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Tande Ida und ihr Ford Fordor. Grossvater und sein Opel Olympia. Zwei Automobilgeschichten aus den späten Fünfzigerjahren, als der Traum vom eigenen Automobil auch für das Proletariat Wirklichkeit zu werden begann. Alex Gfeller, Schriftsteller und Landschaftsmaler, geboren 1947 in Bern. Lebt in Biel.
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Seitenzahl: 106
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Seit Menschengedenken fuhr Tante Ida dreimal in der Woche mit ihrem siebenundzwanziger Ford Fordor in aller Frühe auf den berner Markt, und jedesmal ergab dies in der Käserei von Wahlendorf Gesprächsstoff für mindestens eine ganze Stunde, ungefähr ebenso lange, wie sie mit der schweren amerikanischen Kiste benötigte, um im Schritttempo von Wahlendorf nach Bern zu gelangen. Denn Ida fuhr mit zwanzig, höchstens mit dreißig Stundenkilometern, mehr nicht, im Winter sogar mit deutlich weniger, und daran hielt sie ihr halbes Leben lang fest. Das war ihr automobilistisches Credo. Das Auto war dunkelblau, stammte aus alten Militärbeständen und hatte sie ein Heidengeld gekostet, wie sie jedermann auf Nachfrage seufzend erklärte, aber sie brauchte es zwingend, um die Kartoffeln, die Zwiebeln, die Karotten, den Kohl, den Kopfsalat und die Früchte nach Bern zu bringen, um also diese überaus gesunden Produkte einheimischer Landwirtschaft in der Bundesgasse, gleich vor dem Westflügel des Bundeshauses, an ihrem kleinen Stand, der aus vier leeren Harassen und zwei darüber gelegten Brettern bestand, den wählerischen und enorm pingeligen Stadtfrauen zu verkaufen.
Alles, was sie dazu brauchte, konnte sie hinten und vorne in das geräumige Auto packen, denn sie hatte die hinteren Sitze herausnehmen lassen, genau die Sitze, auf denen früher die hohen Offiziere gesessen hatten, wenn sie zu ihren wichtigen Stabssitzungen und Offiziersrapporten gefahren wurden, so dass die Harassen und Bretter, die alte Waage und natürlich auch die Ware in den Weidekörben selber genügend Platz fanden. Sie nannte das, was sie in Bern verkaufte, die Ware, nämlich genau das, was sie bei den Bauern von Wahlendorf jeweils am Abend zuvor abgeholt hatte, denn sie lebte fast ausschließlich von der kleinen Differenz, also von den Rappenbeträgen, die sich zwischen dem Ankaufspreis in Wahlendorf und dem Verkaufspreis in Bern ergaben, also von durchwegs sehr bescheidenen Beträgen, die zu ihrem äußerst dürftigen Lohn als Magd bei dem geizigen Großbauern, wo sie auch ihre dunkle, ungeheizte Kammer und ihre karge Kost hatte, hinzu kamen, extrem geringe Beträge aus heutiger Sicht, mit denen sie jedoch auch noch das Benzin für den Ford bezahlen können musste, Beträge also, die damals ganz knapp ausreichten, um einem alleinstehenden Menschen auf dem Dorfe zu etwas Bargeld und somit zum Nötigsten zu verhelfen.
Und das war denn auch der springende Punkt: Ida war alleinstehend, eine ältere, kleine, stämmige Jungfer mit Bartansatz, ein überzähliges, etwas korpulentes Mädchen, eines von vielen überzähligen Mädchen auf dem Lande, Mädchen, die niemand von all den berechnenden Bauernbuben der Umgebung hatte haben wollen und die nun für ein Taschengeld den Leuten in der Stadt die Wäsche machten, in der Schokoladefabrik in der Länggasse am Fließband arbeiteten oder sich als billige Magd, wie eben Ida, bei einem reichen Dorfbauern verdingten. Mehr lag für diese Kategorie von Frauen einfach nicht drin.
