodhichitta zu entwickeln, wenn wir seine zahlreichen Vorteile erkennen. Aus diesem Grund besteht das erste Kapitel aus einer ausführlichen Erklärung dieser Vorteile.

2. KAPITEL

Wenn wir Bodhichitta entwickeln wollen, müssen wir alle Hindernisse zerstören, die sein Wachstum behindern, sowie die notwendigen Voraussetzungen für seine Entwicklung zusammenbringen. Das Haupthindernis für die Entwicklung von Bodhichitta ist Negativität. Sie wird definiert als das, was das Potential besitzt, die Frucht des Leidens zu verursachen. Da wir durch die nichttugendhaften Handlungen, die wir in der Vergangenheit ausgeführt haben, eine große Ansammlung dieser leidverursachenden Tendenzen haben, fällt es uns außerordentlich schwer, den kostbaren und tugendhaften Gedanken des Bodhichittas zu erzeugen.

Wo giftige Pflanzen in großer Menge wachsen, kann unmöglich der Samen einer Heilpflanze sprießen. Genauso wird der tugendhafte Gedanke der Erleuchtung nicht in einem Geist entstehen, der vom Unkraut der Nichttugend überwuchert ist. Deshalb erklärt Shantideva im zweiten Kapitel seines Leitfadens, wie man den Geist für die Entwicklung dieser höchst altruistischen Geisteshaltung vorbereitet. Das geschieht, indem man alles, was potentiell ihr Wachstum behindert, ausmerzt. Die Reinigung der Negativität wird erreicht, indem die angesammelte Nichttugend aufgedeckt und dann durch die Anwendung der vier in diesem Kapitel erläuterten Gegenkräfte ausgemerzt wird.

3. KAPITEL

Die Reinigung der Negativität allein genügt aber nicht für unseren Zweck. Wir müssen außerdem eine große Menge an Verdiensten, d.h. positive potentielle Energie, ansammeln, und das wird durch die Praxis der Tugend erreicht. Genauso, wie es für einen Bettler nicht angemessen wäre, einen König an einem dreckigen und vernachlässigten Ort zu empfangen, so ist es unmöglich für einen Geist, dem es an Verdiensten mangelt, den kostbaren Bodhichitta, den König aller Gedanken, zu empfangen. Wer diesen verehrten Gast in seinem Geist empfangen möchte, muß zuerst eine große Menge an verdienstvoller, positiver geistiger Energie erwerben. Dann ist es möglich, den kostbaren Erleuchtungsgeist zu entwickeln und zu bewahren. Deshalb erklärt Shantideva im dritten Kapitel, wie man Bodhichitta erlangt und ihn bewahrt.

4. KAPITEL

Nachdem wir den kostbaren Bodhichitta entwickelt haben, müssen wir verhindern, daß er abnimmt. Dies gewährleisten wir durch das gewissenhafte Ausüben tugendhafter Handlungen mit Körper, Rede und Geist. Diese Gewissenhaftigkeit ist das Thema von Shantidevas viertem Kapitel.

5. KAPITEL

Haben wir Bodhichitta entwickelt und dann durch Gewissenhaftigkeit gefestigt, müssen wir danach streben, diesen Geist zur vollen Reife zu bringen: der vollkommenen Erleuchtung. Das wird durch das Ablegen der Bodhisattva-Gelübde und durch die Praxis der Sechs Vollkommenheiten erreicht. Im allgemeinen wird die erste Vollkommenheit, Geben, als erstes erklärt. Im vorliegenden Text erläutert Shantideva jedoch das Geben im zehnten und letzten Kapitel zusammen mit der Widmung. Der Grund dafür ist, daß Geben oder Großzügigkeit ein Teil der allgemeinen Widmung ist, die das Geben von allem Guten und Schönen im Universum an alle Lebewesen beinhaltet. Deshalb beginnt Shantideva seine Abhandlung mit der Vollkommenheit, die im allgemeinen als zweites dargelegt wird, mit der Praxis der moralischen Disziplin, in einem Kapitel mit dem Titel «Wachsamkeit».

6. BIS 10. KAPITEL

Jedes der verbleibenden Kapitel beschreibt eine der Sechs Vollkommenheiten. Die Kapitel sechs bis acht beschreiben Geduld, Bemühen und Konzentration, während Kapitel neun einer ausführlichen Erklärung von Weisheit oder unterscheidendem Gewahrsein gewidmet ist. Wie schon erwähnt, behandelt das zehnte Kapitel das Geben und die Widmung der Verdienste. Die Entwicklung von Bodhichitta findet in drei Stufen statt. Die zehn Kapitel von Shantidevas Text beschreiben diese dreistufige Entwicklung, die zusammengefaßt im folgenden oft rezitierten Gebet der Erzeugung enthalten ist:

Möge der höchste, kostbare Bodhichitta

Wachsen, wo er noch nicht gewachsen ist,

Sich nicht vermindern, wo er bereits entstanden ist,

Und immerfort blühen.

Mit den ersten zwei Zeilen beten wir, daß alle fühlenden Wesen, die noch keinen Bodhichitta erzeugt haben, wir selbst eingeschlossen, diesen entwickeln mögen. Danach beten wir, daß diejenigen, die diesen altruistischen Geist schon erzeugt haben, ihn bewahren mögen, ohne daß er sich verringert. Mit der letzten Zeile beten wir, daß diejenigen, die Bodhichitta schon entwickelt und stabilisiert haben, ihn zur Vollendung bringen können. Die Erzeugung von Bodhichitta wird in dieser Reihenfolge in den ersten drei Kapiteln und die Stabilisierung im vierten Kapitel dieses Textes erläutert, während die Methoden, den stabilisierten Bodhichitta bis zur vollen Erleuchtung kontinuierlich zu verstärken, in den Kapiteln fünf bis zehn beschrieben werden.

Wenn wir in Übereinstimmung mit den Anweisungen der zehn Kapitel des Bodhisattvacharyavataras praktizieren, wird es nicht allzu schwierig sein, den erhabenen Zustand der Erleuchtung oder vollkommenen Buddhaschaft zu erlangen. In diesem Zustand wird unser menschliches Potential voll entwickelt sein, und wir sind fähig, anderen in größtmöglichem Umfang zu helfen.

DIE EIGENTLICHE ERKLÄRUNG DES TEXTES

Der Hauptteil dieses Kommentars hat vier Teile:

1. Die Bedeutung des Titels

2. Die Ehrerbietung der Übersetzer

3. Die Erklärung der Bedeutung des Textes

4. Die Bedeutung der abschließenden Bemerkungen

DIE BEDEUTUNG DES TITELS

Der ursprüngliche Sanskrittitel dieses Textes ist Bodhisattvacharyavatara. Die tibetische Übersetzung lautet Byang chub sems dpai spyod pa la 'jug pa. Der deutsche Titel ist Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas.

Es ist bei allen Werken, die aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt werden, üblich, den ursprünglichen Titel voranzustellen. Warum ist dies notwendig? Das hat zwei Gründe: Erstens gilt Sanskrit als die erhabenste aller Sprachen, und zudem war es die Sprache, in der Buddha lehrte. Deshalb hilft die Sanskritüberschrift, Prägungen dieser heiligen Sprache in das Geisteskontinuum der Leser zu setzen. Zweitens wird der Titel in der ursprünglichen Sprache aufgeführt, damit wir uns an die große Güte der Übersetzer erinnern, die den Text aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt haben. Nur durch das Mitgefühl und das sorgfältige Bemühen dieser Übersetzer hatten die Tibeter und später die westliche Welt die Möglichkeit, die tiefgründigen Methoden dieser heiligen Schrift zu studieren, darüber zu meditieren und sie zu praktizieren.

