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Diesmal erzählt unser kleiner Sunny aus Hollywood die verrücktesten und schier unglaublichsten Geschichten, denn es ist Märchenstunde in Hollywood. Es sind Geschichten, die sich wohl keiner so recht zu erklären vermag, die aber doch immer wieder vorkommen mögen. Und vielleicht ist so manches dieser vermeintlichen Märchen irgendwie auch wahr. Fragt man Sunny danach, dann lacht er recht geheimnisvoll und hat schon die nächste Story parat. Denn all seine Geschichten sind so mysteriös und voller Abenteuer, wie Sunnys wundersame Erlebnisse in seiner geheimnisvollen Stadt Hollywood.
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Seitenzahl: 190
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Sunny erzählt
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Es war nicht sonderlich viel, was sich Traude zu ihrem baldigen sechzigsten Geburtstag noch wünschte. Vielleicht ein bisschen Zufriedenheit, ein wenig Gesundheit, und das der Billigfusel nicht so schnell zu Ende gehen mochte. Aber ob das wirklich so sein könnte -oder dürfte- das wusste sie nicht.
Die Ideen gingen ihr jedenfalls niemals aus!
Und so sann sie vor allem nächtelang nach, wie sie die Leere in ihrem Kopf bekämpfen könnte. Immerhin, sie war ja wieder Single, weil der Kerl, den sie mal hatte, längst davongerannt war. Außerdem kam in diese winzige Plattenbau-Bude sowieso keiner, warum auch immer. Trotzdem, und sie spürte es genau, musste es doch wenigstens noch ein ganz klein wenig Hoffnung - oder so etwas wie Freude, geben können, oder?
Da las sie eines nachts in einer der kostenlos verteilten Schmierblätter, dass irgendein Fernsehsender „Freiberufliche Hexen“ suchte, die viel Lebenserfahrungen besaßen und irgendwie eine gewisse Spur von Zukunft voraussehen konnten. Traude wusste nicht, ob sie so was konnte, sie wusste nur, dass sie sich sehr gut vorzustellen vermochte, wie ihr eigenes, nicht gerade sehr sinnreiches Dasein, morgen weiterlaufen würde. Und so raffte sie die Röcke, schnappte ihre Gürteltasche und lief los.
Die S-Bahn war knallvoll, weil mal wieder irgendwelche Bediensteten streiken mussten. Sie waren wohl mit ihrem Gehalt nicht einverstanden. Traude verstand das nicht, sollten die nicht zufrieden sein mit dem, was sie hatten? War Arbeitslosigkeit und das Gefühl, keine Hoffnung mehr zu haben, nicht viel schlimmer als mal 3 Mark weniger zu bekommen? Naja egal, sie wollte jedenfalls schnellstens zu dem Fernsehsender in der Stadtmitte.
Es war schon ein ziemlich heißer Tag und sie japste wegen ihrer vielen Kilos, bis sie endlich in der engen Straße ankam. Der Sender befand sich im achten Stock und der Fahrstuhl war defekt. So hielt sie aller zwei Etagen inne und schaute mit verbissener Miene aus dem Hausfenster auf die ziemlich belebte Straße. Als sie oben war, erkundigte sie sich, ob das Angebot auch noch aktuell war. Die junge Blondine an der ein wenig bunt dekorierten Rezeption schaute zwar ein wenig skeptisch, vielleicht, weil Traude so gar nicht aussah wie eine zielorientierte Karrierefrau, doch nachdem ihr ein junger Kollege eine Tasse mit duftendem Kaffee vor ihre Nase schob, schien sie doch wohlwollend zu sein, lächelte sogar eine Millisekunde und nickte dann mit ihrem stark geschminkten Köpfchen. Vermutlich bedeutete das so viel wie: Ja, du kannst dich setzen, es kommt gleich jemand. Traude nahm Platz und wartete … und wartete … und wartete.