Ein Niemand also. „Immerhin ist sie gut im Rechnen“, sagte man jeweils, durchaus anerkennend, wenn in der Käserei wieder einmal von Ida die Rede war, von der Marktfrau des Dorfes, wenn es also darum ging auszurechnen, wieviel die Kartoffeln und die Rüben, der Kohl und der Salat in der Stadt kosten werden und somit einbringen sollten, wenn man also untereinander umsichtig die Preise absprach.
Sie entwickelte sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zu einer routinierten Marktfrau, die ihre Sache gut machte, sommers wie winters, zur Zufriedenheit aller, weil ihre Rechung immer bis zum letzten Rappen aufging, solange ihr niemand dreinredete und keine diebische Behörde auftauchte, die Geld von ihr haben wollte. Die kleinen Bauern des Dorfes, die ihr einen Teil ihrer Produkte anvertrauten, waren rundum zufrieden mit ihr, denn sie rechnete jeweils noch am gleichen Tag ab und zahlte ihre Lieferanten sofort aus. Ihre treuen Stammkundinnen in der Stadt waren aber auch zufrieden mit ihr, weil ihre Ware gut, sauber und nicht zu teuer war, und auch sie war durchaus zufrieden mit sich selber, wenn sie mal von der Tatsache absah, dass sie eben alleinstehend war, also keinen Mann hatte, ja, nicht einmal einen Schatz gehabt hatte, auch nicht heimlich, niemals.
Sie war, wie gesagt, klein und dick und eher hässlich, bei aller Selbstsicherheit, die sie im Alltag ausstrahlte, und sie war im Laufe der Jahre zudem, wie man sagte, ein altes Reibeisen geworden, ein Mannweib mit Haaren auf den Zähnen, eine, mit der man sich tunlichst nicht anlegte, schon gar nicht als Mann, schon gar nicht in unlauterer Absicht und schon gar nicht überraschend. Potz Donner! Dann konnte es einer aber zu hören kriegen, so dass er es nie wieder vergaß und somit nie wieder versuchte bei ihr! Sie war ja nicht auf den Mund gefallen; das konnte sie sich gar nicht leisten. Sie konnte feilschen wie ein Marktweib, denn sie war ja eines, und sie konnte sehr wohl austeilen und jemandem die Meinung sagen, konnte einen kräftigen Mann vor allen Leuten derart herunterputzen, dass selbiger umgehend wie mit heruntergelassener Hose dastand, so dass das schadenfreudige Gelächter der andern noch lange nachhallte.
Die heiratsfähigen Männer hielten sich also willentlich und wissentlich fern von ihr, als sie sich noch im heiratsfähigen Alter befunden hatte, und das war vielleicht ihr Glück, verglichen mit dem lebenslangen Unglück der übrigen Frauen, die sehr wohl alle ihre Männer hatten und damit trotzdem nicht glücklich werden konnten. Aber die quälende Ehelosigkeit war gleichzeitig ihre Schwachstelle, denn sie war fest davon überzeugt, dass ihr alle anderen Frauen etwas voraus hätten, einen Mann nämlich, und somit auch eine Familie, eine Haushaltung, einen Garten, einen Hof mit Nutztieren, Kulturland und so weiter, all der Kram halt, der nun mal zu einem Landleben gehörte. Eine Familie hatte sie indessen, die sie von einer herzlosen Behörde schon im Kleinkindalter von ihrer hilflosen und verzweifelten Mutter getrennt worden war, selber nie gekannt, und deshalb war für sie der Verzicht nicht völlig unvorstellbar. Sie kannte nichts anderes als die Einsamkeit.
Nie hätte sie somit gedacht, dass der alte Ford Fordor, den sie als Motorfahrerin am Ende des zweiten Krieges günstig von der Armee abgekauft hatte, ihr in späteren Jahren doch noch zu einem Mann verhelfen würde, zu einem rüstigen Rentner, gesunden Doppelwitwer und stolzen Autobesitzer, zu Großvater eben. Selbiger war, auf der Suche nach jemandem, der ihm gratis und franko das Autofahren beibringen könnte, auf die Marktfahrerin aus Wahlendorf gestoßen, nicht etwa zufällig, denn er selber stammte aus Meikirch, also aus dem Dorf gleich nebenan, aus dem Dorf jenseits des dunklen Waldes auf der Sonnenseite des Frienisbergs.
