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Gemeinsam mit seinen Gefährtinnen ist es Naofumi gelungen, die wütende Geisterschildkröte zu stoppen. Nun wollen sie sich auf die Suche nach den verschollenen drei Helden begeben. Doch plötzlich setzt sich das besiegte Monster erneut in Bewegung. Wie sollen sie die Bewohner dieser Welt nur vor einer derart übermächtigen Bedrohung beschützen?
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Seitenzahl: 316
Inhalt
Prolog: Die Suchaktion
Kapitel 1: Der wahre Sinn der Barmherzigkeit
Kapitel 2: Der Schutzgeist der Geisterschildkröte (Menschenform)
Kapitel 3: Die Geisterschildkröte regt sich wieder
Kapitel 4: Die Berserker-Geisterschildkröte
Kapitel 5: Verwüstung
Kapitel 6: Gegen die Geisterschildkröte – Vorkampf
Kapitel 7: Zeit schinden
Kapitel 8: Die Erkundung
Kapitel 9: Die Höhle der Geisterschildkröte
Kapitel 10: Tatverdächtige
Kapitel 11: Die Inschrift der Helden
Kapitel 12: Das Herz der Geisterschildkröte
Kapitel 13: Der Drahtzieher
Kapitel 14: Befreiung
Kapitel 15: Die Seele der Geisterschildkröte
Epilog: Horai Ost
Extrakapitel: Auf der Suche nach Seelenheilwasser
Prolog: Die Suchaktion
Gerade zog uns Filo in unserer Kutsche über das verwüstete Land. Ich war auf der Suche nach den Helden.
Wie viel Zeit war wohl vergangen, seit wir uns auf die Reise begeben hatten?
»Reeen! Itsukiii! Motoyasuuu! Stellt euch endlich der Realität und zeigt euch!«
»Herr Naofumi, kannst du nicht ein bisschen freundlicher nach ihnen rufen?«
»Was erwartest du? Das geht jetzt schon tagelang so!«
Wieso machte ich das alles überhaupt? Um das zu erklären, muss ich wohl weiter ausholen.
Mein Name ist Naofumi Iwatani, und ich bin zwanzig Jahre alt.
Ich war aus dem Japan der Gegenwart, wo ich meine Otaku-Hobbys gepflegt und an der Universität studiert hatte, in diese Welt gekommen.
Damals war ich zum Zeitvertreib in der Stadtbibliothek gewesen. Ich hatte in einem Buch mit dem Titel Traktat der Waffen der vier Heiligen gelesen und mich mit einem Mal in einer fremden Welt wiedergefunden. Und zwar in der Rolle einer der vier Hauptfiguren jener Geschichte: Ich war zum Helden des Schildes bestimmt worden.
Ich erfuhr, dass diese Welt – genau wie in dem Traktat beschrieben – von einer Katastrophe heimgesucht wurde, den sogenannten Wellen. Und man hatte uns Helden beschworen, damit wir ihnen entgegentraten und die Welt retteten.
Erst glaubte ich, alle meine Träume und Wünsche wären wahr geworden, und mein Leben in einer fremden Welt könnte beginnen. Doch dann wurde ich gleich am Anfang zu Unrecht einer Vergewaltigung bezichtigt und ohne Geld davongejagt. Mein Heldenleben begann also mit Verleumdungen.
Der Schildheld war auf die Verteidigung spezialisiert und somit kaum in der Lage, bei Gegnern Schaden zu verursachen. Ich fand keine Gefährten und war größtenteils meiner Möglichkeiten beraubt, stärker zu werden.
In dieser Welt gab es Level wie in Videospielen, und wenn man Monster besiegte, stieg man auf. Mit steigendem Level stiegen auch die Fähigkeiten, woran sich die eigenen Anstrengungen unmittelbar ablesen ließen. Es gab jedoch auch eine Kehrseite: Bis zu einem gewissen Grad konnte man es sich leicht machen, wenn nur das eigene Level hoch genug war.
Aber zurück zu meinem Bericht.
Um an Stärke zu gewinnen, trieb ich ein wenig Geld auf und kaufte mir eine Sklavin: Sie war ihres Sklavensiegels wegen nicht fähig, ihren Meister zu hintergehen.
Ich brauchte nun einmal jemanden, der an meiner Stelle angriff, da ich selbst im Kampf nur abwehren konnte. So machte ich also diese Sklavin zu meiner Gefährtin und zwang sie, für mich das Schwert zu schwingen.
Wir besiegten Monster und bekamen Erfahrungspunkte.
So stiegen tatsächlich auch meine EXP und mit ihnen mein Level.
Mir war bewusst, dass ich mich unmenschlich verhielt, ich hatte damals jedoch keinen anderen Weg gesehen, um stärker zu werden.
»Wir hängen so in der Luft … Das hinterlässt schon einen schlechten Nachgeschmack.«
»Stimmt«, sagte Raphtalia neben mir. »Man hat nicht das Gefühl, irgendetwas geschafft zu haben. Es fehlt das Erfolgserlebnis.«
Raphtalia war die besagte Sklavin: ein Subhumanoiden-Mädchen.
Subhumanoide waren eine Menschenart, die es in meiner eigenen Welt nicht gab. Sie besaßen Tiermerkmale.
Raphtalia hatte die Ohren und den Schwanz eines Waschbären. Äußerlich wirkte sie wie achtzehn. Mit ihrer glatten weißen Haut und ihrem außerordentlich hübschen Gesicht fanden sie wohl die meisten Menschen schön. Und wenn ihr seidiges braunes Haar im Wind wehte, wirkte sie, als wäre sie einem Kunstwerk entsprungen.
Subhumanoide hatten eine besondere Eigenschaft: Wenn sie hochlevelten, wuchsen sie äußerlich rapide heran, sodass sie im Kampf besser zurechtkamen.
Als ich sie gekauft hatte, war sie noch ein etwa zehnjähriges Mädchen gewesen. Durch unser stetiges Kämpfen hatte sie jedoch rasch das Aussehen einer Erwachsenen erlangt.
Bei der ersten Welle, die über diese Welt hereingebrochen war, waren die auftauchenden Monster in ihr Heimatdorf eingefallen und hatten es zerstört.