Und dann öffnete sich eine Tür – ausgerechnet jetzt, wo sie ganz plötzlich und unvermittelt aufs Klo musste. Doch sie biss sich auf die Zunge, wollte diesen wichtigen Termin nicht mit einer solch unheilvollen Banalität verballern.
Der sympathische Mittvierziger, der sich in seinem hoffnungsvoll wirkenden blauen Anzug recht wohl zu fühlen schien, war irgendwie angetan von der mutigen kleinen Frau, die trotz ihrer vielen Pfunde den anstrengenden, wenngleich wenig chancenreichen Weg hierher genommen hatte. Und so bat er Traude ins Büro. Nach einem kurzen Gespräch war klar: Traude bekommt den Job!
Solch eine Freude hatte Traude wohl noch nie zuvor gefühlt, denn die Ablehnungen der letzten Jahre hatten ihrem Selbstbewusstsein schon ziemlich zugesetzt.
Sie durfte auch gleich anfangen, denn eine Kollegin, die bislang als Hexe ausgeholfen hatte, war krank geworden. Traude nahm in dem etwas kleinen, aber immerhin klimatisierten Studio Platz und wartete auf die ersten Anrufe. Der Chef zwinkerte ihr aufmunternd zu, und dann war es endlich soweit, der erste Anrufer wurde durchgestellt!
Zuerst traute sich Traude nicht so richtig, schien ihr doch die ganze Situation nicht so ganz geheuer zu sein. Aber dann, nach einigen Hyperventilationen und dem mehr als lästigen Herzstolpern besann sie sich, dachte an das Geld, welches sie sich dazuverdienen konnte und sprach …
Es gelang alles wunderbar und schon in der ersten Pause fühlte sie sich so richtig gut. Es war ein wundervolles Gefühl, welches sich in ihrem Magen breitmachte, sich dann ihres gesamten Körpers bemächtigte und sie schließlich voll und ganz in sich einhüllte. Ja, so hatte sie es sich wirklich vorgestellt – na, vielleicht nicht ganz so gut, aber es lief!
Der Tag verflog wie am Schnürchen, und dann klingelte das Studiotelefon zum letzten Mal. Eigentlich wollte Traude ihre mittlerweile auswendig gelernte Nummer wie den ganzen Tag auch schon, abspulen, doch dann erschrak sie. Denn die Stimme am anderen Ende schien voller Hass und voller Wut zu sein. Erst murmelte sie, dann zischte sie unverständliches Zeug, bis sie schließlich: „Verbrenne, du Hexe!“ brüllte. Mehrmals tat sie das und Traude wusste plötzlich nicht mehr, was sie antworten sollte. Sie war schlichtweg überfordert und schaute unsicher um sich.
Eine Redakteurin betrat kaum hörbar das Studio und zeigte andauernd auf das Telefon. Das sollte wohl so viel heißen wie: lege endlich auf, du dumme Nuss! Und endlich begriff es auch Traude, sie legte auf und atmete tief durch. Dennoch ließ ihr dieser bösartige Anruf keine Ruhe mehr. Sie konnte es sich nicht erklären, aber aus irgendeinem Grunde wollte sie wissen, wer das war, wer sie so beschimpft hatte.
Die nette Kollegin meinte zwar, dass so etwas schon mal passieren könnte, man sich deswegen nicht sorgen möge, doch Traude sah das alles anders. Sie spürte es in ihrem Inneren und ein heftiger Druck schnürte ihr beinahe die Kehle zu. Was konnte das nur sein, hatte sie vielleicht am Ende doch diese mystischen Kräfte, welche bei diesem Sender für so hoch- und heiliggehalten wurden? War sie jetzt vielleicht schon spirituell geworden? Sie wollte es nicht glauben, fand aber, dass sie den Anrufer finden musste.