DIE EHRERBIETUNG DER ÜBERSETZER

Bevor sie ihre Arbeit an diesem Text begannen, brachten die ursprünglichen Übersetzer allen Buddhas und Bodhisattvas ihre Verehrung und Huldigung dar, um Hindernisse zu beseitigen und die Fertigstellung ihrer Arbeit zu gewährleisten.

Diese Art der Ehrerbietung stimmt mit der Tradition überein, die von den großen Dharma-Königen Tibets festgelegt wurde. Diese Tradition verlangte, daß die Ehrerbietung der Übersetzer deutlich machen sollte, zu welchem «Korb» (Skrt. Pitaka) der Unterweisungen Buddhas der ursprüngliche Sanskrittext gehörte. Die Ehrerbietung zu Beginn eines Textes, der zum Korb der Vinaya gehörte - der in erster Linie die Schulung in Höherer Moralischer Disziplin behandelt -‚ mußte deshalb an den Allwissenden gerichtet sein. Wenn ein Text zum Sutra-Pitaka gehörte - Texte, die in erster Linie die Schulung in Höherer Konzentration behandeln -‚ dann mußte die Ehrerbietung an alle Buddhas und Bodhisattvas gerichtet sein. Gehörte ein Text aber zum dritten Korb, dem Abhidharma-Pitaka, der in erster Linie die Schulung in Höherer Weisheit erklärt, dann mußte die Ehrerbietung an den jugendlichen Manjushri, die Verkörperung der erleuchteten Weisheit, gerichtet sein. Auf diese Weise kann man durch das Lesen der Ehrerbietung leicht feststellen, zu welcher der drei Kategorien der Schriften der jeweilige Text gehört. Im vorliegenden Text ist die Ehrerbietung an die Buddhas und Bodhisattvas gerichtet; deshalb gehört der Bodhisattvacharyavatara zum Sutra-Pitaka, d.h. zum Korb der Vorträge, der in erster Linie die meditative Konzentration behandelt. 

1. Kapitel

Der Nutzen von Bodhichitta

DIE ERKLÄRUNG DER BEDEUTUNG DES TEXTES

Der Hauptteil des Textes hat zwei Teile:

1. Die vorbereitende Erklärung

2. Die eigentliche Erklärung der Stufen des Pfades zur Erleuchtung

DIE VORBEREITENDE ERKLÄRUNG

Die vorbereitende Erklärung hat drei Teile:

1. Die Verehrung

2. Das Versprechen, den Text zu verfassen

3. Der Grund, den Text zu verfassen

DIE VEREHRUNG

[1a] Der eigentliche Text beginnt mit der Ehrerbietung oder Verbeugung Shantidevas vor den Buddhas (wörtlich vor den Sugatas: denjenigen, die zur Glückseligkeit gegangen sind), vor den edlen Söhnen und Töchtern sowie vor allen anderen heiligen Objekten der Verehrung. Mit dieser Verbeugung drückt Shantideva seinen Respekt für die drei kostbaren und erhabenen buddhistischen Zufluchtsobjekte aus - Buddha, Dharma und Sangha. Eine ausführliche Erklärung dieser Drei Juwelen wird weiter unten im Kommentar gegeben. An dieser Stelle genügt folgende Erklärung: Buddha ist ein vollständig erleuchtetes Wesen, Dharma ist die spirituelle Lehre, die solch ein Wesen weitergibt, um die Lebewesen aus Leiden und Unzufriedenheit zum vorübergehenden und endgültigen Glück zu führen. Sangha ist die Gemeinschaft derjenigen, die dieser erleuchtenden Lehre folgen.

Warum ist es notwendig, zu diesen drei Objekten Zuflucht zu nehmen? Wenn ein kranker Mensch gesund werden will, muß er sich auf einen geschickten Arzt, wirksame Medikamente sowie freundliche und aufmerksame Krankenschwestern verlassen. Auf die gleiche Weise sind alle fühlenden Wesen, die im Teufelskreis Samsaras gefangen sind, von der Krankheit ihrer Verblendungen befallen, da sie nichts gefunden haben, zu dem sie wirklich Zuflucht nehmen können. Nur indem sie sich auf den vollkommenen Arzt - Buddha -‚ auf das Dharma-Heilmittel und die Sangha-Krankenschwestern verlassen, werden sie von ihrer Krankheit geheilt. Wenn wir unsere Unzufriedenheit und unsere Leiden beenden wollen, müssen wir deshalb diese drei kostbaren und erhabenen Juwelen entdecken und uns ihnen anvertrauen.

Am Anfang des ersten Verses erweist Shantideva den Drei Juwelen seine Ehrerbietung, um die Hindernisse zu beseitigen, die beim Verfassen des Textes entstehen könnten. Er verbeugt sich zuerst vor den Sugatas, den Buddhas, die den Wahrheitskörper eines erleuchteten Wesens (Skrt. Dharmakaya) sowie alle Dharma-Juwelen besitzen. Dann erweist er seine Ehrerbietung dem Sangha, indem er sich vor den edlen Söhnen und Töchtern Buddhas verbeugt. Zum Schluß erweist er seine Ehrerbietung allen Äbten und Lehrern sowie allen anderen Wesen, die der Verehrung würdig sind. Dies beschließt seine Verehrung.

DAS VERSPRECHEN, DEN TEXT ZU VERFASSEN

[1b] Als nächstes kommt das traditionelle Versprechen, den Text zu verfassen. Es war üblich, daß die Autoren zu Beginn eines Werkes ein Versprechen abgaben, das als kurze Einleitung zum Thema diente, das behandelt werden sollte. In diesem Text möchte Shantideva eine Synthese aller Pfade vorstellen, die zur Erlangung der höchsten Erleuchtung, der makellosen Erfüllung der Buddhaschaft, führen. Das ist die Bedeutung des Bodhisattvacharyavatara. Denn es ist nur durch die Lebensweise eines Bodhisattvas möglich, d.h. wenn man sich auf die Handlungen der Söhne und Töchter der Sugatas einläßt, dieses höchste Ziel zu erreichen.

Zwei Vorteile entstehen durch das Studium dieses kostbaren Textes. Der vorübergehende Nutzen besteht darin, daß man ein Verständnis des gesamten Pfades zur Erleuchtung gewinnt und dadurch fähig wird, diesen Pfad zu praktizieren. Der endgültige Nutzen besteht darin, daß die makellose Erfüllung der Buddhaschaft durch das Vertrauen in diesen Text tatsächlich im eigenen Bewußtsein realisiert werden kann.

Der endgültige Nutzen hängt vom vorübergehenden Nutzen ab. Der vorübergehende Nutzen hängt von der Bedeutung des Textes ab, der seinerseits vom Text selbst abhängt. Diese Abhängigkeit wird als Beziehung des Textes bezeichnet. Deshalb weist im ersten Vers Shantidevas Versprechen, den Text zu verfassen, darauf hin, daß sein Text in Übereinstimmung mit den Schriften Buddhas verfaßt wurde und die vier Qualitäten der Bedeutung, des vorübergehenden Nutzens, des endgültigen Nutzens und der Beziehung enthält.

