Swingbruder - Alex Gfeller - E-Book

Swingbruder E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Peter der Trompeter steckt in Nöten. Zwar ist der Krieg vorbei, doch was hilft ihm das? Was er jetzt braucht, ist ein hellbrauner Kamelhaarmantel wie in den Hollywoodfilmen, das ist alles.

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Drei Dinge braucht der Mensch zum Leben: Einen hellbraunen Kamelhaarmantel, ein Paar weiße Gamaschen und den richtigen Hut dazu.

- Wozu?

Willi hastet neben mir her, findet den Schritt nicht, stolpert unablässig, sehr zum Verdruss des hinter ihm gehenden Posaunisten.

- Pass doch auf, du Tubel, schau nach vorn!

Die Arbeitermusik marschiert auf den Dorfplatz ein, und die Zuschauer applaudieren. Erster Mai im Schneegestöber; die Musikanten kämpfen gegen ihre halb erfrorenen Finger. Willi ist erleichtert, dass nicht mehr marschiert werden muss, denn er hat noch nie gleichzeitig marschieren und spielen können. Er bleibt keuchend neben mir stehen, in der Reihe der Trompeter, reibt die Handflächen gegen einander, das kalte Instrument unter den Arm geklemmt.

- Und wozu?

- Die Damen, Willi, die Damen! Heutzutage dreht sich doch alles um die Damen, verstehst du?

Der Dirigent hebt den Taktstock. Den Frühlingswalzer schmeißen wir hin wie nichts, ein leichtes Stück. Ebenfalls die Alten Kameraden, das Lieblingsstück der Blechmusik. Den Flotten Füsilier können die meisten im Schlaf, so oft haben sie ihn spielen müssen. Beim Strammen Eidgenoss hapert es; peinliche Ausfälle und fürchterliche Querschläger müssen hingenommen werden. Fred an der Pauke haut völlig daneben, obwohl er bereits mehrere Biere gekippt hat.

Endlich Pause für uns. Der Arbeitersängerbund hat seinen Auftritt. Einige wechseln gleich hinüber, weil sie überall dabei sein müssen. Willi und ich stehen unter einem mächtigen Kastanienbaum und blicken in die kahle Krone hinauf, wo die Schneeflocken zwischen den klebrigen Knospen tanzen.

- Du meinst wegen den Weibern? fragt Willi atemlos. Er ist sehr hässlich.

- Richtig, Willi. An die guten Katzen kommst du nur heran, wenn du etwas zu bieten hast. Und heute trägt der moderne Herr einen dicken, weichen, hellbraunen, zweireihigen Kamelhaarmantel.

- Und weiße Gamaschen?

- Und weiße Gamaschen. Dazu den richtigen Hut, den passenden Hut. Einen ziemlich breiten, weichen, hellgrauen Filz.

- Du willst ja nur deine Birne verstecken.

Diese Bemerkung ist nicht freundlich; sie macht mich wieder auf die schmerzliche Tatsache aufmerksam, dass bei mir oben drauf immer noch der militärische Einheitsschnitt, also der fast totale Kahlschlag vorherrscht. Diesen Makel werde ich noch einige Zeit mit mir herum tragen müssen.

- Wo willst du die Sachen hernehmen? bohrt Willi weiter, während er sich hinter dem Stamm der Kastanie einen Stumpen anzündet. Die Leute auf dem Platz scharen sich jetzt um den Redner auf dem kleinen Podest mit der roten Fahne.

- Liebe Genossen! Der erste Mai 1945 wird in die Geschichte der Arbeiterklasse eingehen, dessen können wir gewiss sein!

Unsere ärgsten Feinde liegen zerschmettert am Boden …

Ich sage nichts. Ich weiß keine Antwort darauf. Die Frage verfolgt mich seit meiner Entlassung aus dem Dienst. Ich weiß nur eines: Ohne Kamelhaarmantel bin ich nichts. Willi starrt mich skeptisch an und pafft aufgeregt; sein linkes Auge glotzt nach links, sein rechtes nach rechts. Er ist nicht zu beneiden mit seinem Gesichtsausdruck, doch im Augenblick ist er der einzige, der mir zuhört, und dies stimmt mich milde.

Jetzt brechen die Zuhörer in ein ganz ungewohntes Jubelgeschrei aus, werfen die Hüte in die Luft und klatschen wie irre.

Willi und ich schauen uns überrascht an.