Und so erkundigte sie sich nach der Telefonnummer, die in der Redaktion aufgezeichnet wurde. Zunächst wollte man ihr die Nummer nicht geben, aber dann, und nach einigem Augenzwinkern später, willigte die lesbische Redakteurin endlich ein. Traude bedankte sich artig und verabschiedete sich nett. Dann rannte sie die Treppen nach unten und blieb in einer Hausecke abrupt stehen. Krampfhaft zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer, die sie sich auf einem Zettel notiert hatte.
Es meldete sich wieder diese sonderbare Stimme, von der sie nicht erkennen konnte, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. Die Stimme hörte sich blechern, einsilbig, ja sogar so hoch wie eine Frauenstimme an, was sie aber dann doch wieder nicht sein konnte, weil sie einen tiefen basshaften Unterton in sich trug.
Schnell drückte Traude den Anruf weg und wusste nicht, ob sie ihren Plan immer noch ausführen sollte. Vielleicht war das ja doch zu dämlich, vielleicht sollte sie diesen albernen Anrufer sein lassen und morgen einfach ganz normal, als sei nie etwas gewesen, weitermachen. Doch so war sie nicht, sie konnte nicht „einfach so weitermachen“! Sie war nicht so, sie hatte Gefühle und sie hatte Stolz. Sie hatte auch eine grenzenlose Neugierde in sich drin, die sie wahrlich selten genug auslebte. Und so rief sie einfach nochmal an! Diesmal meldete sie sich mit „Polizeiobermeisterin Traude Müller“, die einem anonymen Hinweis nachgehen sollte. Unverblümt fragte sie nach der Adresse der fremden Person und erfuhr diese nach einigem Stöhnen sogar. Die Person lebte in Kreuzberg, in einem unsanierten, düsteren Mietshaus. Ziellos stand Traude davor und wusste nicht genau, ob sie an der Klingel mit der Aufschrift „Braune“ klingeln sollte. Wer war Braune wohl, ein Mann, eine Frau, am Ende vielleicht ein Kind, ein Teenager vielleicht? Sie klingelte, meldete sich, und dann knarrte der Türöffner. Schnell sprang sie in das dunkle modrige Treppenhaus und las an einer Tafel, dass Braune in der dritten Etage lebte. In einer Ecke entdeckte sie einen Fahrstuhl, der wohl noch aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen musste. Sie wagte es, stellte sich in die kleine miefige Gondel und schloss dann die schmiedeeiserne Gittertür des Liftes. Langsam und rumpelnd setzte sich das altertümliche Ding in Bewegung und irgendwann blieb es in der dritten Etage stehen. Dort sah es auch nicht viel gepflegter, und schon gar nicht sauberer aus. Überall lag Dreck, den niemand weggekehrt hatte, lagen zerrissene Zeitungen, und dort, wo am meisten Dreck herumlag, entdeckte sie das Klingelschild mit dem Namen „Braune“. Die Klingel musste man noch drehen, und irgendwie hatte Traude den Verdacht, für diese antike Klingel in einem Antiquariat vielleicht noch einiges zu bekommen. Sie drehte einmal und der blecherne Klingelton erschreckte sie ein wenig. War ihr Entschluss wirklich richtig?
Es dauerte ein wenig, aber dann öffnete jemand und Traude musste grinsen. Denn sie konnte noch immer nicht erkennen, wer das war, der da vor ihr stand. Das hutzelige, ärmlich bekleidete Männchen war doch weder Fisch noch Fleisch, war´s nun eine Frau oder doch ein Mann? Schließlich stellte sich heraus, dass es ein Mann war, ein junger Mann, der sie höflich aber bestimmt in die kleine Wohnung bat. Dort sah es beinahe so heruntergekommen aus wie im gesamten Gebäude. Doch das störte Traude in diesem Moment nicht so sehr. Sie wollte nur wissen, wer die Person da vor ihr war. Es gestaltete sich ein wenig schwierig, mit dem einsilbig wirkenden Mann zu sprechen. Doch dann ließ sie ihre Maskerade fallen und redete ungezwungen mit dem Mann, der sich Günter nannte. Sie wollte wissen, warum er sie so angebrüllt hatte, und sie wollte wissen, warum sie verbrennen sollte.