DER GRUND, DEN TEXT ZU VERFASSEN

[2] Shantideva erklärt als nächstes, was seine Gründe sind, den Text zu verfassen. Er gibt zu, daß nichts darin enthalten sein werde, was nicht schon früher einmal erläutert worden sei. Da er keine besonderen Fähigkeiten in der Kunst der Rhetorik oder Poesie besitze, habe er auch nicht die Absicht, denjenigen zu helfen, die die Unterweisungen Buddhas schon verstanden hätten. Er habe seinen Text vielmehr deshalb geschrieben, damit sich seine eigene Tugend vergrößere, sein eigenes Verständnis der Schriften nicht abnehme und sein eigener Geist mit den eben erklärten Realisationen der Schriften besser vertraut würde.

[3] Weiter sagt Shantideva, daß er durch die Kraft seines Vertrauens, des Verfassens des Textes und seiner Weisheit die Bedeutung aller Schriften erläutern werde. Dadurch würden für einige Zeit auch seine eigenen Realisationen zunehmen. Er hoffe, daß sich dieser Text auch für andere Studierende, die genauso großes Glück hätten wie er selbst, als sinnvoll erweisen würde.

Dies beschließt die einleitende Erklärung. Im vierten Vers beginnt Shantideva mit der Erklärung des eigentlichen Pfades, der von denjenigen befolgt werden sollte, die in die Lebensweise eines Bodhisattvas eintreten wollen.

DIE EIGENTLICHE ERKLÄRUNG DER STUFEN DES PFADES ZUR ERLEUCHTUNG

Die Erklärung besteht aus zwei Hauptteilen:

1. Die Ermutigung, die Bedeutung dieses kostbaren menschlichen Lebens zu erfassen

2. Die Methode, dieses perfekte menschliche Leben bedeutungsvoll zu machen

DIE ERMUTIGUNG, DIE BEDEUTUNG DIESES KOSTBAREN MENSCHLICHEN LEBENS ZU ERFASSEN

[4] Shantideva erinnert uns als erstes daran, daß wir jetzt einen äußerst seltenen und kostbaren Besitz unser eigen nennen: die voll ausgestattete menschliche Form. Im Gegensatz zu der überwältigenden Mehrzahl der Wesen im Universum - einschließlich der meisten Menschen - haben wir die Möglichkeit, unserem Leben einen wirklichen Sinn zu geben. Wir sind frei von bestimmten Einschränkungen und im Besitz bestimmter Fähigkeiten und nützlicher Umstände, die es uns ermöglichen, Ziele zu erlangen, die weit jenseits der Reichweite der meisten Wesen liegen. Wenn wir aber nicht den bestmöglichen Gebrauch von unserem jetzigen Leben machen, dann wird es sehr schwierig sein, erneut eine solch perfekt ausgestattete Form zu erlangen. Damit uns der große Wert stärker bewußt wird, müssen wir uns mit der folgenden detaillierten Analyse vertraut machen.

Wieso ist unsere gegenwärtige Existenzform so selten und so schwierig zu erlangen? Der Grund dafür ist, daß wir nicht zufällig als Mensch geboren wurden. Jede Wirkung hat eine Ursache, und unsere gegenwärtige Existenz als Mensch - und zudem als besonders ausgestatteter Mensch - ist das Resultat einer Anzahl von besonderen und schwierig zu erschaffenden Ursachen. Im allgemeinen hängt eine Geburt als Mensch von der Einhaltung reiner moralischer Disziplin und der Praxis des Gebens in früheren Leben ab. Im einzelnen hat jeder Aspekt einer voll ausgestatteten menschlichen Form seine eigene ihm entsprechende Ursache, wie es weiter unten beschrieben wird. Damit wir diese Form erlangen konnten, müssen wir außerdem reine Gedanken oder Gebete für ein körperliches Fahrzeug gemacht haben, das uns die Möglichkeit und Freiheit geben würde, unseren Geist durch die fortgesetzte Dharma-Praxis oder spirituelle Unterweisungen weiterzuentwickeln. Um wirksam zu sein, durften diese Gebete nicht durch Anhaftung an vorübergehende Annehmlichkeiten und Glück verschmutzt sein. Da es selten ist, daß wir auch nur eine dieser notwendigen Ursachen erzeugen, folgt, daß das Ergebnis, das aus einer Kombination aller dieser Ursachen heranreift, äußerst selten zu finden ist.

Unsere gegenwärtige Situation kann anhand der folgenden Analogie verstanden werden: Wenn jemand einen Klumpen Gold findet, seine Seltenheit und seinen Wert aber nicht erkennt, wirft er ihn vielleicht weg. Wir haben jetzt einen kostbaren menschlichen Körper erlangt, der weitaus mehr wert ist als Gold. Wenn wir aber seinen wahren Wert nicht erkennen, neigen wir dazu, ihn für sinn- und ziellose Aktivitäten zu verschwenden. Deshalb ist es zuerst einmal sehr wichtig, die acht Freiheiten und zehn Ausstattungen dieser seltenen und kostbaren Möglichkeit zu verstehen.

Die acht Freiheiten beziehen sich auf acht einschränkende Zustände. Vier davon werden auch von Menschen erfahren. Die vier Freiheiten von Einschränkungen durch nichtmenschliche Existenzen sind:

(1) Freiheit von einer Wiedergeburt als Höllenwesen

(2) Freiheit von einer Wiedergeburt als Hungriger Geist

(3) Freiheit von einer Wiedergeburt als Tier

(4) Freiheit von einer Wiedergeburt als Langlebensgott (Skrt. Deva) 

Die vier Freiheiten von Hindernissen innerhalb der menschlichen Existenz sind:

(5) Freiheit von einer Wiedergeburt in einem Land, in dem kein einziges Wort des Dharmas gefunden werden kann

(6) Freiheit von einer Wiedergeburt mit geistigen oder körperlichen Behinderungen

(7) Freiheit von einer Wiedergeburt mit falschen Sichtweisen, wie nicht an das karmische Gesetz von Ursache und Wirkung, den Fortbestand des Bewußtseins und so fort zu glauben

(8) Freiheit von einer Wiedergeburt in einer Zeit, in der kein Buddha erschienen ist

Wieso werden diese Umstände die acht Freiheiten genannt? Weil diese acht Zustände frei von den Hindernissen sind, die unserer Dharma-Praxis im Weg stehen oder sie sogar verhindern.

Die zehn Ausstattungen können in zwei Kategorien unterteilt werden: die fünf persönlichen Ausstattungen und die fünf Ausstattungen der Umwelt. Die fünf persönlichen Ausstattungen sind:

(1) Als Mensch geboren worden zu sein

(2) In einem sogenannt zentralen Land geboren worden zu sein, einem Ort, wo der Dharma blüht

(3) Mit vollständigen Sinneskräften geboren worden zu sein

(4) Keine der fünf Handlungen sofortiger Vergeltung begangen zu haben. Diese sind: das Töten der eigenen Mutter, des eigenen Vaters, eines Arhats, das Vergießen des Blutes eines Buddhas und das Verursachen einer Spaltung in einer spirituellen Gemeinschaft

(5) Vertrauen in die drei Körbe (Skrt. Tripitaka) von Buddhas Unterweisungen sowie in die gesamte buddhistische Lehre zu haben 

Die fünf Ausstattungen der Umwelt sind:

(6) Eine Wiedergeburt in einer Zeit zu erlangen, in der Buddha erschienen ist

(7) Eine Wiedergeburt in einer Welt zu erlangen, in der dieser Buddha den Dharma gelehrt hat

(8) Eine Wiedergeburt in einer Welt zu erlangen, in der dieser Dharma stabil ist und blüht

(9) Eine Wiedergeburt in einer Welt zu erlangen, in der Praktizierende diesem Dharma folgen

(10) Eine Wiedergeburt in einer Welt zu erlangen, in der es freundliche Gönner gibt, die die Notwendigkeiten für die Dharma-Praxis wie Nahrung, Kleider und so fort bereitstellen

Diese zehn Zustände werden Ausstattungen genannt, weil sie die Umstände vervollständigen, die für die Dharma-Praxis förderlich sind.