- Was ist los? rufe ich Fred zu, der uns am nächsten steht.

- Er hat eben gesagt, ruft dieser aufgeregt zurück und deutet auf den Redner, der das Ende des Applauses abwartet, dass der Hitler verreckt sei!

Ich wende mich wieder Willi zu:

- Hör mal, Willi. Du willst doch nicht hier im Sternen vor dich hin saufen? Ausgerechnet heute Abend? Du willst doch etwas sehen? Etwas erleben? Oder nicht? Jetzt, wo die Schwaben erledigt sind?

- Ja, schon. Doch, ja.

- Eben. Du willst doch Weiber sehen, heute Abend?

Willi nickt aufgeregt; er spürt die kommenden Ereignisse mehr als deutlich.

- Ich meine, fahre ich behende fort, wie soll ich sagen? Nicht Gritten, wie hier bei uns, sondern richtige Frauen? Schöne Frauen?

Willis Augen leuchten wie an Weihnachten.

- Dann komm heute Abend mit mir.

Willi hat ein Fahrrad mit zwei intakten Reifen, und das macht’s aus. Ohne Fahrrad kommt man nicht zügig in die Stadt und vor allem nicht rechtzeitig wieder zurück, und an meinem Fahrrad fehlen immer noch die Reifen. Ein Fahrrad ohne Reifen ist eben kein Fahrrad, und Reifen sind leider kaum zu haben, oder nur zu unverschämten Preisen, die keiner bezahlen kann. Reifen klauen ist riskant geworden; die Leute schließen neuerdings ihre Fahrräder in die Hausflure ein und sind auf Draht. Kurz, es bleibt mir nichts anderes übrig, als Willi scharf zu machen und mit zu schleppen, denn ich will heute unbedingt ins Trocadero.

Lange, viel zu lange, einen ganzen Weltkrieg lang habe ich darauf warten müssen.

Jetzt ist die Arbeitermusik wieder an der Reihe. Wir stellen uns in Konzertformation auf und nesteln mit klammen Fingern in den Notenblättern. Willis Notenhalter fällt zu Boden; ich höre einige Leute hinter mir seufzen. Es ertönen die bekannten Parteilieder; alles geht gut, denn die sind nicht schwierig zu spielen. Die Leute aus dem Sängerbund und viele Leute im Publikum singen lauthals mit. Die Stimmung ist trotz Nebel und Schneegestöber aufgeräumt, der Dirigent sichtlich zufrieden.

Wir packen unsere Instrumente ein und gehen in die Gartenwirtschaft hinüber. Willi bleibt mir dicht auf den Fersen. Berge von Klappstühlen müssen erst aus der Scheune geholt werden, denn am ersten Mai wird grundsätzlich in der Gartenwirtschaft gefeiert, auch wenn man heuer zuerst zehn Zentimeter Schnee von den Blechtischen wischen muss.

- Sag mal, Peter, kostet das etwas?

- Was?

- Da, wo wir hingehen.

- Du meinst das Trocadero?

Ich kann ihm jetzt unmöglich gestehen, dass ich noch nie dort gewesen bin, dass ich nur davon gehört habe, von Leuten, die auch nur davon gehört haben, und ob das etwas kostet, haben die auch nicht gewusst. Mir gefällt indessen der weltmännische Ton, den ich angeschlagen habe.

- Da wirst du schon was springen lassen müssen, Willi.

- Wieviel?

- Sagen wir so zirka zwei bis drei Franken.

Willi reißt erschrocken die Augen auf und starrt gleichzeitig nach links und nach rechts.

- Drei Franken? Das ist ja Wahnsinn! Hier im Sternen ist es gratis! Das kostet mich hier höchstens ein Bier!

Er ist ganz außer sich, der Gute. Ich muss ihn zuvorkommend behandeln, denn ich bin auf ihn angewiesen. Also biete ich ihm elegant einen Stuhl an einem runden, roten Blechtisch an, wische mit der Uniformmütze den lockeren Schnee von der Tischfläche, nicke ihm aufmunternd zu, während er sich zögernd setzt. Ich lege vertrauensfördernd meine Hand auf seine Schulter:

- Willi, jetzt hör mir mal genau zu: Dir ist doch das Trocadero auch ein Begriff?

- Ich weiß nicht so recht, Peter.