Was der vermeintliche Günter dann meinte, ließ sie beinahe erschaudern. Denn Günter war ein Hexenhasser, ein Frauenfeind, der schon seit Jahren niemanden mehr hatte.
Die beiden unterhielten sich eine ganze Weile und Traude merkte auf einmal, dass sie die Menschen nicht ändern konnte, auch, wenn sie mit ihnen persönlich sprach. Günter war uneinsichtig und böse. Immerfort meckerte er, schimpfte auf die vielen, viel zu freizügig gekleideten Frauen und meinte dann, dass Traude eine hässliche Hexe sei. Als er aber plötzlich von Hexenverbrennungen und lodernden Flammen sprach, in welche man alle Hexen werfen müsse, hatte Traude genug. Sie verließ die Wohnung und bedankte sich doch noch für die Zeit, die dieser Günter für sie erübrigt hatte. Immerhin, sie hatte sich getraut und sie hat die Adresse ausfindig machen können. Sie war mutig und war der Sache auf den Grund gegangen.
Doch die letzten Worte von Günter waren nicht sehr nett, denn leise zischte er: „Du Hexe, du sollst brennen!“
Traude war froh, nach wenigen Minuten wieder auf der sicheren Straße einzutreffen. Sie atmete erst einmal tief durch und spürte, dass sie trotz ihrer eigenen Sorgen doch ein wesentlich freieres und schöneres Leben führen konnte als dieser offensichtlich total verbitterte und verbiesterte Kerl. Und sie strich durchs Haar und fühlte sich irgendwie frei, befreit sogar. Als sie in der S-Bahn in Richtung Heimatadresse rauschte, gab es plötzlich einen heftigen Knall. Ruckartig blieb die Bahn stehen und qualmte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund ließen sich die Türen nicht mehr öffnen und Traude bemerkte mit Schrecken, dass an einigen Stellen Flammen aus dem Fußboden quollen.
Sie konnte gar nicht so schnell denken und bekam furchtbare Panik. Wie sollte sie, wie sollten all die anderen Menschen, hier nur wieder herauskommen?
Da bemerkte sie, wie sich in dem dichten Rauch ein Gesicht zu formen begann. Bildete sie sich das nur ein oder war es wirklich da? Offensichtlich hatte sie bereits Halluzinationen, oder ihre Angst spielte ihr einen gehörigen Streich, jedenfalls lachte das Gesicht und Traude erkannte es sofort: es war Günter, den sie eben besucht hatte! War das seine Rache? War das sein Fluch vielleicht, dass sie nun doch brennen würde? Aber wieso, was hatte sie eigentlich falsch gemacht, dass sie so bestraft werden müsste? Sie sah es nicht ein, ließ sich nicht darauf ein, fuchtelte mit ihren Händen im Qualm herum und zerstörte das Rauchgesicht. Einige der Fahrgäste waren bereits bewusstlos zu Boden gefallen, doch Traude hielt sich noch immer recht wacker und recht senkrecht in der brennenden Hölle.
Plötzlich nahm sie all ihren Mut zusammen, bündelte die noch verbliebenen Kräfte und richtete sich wieder auf. Mit lauter schriller Stimme brüllte sie, und sie konnte es beinahe selbst nicht fassen, was sie da tat: „Fort mit dir, Satan! Denn nichts Anderes bist du! Ich bin keine Hexe, ich bin ein guter Mensch und ich werde nicht brennen, niemals!“
Damit trat sie wie ein tollwütiger Stier gegen die verschlossene Tür. Und welch Wunder, dieser Tritt saß derart fachgerecht, dass alle Türen auf einmal aufsprangen. Die Menschen bekamen wieder Luft und die Flammen schienen sich aus irgendeinem unbekannten Grunde in den Boden zurückzuziehen. Traude half den bereits gefallenen Menschen wieder auf die Beine und keiner der Mitfahrenden war zu Tode gekommen. Was für ein Erfolg, was für eine wunderbare Entscheidung von der kleinen, etwas dicken Person Traude, sich auf die inneren Kräfte zu besinnen. Und nachdem die Feuerwehr den restlichen Motorbrand gelöscht hatte, wunderten sich alle, dass nicht noch Schlimmeres geschehen war. Traude hingegen war heilfroh, noch am Leben zu sein, und sie wusste es genau: sie war weder eine Hexe noch würde sie jemals brennen!