Aufgrund unserer verdienstvollen Handlungen (Skrt. Karma), die wir angesammelt haben, haben wir jetzt diese kostbare menschliche Form mit den oben genannten achtzehn Merkmalen erlangt. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, uns an diesem außerordentlichen Glück zu erfreuen. Was ist der Sinn dieser menschlichen Existenz und weshalb ist sie so wertvoll für uns? Der Wert und Zweck einer derartigen Existenz liegt in der Möglichkeit, die sie uns gibt, eines von drei herausragenden Zielen zu erreichen. Das höchste Ziel, das wir erreichen können, ist die Erlangung der Erleuchtung: das vollständige und perfekte Erwachen eines Buddhas. Das mittlere Ziel ist die Erlangung der persönlichen Befreiung aus Samsara, dem Teufelskreis von Geburt und Tod, der von Leiden und Unzufriedenheit durchdrungen ist. Das geringste Ziel ist, nochmals eine Wiedergeburt als Mensch oder Gott zu erlangen.

Im allgemeinen wissen wir den Wert unserer gegenwärtigen Situation überhaupt nicht zu schätzen. Insbesondere sehen wir die kostbare Möglichkeit nicht, die wir jetzt haben, eines der drei Ziele zu erlangen. Statt dessen verschwenden wir unsere Zeit und vergeuden diese kostbare Möglichkeit, indem wir den vergänglichen Freuden dieses Lebens hinterherlaufen. Wenn wir den Wert und das Potential dieses kostbaren menschlichen Lebens voll und ganz erkennen würden, dann würden wir es mit Sicherheit durch das Dharma-Studium und das Streben nach einem der drei Ziele nutzen wollen. Wie Shantideva sagt: «Wenn wir jetzt keinen Nutzen aus dieser kostbaren Wiedergeburt ziehen, wie können wir hoffen, diese Möglichkeit in Zukunft je wieder zu haben?»

Es gibt eine Geschichte, die verdeutlicht, wie wichtig es ist, den vollen Nutzen aus unserer perfekten menschlichen Form zu ziehen. In einem abgelegenen Dorf in Tibet lebte ein einbeiniger Mann. Eines Tages, als er sich langsam und mühselig mit Hilfe eines Stockes durch die Gegend quälte, stolperte er und fiel einen Steilhang hinunter. Wie das Schicksal es wollte, landete er auf dem Rücken eines wilden Pferdes, das unten graste. Das Pferd erschrak so sehr, daß es weggaloppierte, während sich der Mann mit aller Kraft festklammerte. Ziemlich lange Zeit verging, und zur Überraschung der Dorfbewohner zeigte der Mann keine Zeichen von Müdigkeit. «Wieso steigst du nicht von diesem Pferd ab?» riefen sie verwundert, als er vorbeiraste. «Für nichts in der Welt!» rief er zurück, «das ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich auf einem Pferd reite. Wann hat ein Krüppel wie ich je wieder eine solche Möglichkeit? Ich werde die Gelegenheit voll ausnutzen, solange ich kann.» Und er raste weiter, während er sich an den Rücken des wilden Tieres klammerte. Genau wie der Mann in dieser Geschichte sein außergewöhnliches Glück nutzte, so sollten auch wir unsere gegenwärtige vollausgestattete menschliche Form durch die Schulung unseres Geistes in der Dharma-Praxis voll ausnutzen.

DIE METHODE, DIESES PERFEKTE MENSCHLICHE LEBEN BEDEUTUNGSVOLL ZU MACHEN

Die Methode besteht aus zwei Teilen:

1. Das Nachdenken über den Nutzen von Bodhichitta

2. Wie wir uns in den Sechs Vollkommenheiten schulen, nachdem wir Bodhichitta entwickelt haben 

DAS NACHDENKEN ÜBER DEN NUTZEN VON BODHICHITTA

Dieser Abschnitt hat vier Teile:

1. Eine Erklärung des Nutzens von Bodhichitta

2. Bodhichitta erkennen

3. Warum dieser Nutzen aus Bodhichitta entsteht

4. Lobpreisung an diejenigen, die Bodhichitta erzeugt haben

EINE ERKLÄRUNG DES NUTZENS VON BODHICHITTA

Wie bereits angedeutet, ist die erhabene Methode, dieser seltenen und kostbaren menschlichen Wiedergeburt einen Sinn zu verleihen, sie als Fahrzeug für das Erlangen der perfekten und vollendeten Erleuchtung zu benutzen. Ein geringeres Ziel anzustreben hieße, diese einzigartige Möglichkeit zu verschwenden. Da die Erlangung der Erleuchtung von der Erzeugung des Erleuchtungsgeistes, Bodhichitta, abhängt (d.h. der Motivation, diesen voll erwachten Zustand zu erlangen, um damit die beste Möglichkeit zu haben, andere Lebewesen aus ihrem Leiden zu befreien), ermutigt uns Shantideva, diesen Erleuchtungsgeist zu entwickeln und beschreibt dessen großen Nutzen. Der große Nutzen besteht aus den folgenden zehn überragenden Vorteilen des Erleuchtungsgeistes:

DIE ÜBERWINDUNG ALLER NEGATIVITÄT

[5] Genau wie ein plötzlicher, starker Blitzschlag in einer dunklen Nacht die Landschaft kurz erhellt, so bewirken die kraftvollen Segnungen Buddhas, daß weltliche Menschen zumindest für kurze Zeit die Absicht entwickeln, tugendhafte Handlungen auszuführen.

[6] Normalerweise sind die Tugenden weltlicher Menschen sehr schwach, während ihr Instinkt, nichttugendhafte Handlungen auszuführen, sehr stark ist. Deshalb müssen wir ständig danach streben, die Macht zu überwinden, die dieses Übel der Nichttugend auf uns ausübt, und sie durch eine kraftvolle Praxis von tugendhaften Handlungen zu ersetzen. Unternehmen wir jedoch nichts, um unsere gegenwärtige Situation zu korrigieren, werden die Leiden Samsaras unsere einzige Erfahrung sein. Was ist die beste Methode, Negativität aufzugeben und Tugend anzusammeln? - Wir müssen danach streben, den kostbaren Bodhichitta zu erlangen. Nur dieser Geist hat die Kraft, Negativität zu überwinden und unsere Tugend reichlich zu vermehren. Was außer dem grenzenlosen Geist des Bodhichittas hat sonst die Fähigkeit, so große Negativität zu besiegen? Gründliches Nachdenken über diese Punkte wird uns klar zeigen, daß wir unbedingt Bodhichitta entwickeln müssen.