Anschließend war sie von Menschenfängern verschleppt worden und hatte eine Zeit lang als Sklavin leben müssen. Schließlich hatte ich sie gekauft, und an meiner Seite war sie dann stärker geworden.
Für eine kurze Zeit war aus bestimmten Gründen ihr Sklavensiegel entfernt worden. Sie hatte jedoch so sehr an mich geglaubt, dass sie sich, um mein Vertrauen zu gewinnen, ein neues hatte aufsprechen lassen. Ich hatte ihr gesagt, dass das nicht nötig sei, doch aus irgendeinem Grund war es ihr so lieber gewesen, und sie hatte darauf bestanden.
Jedenfalls war sie nun meine rechte Hand, und ich konnte mich auf sie verlassen.
Sie verfügte auch über beachtliche Stärke: Erst vor Kurzem hatte sie die Geisterschildkröte besiegt, ein äußerst mächtiges Monster.
Ich war so etwas wie ein Elternersatz und kümmerte mich um sie.
Charakterlich war sie fleißig und ernsthaft. Immer wenn ich etwas Komisches sagte, schaltete sie sich ins Gespräch ein und rückte die Dinge wieder gerade.
Sie war wie eine Tochter für mich, und ich musste sie beschützen, selbst wenn es mich das Leben kostete.
»Filo, such du bitte auch nach Ren, Itsuki und Motoyasu!«
»Häää? Ich kann sie aber überhaupt nicht riechen!«
Unsere Kutsche zog ein Vogelmonster, ein Filolial.
Sie hieß Filo. Und sie hatte die Fähigkeit, Menschengestalt anzunehmen. Dann glich sie … einem Engel mit Flügeln auf dem Rücken.
Diese Monster teilten alle eine seltsame Eigenschaft: Sie zogen liebend gern Kutschen. Wenn ein Held einen Filolial aufzog, ließ es sich in eine höherrangige Form verwandeln: eine Filolial-Königin oder einen -König.
Wegen Raphtalias neuen Siegels hatten wir den Sklavenhändler in seinem Zelt aufgesucht. Der betrieb dort als Fassade einen Monsterhandel und hatte zu dem Zeitpunkt eine Monster-Ei-Tombola veranstaltet. Wir hatten ein Ei gekauft, und aus dem war wenig später Filo geschlüpft.
Vom Charakter her war sie naiv. Zudem war sie ein Vielfraß und hatte ein loses Mundwerk. In ihrer Menschenform war sie ein blondes, blauäugiges Mädchens von etwa zehn Jahren.
Wie Raphtalia besaß auch sie ein hübsches Gesicht. Selbst ich fand sie niedlich.
Sie bediente wohl so ziemlich das Lolita-Engel-Stereotyp. Dahinter verbarg sich allerdings ein riesiges verfressenes Vogelmonster.
Und gerade hatte sie ganz beiläufig etwas Wichtiges gesagt.
»Du riechst sie nicht, sagst du?«
Nun, als Monster konnte sie wohl auf besondere Sinneswahrnehmungen zurückgreifen, um mir bei der Suche zu helfen. Sie war ja eigentlich ein wildes Tier. Irgendwo nach den anderen Helden suchen zu müssen, wo sie nicht zu sein schienen, quälte sie sicher.
Nach denen suchte ich nämlich gerade: den anderen drei Helden.
Wie ich waren auch sie aus anderen Welten hierher beschworen worden und kamen jeweils aus unterschiedlichen Versionen Japans. Alle drei hatten zu Hause begeistert irgendein Game gespielt, das dieser Welt ähnelte, und nun verließen sie sich auf ihre Kenntnisse, um hier alles niederzumähen … Zumindest war das die Herangehensweise dieser Clowns gewesen.
Als ich damals hereingelegt worden war, hatten sie das zwar nicht direkt als Glücksfall gesehen, um mich auszugrenzen, aber sie hatten die Sache nicht durchschaut … und waren darum eben schon ziemliche Idioten.
Die Rädelsführer waren das Miststück von Prinzessin und ihr verblödeter alter Vater gewesen.
Die wahre Regentin des Reichs, die Königin, hatte die beiden mittlerweile bestraft und meine Unschuld bewiesen.
Im Zuge dieser Ereignisse war allerhand geschehen. Unter anderem hatte sich die kleine Schwester der Bitch – Melty – sehr eng mit Filo angefreundet, und wir hatten uns alle gemeinsam auf die Flucht begeben müssen. Man hatte mich nämlich später auch noch verdächtigt, Melty entführt zu haben. Durchs ganze Reich hatte man uns gehetzt.
Letzten Endes hatte sich alles dadurch geklärt, dass wir das Oberhaupt der Drei-Helden-Kirche besiegt hatten. Dessen Anhänger hatten nämlich im Reich Melromarc an erster Stelle der Peiniger des Schildhelden gestanden … Eine höchst merkwürdige Kirche, die ausschließlich die drei anderen Helden verehrt hatte – nach denen ich nun gerade suchte. Mittlerweile war diese Religion zur Irrlehre erklärt und abgeschafft worden.
»Wenn sie hier nicht sind, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Suchbereich zu vergrößern.«
»Ja, nicht wahr? Die Opfer sind ja weiterhin einer Bedrohung ausgesetzt.«
Seit sich der Argwohn mir gegenüber verflüchtigt hatte, unterstützte mich die Krone endlich. Erst hatte ich gedacht, dass wir uns nun ernsthaft um die Wellen des Untergangs kümmern könnten. Doch dann hatte uns die Königin aufs Cal-Mira-Archipel geschickt: Dort war nämlich gerade eine Phase der Aktivierung im Gange gewesen, während der man schneller hochleveln konnte.
Bei dem Event waren unsere Level in die Höhe geschnellt. Überdies hatte ich bei einer Besprechung der Helden, die wir vor unserer Reise abgehalten hatten, von allen dreien die Methoden erfahren, mit denen man die legendären Waffen hochrüsten konnte. Welche ich dann auch sogleich auf den Inseln in die Tat umgesetzt hatte.
Nun will ich einmal die drei Gesuchten und ihre besonderen Eigenheiten vorstellen.
Der erste war Ren Amaki, der Held des Schwertes.
Er war sechzehn, soweit ich wusste. Sein Wachstum entsprach seinem Alter: Er war ein wenig kleiner als ich.