- Willy, in der Stadt spielt sich alles ab, während hier im Dorf rein gar nichts abläuft. In der Stadt spricht alles nur vom Trocadero. Dort geht praktisch alles ins Trocadero, was irgendwie aufgeschlossen ist. Sogar Schauspieler gehen dorthin. Und weißt du, warum?

- Nein.

- Weil dort die schönsten Frauen zu finden sind. Darum. Weil dort einfach alles läuft, wie man es sich nur wünschen kann, verstehst du? Weil sie dort neuerdings eine echte Negerkapelle haben, direkt aus Amerika. Ist dir das ein Begriff?

Willi nickt sehr unsicher, obschon wir während meiner spärlichen Urlaube nächtelang an seinem Radioapparat gefummelt und amerikanische Jazzmusik gesucht haben.

- Jazz, Willi! Swing, Willi!

Ich muss Willi herum kriegen. Ohne Willi und sein Fahrrad bin ich aufgeschmissen. Heute muss es einfach klappen! Alles ist klug vorbereitet und weise eingefädelt. Der Vater ist im Oberland, und der Mutter kann ich glaubhaft versichern, dass die Arbeitermusik im Sternen spielen müsse. Was will ich mehr?

Die Situation ist lupenrein und einwandfrei.

Der Vater ist nicht im Oberland. Er sitzt breit an seinem gewohnten Platz oben am Tisch, hat seine gewaltigen Unterarme schwer aufgelegt und schabt sich mit einem Löffel Teerresten von den Handrücken. Trotz meines Schockes versuche ich, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen.

- Bist du nicht im Oberland? frage ich betont beiläufig. Der Vater kratzt unbeirrt an seinen Handgelenken, wo die dicken Adern hervor stehen. In seiner Jugend war er Schwinger und hat viel geschwungen, ein sogenannter „Turner“, oder ein „Böser“, in der Schwingersprache gesprochen; einmal war er sogar Regionalmeister. Jetzt beachtet er mich gar nicht; ich bin kein Gegner für ihn. Das kann ein gutes, aber auch ein schlechtes Zeichen sein.

- Lass den Vater in Ruhe! befiehlt die Mutter vom Herd her. Er ist müde.

Ich nähere mich ihr unauffällig:

- Warum ist er nicht im Oberland? flüstere ich. Die Frage ist gewagt; die Mutter rührt wortlos in der Pfanne. Auch sie hätte es am liebsten, wenn der Vater im Oberland wäre.

- Habt ihr heute gespielt? will der Vater plötzlich wissen.

- Platzkonzert.

- Waren viele da?

- Fast alle. Warum bist du nicht im Oberland?

- Die haben die Arbeit verschoben.

- Warum?

- Weil es dort noch Schnee auf den Straßen hat.

- Kann man nicht teeren?

- Nein.

- Warum nicht?

- Wie willst du denn teeren, du Schlaumeier, wenn eine solche Schicht Eis auf der Straße liegt?

Der Vater hebt seine Pranke eine Handbreit über die Tischplatte. Verfluchtes Eis, es macht mir einen furchtbaren Strich durch meine Pläne. Jetzt reinigt der Vater seine Fingernägel mit einer Gabel und scheint ganz zufrieden zu sein; auch die Mutter zeigt keinerlei Anzeichen von Panik wie sonst, wenn der Vater arbeitslos zu Hause herum sitzt.

- Spielt ihr heute Abend im Sternen? brummt er. Da ist sie bereits, die Frage, die über Leben und Tod entscheiden kann.

Ich zögere, überlege ratlos.

- Hast du nicht gehört, was der Vater gefragt hat?

Die Mutter hat den extrascharfen Ton hervor geholt.

- Ich, ja, nein, das heißt …

- Was soll das heißen? Kannst du nicht richtig antworten, wenn du etwas gefragt wirst?

- Was hast du gefragt?

Flucht nach vorn. Ich setze alles auf eine Karte.

- Wo bist du wieder mit deinem Kopf? Ob ihr heute Abend im Sternen spielt, habe ich gefragt!

- Ja.

Jetzt ist es heraus. Jetzt führt kein Weg mehr zurück. Jetzt nimmt das Verhängnis seinen Lauf, wie man sagt, jetzt schlägt das Schicksal zu.

- So?

Der Vater krempelt die Hemdärmel wieder langsam nach vorne.

- Dann komme ich mit.