DIE ERLANGUNG VON HÖCHSTEM GLÜCK

[7] Es gibt generell viele Wege, fühlenden Wesen zu helfen. Die Buddhas aber, die Äonen damit verbracht haben, um die beste Methode, anderen zu helfen, herauszufinden, sagen, daß die Entwicklung des Bodhichittas die unübertroffene Methode ist. Warum? Weil wir mit der Entwicklung von Bodhichitta nicht nur selbst das höchste Glück der Buddhaschaft erlangen können, sondern auch fähig werden, eine unendliche Zahl von fühlenden Wesen zur unvergleichlichen Glückseligkeit dieses erhabenen Zustandes zu führen. Wenn wir den makellosen Nutzen und die Vorteile erkennen, die Bodhichitta sowohl für uns selbst wie auch für andere hat, sollten wir danach streben, Bodhichitta zu erlangen.

DIE ERFÜLLUNG ALLER WÜNSCHE

[8] Ein weiterer Nutzen, der durch das Entwickeln von Bodhichitta entsteht, ist, daß alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen. Wollen wir von den vielen Qualen Samsaras erlöst sein und das Unglück anderer vertreiben, so können wir mit Bodhichitta diese Ziele erreichen. Zusätzlich erfüllt Bodhichitta den Wunsch aller Wesen - auch unseren eigenen - nach grenzenlosem und unermeßlichem Glück. Da dieser Erleuchtungsgeist alle unsere Wünsche erfüllt, rät uns Shantideva, über seinen großen Nutzen nachzudenken und ständig danach zu streben, ihn zu erlangen. 

BODHICHITTA FÜHRT ZU EINEM BESONDEREN NAMEN UND BESONDERER BEDEUTUNG

[9] Shantideva sagt, daß jeder, der Bodhichitta entwickelt, als Sohn der Buddhas bezeichnet wird (wörtlich als Sohn der Sugatas: derjenigen, die zur Glückseligkeit gegangen sind). Eine Person mit dieser Eigenschaft wird zu jemandem, der der Verehrung sowohl durch die weltlichen Götter - Brahma, Indra und so fort - als auch der gesamten Menschheit würdig ist, einschließlich der Könige und Königinnen von hohem Stand. Es spielt keine Rolle, ob die Person, die Bodhichitta entwickelt, ein armer, in Lumpen gekleideter Bettler ist. Durch die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes wird auch er zu jemandem, der höchste Verehrung verdient.

Es ist wichtig, uns daran zu erinnern, daß wir kein Mönch oder von aristokratischer Herkunft sein und daß wir auch keinen männlichen Körper besitzen müssen, um Bodhichitta zu entwickeln. Obwohl Shantideva den Titel «Sohn der Buddhas» gebraucht, hat dieser keine einschränkende Bedeutung. Wenn eine Frau den Erleuchtungsgeist entwickelt, nennt man sie eine Prinzessin oder Tochter der Buddhas und auch sie wird eine Person, die von allen Göttern und Menschen verehrt werden sollte.

Weshalb verleiht die Entwicklung von Bodhichitta einem Menschen Anspruch auf so großen Respekt? Weil alle Buddhas - die voll erleuchteten Wesen, von denen das höchste Glück stammt - aus Bodhisattvas geboren wurden. Sie tragen diesen Namen wegen ihrer Bodhichitta-Motivation, d.h. ihrer Absicht, die volle Erleuchtung zum Wohl aller Lebewesen zu erlangen. Buddhas entstehen also aus Bodhisattvas, die ihrerseits wiederum aus Bodhichitta entstehen.

Um den unübertroffenen Wert von Bodhichitta herauszustreichen, sagte Buddha Shakyamuni, daß es noch wichtiger sei, sich vor einem Bodhisattva - jemandem, der Bodhichitta erzeugt hat - zu verbeugen oder ihm seine Verehrung zu erweisen, als sich vor einem Buddha zu verbeugen. Er erklärte dies am Beispiel des zunehmenden Mondes. Wenn man sich vor dem Neumond verbeugt, ist es dasselbe, als würde man sich vor jeder Phase des Mondes zwischen Neu- und Vollmond verbeugen. Weshalb? Weil wir dadurch, daß wir einer Ursache Verehrung erweisen, indirekt auch jeder der nachfolgenden Auswirkungen Respekt zollen. Wenn wir uns also vor einem Bodhisattva verbeugen, erweisen wir implizit allen zukünftigen Entwicklungsstufen bis einschließlich der Erlangung der Buddhaschaft unsere Verehrung. Aus diesen Gründen ist Bodhichitta sehr kostbar, und jede Person, die diesen Geist entwickelt, verdient Verehrung.

Der große indische Pandit Atisha hatte viele Lehrer, und von ihnen bekam er viele Unterweisungen über die Entwicklung von Bodhichitta. Aber diese genügten ihm nicht, und deshalb unternahm er eine gefährliche Reise nach dem heutigen Indonesien, um Unterweisungen vom berühmten Meister Serlingpa (Suvarnadvipa) zu erhalten. Die beschwerliche Reise dauerte dreizehn Monate lang, aber von diesem Meister konnte Atisha fehlerlose und vollständige Anweisungen über die Methode zur Entwicklung des Erleuchtungsgeistes erhalten.

Obwohl Atisha mehr als 150 Lehrer hatte, bezeichnete er Serlingpa als seinen Wurzel-Guru. Selbst viele Jahre später als er in Tibet war, stand er sofort von seinem Sitz auf und machte Verbeugungen, wenn er auch nur den Namen seines Wurzel-Gurus hörte. Die Tibeter bemerkten, daß er dies für keinen anderen seiner Lehrer tat, und fragten ihn nach dem Grund. Er antwortete, daß er durch die Anweisungen, die er von Meister Serlingpa erhalten habe, erkannt hätte, wie der kostbare Bodhichitta entwickelt werde. Für Atisha, der großes Wissen besaß, war Bodhichitta erhaben. Deshalb verehrte er Serlingpa mehr als alle seine anderen Lehrer.

UMWANDLUNG DES MINDERWERTIGEN ZUM HOCHWERTIGEN

[10] Die Alchimisten behaupten, daß es ein besonderes Elixier gebe, das die Kraft besitze, gewöhnliche Metalle in Gold umzuwandeln. Wenn wir Bodhichitta entwickeln und praktizieren, wird unser unreiner menschlicher Körper auf ähnliche Weise in das unbezahlbare und beispiellose Juwel eines heiligen Buddha-Körpers umgewandelt. 

Über diesen Punkt meditieren wir auf folgende Weise: Zuerst denken wir immer wieder über die Unreinheit des menschlichen Körpers nach und stellen fest, wie wenig erstrebenswert es ist, ständig in solch grober und unreiner Form wiedergeboren zu werden. Wir sollten jede Art von Begehren, das wir für diesen gewöhnlichen menschlichen Körper haben, aufgeben und statt dessen an die Kostbarkeit des transzendenten Buddha-Körpers denken. Wir müssen den starken Wunsch entwickeln, diese heilige Form zu erlangen, und wir müssen uns überlegen, durch welche Ursachen wir ihn erlangen. Wenn wir immer wieder darüber nachdenken, werden wir erkennen, daß diese Form nur durch die Kraft des Bodhichittas erlangt werden kann. Mit diesem Verständnis sollten wir die starke Absicht erzeugen, Bodhichitta zu entwickeln, und sie dann achtsam bewahren.