Besonders auffallend war sein glänzendes schwarzes Haar, und sein Gesicht war ein wenig weiblich – insgesamt machte der Junge einen coolen Eindruck. Ihm gefiel wie vielen in seinem Alter anscheinend schwarze Kleidung – das war eben so eine Phase.
Charakterlich … war er, ehrlich gesagt, eher der Typ Einzelgänger, der bloß so tat, als wäre er cool. Meiner Einschätzung nach fiel es ihm schwer, mit anderen Menschen zu kommunizieren.
In seiner Welt gab es offenbar VRMMOs1, die es einem ermöglichten, die Internetwelt zu betreten. Und Ren zufolge war dies hier die Welt von Brave Star Online.
Der nächste Held war Motoyasu Kitamura, der Held der Lanze. Er war einundzwanzig, ein Jahr älter als ich, eher hochgewachsen und der von uns dreien, der am besten aussah.
In seine Haarfarbe mischte sich ein wenig Braun, und er hatte – auch wenn ich es ungern zugebe – ein ausgesprochen hübsches Gesicht.
Sein Charakter ließ sich mit einem Wort beschreiben: Aufreißer. Sobald er ein Mädchen sah, kannte er kein Halten mehr.
Ich wusste selbst erst seit Kurzem, dass er im Grunde keine bösen Absichten hegte. Eine Sache an ihm war aber problematisch: Sobald er einmal Vertrauen zu jemandem gefasst hatte, glaubte er von da an törichterweise alles, was der sagte.
Schuld an allem, was geschehen war, war in Wirklichkeit eine seiner Gefährtinnen gewesen. Dabei handelte es sich um ebenjene Person, die mich zu Beginn der Vergewaltigung bezichtigt hatte. Sie war mittlerweile keine Prinzessin mehr und musste den Namen Bitch tragen.
Motoyasu behauptete, wir befänden uns alle in der Welt des Internetgames Emerald Online.
Zuletzt nun Itsuki Kawasumi, der Held des Bogens.
Ich musste nur an ihn denken, schon wurde ich sauer. Aber ich sollte ihn wohl vorstellen.
Er war siebzehn Jahre alt und etwa so groß wie Ren.
Er hatte natürlich gelocktes Haar, und wenn es rein nach dem Äußerlichen ging, sah er aus wie jemand mit künstlerischem Talent … Er wirkte wie ein Junge, der Klavier spielt oder so. In diesem Sinne war er wohl auch eher gut aussehend.
In Wahrheit war er jedoch wahnsinnig arrogant – ein Egoist, dem jedes Mittel recht war, um seine Vorstellung von Gerechtigkeit durchzusetzen.
Motoyasu hatte ich gehasst, weil er mit der Bitch zu tun hatte. Menschlich gesehen verachtete ich jedoch Itsuki am meisten.
Immerhin hatte er jemanden zum Weinen gebracht. Aber davon will ich später erzählen.
Der Typ glaubte, er würde sich in der Welt des Konsolenspiels Dimension Wave befinden.
Zwischen diesen etwas eigensinnigen Jungen war Streit ausgebrochen: Als wir uns darüber ausgetauscht hatten, wie man in dieser Welt stärker werden konnte, waren ihre Behauptungen hart aufeinandergeprallt. Ihre Ansichten über diese Welt und die Hochrüstmethoden der Waffen passten nämlich nicht zusammen.
Jeder war überzeugt, recht zu haben, und glaubte nichts von dem, was die anderen erzählten.
Ich hatte später versucht, die verschiedenen Methoden in die Praxis umzusetzen, und dabei herausgefunden, dass alle drei Berichte der Wahrheit entsprachen – die Methoden funktionierten aber lästigerweise nur, wenn man ganz fest an sie glaubte!
Ich hatte keinerlei Vorwissen besessen, war dafür aber ganz begierig darauf gewesen, Wege zu finden, um stärker zu werden. Vielleicht war das mein Glück gewesen, denn so war es mir schließlich gelungen, die verschiedenen Techniken zu meistern. Dadurch hatte sich jedoch eine Kluft zwischen uns aufgetan, denn den anderen Helden war es nicht gelungen, auch die anderen Hochrüstmethoden anzuwenden.
»Herr Naofumi, was glaubst du, wo sind die Helden?«
»Sicher in der Gegend, wo sie auch verloren gegangen sind. Das ist aber noch ’ne ganze Ecke.«
»Den Berichten der anderen Suchenden zufolge sind sie noch nicht wieder aufgetaucht, oder?«
»Scheint so … Tot sind sie ja angeblich nicht, also müssen sie sich wohl irgendwo verstecken oder so.«
Filo zog unsere Kutsche weiter durch die Ödnis, während sie den gigantischen Spuren der Geisterschildkröte folgte.
Dachte ich an all das zurück, dann war es schon ziemlich gefährlich gewesen.
Die Überfahrt nach Cal Mira hatten wir zusammen mit L’Arc Berg und Therese in einer Gemeinschaftskajüte verbracht.
Wir hatten die beiden für Abenteurer gehalten, aber am Ende hatten sie bei dem Durcheinander, das auf Cal Mira losgebrochen war, eine bedeutende Rolle gespielt.
L’Arc Berg – oder kurz L’Arc – war ein umgänglicher Typ, er war wie ein gutmütiger großer Bruder. Mit Therese hatte ich nicht so viel gesprochen, aber sie hatte einen ebenso höflichen Eindruck gemacht wie Raphtalia.
So weit alles schön – doch dann entdeckten wir vor dem Archipel in einem Unterwassertempel eine Drachensanduhr, die eine kommende Welle ankündigte. Wir wussten nun, dass dort in wenigen Tagen eine Schlacht stattfinden würde. Wir Helden, die Krieger der Krone und angeheuerte Abenteurer stellten uns also gemeinsam der Welle entgegen.
Von allen mächtigen Monstern, die die Wellen bisher hervorgebracht hatten, war dieser Endgegner – um es in der Sprache der Gamer zu sagen – am einfachsten zu besiegen gewesen.
Sobald das jedoch erledigt war, verkündeten aus irgendeinem Grund L’Arc und Therese plötzlich, dass sie mich umbringen wollten, und erhoben ihre Waffen gegen uns.
Den Grund erfuhr ich nicht. L’Arc meinte nur, sie täten es ihrer Welt zuliebe.
Anscheinend hatten sie das Ziel, uns Helden umzubringen.