Er kannte somit seit Kindsbeinen alle heiratsfähigen Frauen seiner Generation im Umkreis von zehn oder zwanzig Kilometern schon von Kindsbeinen an, versteht sich, denn man war schließlich zusammen zur Schule gegangen, war zusammen konfirmiert worden, obschon die Leute vom reichen Meikirch an seinen sonnenbeschienenen Hängen mit Blick auf die ganze Alpenkette mit denen vom armen, schattigen Wahlendorf, das zudem mitten im dunklen Walde lag, nie etwas zu tun gehabt hatten, noch zu tun haben wollten, auch wenn sich das Walddorf nur wenige Kilometer nebenan befand.
Man orientierte sich gesellschaftlich stets nach oben, nie nach unten, und deshalb hatte man eher mit denen vom ebenfalls reichen Ortschwaben oder gar mit denen von Kirchlindach zu tun, wo sogar Leute aus der besseren berner Gesellschaft ihren ländlichen Wohnsitz hatten. Dort holte man sich seine Frauen, oder seine Männer, je nachdem, bei den reichen Bauern, wenn überhaupt, das lohnte sich eindeutig mehr als jemand aus Wahlendorf, aus dem Walchendorf, aus dem welschen Dorf, wie man noch lange gesagt hatte, also aus dem Dorf der Fremden.
Durch die mannigfachen Beziehungen zwischen den vereinzelten Dörfern und Höfen am südlichen Frienisberg wusste man über alles Bescheid, von Frieswil bis nach Schüpfen, von Radelfingen bis nach Zollikofen, insbesondere über die sozialen und familiären Verhältnisse der andern, und zwar genauestens, denn dies was ja schon immer das wichtigste Gesprächsthema der Bauernsame gewesen – was denn sonst?
Die Männer jammerten untereinander üblicherweise über das Wetter, über die anstehende Arbeit, über das Vieh und über ihre Frauen, in dieser Reihenfolge, und die Frauen besprachen ausführlich die Nachbarn bis in die Nachbardörfer hinüber und sogar weit darüber hinaus, und zwar ausnahmslos alle, denn sie ließen fast niemanden aus. So kam es, dass sich alle kannten, die ganze Landbevölkerung des Frienisbergs, zumindest irgendwie, wenn auch oft nur vom Hörensagen, weil dieser alemannische Menschenschlag ja doch eher nur aus lauter mürrischen Einzelgängern und, na ja, verstockten Hinterwäldlern bestand.
So kam es, dass Großvater natürlich wie alle wusste, dass die Ida schon seit langem einen alten Ford besaß, mit dem sie dreimal in der Woche zu Markte fuhr, und somit auch autofahren konnte, also autofahren durfte, obwohl sie nur einen grauen Militärausweis besass, und nicht einen blauen Führerausweis. Das war allgemein bekannt und auch achselzuckend anerkannt, denn als einzige und große Ausnahme in Wahlendorf und Umgebung besaß Ida ein richtiges Auto, wenn auch nur eines für die drei wöchentlichen Markttage, für die knappen zehn Kilometer Marktfahrt nach Bern und zurück also. Es konnte zwar durchaus vorkommen, dass sie damit ab und an jemanden zum Doktor oder gar ins Inselspital führen musste, je nachdem, und sie soll auch schon mal ein Stierenkalb, eine Sau, ein paar Ziegen oder einige Schafe zum Schlachthaus gebracht haben, hört man, wenn es denn sein musste, kurz, sie war mit ihrem Ford im kleinen Dorf ausnehmend nützlich und durchaus brauchbar und somit rundweg akzeptiert, war also als ehemals armes, überzähliges, doch intelligentes, von irgendwo hergezogenes Mädchen im Dorf durchaus integriert, wie man heute sagen würde, auch wenn dies nicht selbstverständlich war. Sie verkaufte für die Bauern Kartoffeln in der Stadt und verhalf ihnen somit zu etwas zusätzlichem Bargeld, und nichts konnte damals wie heute erfreulicher sein als dieser vielleicht etwas banale Umstand, denn Geld allein macht in den Augen der armen Leute glücklich.