Tage später fuhr sie nochmals nach Kreuzberg, zu dem alten Haus, wo sie diesen vermaledeiten bösen Günter kennengelernt hatte. Sie wollte ihm sagen, dass seine Flüche nichts bewirkt hatten, er vollkommen umsonst seinen Hass gegen sie gerichtet hatte.
Doch als sie an die Stelle kam, wo sich kürzlich noch das alte Haus befand, gähnte eine metertiefe Baugrube. Wie konnte das sein, hatte man in dieser kurzen Zeit tatsächlich das Haus abgerissen? Wo war es nur hin und wo war Günter abgeblieben?
Als sie eine vorübereilende alte Dame nach dem vermeintlichen Haus befragte, schaute die nur unwirsch und nicht gerade erfreut zu der blauäugigen Traude auf. Dann meinte sie mit zittriger Stimme, und was sie sagte, ließ Traude bis ins Mark erschaudern: „Das alte Haus? Das steht doch schon lange nicht mehr! Das haben die doch schon vor zehn Jahren abgerissen, weil es durch einen Brand total zerstört wurde. Es hieß, dass im dritten Stock ein recht sonderbarer Kauz gelebt haben soll, von dem man unkte, er sei der Teufel persönlich. Auch das Feuer ist damals in der dritten Etage ausgebrochen und ließ sich angeblich nicht mehr löschen. Irgendjemand meinte, dass der Sonderling wohl Günter geheißen haben soll, aber das wusste niemand …“
Traude konnte es nicht fassen, und als sie in die tiefe Baugrube starrte, glaubte sie für eine Sekunde, das Gesicht eines Gehörnten zu erkennen. Und dieser Gehörnte sah dem ominösen Günter irgendwie ziemlich ähnlich.
Lisa war auf dem Weg von einer kleinen Geburtstagsparty, die ihre Freundin gegeben hatte, zu sich nach Hause. Es regnete und der Wind frischte ein wenig auf, doch das allerschlimmste war, dass sie durch ein dichtes Waldstück fahren musste. Es dämmerte bereits, als sie bei „Drivers Run“ in den düsteren Wald einbog.
Die Straße glänzte im Scheinwerferlicht, denn sie war nass und spiegelte das Licht ganz merkwürdig zurück. Weil Lisa ein wenig sonderbar wurde, legte sie sich eine CD ins Autoradio und lauschte dem leisen Blues. Plötzlich jedoch mischte sich ein anderes Geräusch, welches sich wie das Stöhnen eines alten Mannes anhörte, in die Musik.
Zunächst glaubte Lisa, es sei ein Instrument, welches ja bei Blues nicht unmöglich sein mochte. Doch als es immer wieder ertönte, schaltete sie das Radio aus. Und wirklich, es war vielleicht ein sonderbarer Windhauch oder doch nur der Regen. Jedenfalls breitete sich ein monotones Stöhnen über dem Wald und der Straße aus.
Lisa bekam eine Gänsehaut, was konnte das nur sein? Nervös schaute sie in den Rückspiegel, doch da war nichts. Die Straße lag schwarz glänzend hinter ihr wie das Trauerband auf einem Kranz.
Irgendwie war es der jungen Mittdreißigerin gar nicht mehr so gleichgültig wie eben noch. Doch sollte sie ausgerechnet hier anhalten? Sollte sie in einer völlig unbekannten Gegend, die nicht einmal den allerbesten Ruf bei den Leuten hatte, einfach so den Wagen stoppen? Sie tat es, wollte der Sache auf den Grund gehen. Und so fuhr sie in einer kleinen Schneise von der Straße ab und hielt an.