Gegen diese schrecklich starken Gegner waren die anderen drei Helden und ihre Gefährten völlig machtlos: Nach kurzem Kampf wurden sie ausgeschaltet und trieben nutzlos in den Wellen herum.
Raphtalia, Filo und ich mussten uns ihnen also zu dritt entgegenstellen.
Dennoch lieferten wir einen guten Kampf ab, und unsere Gegner standen bereits mit dem Rücken zur Wand, als plötzlich auch noch Glass auftauchte, der wir bei der zweiten Welle begegnet waren. Sofort gerieten wir ins Hintertreffen.
Ich kann immer noch kaum glauben, dass wir das überlebt haben.
Ob es nun an dem Schild lag, den ich verwendete, oder daran, dass es bereits unsere zweite Konfrontation war: Irgendwie gelang es uns, die drei in die Flucht zu schlagen. L’Arc und Glass verfügten jedoch über mächtige Attacken, mit denen sie mir gefährlich werden konnten. Es waren Angriffe, die sich meine hohe Verteidigungskraft zunutze machten oder sie komplett ignorierten. Diese Techniken taugten dazu, meine Spezialisierung komplett auszuhebeln, und stellten somit eine ernste Bedrohung dar.
Zum Glück gab es Wege, sich ihnen zu entziehen. In rascher Folge damit angegriffen zu werden, war jedoch gefährlich.
L’Arc spielte dann seine letzte Trumpfkarte aus und besprengte Glass mit Seelenheilwasser. Damit ließen sich die SP wieder auffüllen, die man zum Ausführen von Skills brauchte. So hochgepowert setzte Glass uns mächtig unter Druck.
Letzten Endes gelang es uns, die drei wenigstens in die Flucht zu schlagen.
Danach versuchte ich abermals, mit den nichtsnutzigen Helden zu sprechen.
Ich war eben ein reiner Verteidiger und konnte nicht plötzlich auf Angriff umsatteln.
Hätte ich beim Kampf gegen diese Gegner auch nur einen Helden mit meiner Stärke an der Seite gehabt, dann hätten wir sie wohl besiegen können, statt sie nur zu vertreiben.
Die anderen Helden hatten bisher die ihnen jeweils bekannte effiziente Hochrüstmethode angewandt, mir aber nichts davon erzählt. Dennoch fingen sie nun plötzlich an, mir Vorhaltungen zu machen: Ich sei nur mithilfe von Cheats stärker geworden.
Ich war trotzdem ehrlich und erzählte ihnen, dass alle ihre Methoden funktionierten. Sie schienen mir jedoch nicht zu glauben. Und dann wurde unsere Unterredung mittendrin unterbrochen.
Nach unserer Heimkehr von Cal Mira unternahmen wir Anstrengungen, nach unseren mittlerweile hohen Levels auch unsere Technik zu verbessern. Die Meisterin des Stils der Unvergleichlichen Veränderung, eine alte Frau, führte im Zuge dessen asketische Übungen mit uns durch. Bald jedoch fingen die anderen Helden an zu meckern und den Unterricht zu schwänzen. Weil alles nicht nach ihrer Nase ging, versuchten sie, sich in ein anderes Reich abzusetzen.
Als die Königin merkte, dass unsere Bemühungen um ein freundschaftliches Verhältnis an ihre Grenzen gestoßen waren, erteilte sie ihnen Aufträge. Sobald sie die erledigt hätten, wollte die Königin ihnen erlauben, Melromarc zu verlassen. Die Jungs akzeptierten diese Bedingung.
Auch ich erhielt einen gleichartigen Auftrag.
Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass dies nur der Auftakt zu ungeheuerlichen Ereignissen war.
Unsere Mission: Überall im Reich – oder vielmehr überall auf der Welt – waren rätselhafte Monster erschienen, und die sollten wir nun beseitigen.
Diese Monster entpuppten sich als die Gehilfen der Geisterschildkröte, wenngleich ich anfangs selbst mit meinen Heldenkräften den vollen Namen nicht angezeigt bekam.
Es waren geflügelte Wesen, Fledermäusen ähnlich. Sie hatten nur ein Auge und auf dem Rücken einen Schildkrötenpanzer.
Eigentlich hätten wir Helden uns über die Vorfälle untereinander und mit der Königin absprechen müssen, aber die anderen behielten ihren Lösungsansatz lieber für sich und schritten auf eigene Faust zur Tat.
Letztlich fanden wir aber doch heraus, womit wir es hier zu tun hatten.
Es gab ein Obermonster, das all die Gehilfen lenkte: die Geisterschildkröte.
Sie hatte ihren Vormarsch schon begonnen, ehe die Jungs losgerannt waren.
Es handelte sich um ein gigantisches Ungeheuer mit einem Gebirge auf dem Rücken.
Man hatte uns noch berichtet, dass die anderen Helden die Geisterschildkröte frontal angegriffen haben sollen. Seither waren sie verschollen.
Gemeinsam mit meinen Mitstreiterinnen und einer Bündnisarmee war es mir glücklicherweise gelungen, das Ungeheuer zu bezwingen. Es gab jedoch ein Problem: Beim Erwachen der Geisterschildkröte war am Rande meines Gesichtsfeldes eine blaue Sanduhr erschienen, und sie war auch nach unserem Sieg nicht verschwunden. Ganz so, als ob die ganze Sache noch nicht ausgestanden wäre.
»Wir werden wohl unsere Suche nach den anderen fortsetzen müssen. Wir reisen bis dorthin, wo die Geisterschildkröte einst gebannt wurde.«
»Meister!«
Ruckartig zog Filo die Kutsche vorwärts.
»Was ist los?«
»Ich hab gehört, wie da drüben jemand geschrien hat!«
»Dann schnell hin!«
»Mhm!«
Wir ließen uns von Filo in die Richtung ziehen, aus der der Schrei gekommen war.
Von wegen »als ob«. Die Sache war ganz und gar nicht ausgestanden.
1 Virtual Reality Massively Multiplayer Online Games
Kapitel 1: Der wahre Sinn der Barmherzigkeit
»Uaaaaaaaaah!«
Wir folgten dem Schrei und stießen auf Monster, die Menschen attackierten.