Der Großvater, der aus Gründen, die nicht einmal er selber auseinander halten mochte, und aus Mitteln, die ihm nach dem Tode seiner zweiten Frau Martha unerwartet zur Verfügung standen, im Solothurnischen drüben einen milchiggrünen vierundfünfziger Opel Olympia erworben hatte, ohne jedoch im Besitze einer amtlichen Fahrbefähigung zu sein, machte sich also erst mal unauffällig an die Marktfahrerin aus Wahlendorf heran, besuchte ihren Marktstand, tat, als wenn die Begegnung ein reiner Zufall gewesen wäre, half ihr scheinheilig erst ganz unverbindlich beim Abräumen, Tage später bereits beim Aufbauen und Abräumen. Er verstaute nach Marktschluss um zwölf Uhr die Kisten und Bretter im Innenraum des Wagens, stellte die schwere Waage in den Kofferraum zurück und lud sie, als absolute Novität im arbeitsreichen Leben der Ida und als völlig unerwartete Überraschung, anschließend zu einem Kaffee ins Café Fédéral ein.
Das muss in ihren Augen umwerfend gewesen sein, jedenfalls war es etwas völlig Neues, eine ganz neue Erfahrung, weil sie noch nie zuvor zu einem Kaffee eingeladen worden war; noch Jahre später sollte sie uns Enkeln davon erzählen. Es braucht zuweilen erstaunlich wenig, um das Herz einer Frau, und mag es noch so verschlossen gewesen sein, zu gewinnen. Wer sich mit einem gewissen Aufwand und etwas persönlichem Einsatz gezielt an diese Aufgabe macht, kommt schnell einmal vom Fleck, das ist millionenfach erwiesen, und das erklärte Ziel des Großvaters war es, mit Hilfe vom Idi, wie man sie allerorten nannte, das Autofahren zu erlernen.
Er wollte und konnte keinen Fahrlehrer bezahlen, denn nur Reiche leisteten sich einen persönlichen Fahrlehrer, wie auch einen Tanz-, Schwimm- oder Reitlehrer, einen Französisch-, Klavier- oder Gesangslehrer. Leute wie der Großvater mussten selber schauen, wie sie dazu kamen, die Fahrprüfung zu bestehen, und staatliche Vorschriften und Anweisungen gab es damals diesbezüglich praktisch noch keine. Es galt einfach, ein Automobil fahren zu können, nebst der Kenntnis der wichtigsten Verkehrszeichen, sowohl vorwärts, als auch rückwärts; es galt, die vielen Hebel, Pedale, Rädchen, Knöpfe und Schieber bedienen zu können, den Kraftwagen unter erschwerten Bedingungen manöverieren zu können, etwa an einer Steigung mit Hilfe der Handbremse, und es galt, das Fahrzeug möglichst schnell zum Stehen bringen zu können, und zwar unter kräftiger Zuhilfenahme der Fußbremse. Und bei alledem durfte man nicht vergessen, im richtigen Moment die Klappzeiger zu betätigen, um die Richtung anzugeben. Man musste wissen, wie das Licht am Fahrzeug ein- und wieder ausgeschaltet wird, und man musste auch ein Rad wechseln können, um zu beweisen, dass man sich wohl zu helfen wusste, falls man mal einen Platten hatte, was damals, als noch viele Pferde und somit viele Hufnägel zum Straßenbild gehörten, durchaus mal vorkommen konnte.
Dass man wusste, wie das Auto betankt werden musste, oder wie man den Öl- und den Wasserstand zu kontrollieren hatte, wie man eine Kerze auswechselt oder auch mal eine Lampenbirne, verstand sich von selbst, kurz, man musste, nebst dem theoretischen Wissen über die allgemeinen Verkehrsregeln, auch die diversen Handgriffe kennen und beherrschen, die es brauchte, um mittels Motorenkraft möglichst schadenfrei von A nach B gelangen zu können.