Du lieber Himmel! Jetzt ist alles verloren! Ich stürze in einen dunklen Abgrund tiefster Verzweiflung. Alles falsch angepackt! Natürlich spielen wir heute Abend nicht; die Abendkonzerte haben mit dem Krieg aufgehört. Doch ich Trottel habe alles auf diese eine Karte gesetzt, denn der Krieg ist schließlich sozusagen fertig. Hitler verreckt, meine letzte Karte ausgespielt, rien ne va plus. Und wie stehe ich jetzt da?

Meine beiden jüngeren Schwestern stürzen in die Küche und mustern mich feindselig.

- Warum hast du die Uniform immer noch an? fragt die ältere giftig. Das Konzert ist doch vorbei? Oder willst du dein Leben lang in einer Uniform herum laufen?

- Sie spielen heute Abend noch, erklärt die Mutter und nimmt die Suppe vom Herd.

- Er hat mit Willi geraucht! melden die jüngere Schwester eifrig. Ich habe es selber gesehen!

- Das stimmt gar nicht! brause ich auf. Der Willi hat! Ich nicht!

- Ruhe, verdammt noch mal! brüllt der Vater und haut mit dieser Pranke, die mich vielleicht bald erwürgen wird, auf die Tischfläche. Teller und Tassen hüpfen lustig hin und her, Löffel und Gabeln klingeln fröhlich.

- Ruhe, Kinder! gellt jetzt auch die Mutter. Seht ihr denn nicht, dass der Vater müde ist?

Ich gebe so heftig, wie dies von einem Stuhl aus möglich ist, meiner jüngeren Schwester einen Tritt ans Schienbein.

- Au!

- Aufhören, ihr zwei! bellt die Mutter. Voller Empörung zeige ich auf meine Schwester:

- Das ist eine gottverdammte Lüge, was sie gesagt hat!

- Ruhe jetzt! Sonst haue ich euch allen eine runter, damit ihr endlich wisst, was sich bei Tisch gehört!

Der Vater brüllt bereits in einer Lautstärke, die bedenklich knapp unter der Explosionsgrenze liegt. Die Mutter stellt die große Pfanne mit einem Knall zwischen die Teller, während der Vater wütend den Dreck, den er mit dem Gabelzinken unter seinen Fingernägeln hervor geklaubt hat, unter den Tisch wischt. Zuerst wird sein Teller bis zum Rand gefüllt; er erhält auch den Markknochen. Danach bin ich als sein Ältester an der Reihe.

- Voll, sage ich.

- Es kriegen alle genug, beschwichtigt die Mutter.

Nachdem auch meine beiden Schwestern bedient sind, gießt die Mutter sich selber den Teller voll. Der Vater löffelt bereits, tief über seine Suppe gebeugt. Ab jetzt darf am Tisch nicht mehr gesprochen werden. Endlich richtet er sich befriedigt auf und fischt den Knochen aus dem Teller, schlürft ihn aus, rülpst und verkündet:

- Ich will nachher baden.

- Ich werde sofort das Wasser heiß machen, beeilt sich die Mutter zu sagen.

- Hat’s noch frische Hemden?

- Im Schrank, selbstverständlich! antwortet die Mutter und blickt auf. Du solltest dich auch rasieren, wenn du heute Abend in den Sternen willst.

Der Vater brummt etwas Unverständliches und fährt sich mit der flachen Hand gedankenverloren über die stoppelige Wange.

Ich versuche, meine verzweifelte Lage zu überblicken: Praktisch bin ich bereits ein toter Mann, so jung, wie ich bin, soeben aus dem Militärdienst entlassen, weil der Krieg mehr oder weniger zu Ende geht.

Ich trage immer noch die Uniform der Arbeitermusik. Seit heute Morgen früh stecke ich drin. Daneben besitze ich nur noch die Armeeuniform und den Konfirmationsanzug, der drei Nummern zu klein geworden, aber meine einzige Zivilkleidung ist. Mein Vater schreitet, sonntäglich heraus geputzt, obwohl heute Dienstag ist, wortlos neben mir her, das heisst, ich haste wortlos neben ihm her, um genau zu sein. Der erste Mai ist heilig; der einzige heilige Tag bei uns. Ich klammere mich an das Futteral meiner Trompete und bereite mich auf meinen frühen Tod vor. „Gefallen in den letzten Kriegstagen“ wird auf dem Grabstein stehen.

Wir begegnen dem Schuhmacher, der eine Handkarre voller Militärschuhe hinter sich her zieht.