Es waren Gehilfen der Geisterschildkröte (Typ Fledermaus) … Leider trieben die immer noch ihr Unwesen, obwohl wir das Hauptmonster bereits besiegt hatten.
Es handelte sich um die Art Monster, auf die wir bei Beginn des Ganzen zuerst gestoßen waren.
Es gab noch andere Arten, aber diese trat am häufigsten auf.
»Okay, los geht’s!«
»Ja!«
»Roger!«
Ich sprang von der Kutsche und stellte mich vor die Menschen, um sie vor den Fledermäusen zu beschützen.
Sie verschossen ihre Hitzestrahlen, und ich riss meinen Schild hoch, um sie zu blocken.
Die Gehilfen der Geisterschildkröte pickten sich gezielt Schwächere heraus, daher war es außerordentlich schwierig, alle vor ihnen abzuschirmen.
»Hate Reaction!«
Dies war ein besonderer Skill meines Schildes, mit dem ich die Aufmerksamkeit anwesender Monster auf mich ziehen konnte.
Für mich blieb er unsichtbar, aber Filo zufolge, die ja selbst ein Monster war, strahlte ich irgendetwas aus, sodass sich mir alle Gegner zuwandten.
»W… Wer seid Ihr?«
»Gequatscht wird später. Wenn ihr überleben wollt, sammelt euch alle an einer Stelle! So verstreut, wie ihr seid, kann ich euch schlecht verteidigen.«
»J… Jawohl!«
Auf mein Geheiß hin drängten die Angegriffenen alle hinter mich.
»Super. Shield Prison!«
Mit diesem Skill erzeugte ich einen Schildkäfig, der die Menschen davor bewahrte, direkt attackiert zu werden.
»Air Strike Shield! Second Shield! Third Shield!«
Nacheinander erzeugte ich drei weitere Schilde, die den Käfig zusätzlich schützten. Die hielten zwar nur kurz, aber es war besser als nichts.
»Raphtalia! Filo! Das schafft ihr doch, bis sich der Käfig auflöst?«
»Natürlich!«
»Ich geb alleees!«
Raphtalia zog ihr Schwert, rannte zu den Fledermäusen und schlug sie aus der Luft. Filo ging in ihre Königinnenform, steckte sich ihre Krallen an und trat zu.
Sie hatten beide ein hohes Level und eine große Angriffskraft. Wenn sie ernsthaft attackierten, verarbeiteten sie die Gehilfen der Geisterschildkröte mit einem Schlag zu Hackfleisch. Mit jedem Hieb holten sie weitere Fledermäuse vom Himmel, bis es mehrere Dutzend waren.
Es nervte zwar, dass sie herumflatterten … aber ihr Denkvermögen war primitiv, und sie flohen selten, sodass man sie leicht erwischte.
»Große Schwester!«
»Ja!«
Raphtalia sprang auf Filos Rücken, und in rasantem Tempo mähten sie die Gehilfen nieder.
Hm … Nicht schlecht, wie schnell sie mittlerweile waren.
Als Shield Prison sich auflöste, hatten sie den Großteil der Fledermäuse eliminiert.
»Meister. Ich glaub, da ist noch einer von den Großen!«
Filo deutete in eine Richtung und ich erblickte einen Gehilfen der Geisterschildkröte (Schneemenschenform). Das waren Monster, die Yetis ähnelten, groß und ebenfalls mit einem Panzer auf dem Rücken.
Das Monster war etwa so groß wie Filo in ihrer Königinnenform – und es war so stark, wie es aussah.
Herkömmliche Abenteurer waren zwar in der Lage, die Fledermäuse zu besiegen, aber mit den Schneemenschen konnten es nur die allerbesten aufnehmen. Ab Level 25 konnte man einigermaßen mit den Fledermäusen mithalten. Für die Yetis musste man jedoch mindestens Level 55 sein.
Aber auch bei den Fledermäusen war der Ausgang des Kampfs bei Level 25 noch ungewiss, da sie stets im Schwarm angriffen.
Wenn Abenteurer keine speziellen Maßnahmen ergriffen, konnten sie in dieser Welt maximal Level 40 erreichen. Das bedeutete: Wem die Krone keine Sondergenehmigung erteilte, der stieß bei Level 40 an seine Grenze. Unterzog man sich jedoch mithilfe einer Drachensanduhr dem Ritual des Klassenaufstiegs, so war es möglich, bis zu Level 100 aufzusteigen.
Yetis anzugreifen und auch zu besiegen, konnten demnach nur Abenteurer, die so einen Klassenaufstieg durchlaufen hatten.
Natürlich ließ sich diese Einschränkung eventuell kompensieren, indem man besonders listig agierte oder sich mit anderen gut koordinierte, aber ein Sieg würde trotzdem einige Zeit in Anspruch nehmen.
»Packt ihr den?«
»Überlass das nur uns.«
Mit dem Schwert in der Hand ging Raphtalia in Stellung, um ihre Supertechnik anzubringen. Filo rannte mit Vollgas auf ihn zu und bereitete sich auf einen ihrer Kicks vor.
»Yin-Yang-Schwert!«
»Hooooh!«
Raphtalia schlitzte den Yeti auf und Filo trat ihn zu Brei.
»Puh … Ich glaub, das war’s, oder?«
Raphtalia steckte ihr Schwert in die Scheide, sprang von Filos Rücken und blickte sich um.
Na, offenbar bereiteten solche Monster den beiden überhaupt keine Schwierigkeiten mehr. Nicht nur hatten sie hohe Level – auch ihre Technik hatte sich verbessert.
»Mhm. In dieser Gegend scheint’s keine Monster dieser Art mehr zu geben.«
»Aha? Gut gemacht.«
Ich ging zu den Menschen, die das Ziel der Attacke gewesen waren.
»Seid ihr in Ordnung?«
»Ihr tragt einen Schild und beschützt andere mit geheimnisvollen Kräften … Sagt, seid Ihr etwa der Held des Schildes?!«
»Na ja, schon.«
»Habt Dank! Euretwegen sind wir noch am Leben!«
Einer nach dem anderen bekundeten sie mir ihre Dankbarkeit.
