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In einem sächsischen Kinderheim brennt der Streichelzoo ab. Kriminaloberkommissar Holger Hinrich, zur Aufklärung vor Ort, muss miterleben, dass drei der Heimkinder ausgerechnet seinen Audi klauen und damit in Richtung Dresden aufbrechen, um ein viertes Kind zu befreien. Hinrich folgt mit Assistent Engler den Kindern. In der Landeshauptstadt beginnt, unter der Leitung einer Kommissarin an der Spitze der »SOKO Heim«, ein brisantes Versteckspiel, bei dem Hinrichs Team in einem vermeintlichen Drogenkrieg zwischen die Fronten gerät. Der Verdacht der Korruption innerhalb der LKA-Antikorruptionseinheit INES und des Sächsischen Staatsministeriums erhärtet sich. Dass ausgerechnet ein Siebenundachtzigjähriger ehemaliger Stasi-Kundschafter dem Leipziger Ermittler unter die Arme greift, wird fast zur Nebensache. Der fünfte Fall mit Hinrich & Co.
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Titelseite
Impressum
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TINO HEMMANN
Sachsen-Krimi
Engelsdorfer VerlagLeipzig2011
Dieser Krimi ist frei erfunden.
Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder mit solchen, die bereits ins Gras gebissen haben, wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright (2011) Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte beim Autor.
Titelfoto © Sven Grundmann - Fotolia.com
www.tino-hemmann.de
eISBN: 978-3-86268-551-6
»Warum macht hier keine Sau mal das Fenster auf?«
Ein kindlich anmutender junger Mann mit durchsichtigem Flaumbart über der Oberlippe schaute gelangweilt auf. »Ist wegen die Spuren zu«, erklärte er.
»Der Spuren«, verbesserte der Leipziger Kriminaloberkommissar. »Ach, fliegen die sonst zum Fenster raus? Hält ja keiner aus ...« Hinrich hielt sich ein akkurat gebügeltes Stofftaschentuch unter die Nase. »Und?«
»Ich dachte immer, es heißt ›die Spur‹ und ›die Spuren‹.« Erneut schaute der junge Mann zu dem sechzigjährigen Kriminaloberkommissar. Während er redete, stocherte er mit einer Pinzette in einem zur Hälfte mit einer verschimmelten Substanz gefüllten Teller herum. »Nur die tote Leiche und vergammelte Suppe. Mehr ist nicht da.«
»Danke für die allumfassende Antwort. – Wo gehörst du überhaupt hin?«
»Wat, icke?«
»Denkst du, ich frage den Toten? Oder ist hier noch wer, der gemeint sein könnte?« Hinrich schien keinen ausgesprochen guten Tag erwischt zu haben.
»Vorübergehend als Praktikant versetzt, bin der K3 unterstellt, dem Herrn Schiller. Soll den Tatort nach LF385 sichern.«
Volker Schiller, K3, war Leiter der Spurensicherung der Kripo Leipzig und Hinrichs Freund und Berater.
»LF was?« Hinrich nahm sich ein Paar Gummihandschuhe aus dem Koffer des jungen Mannes. »Und ... hast du auch einen Namen?«
»Leitfaden 385 – Tatortarbeit – Spuren. Obwohl wir in der Schule gelernt haben, dass der Leitfaden nicht mehr aktuell ist.«
»Und? Ist er das nicht mehr?«
Der Namenlose zuckte mit den Schultern. »Wir mussten jedenfalls die ATOS auswendig lernen. – Mein Name ist übrigens Radu-Liviu Nostrovic.«
Hinrich drehte den Kopf der Leiche angewidert zur Seite. »ATOS?«, fragte er. Und: »Radu-Liviu Nostrovic? – Ein internationaler Praktikantenaustausch etwa?«
»Quatsch! Ich bin aus Magdeburg. In Berlin geboren. – Anleitung Tatortarbeit – Spuren. Das ist ATOS.«
»So, so.« Hinrich stellte sich wieder aufrecht hin. »War schon verwundert. Wegen des Dialektes. Klingt nicht, ähm ... ausländisch. – Von ATOS habe ich noch nie was gehört. Wo kommt denn dein Name her?«
»Soll ich jetze hier arbeiten oder was?« Nostrovic schaute Hinrich abwartend an.