Jetzt hörte sie es ganz genau, dieses gruselige Geräusch, als wenn jemand vor Schmerzen stöhnte. Haaa … es wollte einfach nicht mehr enden. Lisa spürte ein leichtes Zittern, und als sie in den dunklen Wald hineinschaute, glaubte sie, rote Lichtblitze zwischen den Bäumen zu erkennen. Jetzt bekam sie Angst, sprang schnurstracks in ihren Wagen und startete den Motor. Mit quietschenden Reifen raste sie los und glaubte sich schon in Sicherheit. Aber da beugten sich urplötzlich die Wipfel der Bäume zur Straße herab und versperrten ihr den Weg. Sie bremste scharf und verriss das Steuer. Der Wagen gehorchte ihr nicht mehr und kam von der Fahrbahn ab.
Zwischen Sträuchern und Büschen kam er schließlich zum Stehen und bewegte sich nicht. Lisa starrte auf die dicht stehenden Bäume um sich herum und fürchtete sich sehr. Das Stöhnen war nun so deutlich, dass sie glaubte, jemand wäre neben ihr. Und warum hatten sich die Wipfel eigentlich so plötzlich auf die Straße gebeugt?
Panisch verriegelte sie die Wagentüren und rutschte ängstlich unters Armaturenbrett. Immer wieder hörte sie es, dieses „Haaa“, welches so unheimlich war, wie diese gesamte unbegreifliche Situation. Wollte sie nicht längst daheim sein? Mit zitternden Händen kramte sie ihr Mobiltelefon aus ihrer Handtasche und wollte ihre Freundin anrufen. Doch als sie aufs Display schaute, bemerkte sie, dass sie gar kein Funknetz hatte. Natürlich war ihr klar, dass es hier in diesem Wald nur selten ein Funknetz gab, aber was sollte sie nur tun?
Plötzlich beugten sich die Wipfel der umstehenden Bäume noch weiter herab und der Wagen mit der darin befindlichen jungen Frau löste sich einfach in Luft auf. Als er verschwunden war, ertönte noch einmal dieses mysteriöse, unheilvolle Stöhnen: „Haaa“ Dann wurde es still und die Bäume standen so, wie sie immer standen. Nur ein leichter Wind verfing sich in den Ästen und der Regen tropfte auf die einsame Waldstraße, als wenn er die Spuren der letzten untrüglichen Minuten verwischen wollte.
Als der letzte Schüler der Gymnasialklasse in den Zug eingestiegen war, schloss der Schaffner die Tür und blies inbrünstig in die Pfeife in seinem Mund, um dem Zug das Abfahrtsignal zu geben. Langsam setzte sich die Lok mit ihren zwei Waggons in Bewegung, und die Schüler saßen müde an den Fenstern und waren schon zu kaputt, um sich noch endlos lange zu unterhalten. Einige schliefen bereits, als der Zug in ein dichtes Waldstück bog. Er fuhr sehr langsam und der Zugbegleiter trottete gelangweilt durch den Wagen, um die Fahrkarten zu kontrollieren.
Es musste auf der Höhe von „Drivers Run“ gewesen sein, als der Zug plötzlich hielt. „Merkwürdig“, zischte der Zugbegleiter, „hier haben wir sonst nie angehalten!“ Ungläubig schauten die Schüler aus den Fenstern, doch sie konnten nichts Genaues erkennen. Da sprang der Lokführer von seiner Diesellokomotive und rief: „Ein Baum liegt auf dem Gleis! Wenn ihr mal helfen könntet!“ Die Schüler, die auf einmal gar nicht mehr so müde waren, fanden das alles sehr aufregend und spannend und sprangen aus dem Waggon, um zusammen mit dem Lokführer und dem Zugbegleiter den schweren Stamm beiseite zu rollen.