»In dieser Gegend ist es gefährlich! Was treibt ihr noch hier?«
»Nun … Wir hatten hier eine Siedlung gründen wollen …«
»Verstehe.«
Auf unserer Suche nach den anderen Helden verfolgten wir den Pfad zurück, den die Geisterschildkröte genommen hatte. Nebenbei griffen wir Menschen unter die Arme, die durch sie zu Schaden gekommen waren. Allerdings … trafen wir auch auf Plünderer, die wie bei einem Erdbeben die Not der Opfer ausnutzen wollten, daher glaubte ich erst einmal nur die Hälfte von dem, was sie mir erzählten. Womöglich waren sie ja in diese gefährliche Region gekommen, um sich die etwaigen Schätze unter den Nagel zu reißen, die in den Stadtruinen verborgen liegen mochten … und waren dabei von den Gehilfen-Monstern angegriffen worden.
»Nur um sicherzugehen: Zeigt mir mal, was ihr so dabei habt.«
»…?!«
Die Typen erbleichten.
In dieser Welt gab es schon sehr schäbige Leute.
Ein bisschen Ehrgeiz war ja löblich, aber ich hatte definitiv nicht die Zeit, irgendwelchen unmoralischen Lumpen zu helfen.
»Das sind alles Sachen, die wir gefunden haben!«
Ich seufzte.
Also tatsächlich. Das hatte man nun davon, dass man sich vergewissern wollte. Bei solchen Typen wusste man nie, was sie anstellten, nachdem man sie gerettet hatte. Manche ließen sich erst einmal an einen sicheren Ort bringen und hielten einem dann kaltblütig das Messer an die Kehle.
Es war einfach gelogen, dass sich in einer fremden Welt alle Träume erfüllten.
Hier wimmelte es von Leuten, die zu weit gingen und Dinge taten, die Besucher aus dem Japan meiner Gegenwart gar nicht würden glauben können.
Vielleicht mussten sie sich so verhalten, um zu überleben. Auch in der modernen Welt gab es solche Länder … Womöglich war es nicht zu ändern.
»Glaubt ihr, Plünderer haben ein Anrecht auf das Zeug, das sie finden?«
Die Geretteten zückten ihre Waffen. Sie wollten wohl Widerstand leisten.
»Schon gut, ich will nichts davon haben – wir verschwinden hier eh gleich wieder.« Und dann sprach ich gleichgültig eine Drohung aus: »Passt ihr aber lieber auf, dass ihr nicht von den Schildkrötengehilfen angegriffen werdet.«
Dies war im Augenblick eine Krisenregion. Was für einen Sinn hatte es, aus gutem Willen Menschen zu retten, wenn die sich dann als Abschaum entpuppten?
»W… Wartet bitte!«
»Wollt Ihr uns etwa im Stich lassen?!«
»Davon redet doch keiner. Hab ich euch nicht gerade erst gerettet, als die Monster euch angegriffen haben? Aber das heißt ja nicht, dass ich von nun an weiter auf euch aufpassen muss.«
Sie knirschten mit den Zähnen. Alle Blicke richteten sich auf den mutmaßlichen Anführer.
»Bringt euch mal lieber in Sicherheit, ehe die Sonne untergeht.«
Es war bestimmt noch eine beträchtliche Zahl von Gehilfen am Leben. Gerade waren keine in Sicht, aber man konnte nie wissen, was noch geschehen würde.
Nebenbei bemerkt hatten diese Gehilfen eine ärgerliche Eigenschaft: Sie vermehrten sich, indem sie Leichen als Brutstätten benutzten.
Nachdem die Geisterschildkröte erwacht war, hatte sie auf ihrem Marsch zahlreiche Dörfer und Städte dem Erdboden gleichgemacht. Und wer an einem solchen Ort gestorben war – Mensch wie Monster –, hatte den Gehilfen der Geisterschildkröte dabei geholfen, sich zu vermehren. Im Augenblick war das Alliiertenheer auf einer Beseitigungsmission, doch bis es alle Monster erledigt hatte, würde noch etwas Zeit vergehen.
Wer ernsthaft glaubte, irgendwelche schwachen Plünderer könnten aus einer derart gefährlichen Gegend lebendig zurückkehren, der sollte es ruhig einmal selbst versuchen.
Was hatte man von so einem Abenteuer, wenn man dabei draufging? Schlimmstenfalls lief man noch Gefahr, zum Wirt dieser Viecher zu werden.
Kiru, ein Junge aus Raphtalias Heimatdorf, war lebendig zum Träger eines solchen Parasiten geworden. Zum Glück hatten wir Schlimmeres verhindern können, aber er war noch nicht genesen. Obwohl es schon schön wäre, wenn er so langsam mal aus dem Krankenhaus entlassen werden könnte.
»Ihr seid ein Held und wollt uns nicht helfen?!«
»Ich bin kein Heiliger. Außerdem würde mir bestimmt niemand Vorwürfe machen, wenn ich Plünderer sitzen ließe.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Raphtalia einen komischen Blick aufsetzte.
Nun, diese Typen waren hier ganz klar die Bösen, insofern konnte sie wohl nichts sagen.
Filo guckte geistesabwesend in den Himmel.
Ein ganz gewöhnlicher Tag in dieser fremden Welt.
Tapfere Recken und so, das stellte man sich total nett vor, aber es war schon eine beschissene Welt.
»Ihr wollt uns einfach unserem Schicksal überlassen? Aber das ist doch Mord!«
»Na und? Also, wollen wir weiter? Filo, wir fahren.«
»S… So wartet doch!«
Sie hatten angebissen. Ich grinste in mich hinein.
»Was ist denn noch?«
»Wir überlassen Euch das hier.« Alle hielten mir irgendwelche Wertgegenstände hin, die sie gefunden hatten. »Bitte nehmt uns mit an einen sicheren Ort!«
»Erst rückt ihr alles raus, was ihr geklaut habt.«
»Uh … Na schön!«
»Raphtalia, filz sie vorsichtshalber mal.«
»Okay … Ich hab es zwar schon geahnt, aber …«
Raphtalia vergewisserte sich, dass die Plünderer keine Wertsachen vor uns versteckten.
Und was sie nicht alles fand.
»Scheiße … All die Mühe für nichts!«
»Immerhin seid ihr noch am Leben. Und jetzt springt rein – ich bring euch in Sicherheit.«
Und so ließen wir die Plünderer einsteigen und fuhren sie in die nächstgelegene sichere Stadt.