»Wenn du ein Mann werden willst, dann musst du genau heute damit beginnen, zwei Dinge gleichzeitig tun zu können. Du musst mir natürlich nicht antworten. – Ich bin im Übrigen KOK Holger Hinrich, Rangältester bei der Kripo Leipzig. Und K1-Chef.«
»Ich dachte mir schon, dass Sie das sind, Herr Kriminaloberkommissar. – Okay, ich sag’s Ihnen. Mein Vater wurde im Balkankrieg gejagt. Ein paar Amis haben ihn gerettet, Deutschland hat ihn aufgenommen, er hat meine preußische Mutter geheiratet, hat sie natürlich auch gebumst und mir den Namen vererbt. Zufrieden?«
»Das war doch mal eine klare Ansage.« Hinrich öffnete nun doch das Fenster. »Mich wundert nur, dass Volker dich so ganz allein hier wirtschaften lässt. Immerhin geht es um einen Mord.«
»Er musste noch was besorgen. Kommt aber bestimmt gleich zurück.«
»So, so. Was besorgen. – Sag mal, wie alt bist du denn?«
»Achtzehn.«
»Oh«, Hinrich staunte, »ich hätte dich auf dreizehn geschätzt. Deshalb das Du.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass Herr Schiller keinen dreizehnjährigen Praktikanten genommen hätte, selbst ich bin ihm noch viel zu unerfahren. Aber – wenn es Sie tröstet, Herr Kriminaloberkommissar – viele bilden sich ein, dass ich jünger wäre. Und das mit dem Du, das ist mir gleich. In Magdeburg duzen mich alle, nur der ganz große Chef nicht. Und bei dem wäre es mir lieber, wenn er’s täte.«
In eben diesem Moment drückte Volker Schiller elegant mit einem Daumen das Absperrband an der offenen Tür hoch, kroch darunter hindurch und hielt Hinrich lächelnd die linke Hand hin. In seiner Rechten trug er ein angebissenes Wurstbrötchen. »Moin, Holger. Links kommt vom Herzen.«
»Wenn man vom Teufel spricht.«
»Nenn mich Gott, nicht Teufel. Na, macht Karl alles richtig?«, fragte Schiller und betrachtete den Tatort, während er genießerisch das Brötchen aß.
Hinrich schaute den Kollegen erstaunt an. »Karl? Er sagte, sein Name wäre ... wäre ... Sag mal, wie hast ihn genannt?«
Schiller grinste und redete mit vollem Mund. »Siehst du, Holger, genau deshalb nennen wir ihn Karl. Weil sich keiner seinen Namen merken kann.«
»Ist das nicht irgendwie ...«
Radu-Liviu Nostrovic alias Karl schaute auf. »Kein Problem, hab mich längst dran gewöhnt.«
Schiller holte ein kleines Päckchen aus der Schürzentasche und reichte es dem Praktikanten. Der packte ein weiteres belegtes Brötchen aus und fing an, es zu verzehren.
KOK Hinrich schüttelte den Kopf. »Sagt mal, ist das nicht ekelhaft? Da liegt ein Toter, da steht ein Teller mit Essen, das auf Wanderschaft ist – und ihr frühstückt hier?«
Schiller klopfte Hinrich lässig auf die Schulter. »K3, mein lieber Holger. Du musst allen Ekel der Welt überwinden können, sonst schaffst du das nicht.« Er wischte sich nach seinem zweiten Frühstück die Hände am Kittel ab. »Und, Karl, was haben wir gefunden?« An Hinrich gewandt erklärte Schiller: »Ich hatte ja keine Ahnung, was für ein perfekter Pädagoge in mir steckt.«
Der Praktikant zog die Handschuhe aus und verstaute sie in seinem Koffer. »Also, Herr Schiller, für mich ist das völlig klar. Die Tatzeit würde ich auf so ziemlich genau vor siebzehn Tagen und fünf Stunden festlegen. Den Spuren nach hat jemand gegen die Tür geklopft, denn die Klingel ist kaputt, als die jetzt tote Leiche gerade ein Abendbrot – bestehend aus einer Fadennudelsuppe und einer Schwarzbrotschnitte – zu sich nahm. Der alte Mann ist hin zur Tür und hat, während die Kette noch davor war, an der Tür mit seinem Mörder gesprochen. Dann hat er ihn reingelassen. Er kannte ihn wahrscheinlich, der war ihm irgendwie vertraut. Der Mörder hat genau hier neben dem Alten gesessen und mit ihm geschwatzt. Zwischendurch ist er aufgestanden und hat das Fenster geschlossen, das bis dahin offen