DER GROSSE WERT VON BODHICHITTA, SO SCHWIERIG ZU FINDEN

[11] Von allen Juwelen ist das berühmte wunscherfüllende Juwel das seltenste, kostbarste und wichtigste, da es die Armut aller Lebewesen beseitigen kann. Auf ähnliche Weise ist Bodhichitta unter allen Formen von Tugend die seltenste und kostbarste, weil nur er die Armut derjenigen beseitigen kann, die arm an Tugend sind. Wer sich von den Leiden Samsaras befreien will, sollte den kostbaren Bodhichitta entwickeln und bewahren.

Ein geschickter Fährmann bringt Handelsleute vom Festland zu einer Juweleninsel. Buddha gleicht einem Fährmann, der den Geist von allumfassendem Mitgefühl und Methode besitzt. Dieser Geist ist das Boot des Bodhichittas, und darin bringt er alle fühlenden Wesen über den Ozean des Leidens zur Juweleninsel der Erleuchtung. Durch gründliche Untersuchung werden wir klar erkennen, daß das Boot des Bodhichittas die erhabenste und seltenste aller Methoden ist, endgültiges Glück zu erlangen. 

DIE UNERSCHÖPFLICHEN UND SICH VERMEHRENDEN FRÜCHTE DES BODHICHITTAS

[12] Andere Tugenden sind im Vergleich zu Bodhichitta wie ein Bananenbaum, dessen Früchte begrenzt und schnell verbraucht sind. Nehmen wir zum Beispiel eine Person, die aufgrund ihrer in einem früheren Leben ausgeführten Praxis des Gebens sehr wohlhabend wird. Die Früchte dieser Tugend werden nach und nach aufgebraucht, und wenn dieser Reichtum verbraucht ist, bleibt nichts mehr übrig.

Im Gegensatz dazu sind die tugendhaften Früchte vom himmlischen Baum des Bodhichittas unerschöpflich. Sie sind wie ein Wassertropfen, der in einen weiten Ozean fällt und deshalb nicht verloren geht, bis der Ozean selbst nicht mehr da ist. Auch wenn unsere Tugenden im allgemeinen recht schwach sein mögen: sind sie durch Bodhichitta motiviert, werden ihre Früchte bis zur Erlangung der vollen Erleuchtung nicht mehr verbraucht. Weshalb sind die Resultate solcher Handlungen grenzenlos? Es gibt zwei Gründe: (1) Da die Zahl der fühlenden Wesen, denen ein Bodhisattva hilft, unbegrenzt ist, sind auch die Verdienste grenzenlos, die aus Handlungen entstehen, die zu ihrem Wohl begangen werden. (2) Da alle diese Verdienste ausschließlich der eigenen Erlangung der Erleuchtung gewidmet sind, werden sie nicht verbraucht, bis diese Erleuchtung erreicht ist.

Es heißt, daß die Verdienste unerschöpflich sind, wenn man auch nur ein klein wenig zu essen an nur einen Bettler gibt, sofern es mit der erleuchteten Motivation des Bodhichittas getan wird. Wenn uns diese Motivation fehlt, dann können wir noch so viel Gold oder Silber an noch so viele Menschen verschenken. Die Früchte solcher tugendhafter Handlungen sind begrenzt und werden sich bald erschöpfen. Wenn wir verstehen, wie reichlich die Früchte der Handlungen sind, die aus dem Geist des kostbaren Bodhichittas entstehen, dann werden wir erkennen, daß es nichts Wichtigeres gibt, als danach zu streben, diesen Erleuchtungsgeist zu erlangen. 

DIE KRAFT DES SCHUTZES VOR GROSSER ANGST

[13] Ein Mann, der durch ein Gebiet reist, wo Räuber oder wilde Tiere lauern, wird große Angst haben. Wenn er sich aber dem Schutz eines mutigen Führers anvertraut, wird er seine Ängste sofort verlieren. Da wir in der Vergangenheit zahlreiche sehr schädliche und schlechte Handlungen begangen haben, sind wir Menschen auf ganz ähnliche Weise der Gefahr ausgesetzt, in einem der drei niederen Bereiche wiedergeboren zu werden - als Höllenwesen, als Hungriger Geist oder als Tier. Auch als Mensch fürchten wir Geburt, Krankheit, Verlust, Gewalt, Altern, Tod und die anderen schmerzhaften Auswirkungen unserer negativen, nichttugendhaften Handlungen. Was besitzt die Kraft, uns von diesen Ängsten zu befreien? Nur der kostbare Bodhichitta. Weshalb bemühen sich also diejenigen nicht, die wachsam und weise sind, diesen kostbaren Geist zu entwickeln?

DIE SCHNELLE UND LEICHTE ZERSTÖRUNG GROSSEN ÜBELS

[14ab] Die Welt, in der wir leben, unterliegt großen Zyklen von Geburt und Verfall. Am Ende dieses gegenwärtigen großen Äons wird unser Universum von einem Feuer vollständig zerstört werden, so daß nicht einmal seine Asche zurückbleibt. Dieses alles vernichtende Feuer unterscheidet sich völlig vom gewöhnlichen Feuer dieser Welt und ist viele tausendmal stärker. Wenn wir den kostbaren Bodhichitta entwickeln, wird das Feuer dieses Geistes ähnlich intensiv sein und ausreichen, um das gesamte und unermeßliche Übel, das wir bisher angesammelt haben, sofort zu vernichten.

SCHRIFTZITATE ÜBER DEN NUTZEN VON BODHICHITTA

[14cd] Im Sutra der aufgereihten Stiele (Skrt. Gandhavyuhasutra) erklärt Buddha Maitreya dem Bodhisattva Sudhana den umfangreichen Nutzen von Bodhichitta. Am Schluß des vierzehnten Verses rät deshalb Shantideva denjenigen, die über die vielen Vorteile Bescheid wissen wollen, in jener berühmten Mahayana-Schrift nachzusehen. 

Wenn wir uns tatsächlich mit der Entwicklung von Bodhichitta beschäftigen wollen, brauchen wir starke Inspiration, und diese kann nur dadurch entstehen, daß wir über den großen Nutzen dieses Erleuchtungsgeistes nachdenken. Würden wir einen König kennen, der große Reichtümer, Macht und Wissen besitzt, dann würden wir vielleicht denken: «Wie wunderbar wäre es, wenn ich sein könnte wie er!» Solch ein Wunsch entsteht nur, weil wir die guten Qualitäten gesehen haben, die der König besitzt. Aus diesem Grund möchten wir ihm nacheifern. Genauso müssen wir zuerst die guten Qualitäten des Bodhichittas erkennen, und nur dann wird der Gedanke entstehen: «Wie wunderbar wäre es, solch einen kostbaren Geist zu entwickeln!»

Wenn uns aber heute jemand fragen würde, ob wir den Geist des Bodhichittas oder lieber einen Goldklumpen hätten, würden wir sicher das Gold wählen. Der Grund liegt darin, daß wir den Wert des Goldes, aber nicht die unvergleichlichen Qualitäten und Vorteile des Bodhichittas erkennen. Wenn wir den Nutzen erkannt hätten, würden wir anders wählen. Wir würden verstehen, daß Gold leicht erworben werden kann, während kein Geld dieser Welt Bodhichitta kaufen kann, weil es ihn nirgends zu kaufen gibt. Der einzige Weg, den kostbaren Bodhichitta zu erwerben, besteht darin, ihn durch lange Meditation zu entwickeln.