- He! Fritz!

- Schau da!

- So? Wie geht’s? Mit dem Jungen unterwegs?

- Sie spielen im Sternen.

- Sieht blass aus.

- Das kommt vom Rauchen.

- Ich habe gar nicht …

- Halt den Mund.

Wir sind stehen geblieben. Mein Vater reicht dem Schuhmacher die Hand, weil er bei ihm tief in der Kreide steht.

- Dieses Wetter! Heuer will’s einfach nicht Frühling werden!

- Kann man wohl sagen.

- Das Oberland steckt noch tief im Schnee.

- So? Bist du jetzt dort oben mit der Teermaschine?

- Ja, aber es ist noch zu früh. Wir müssen noch mindesten zwei Wochen warten.

- Dann ist es wohl nichts mit …

- Eine Woche. Oder zwei. Höchstens.

- Das werden wir ja sehen.

- Bist du auch auf dem Weg zum Sternen?

- Nein, ich habe noch zu tun.

- Militär?

- Ja, da. Du siehst es ja. Da. Bis Ende Woche, hat der Feldweibel gesagt. Der hat ja keine Ahnung!

- Dann hast du ja nichts zu klagen, Schuhmacher!

- Für die Feier reicht mir heuer die Zeit nicht. Übrigens.

- Was?

- Der Hitler ist verreckt. Sie haben’s am Radio gebracht.

- War langsam Zeit.

- Das will ich meinen.

Wir gehen weiter. Beim Schmied um die Ecke. Der Schreiner.

Der Velohändler. Das Pfarrhaus. Die Kirche. Der Sternen. Hier treten wir ein. In der alten Gastwirtschaft – es ist bei weitem das älteste Gebäude des Dorfes – hängen rote Lampions zwischen den kahlen Bäumen, und auf der Gartenmauer stecken rote Fähnchen. Aus der Gaststube ist das Ländlerquartett zu hören. Der Vater bleibt im Eingang unschlüssig stehen. Wollen wir ins Haus hinein, oder bleiben wir im Garten draußen? wird er gleich fragen.

- Wollen wir ins Haus hinein, oder bleiben wir im Garten draußen?

- Die andern sind alle draußen.

- Aber wenn wir draußen bleiben, dann werden wir im Saal drinnen keine Plätze mehr finden, wenn’s los geht.

Nur nicht hinein! denke ich. Draußen bleiben, solange es geht!

Er wird noch früh genug merken, dass drinnen gar nicht gespielt wird!

- Wo ist die Musik? fragt er bereits voller Ahnungslosigkeit und hält nach weiteren Uniformen der Arbeitermusik Ausschau. Die meinige ist die einzige weit und breit. Einige Gäste mustern mich bereits verwundert. Jetzt kann es losgehen, denke ich.

- Wann spielt ihr?

- Ich muss nachfragen, antworte ich hastig.

Der Vater schaut sich zerstreut um und nickt:

- Ich setze mich hier zu den andern, und du kommst mich holen, sobald es soweit ist, verstanden?

Er wendet sich dem langen Tisch zu, wo die Arbeiter Glas und Flasche mit beiden Fäusten umklammern.

- Vreni! Ein Bier! höre ich ihn noch laut rufen, während ich mich umdrehe und blitzschnell verschwinde. Im Pissoir ist es still und kalt. Ich stelle erst mal die Trompete auf die Fliesen, starre an den weißen Kalk über der asphaltschwarzen Pisswand und versuche zu pissen. Nichts geht mehr. Im Garten singen sie die Internationale. Was wissen die schon! Nichts wissen die!

Fred wankt herein, völlig blau. Er hat seit heute Morgen praktisch ununterbrochen gesoffen. Auch er trägt noch die Uniform; ein Hoffnungsschimmer.

- Hör mal, Fred …

Er glotzt mich mit gläsernen Augen an; sein Gehirn versucht, die letzten Zuckungen zu machen.

- Peter?

Er stemmt sich zur Pisswand und sucht unter seinem dicken Bauch den Hosenladen. Ich stelle mich eilig neben ihn und versuche, so zu tun, als ob auch ich pissen müsste. Sein satter Strahl schießt an die Wand und wieder zurück, direkt an seine und meine Hosenbeine. Ich trete einen Schritt zurück, doch er merkt nichts.

- Hör mal, Fred. Kannst du mir einen Gefallen tun?