gestanden hat. Irgendwann müssen sie sich gestritten haben. Hier liegt eine Zeitung auf dem Tisch, vielleicht ging es um die Zeitung, denn der Alte wollte seine Wohnung tauschen, das Inserat steht ja drin. Im Streit hat der Mörder den armen alten Mann mit dem Gesicht in die Fadennudelsuppe getaucht, es sind Nudeln an der Stirn der toten Leiche. Weil zu wenig von der Suppe im Teller war, ist das Opfer darin nicht ertrunken. Sodann hat der Mörder den Kragen des Pullovers des Opfers hinten zusammengezogen, bis das Opfer keine Luft mehr bekam und jämmerlich erstickte.« Radu-Liviu Nostrovic zuckte mit keiner Wimper. »So ein dummes Schwein, der Mörder! – Er hat das Opfer auf dem Stuhl zurechtgerückt, damit es so aussieht, als wäre der Alte an seinem Essen erstickt. Dann hat er die Brieftasche gesucht und neben der Spüle gefunden. Aus der Brieftasche wurde mindestens ein Euro geklaut, denn alte Leute haben immer einen Euro für den Einkaufswagen dabei.« Der Praktikant ließ den letzten Bissen seines Brötchens im Mund verschwinden. Er ging zu dem alten Gasherd, hielt einen Löffel hoch und sprach kauend weiter: »Aber der Mörder hat einen schwerwiegenden Fehler gemacht! Er hat von der Fadennudelsuppe des Opfers gekostet und seine DNA an diesem Löffel hinterlassen. Und deshalb werden wir den Mörder dieses armen alten Mannes mit Sicherheit finden. Durch einen Massengentest per Speichelprobe.«
Mit leicht geöffnetem Mund betrachtete Hinrich seinen Spurensicherungskollegen Schiller.
Der nickte zufrieden. »Na prima, Karl. Dann sind wir ja fertig hier. – Du trägst den Koffer zum Auto. Das ist gut für die Muskeln.«
Nostrovic klappte den Koffer zu und trug ihn wortlos hinaus. Schiller wollte ihm gerade folgen, doch Hinrich, der fassungslos im Zimmer stand und den Tatort betrachtete, hielt seinen Kollegen zurück. »Sag mal, Volker ... Du glaubst ihm doch nicht etwa? Einem Achtzehnjährigen, der wie dreizehn ausschaut und eine solche Geschichte erzählt?«
»Selbstverständlich glaube ich meinem Praktikanten. Er arbeitet außerordentlich sachbezogen, hat den notwendigen Überblick und kann gut schlussfolgern. Ich beneide die Magdeburger Behörde. Was für ein Nachwuchs!«
Erneut schaute Hinrich zur Leiche, dann zum Löffel auf dem Herd.
»Müsst ihr den Löffel nicht wenigstens mitnehmen?«
In diesem Moment konnte Schiller ein Lachen unmöglich weiterhin unterdrücken. Er triumphierte immer heftiger. Auch der Praktikant tauchte wieder in der Tür auf und verzog ebenso spöttisch die Mundwinkel. Schiller krümmte sich mittlerweile und schüttelte sich, während er Hinrichs versteinertes Gesicht beobachtete.
»April, April! Nein, ist das köstlich! Ach, Holger ... Heute früh habe ich zu Karl gesagt: Du Karl, heut ist der erste April. Da verarschen wir unseren Chef mal so richtig. Da kam uns dieser Tote gerade recht. Wir haben alle Spuren aufgenommen. Ich habe dich angerufen und bin Brötchen holen gegangen. Und siehe da, der Herr Kriminaloberkommissar steckt voller Vorurteile.« Schiller prustete. »Tote Leiche ... Mein Gott, Holger ...«
Hinrich war es keinesfalls nach Lachen zumute. »Und? Was ist nun wirklich? Das ist doch ein Toter, oder?«
»Doch, leider.« Schiller sammelte sich allmählich wieder. »Der arme Kerl ist fast neunzig. Er hat was gegessen und ist daran erstickt. Nudelsuppe mit Hühnerklein, wahrscheinlich ein Knochen. Die Pathologie wird mir recht geben. – Was ist, Holger, gehen wir?«
»Das verzeih ich dir nie«, schimpfte Hinrich im Treppenhaus. »Mich vor diesem Spund bloßzustellen.« Hinrichs Handy klingelte. Er nahm das Gespräch an und blieb auf dem Treppenabsatz stehen. »Was?«, fragte er – noch immer wütend. »Kinderheim Machern? Ja, natürlich komme ich!«
Schiller und Nostrovic blickten Hinrich fragend an.