Bis wir das kontinuierliche und spontane Bestreben haben, Bodhichitta zu entwickeln, sollten wir viel Zeit darauf verwenden, allgemein über seinen Nutzen nachzudenken. Von den zehn Vorteilen, die Shantideva hier aufgelistet hat, sollten wir denjenigen auswählen, der die stärkste positive Wirkung auf unseren Geist ausübt, und dann darüber meditieren. Damit eine Meditation wie diese ihre größte Wirkung entfalten kann, sollte sie stetig und konzentriert sein. Am Schluß der Meditationssitzung sollten wir dann das Gebet rezitieren, das in der Einleitung des Kommentars zitiert wurde:

Möge der höchste, kostbare Bodhichitta

Wachsen, wo er noch nicht gewachsen ist,

Sich nicht vermindern, wo er bereits entstanden ist,

Und immerfort blühen. 

Mit der Rezitation dieses Gebets drücken wir unseren Wunsch aus, Bodhichitta so schnell wie möglich zu entwickeln. Dieses Gebet kann nach jeder tugendhaften Handlung rezitiert werden.

Wir sollten uns daran erinnern, daß alle Fähigkeiten, die wir haben, und jedes Wunder, das wir vollbringen können, ohne Bodhichitta keinen wirklichen Nutzen hat. Durch die Luft fliegen zu können hat keine besondere Bedeutung - auch Vögel können fliegen. Wir haben in früheren Leben oft solche übernatürlichen Kräfte und Hellsicht besessen, aber was hat uns das genützt? Jetzt ist die richtige Zeit, unseren ungezähmten Geist durch Bodhichitta zu kontrollieren. Mit Bodhichitta wird der Geist friedlich. Die Erleuchtung und Erfüllung aller unserer Wünsche ist dann nicht mehr weit entfernt.

Es ist wichtig, daran zu denken, daß Erleuchtung nicht erlangt werden kann, wenn wir uns nicht in einem ersten Schritt mit den Methoden für die Entwicklung des Bodhichittas vertraut machen und diese auch beherrschen. Wir müssen diese Methoden so sorgfältig wie möglich praktizieren und uns ständig ermahnen, diese kostbare Geisteshaltung zu entwickeln. Heutzutage, in einer Welt des Aufruhrs, besteht eine besondere Notwendigkeit, daß die Menschen im Westen Bodhichitta entwickeln. Wenn wir durch diese schwierigen Zeiten kommen wollen, dann müssen sowohl im Westen wie im Osten echte Bodhisattvas erscheinen.

Es gibt vier Vorbereitungen, die gemacht werden müssen, um Bodhichitta zu entwickeln. Es ist sehr wichtig, sie zu kennen, denn wenn wir uns gut vorbereiten, ist es leicht, den Erleuchtungsgeist zu entwickeln. Aus diesem Grund sollten wir (a) unseren Geist mit dem Nutzen von Bodhichitta vertraut machen, (b) eine Fülle von Verdiensten ansammeln, (c) uns von jeder Nichttugend reinigen und (d) die Methode verstehen, wie Bodhichitta entwickelt wird. Der letzte Punkt wird im folgenden Teil des Kommentars erklärt. 

BODHICHITTA ERKENNEN

1. Die Unterteilungen von Bodhichitta

2. Der Nutzen des anstrebenden Bodhichittas

3. Der Nutzen des ausübenden Bodhichittas

DIE UNTERTEILUNGEN VON BODHICHITTA

Es ist notwendig, die Essenz des Erleuchtungsgeistes genau zu verstehen, damit unsere Bodhichitta-Meditation erfolgreich ist. Wie schon erwähnt, ist Bodhichitta der spontane und andauernde Geisteszustand, der die Erleuchtung einzig zum Wohl aller fühlenden Wesen anstrebt. Shantideva sagt, daß es zwei Formen dieses Geistes gibt: [15] den anstrebenden und den ausübenden Geist des Bodhichittas. Um die Bedeutung dieser beiden Geistesarten und ihren Unterschied zu verstehen, ist es hilfreich, mit den traditionellen Methoden zur Entwicklung von Bodhichitta vertraut zu sein.

Bodhichitta kann durch zwei Methoden entwickelt werden: (1) die Realisation der Unterweisungen über die siebenfache Ursache und Wirkung oder (2) das Austauschen vom Selbst mit anderen. Die erste Methode wurde ursprünglich von Buddha Shakyamuni gelehrt, und anschließend in einer ununterbrochenen Überlieferungslinie von Maitreya und Asanga an Spirituelle Meister wie Serlingpa und Atisha weitergegeben. Die zweite Methode - das Austauschen vom Selbst mit anderen - wurde besonders für Schüler mit scharfer Intelligenz geschaffen. Auch diese Methode wurde von Buddha Shakyamuni gelehrt und durch Manjushri in ununterbrochener Überlieferungslinie über indische Meister an Shantideva weitergegeben. Beide Überlieferungslinien haben bis zum heutigen Tag überlebt und werden gegenwärtig von verwirklichten Meistern oder Lehrern der vier tibetischen Traditionen des Mahayana-Buddhismus gehalten.

Die Methode des Austauschens vom Selbst mit anderen wird ausführlich im achten Kapitel erklärt. Jetzt folgt eine Erklärung der Entwicklung von Bodhichitta auf der Grundlage der Meditation über die Unterweisung der siebenfachen Ursache und Wirkung. Diese Methode blühte in Indien und Tibet und war dort weit verbreitet. Wir werden durch das Studium dieser Unterweisung erkennen, daß Bodhichitta nicht sofort erlangt werden kann, sondern daß er das Ergebnis einer schrittweisen Schulung und Entwicklung des Geistes ist.

DIE METHODE DER SIEBENFACHEN URSACHE UND WIRKUNG

Die Unterweisung der siebenfachen Ursache und Wirkung ist eine Methode, die die schrittweise Entwicklung von sieben Realisationen beinhaltet:

1. Alle Lebewesen als unsere Mütter erkennen

2. Sich an die Güte aller Mutterwesen erinnern

3. Die Güte aller Mutterwesen erwidern

4. Zuneigungsvolle Liebe entwickeln

5. Großes Mitgefühl entwickeln

6. Höhere Absicht entwickeln

7. Der Erleuchtungsgeist - Bodhichitta

Diese Methode wird die Unterweisung der siebenfachen Ursache und Wirkung genannt, weil diese sieben Realisationen eine Kette von Ursachen und Wirkungen bilden, die zur endgültigen Realisation von Bodhichitta führen. Zum Beispiel dient die Realisation der zuneigungsvollen Liebe als Ursache für die Entwicklung des Großen Mitgefühls.

Bevor wir mit der Meditation über die Unterweisung der siebenfachen Ursache und Wirkung beginnen, ist es hilfreich, über Gleichmut zu meditieren. Gegenwärtig ist unser Geist unruhig und voreingenommen. Statt alle Wesen gleich und mit den Augen des Mitgefühls zu betrachten, sehen wir einige als Freunde, andere als Fremde oder sogar als Feinde. In diesem unausgeglichenen Zustand ist es sehr schwierig, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen, was die erste der sieben Realisationen von Ursache und Wirkung ist. Wenn unsere Meditation also erfolgreich sein soll, müssen wir zuerst versuchen, unsere Vorurteile durch die Entwicklung der Geisteshaltung des Gleichmuts zu entfernen.