Doch Fred hört gar nicht hin; er stöhnt:

- Das tut gut!

- Wie meinst du?

- Gut gepisst ist halb gevögelt.

- Schön. Hör mal, Fred, ich sitze in der Patsche.

- Alle sitzen in der Patsche, Peter! Ich sitze auch in der Patsche!

- Wie meinst du?

- Meine Alte zu Hause.

- Krach?

- Das ist erst der Vorname.

- Ja, so ist es wahrscheinlich, Fred. Hör mal, kannst du mir vielleicht einen kleinen Dienst erweisen?

- Dienst? Musst du schon wieder in den Dienst?

- Nein, ich muss nicht in den Dienst. Sag mal, kannst du mir helfen?

- Warum musst du jetzt schon wieder in den Dienst?

- Fred …

- Diese Vaganten! Wenn der Krieg fertig ist, dann sollten sie die Leute wirklich nach Hause gehen lassen!

- Fred …

- Immerzu müssen die Jungen in diesen verdammten Militärdienst! Wie soll man da noch anständig Musik machen können? Wenn die Hälfte des Orchestern ständig im Dienst ist?

Sag mir das mal! Und überhaupt! Ich habe wirklich geglaubt, der Krieg sei fertig! Aber sie können wohl nicht mehr aufhören damit, die feinen Herren! Mit ihrem verdammten Scheißkrieg!

Einer sollte ihnen jetzt wirklich sagen, dass der Krieg fertig ist, jetzt, wo der Hitler endlich verreckt ist! Der Hitler ist erledigt, der Mussolini ist erledigt – was wollen wir noch mehr? Oder weißt etwa du, wie lange die noch kriegen wollen?

Es ist hoffnungslos. Ich bin hoffnungslos. Alles ist hoffnungslos. Am langen Tisch draußen lachen einige Leute kurz, wie ich wieder auftauche.

- Schaut! Da kommt er ja! Da ist er wieder, der Trompeter von Säckingen!

Der Vater starrt mich wütend an. Ich will eben den Mund öffnen und etwas vorlügen, aber er lässt es gar nicht so weit kommen:

- Fahr ab! quetscht er heraus. Ich schleiche weg.

- Wir reden noch zusammen! brüllt er hinter mir her. Schadenfrohes Gelächter verfolgt mich in die kalte Nacht hinaus.

- Willi, ich haue ab.

Ich leuchte mit der Taschenlampe in sein Gesicht. Er reißt erschrocken die Augen auf. Das linke schaut gespenstisch nach links, das rechte nach rechts.

- Peter? Bist du wahnsinnig?

- Kann ich dein Velo benutzen?

Er richtet sich verstört auf und schiebt die Decke zurück. Ich drehe mich um und schließe leise das Fenster, durch das ich eingestiegen bin.

- Wo willst du hin?

- Ins Trocadero.

- Hast du Geld?

- Zwölf Franken.

Willi schaltet das Licht ein. Er schaut mich lange schweigend aus einem zerknitterten Gesicht an, denn er hat schon geschlafen. Ich betrachte sein gestreiftes Nachthemd.

- Und dein Vater? fragt er völlig zu Unrecht.

- Sitzt im Sternen.

- Und wenn er heim kommt?

- Bin ich weg.

Willi schüttelt missbilligend den Kopf. Er erhebt sich ächzend, geht zu seinem Kleiderhaufen hinüber, fingert einen krummen Stumpen heraus, kehrt in sein Bett zurück, zieht die Decke hoch, zündet den Stumpen an, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.

- Peter, ich weiß nicht recht …

- Was?

- Das Velo.

Ich beuge mich zu ihm hinunter, damit er mein Flüstern gut verstehen kann. Ich will ja nicht gleich das ganze Haus wecken.

- Hör mal, Willi. Du bist mein bester Freund. Ich fahre mit dem Velo in die Stadt und stelle es beim Bahnhof ab, genau so, wie ich es damals gemacht habe, als ich plötzlich einrücken musste.

Erinnerst du dich? Beim Angriff auf Frankreich? Also. Dann fährst du morgen früh mit dem Postauto hin und holst es dir wieder. Ist das klar? Das ist doch das Einfachste der Welt?

- Peter, du kannst doch nicht einfach abhauen? Du hast kein Geld, du hast keine Arbeit, du hast nichts! Und denk doch an deine Eltern! Sie brauchen dich!

- Pah!