»Hoffentlich ist das auch ein Aprilscherz. Es brennt im Kinderheim Machern.« Er ließ die Nummer seines Assistenten Toni Engler wählen. »Toni? Wenn du fertig bist, kommst du in deine neue Wahlheimat Machern. Ein Brand im Kinderheim. Wir treffen uns dort.« Hinrich steckte das Handy weg. »Das verzeih ich dir nie«, sprach er erneut und verließ das Treppenhaus.
*
Gemächlich rollte der Passat vor das offen stehende Eingangstor. Für wenige Momente schaltete der Fahrer das Blaulicht ein, das die waldreiche Umgebung gespenstig aufleuchten ließ. Dann ging die Fahrertür auf. Ein Polizist stieg aus, blickte für einen Moment hinauf zum Fenster, rückte die Kopfbedeckung zurecht und öffnete anschließend die hintere Tür. Er beugte sich in das Fahrzeug und zog einen Jungen heraus. Mit einer Hand hielt der Polizist das Kind am Handgelenk fest, während er die Türen zuwarf. Schließlich führte er den Gefangenen zum Haus.
Conrad Kaufmann, zweiundvierzig, mit breitem Mittelscheitel und grauem Haaransatz bedacht, stand am Fenster und kratzte sich das Kinn. Im Grunde genommen ging für den Heimleiter gerade ein ruhiger Tag zu Ende. Nur viermal waren Polizeifahrzeuge vorgefahren und hatten Ausreißer oder Neuankömmlinge gebracht. Der Chef des Kinderheims verließ das Büro im Erdgeschoss, ging zur Haustür und öffnete diese, bevor es klingeln würde.
Draußen stand bereits der Polizist, der den Jungen abliefern sollte. Beide wirkten müde und geschafft.
»Tach, Olli. Was ist, mal wieder hier?«, fragte Kaufmann, während er den Jungen und den Polizisten hereinließ. »Setz dich und rühr dich bloß nicht weg.«
»’tschuldigung, Brummer.« Die Stimme des Kindes war fast nicht zu hören. Oliver lümmelte sich auf einen Holzstuhl, der im Gang stand. Er kannte diesen Stuhl sehr gut. Es war bald Mitternacht und meisten Kinder würden schon schlafen.
Der Polizeibeamte holte eine säuberlich zusammengefaltete Akte aus der Jackentasche und hielt Kaufmann die Papiere hin. »Ein noch nicht bewiesener Fahrzeugeinbruch in Dresden, ein Diebstahl auf dem Hauptbahnhof und Widerstand gegen die Beamten«, flüsterte er.
»Also wie immer«, meinte Kaufmann. »Wo muss ich unterschreiben?«
Der Polizist zeigte auf das letzte Blatt. »Hier.« Er hielt Kaufmann einen Kugelschreiber hin.
Der quittierte den Empfang des Kindes, nahm eine Kopie der Akte an sich und verabschiedete den Beamten.
»Komm«, sagte Kaufmann, nachdem er die Haustür wieder geschlossen hatte.
Der Junge quälte sich aus dem Stuhl und folgte dem Heimleiter wortlos in dessen Büro. Dort nahm er vor Kaufmanns Schreibtisch Platz, den Kopf mit den Händen gestützt. Der Heimleiter blieb hinter dem Schreibtisch stehen, seine Mimik wirkte sehr ernst.
»Hast du was gegessen?«
Oliver schüttelte den Kopf.