»Hey.« Ich warf in der rumpelnden und schwankenden Kutsche einen Blick hinter mich. »Seid ihr noch einem der vier Helden über den Weg gelaufen?«
»Keine Ahnung.«
Nun, die Antwort waren wir schon gewohnt. Manche, die wir fragten, wollten sie gesehen haben, aber das waren normalerweise bloß Gerüchte oder Verwechslungen.
»Ah, ich vielleicht«, murmelte einer der Plünderer. »So ein schwarz gekleideter Typ, der nach Schwertheld aussah, hat die Geisterschildkröte angegriffen.«
»Ehrlich?«
»Ich kann’s nicht beschwören: In dem Moment hatte ich selbst genug mit Weglaufen zu tun …«
»Egal, erzähl.«
»Der Kerl, den ich gesehen hab … der ist allein auf die Schildkröte zu und hat sein Schwert geschwungen. Ich hab mitgekriegt, wie er gebrüllt und mit seinem Schwert herumgefuchtelt hat. Danach hab ich einfach nur zugesehen, dass ich da wegkam, daher kann ich nicht mehr dazu sagen.«
»Wo war das ungefähr?«, fragte ich und breite eine Karte vor ihm aus.
»Da war ich gerade in dieser Stadt da.«
Das war nicht weit von dem Ort, an dem Ren angeblich verschwunden war. Auch ich war schon einmal dort gewesen. Von dort war Rens letztes Lebenszeichen gekommen … Insofern war dies schon ein glaubwürdiger Bericht.
Alle Helden waren in unterschiedlichen Städten verloren gegangen, insofern war es nicht verwunderlich, dass es verschiedene Augenzeugenberichte gab. Und darum war es auch so schwer, Gerüchte und Tatsachen auseinanderzuhalten. Diese Aussage erschien mir aber glaubhafter als die bisherigen.
»Hatte er keine Gefährten dabei?«
»Ich erinnere mich nur noch, wie die Geisterschildkröte auf mich zukam, aber … Ich weiß es nicht. Wir waren alle zu sehr mit Weglaufen beschäftigt.«
Ich hatte noch andere ähnliche Aussagen gehört.
Erst soll sich der Betreffende als Held des Schwertes zu erkennen gegeben haben … und dann hatte er die Geisterschildkröte angegriffen.
Ich war nicht dabei gewesen und konnte es nicht mit Sicherheit sagen.
Alle waren auf eine Flucht vorbereitet gewesen, aber wenn dann ein Held loszog, um sich dem Unheil zu stellen, dann setzte man doch ein wenig Hoffnung in ihn. Die Schildkröte war jedoch weiter vorgerückt, als wäre nichts gewesen, und hatte die Stadt verwüstet. Alle Zeugen hatten sich mitten in dem Chaos befunden.
»Macht einem sinnlos Hoffnungen, der miese Hochstapler!«
Ach, nein … Von der Beschreibung her war es durchaus möglich, dass es sich tatsächlich um Ren gehandelt hatte. Ich hielt es sogar für wahrscheinlich: die schwarzen Anziehsachen, allein unterwegs …
Aber was war aus seinem Gefolge geworden?
Ren hatte eigentlich ein paar Gefährten gehabt – wenngleich er zu ihnen ein eher distanziertes Verhältnis gepflegt hatte, als wären sie irgendwelche schwächeren Spieler.
Er war wohl grundsätzlich gern allein. Wenn er gegen mächtige Gegner kämpfte, hatte ich gehört, nahm er allerdings schon seine Gefährten mit.
Eine positive Auslegung wäre, dass er die Entwicklung seiner schwächeren Begleiter fördern wollte. Negativ gesehen … schob er seine Untergebenen vielleicht nur wie Schachfiguren herum, um seine Ziele zu erreichen.
»Aha?«
Ich konnte mir vieles vorstellen, aber es fehlte der Beweis.
Wenn das so weiterging, würden die Helden noch sterben, und ich müsste mich allein den Wellen entgegenstellen.
Es war durchaus ratsam, dass alle vier Helden am Leben blieben. Fehlte nämlich auch nur einer, und es käme eine Welle des Untergangs, dann würde sie angeblich ungleich bedrohlicher ausfallen. Ferner bestand die Einschränkung, dass keine neuen Helden beschworen werden konnten, ehe nicht alle vier tot waren.
Ein Held der alten Tage hatte wohl Fitoria beauftragt, sich um die Neubeschwörung zu kümmern. Es konnte also sein, dass der legendäre Filolial käme, um mich der Welt zuliebe umzubringen. Darum war ich gerade auf der Suche nach den Jungs. Angeblich waren sie noch am Leben. Also musste ich sie so schnell wie möglich retten, wenn es mich auch außerordentlich schmerzte.
Hoffentlich würde diese Niederlage sie stärker machen … Mit diesem frommen Gedanken setzte ich meine Reise fort, um die anderen Helden zu finden. Doch abgesehen von Augenzeugen, die gesehen haben wollten, wie er es mit der Geisterschildkröte aufgenommen hatte, waren wir bisher auf nichts gestoßen. Auch im Inneren der erlegten Schildkröte hatten wir sie nicht finden können.
Wo … waren sie bloß?
Wir erreichten die Stadt. Sie war von der Geisterschildkröte verschont geblieben. Es kam mir schon ein wenig wie ein sinnloser Umweg vor.
Die Plünderer stiegen mit mürrischen Mienen aus.
Ständig musste ich mich um solche Typen kümmern, darum ging die Suchaktion nicht voran.
Angeblich waren neben den vier heiligen Helden … auch die Helden der sieben Sterne zu dem Reich aufgebrochen, in dem die Geisterschildkröte gebannt gewesen war. Eigentlich hoffte ich darauf, ihnen bald zu begegnen, doch das schien sich nun weiter hinauszuzögern.
»Ah!« Raphtalia zeigte auf ein Schild vor einer Ladenfront. »In dieser Gegend scheinen sie andere Schriftzeichen zu verwenden als in Melromarc!«
»Sieht so aus.«
Mein Schild erlaubte es mir zwar zu verstehen, was in einer fremden Sprache gesprochen wurde, aber bei Geschriebenem half er mir nicht.
Schon unpraktisch, dass es in dieser fremden Welt unterschiedliche Sprachen gab. Hätten sie das nicht vereinheitlichen können? Andererseits war es in meiner Welt ja auch nicht anders. Ich war schon heilfroh, dass der Schild wenigstens für mich dolmetschte.