- Wer macht den Stall, wenn du fort bist? Wer füttert die Kühe? Die Schweine?

- Das machen meine Schwestern ebenso gut wie ich.

- Die gehen ja noch zur Schule!

- Ja? Und? Was geht mich das an?

- Ich weiß nicht, Peter. Ehrlich.

- Ich bin doch nicht ihr Knecht?

- Sie sind auf dich angewiesen.

- Waren sie es all die Zeit, als ich im Dienst war? Sechs Jahre Krieg? Sechs Jahre warten auf die verdammten Schwoben? Da ist es doch auch gegangen?

- Sie rechnen mit dir.

- Sechs Jahre Dienst! Weißt du, was das heißt? Ich schon! Ich weiß, was das heißt! Mir reicht’s!

Ich rege mich bei diesem Thema immer furchtbar auf.

- Und dann soll zu Hause der gleiche Scheißdreck weiter gehen? Ich bin doch nicht verrückt?

- Ich hätte gerne Dienst geleistet, Peter, und sei es nur, um den Fragen auszuweichen.

- Sei froh, dass du dienstuntauglich geblieben bist, Willi! Das hat dir eine Menge Scheißdreck erspart! Das kann ich dir sagen! Du hast deinen Frieden gehabt!

- Ich habe die ganze Zeit den Dreck machen müssen! Glaubst du vielleicht, das habe mir besonders gut gefallen, den ganzen Krieg lang der Dorfidiot zu sein? Ich will doch auch mal etwas erleben? Ich will doch nicht immer nur den Löl spielen?

- Psst, Willi! Leise! Sonst weckst du die andern!

Ich streiche ihm beruhigend über den eckigen Kopf und überlege, ob so ein Kopf überhaupt in einen Helm gepasst hätte.

Doch Willi darf sich jetzt nicht zu sehr aufregen.

- Willi, pass auf: Du bist meine einzige Rettung. Du musst mir helfen. Ich will weg von hier. Endgültig. Verstehst du? Lieber gehe ich in die Legion, als dass ich noch länger hier bleibe!

Willi starrt an die Decke und pafft. Ich muss ihn weich kriegen.

- Hör zu, Willi: Sobald ich mich in der Stadt eingerichtet habe, hole ich dich hier heraus.

Willi schnellt hoch und starrt mich an, das heißt, er starrt links und rechts an mir vorbei.

- Versprichst du mir das?

- Ehrenwort.

- Peter, das vergesse ich dir nie!

Ich schalte Willis Radio ein und stelle es ganz leise. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt, dass der Führer gefallen ist, bis zum letzten Blutstropfen kämpfend, für Deutschland. Naja. Ich drehe am Knopf, bis amerikanischer Swing ertönt. Danach lege ich vertraulich die Hand auf Willis Schulter.

- Wir werden zusammen ins Trocadero gehen, Willi, werden uns die Musik anhören, werden die Weiber anschauen, werden ein paar Bierlein trinken, und dann …

- Und dann?

- Und dann tanzen wir. Wir, das heißt, das musst du dir erst mal vorstellen: Wir in unseren langen, weißen Vestons, mit den amerikanischen, zweifarbigen Schuhen und den amerikanischen Zigaretten.

- Weiße Gamaschen?

- Klar. Wir suchen uns also die zwei schönsten Frauen aus, gehen hin uns sagen einfach: Ist es gestattet? Darauf setzen wir uns zu ihnen hin und bestellen eine Flasche Champagner.

- Du spinnst!

- So wird das gemacht, Willi!

- Und dann?

- Dann sagen wir: Ein Tänzchen, die Damen?

Ich stehe auf und verbeuge mich vor Willi, um ihm zu zeigen, wie man sowas macht. Er schaut mir fasziniert zu.

- Einfach so? fragt er.

- Einfach so. Dann swingen wir über die Bretter, wie wir es schon oft geübt haben.

Ich ziehe ihn aus dem Bett, werfe seinen Stumpen aus dem Fenster, und dann tanzen wir eine Weile nach den Klängen der Radiomusik.

- Glaubst du, das klappt mir den Damen?

- Natürlich. So macht man das.

- Und dann?

- Dann sagen wir: Meine Dame, darf ich Sie nach Hause begleiten?

- Einfach so?

- Dann rufen wir ein Taxi.

- Das ist doch viel zu teuer!