Es gelang und schon waren alle wieder im Zug, um endlich weiterzufahren. Doch nichts passierte, dafür aber erklang ein unheilvolles Geräusch. Es hörte sich an wie ein lautes Stöhnen, dass sich wie ein unsichtbarer Wurm durch den umliegenden Wald und über die Baumwipfel schob, bis es schließlich wie ein böser Geist durch den gesamten Zug kroch.
Das Licht in den Waggons begann zu flackern und der Zugbegleiter konnte sich auch nicht erklären, was da vor sich ging. Draußen war es stockdunkel geworden und nur das immer lauter werdende Stöhnen konnte man noch hören. Die Schüler, die eben noch glaubten, alles wäre in Ordnung, gerieten in große Angst.
Plötzlich bogen sich die Wipfel der am Bahndamm stehenden Bäume zum Zug herab und hüllten ihn vollständig ein. Es dauerte keine fünf Sekunden, da hatte sich der gesamte Zug in Luft aufgelöst und es wurde wieder still. Nur der Wind verfing sich im Geäst der Bäume als sei gar nichts geschehen. Diesmal allerdings schien etwas anders, denn niemand hatte bemerkt, dass Jimmy, ein Schüler aus dem eben noch vorhandenen Zug, fehlte. Er hatte sich im Wald umgeschaut, wollte wissen, woher das seltsame Stöhnen gekommen war und fand sich in der Dunkelheit nicht mehr zurecht.
Als er am Bahndamm stand, verstand er die Welt nicht mehr. Sein Zug war weg, aber wie war das nur möglich? Eben noch war er doch noch da und so schnell fuhr die Bahn ja nun auch nicht. Nachdenklich und fröstelnd setzte er sich auf das Gleis und starrte in die Dunkelheit. Was sollte er nur tun, vielleicht nach Hause laufen? Aber er wusste ja gar nicht, wie weit das noch war. So fand er, dass er sich im Wald umsehen könnte, um im dichten Buschwerk die Nacht abzuwarten. Es hatte ohnehin keinen Zweck, in der Dunkelheit umherzuirren. Glücklicherweise hatte er seinen Rucksack auf dem Rücken. Darin befanden sich noch ein paar belegte Brote und eine Flasche Mineralwasser. Damit würde er schon irgendwie auskommen und so lief er los.
Es war schon beschwerlich, sich den Weg durchs Gestrüpp zu bahnen, aber dann glaubte er, einen schwachen Lichtschein zu sehen. Doch nein, es waren rote Lichtblitze, die ganz schwach durchs Geäst flackerten. „Da muss jemand sein“, dachte er sich und lief geradewegs darauf zu.
Als er einen dichten Busch auseinanderdrückte, sah er es, dieses winzige alte Holzhaus, aus dessen kleinen Fensterchen rotes flackerndes Licht wie der Schein einer Laterne herausfiel. Erleichtert lief der Junge bis vor die Tür und hielt dann doch inne. Irgendwie schien ihm das Ganze nicht geheuer zu sein, und so lief er erst mal ganz vorsichtig um das Häuschen herum. An einem der kleinen Fenster blieb er stehen und schaute neugierig ins Innere. In dem kleinen Raum befand sich nicht viel; nur ein paar alte Möbel, eine Truhe und ein alter Lehnsessel, in dem tatsächlich jemand saß. Es war ein alter Mann, der wohl ein wenig schlief, denn er hatte seine Augen geschlossen.
Doch gerade als Jimmy an das Fenster pochen wollte, um sich bemerkbar zu machen, öffnete der Alte seine Augen. Jimmy erschrak fürchterlich, denn es waren keine menschlichen Augen, die da in seine Richtung schauten! Es waren zwei stechende rote Lichter, die in Jimmys Richtung starrten und dabei flackerten wie ein Warnlicht!
Der aufgeregte Junge versteckte sich schnell unterhalb des Fensters und glaubte schon, der Alte hätte ihn längst bemerkt.