»Dann lassen wir mal die Kutsche bei der nächsten Abenteurergilde und kehren für heute aufs Schloss zurück, was?«
»Gern.«
Gegenwärtig verfügten wir über verschiedene Fortbewegungsmittel. Eines davon war mein Teleportationsskill. Diese Fähigkeit hatten nur die Helden. Sie erlaubte es uns, zu vorher eingespeicherten Orten zu springen.
Man konnte diesen Skill zwar nicht immer und überall einsetzen, aber grundsätzlich erlaubte er es einem, alle Orte anzusteuern, an denen man schon einmal gewesen war. Allerdings konnte man nur eine begrenzte Anzahl an Orten speichern, und große Sachen wie unsere Kutsche konnte man auch nicht mitnehmen.
Wir gingen zur Abenteurergilde, zeigten das Schreiben vor, das das Siegel der Königin Melromarcs trug, und gaben unsere Kutsche in Verwahrung.
»Portal Shield.«
Und so sprang ich mit Raphtalia und Filo zum Schloss Melromarc.
Die unbekannten Straßen verwandelten sich augenblicklich in den vertrauten Schlosshof.
»Wir sind wieder daaa!«
Filo stürmte unter Jubelrufen in den Palast. Sie wollte sicher zu ihrer Freundin Melty. Immer wenn ein wenig Zeit war, spielten die beiden miteinander.
»Willkommen zurück, Herr Naofumi«, begrüßte mich Rishia, die gerade mit Eclair vom Trainingsplatz kam
»Und?«, fragte Eclair. »Seid Ihr vorangekommen?«
Rishias Nachname, meinte ich mich zu erinnern, war Ivyred.
Ursprünglich war sie Itsukis Gefährtin gewesen, war aber wie ich falsch beschuldigt und aus ihrer Gruppe verstoßen worden.
Sie stammte aus einer verarmten Adelsfamilie und war in der Vergangenheit von Itsuki gerettet worden.
Obwohl die Verleumdungen einem furchtbaren Verrat gleichkamen, grollte sie Itsuki nicht einmal ein winziges bisschen. War sie eine Heilige? Die entsprechende Einstellung besaß sie auf jeden Fall.
Allerdings stieß sie ständig irgendwelche schrillen Laute aus und trug ein Kostüm, damit niemand sah, wenn sie traurig war … Sie war also ein ziemlich erbärmliches Geschöpf.
»Oje … Hab ich irgendwas falsch gemacht?«
Tatsächlich trug sie auch jetzt jenes Kostüm, das Filos Königinnenform nachempfunden war.
»Ach was …«
Die alte Schachtel, die uns im Stil der Unvergleichlichen Veränderung unterwies, hielt Rishia für ziemlich talentiert und trainierte sie daher. Manchmal, aber wirklich nur gelegentlich, zeigte sie einen beeindruckenden Move, doch es fehlte leider die Beständigkeit.
Meiner Einschätzung nach war sie lieber drinnen als draußen. Sie war der Typ Mensch, bei dem man eher eine magische Begabung vermutet hätte.
In dieser Welt hatten alle Personen Statuswerte, und Rishias waren samt und sonders entsetzlich niedrig. Es verschlug einem geradezu die Sprache, so niedrig waren sie.
Ich freute mich auf den Moment, da sich ihr Talent entfaltete … Das musste es, denn sonst konnte ich sie nicht in den Kampf schicken.
Mit ihrem hübschen Gesicht fand sie selbst bei Motoyasu Anerkennung, der viel Wert auf das Äußere legte.
Sie wirkte jünger, als sie war, und ihr Haar trug sie zu einem Zopf geflochten. Auch ich hielt sie für eine Schönheit, ebenso wie Raphtalia oder Filo.
»Herr Iwatani«, sagte Eclair. »Eurer Miene entnehme ich, dass Ihr keine guten Nachrichten bringt.«
Diese Frau möchte ich als Nächstes vorstellen. Ihr voller Name war Eclair Seaetto.
Sie war die Tochter des Fürsten, der Raphtalias Heimatregion regiert hatte, und damit betraut worden, Raphtalia und Rishia die Fechtkunst zu lehren.
Vom Charakter her ließ sie sich am ehesten als stockernst beschreiben.
Sie hatte langes, rotblondes Haar.
Mit ihrem Blick konnte sie andere durchbohren … Daran merkte man sofort, wie ernsthaft sie war.
Sie war eine Ritterin. Und hier in Melromarc, wo nur Taugenichtse herumliefen, entsprach sie wohl als Einzige der Vorstellung, die ich von Rittern hatte. Nun, zumindest war sie gewissenhaft und legte Wert auf Etikette.
Sie ließ bei anderen keine mildernden Umstände gelten, was gleichermaßen ihre Stärke und Schwäche war.
Sie hatte ebenfalls ein außerordentlich wohlgeformtes Gesicht. Ich fand, dass sie Raphtalia in nichts nachstand. Auch sie hatte eine feine, blasse Haut … Genau bedacht hatte ich nur Schönheiten um mich herum versammelt.
Sie war außerdem eine hervorragende Kämpferin … Es war komplett gelogen, dass Gott jedem nur ein Talent schenkte.
Na ja, ich würde Raphtalia auch nicht schlechter behandeln, wenn sie hässlich wäre.
»Herr Naofumi? Du denkst doch nicht schon wieder etwas Gemeines?«
»Wieso, was denn?«
Raphtalia hatte ein überaus scharfes Gespür.
Wenn ich irgendetwas Fragwürdiges dachte, merkte sie das sofort.
»Herr Iwatani, ich hatte Euch gefragt, ob es irgendwelche Entwicklungen gibt …«
»Nein, wir haben auch heute nichts Nennenswertes erfahren.«
»Verstehe …«
Eclairs Miene verfinsterte sich.
Es war ein großes Unglück geschehen, und die Helden, deren Aufgabe es war, die Welt zu retten, waren wie vom Erdboden verschluckt. Das bereitete ihr sicher Sorgen. Mir ging es ja nicht anders.
»Wie lange ist es her, dass wir die Geisterschildkröte besiegt haben?«
»Schon eine Woche … Wo treiben die sich nur rum, diese Helden?«
Aber wirklich!