- Willi, jetzt stell dir erst mal vor: Du hilft Rita Hayworth oder Vivien Leigh in den Nerz, und dann willst du mit ihr ins Tram steigen?

- Du spinnst.

- Ich sage dir nur eines, Willi, und du ganz mir voll und ganz vertrauen, denn ich erzähle keinen Mist: Gib mir dein Velo, und dann läuft’s wie im Film ab!

- Ehrlich?

- So wahr ich hier stehe.

Willis Velo hat kein Licht; das zwingt mich, die Feldwege und Seitenstraßen zu nehmen. Ich verliere viel Zeit dabei; bereits muss es elf Uhr sein. Mein Konfirmationsanzug ist entschieden zu eng geworden; überall schneidet er ein. Ich habe Hemd und Krawatte der Arbeitermusik anbehalten, weil ich auf die Schnelle nichts anderes auftreiben konnte. Eile ist oberstes Gebot; jeden Augenblick erwarte ich das Brüllen des Vaters oder das Geschrei der Mutter im Rücken. Man kann nie weit genug weglaufen, wenn man weglaufen muss. Ich pedale wie ein Wilder, und die Krawatte flattert im Fahrtwind. Meine Trompete ist hinten auf den Gepäckträger geklemmt, und in meinen Taschen befindet sich alles, was ich besitze: mein Bankbüchlein mit 362 Franken 22 Rappen, meine Geburtsurkunde, mein Dienstbüchlein und mein Portemonnaie mit 12 Franken 40 Rappen. Ich bin vierundzwanzig, männlich, gierig nach Leben jeglicher Art und unglücklich, obwohl knapp dem Tode entronnen. Vorläufig.

Ich trete heftig in die Pedale. Schnee liegt auf der Straße. Ich verliere langsam das Gefühl in den Fingern, doch endlich taucht der Bahnhof auf. Ich springe vom Rad und stelle es in besagte Ecke. Fast vergesse ich in der Eile die Trompete. Das Trocadero ist nicht weit, und ich kann den Swing bereits hören, es ist kaum zu glauben. Ja, ich höre ihn! Ich rieche ihn! Ich fühle ihn! Ich habe den Swing!

Vor dem Eingang steht ein ehemaliger Schwergewichtsweltmeister in Generalsuniform. Ich schaue an ihm hoch. Er blickt milde auf mich herab.

- Sind Sie Musiker? tönt es von weit her. Er wirft einen Blick auf meine Trompete. Ich nicke. Er öffnet die Tür. Ich trete ein, ohne mich noch einmal umzusehen. Es ist völlig verrückt; so einfach geht das! Schon bin ich mitten in der Menge. Die Leute stehen herum und quatschen miteinander, das Glas in der Hand. Das ist nicht der Sternen!

An vielen kleinen Tischchen sitzen sie, die soeben applaudieren. Die Musik hat ausgesetzt; Tanzpaare kehren scherzend an ihre Plätze zurück. Ich lehne mich an eine Säule und starre auf die Bühne, wo die Musiker sitzen. Und dort sitzen sie, in schneeweißen Vestons mit Fliege, zwischen tropischen Topfpflanzen. Alles ist wahr geworden. Zwölf Musiker, darunter vier richtige Neger, plaudern gemütlich miteinander oder ordnen gemächlich ihre Notenblätter. Der Saal ist gestoßen voll; kein einziger freier Platz ist zu finden.

- Sie wünschen?

Der Kellner hat sich unbemerkt von hinten genähert und fixiert mich, als ob er mich ertappt hätte.

- Nichts.

- Sie müssen etwas konsumieren.

- Was muss ich?

- Sie müssen etwas bestellen.

- Muss ich?

- Das ist Vorschrift bei uns.

Er schaut mich von oben bis unten so skeptisch an, als hätte ich etwas Verbotenes vor.

- Haben Sie bezahlt?

- Was sollte ich bezahlt haben?

- Den Eintritt.

- Sehen Sie nicht, dass ich Musiker bin? Hier, sehen Sie? Was ist das wohl? Ein Regenschirm?

Ich halte ihm die Trompete vor die Nase.

- Wenn Sie Musiker sind, dann müssen Sie hinter die Bühne.

- Sie verstehen mich falsch. Ich muss hier sein, denn ich bin beruflich hier. Verstehen Sie!

Das scheint ihm endlich einzuleuchten, obwohl er mich noch eine Weile schweigend, vielsagend und misstrauisch mustert.