Es folgt nun eine kurze Erklärung, wie Gleichmut entwickelt wird: Zuerst sollten wir uns drei Personen vergegenwärtigen, die wir jetzt gerade jeweils als unseren Feind, als unseren Freund und als Fremden einstufen. Dann sollten wir uns fragen, weshalb wir sie auf diese Weise einordnen. Wenn wir es untersuchen, werden wir feststellen, daß die Person, die wir als Feind betrachten, von uns so eingestuft wird, weil wir durch sie in der Vergangenheit irgendeinen Schaden erlitten haben. Dieser Schaden kann klein oder groß, wirklich oder auch nur vorgestellt, körperlicher oder geistiger Natur sein. Wenn wir aber zurückdenken, dann können wir uns oftmals an Situationen erinnern, wo dieselbe Person uns große Güte entgegengebracht hat. Könnten wir in vergangene Leben zurückschauen, dann würden wir zweifellos entdecken, daß dieser sogenannte Feind in mehreren Fällen unsere selbstlose gütige Mutter war, die uns mit ihrer eigenen Milch ernährt und uns vor Angst und Schaden beschützt hat. Auch ohne frühere Leben in Betracht zu ziehen, können wir erkennen, wie vorübergehend der Status «Feind» ist und wie leicht er verändert werden kann. Wenn wir morgen unerwartet Hilfe, Lob oder auch nur ein gütiges Wort von dieser Person erhalten, würden wir sie dann noch immer als Feind ansehen?

Die gleiche Überlegung kann auch auf die Person angewendet werden, die wir jetzt als unseren guten Freund ansehen. Obwohl sofort ein warmes Gefühl in unserem Herzen entsteht, wenn wir den Freund erblicken oder auch nur an ihn denken, so war dies nicht immer so. Früher in diesem oder in vergangenen Leben gab es Zeiten, da war dieser Freund oder Verwandte unser größter Feind und hat uns großes Leid zugefügt. Und es braucht nicht viel, eine kleine Meinungsverschiedenheit, ein unüberlegtes Wort oder eine unbedachte Handlung, und sofort haben wir uns der Person entfremdet, an der wir jetzt so stark hängen.

Genauso war uns der Fremde nicht immer gleichgültig, und er wird es auch in Zukunft nicht bleiben. Es gab Zeiten - im Moment so unsichtbar für uns, daß wir kaum an ihre Existenz glauben - in denen diese Person unser Todfeind war; und es gab andere Zeiten, in denen er unser liebster Freund und Beschützer war.

Mit Beispielen aus unserer eigenen Erfahrung, aus der Erfahrung anderer und durch die Anwendung logischer Gedankenfolgen können wir zur Überzeugung gelangen, daß es sehr kurzsichtig und letztlich ein Irrtum ist zu denken, jemand sei dauerhaft oder inhärent unser Freund, Feind oder ein Fremder. Wenn es der Fall ist, daß diese drei Positionen nur vorübergehend und wechselhaft sind, wer ist dann das richtige Objekt unserer Anhaftung oder unseres Hasses? Wenn wir uns berechtigt fühlen, gegenüber unserem jetzigen Feind Haß zu empfinden, dann müßten wir diesen Haß auf alle Wesen richten, weil wir in der Vergangenheit alle zu irgendeinem Zeitpunkt als unsere Feinde betrachtet haben. Und wenn es richtig wäre, gegenüber unseren Freunden eine bevorzugende und anhaftende Haltung einzunehmen, weil sie uns vor kurzem geholfen haben, dann sollten wir eigentlich die gleichen Gefühle für alle Wesen haben, da sie alle zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit sehr gütig zu uns gewesen sind und sogar unsere Mütter waren.

Wenn wir uns durch intensive Meditation mit den obengenannten Gründen und Beispielen vertraut machen und versuchen, die Menschen auf andere Weise zu betrachten, dann werden wir erkennen, wie engstirnig es ist, einzelne Menschen stark zu bevorzugen, während wir anderen gegenüber gleichgültig oder sogar feindlich eingestellt sind. Statt wie bisher einer harten und schnellen Klassifizierung in Freunde, Feinde und Fremde zu folgen und damit voreingenommen zu sein, können wir wahren Gleichmut entwickeln. Er ist die Grundlage für die Liebe und das Mitgefühl, die notwendig sind, um den kostbaren Bodhichitta zu erzeugen und die Erleuchtung zu erlangen. Da dieses Ziel so außergewöhnlich lohnend ist, sollten wir unsere gegenwärtigen Vorurteile nicht ungeprüft lassen, sondern in der beschriebenen Art und Weise untersuchen.

An dieser Stelle könnten aufgrund der Meditationstechnik, die eben beschrieben wurde, Zweifel entstehen. Es hieß, daß der Zweck der Entwicklung von Gleichmut darin bestünde, uns darauf vorzubereiten, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Wir könnten uns deshalb fragen: «Wenn es richtig ist, alle Wesen als meine Mütter zu betrachten, weil sie angeblich in der Vergangenheit meine Mütter gewesen sind, dann wäre es doch genauso richtig, sie alle aus dem gleichen Grund als meine Feinde zu betrachten?» Um den Trugschluß dieser Behauptung zu erkennen, müssen wir verstehen, daß die Gründe, die dazu führen, jemanden als unseren Feind zu betrachten, im Grunde wenig stichhaltig und das Resultat einer illusorischen Vorstellung unserseits sind. Die Gewohnheit, andere - unsere sogenannten Feinde - für unsere Probleme und Leiden verantwortlich zu machen, ist eine verblendete Denkweise, eine Denkweise, die nicht erkennt, daß letztlich unser eigener Geisteszustand und nicht irgendein äußerer Umstand für alle unsere Leiden verantwortlich ist.

Die Ursache für den Entschluß, jemanden als unseren Feind zu betrachten, ist eine falsche Projektion unseres Geistes, eine fehlerhafte Vorstellung der Ereignisse. Wir betrachten den Schaden, den wir durch jemand anderen erleiden, als berechtigten Grund, diesen als Feind zu betrachten und ihm mit Feindseligkeit entgegenzutreten. Dabei vergessen wir die Güte und elterliche Fürsorge, die wir früher von ihm erhalten haben, und sind uns unserer eigenen Schuld an unseren Leiden nicht bewußt. Obwohl wir dies ständig tun, ist es in Wirklichkeit völlig verblendet und unhaltbar. Wie im nächsten Kapitel erklärt wird, ist es andererseits nicht falsch oder verblendet, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Das ist wahr und nachprüfbar und öffnet nicht nur das Tor zur weiteren spirituellen Entwicklung, sondern bringt uns sofort Glück und Wohlbefinden.

Das Ziel der Meditation über Gleichmut ist es, alle voreingenommenen Geisteshaltungen zu entfernen, um damit alle Wesen ohne Unterschied als unsere Mütter betrachten zu können. Das wird uns wiederum motivieren zu überlegen, wie wir ihre unendliche Güte erwidern können. Wenn wir infolge dieser Meditation sogar unseren ärgsten Feind als unsere Mutter betrachten können, dann sind wir bereit, eine Realisation der ersten Stufe der sieben Ursachen und Wirkungen zu erlangen, die zur Entwicklung von Bodhichitta führen.

ALLE LEBEWESEN ALS UNSERE MÜTTER ERKENNEN

Nachdem wir eine unvoreingenommene Sicht von allen fühlenden Wesen entwickelt haben, sind wir bereit, sie alle gleichermaßen als unsere ehemaligen Mütter zu sehen. Das ist die stabile Grundlage, auf der der höchst altruistische Geist des Bodhichittas aufbaut. Wie ist es aber möglich, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen? Was sind die Gründe, die zum Glauben führen, daß wir mit allen Wesen ein enges Mutter-Kind-Verhältnis gehabt haben?