Den Jungen betrachtend, griff Kaufmann nach dem Telefonhörer und wählte eine interne Taste. »Susi, bring bitte was zu essen in mein Büro.« Er ließ den Hörer geräuschvoll auf die Gabel zurückfallen. »Warum trittst du mir ständig in den Arsch?« Er betrachtete den Elfjährigen, dessen Gesicht schmutzig und dessen dunkles Haar fettig war. Seine braunen Augen lagen in dunklen Höhlen. Das Kind roch äußerst unangenehm. Eine Antwort erwartete Kaufmann nicht. Trotzdem bekräftigte er die Frage: »Warum?«
Oliver Dreh entstammte einer Familie, die jenseits sozialer Grenzen existiert hatte. Die alkoholabhängige Mutter hatte in fast jedem Jahr ein Kind bekommen, die Väter waren meist unerkannt geblieben. Das Sozialamt hatte die minderjährigen Kinder per Verfügung aus der Verwahrlosung geholt, einem Baby war im Krankenhaus das Leben gerettet worden.
Kaufmann konnte trotzdem nicht begreifen, was in Ollis halbwegs intelligentem Kopf vor sich ging. Mitunter lernte der Junge mehrere Wochen lang vorbildlich in der Schule, beteiligte sich an allen Aktionen im Heim, zählte zu den ruhigen »geknackten« Kindern, zu denen, auf die er sich verlassen konnte. Und dann plötzlich verschwand Oliver und wurde Tage später von der Polizei zugeführt, meist einige Delikte im Gepäck, nicht ahnend, wie schwer diese eines Tages werden könnten.
Es klopfte an der Tür und eine ältere Frau in Kittelschürze trat ein. Sie betrachtete den Jungen voller Mitleid. »Tach, Olli. Mensch, was machst du denn nur für Sachen mit uns?«
»Hallo Susi.« Der Junge hatte zum ersten Mal den Mund freiwillig geöffnet und prüfte gierig die belegten Brote auf dem Teller, den die Wirtschaftsleiterin zusammen mit einem Becher Tee auf dem Schreibtisch abgestellt hatte. Dann griff er nach dem Plastikbecher und schlürfte das heiße Getränk.
Einen Moment lang lächelte Susi, dann verließ sie geräuschlos das Büro.
Schweigend sah Kaufmann zu, wie die schmutzigen Kinderfinger eine Schnitte nach der anderen ergriffen. Dann überflog er erneut das Protokoll.
»Du hast ein Auto aufgebrochen? – Warum?«
Oliver zuckte mit den Schultern.
»Einfach so?«
Der Junge leckte Leberwurst von seinem schwarzen Daumen. »Ich hatte Hunger.«
»War da was zu essen drin, in diesem Auto?«
Oliver trank den Tee aus. »Nee. Jetzt hatte ich Hunger. – Eine Tasche.«
»Von wem?«
»Von Kumpels.«
»So, so. Von Kumpels. – Du brichst in ein Auto ein, verursachst dem armen Menschen, dem das Auto gehört, einen fürchterlichen Ärger und klaust für irgendwelche Idioten eine Tasche«, fasste Kaufmann zusammen. »Und dann haben sie dir einen Teil der Beute gegeben?«
»Nee. Davon habe ich nichts abbekommen. – Der Typ war außerdem nicht arm.«
»Wer war nicht arm?«
»Der Typ, dem das verkackte Auto gehört hat. Das war ein Riesenschlitten.«
»Das interessiert mich nicht! Verstanden?« Kaufmann überflog weiter die Polizeiakte. »Und auf dem Bahnhof, was ist da passiert?«
Oliver hypnotisierte das Telefon. Schließlich flüsterte er: »Ich hab was gekauft und nicht bezahlt.«
»Wenn du nicht bezahlt hast, hast du auch nichts gekauft. Was genau hast du geklaut?«
»Eine Bratwurst. Ich hatte Hunger.«
»Und dann?«
»Die Bullen haben sie mir aus der Hand geschlagen.«
»Und dann?«
»Dann wollten Sie mich fangen.«
Kaufmann erhob sich. »Und dann? Was ist? Du hast mit ihnen Haschen gespielt? – Muss ich dir jedes Wort aus der Nase ziehen?«
»Ich habe mich bloß ein bisschen gewehrt.«
Der Heimleiter hockte sich vor den Jungen, der Tränen aus den Augen quetschte. »Du hast dich massiv dem Zugriff widersetzt. Das steht im Protokoll, mein Freund! Und dann steht da noch was von Beamtenbeleidigung. In drei Jahren würdest du für so was in den Knast wandern!«
»Die schreiben nie die Wahrheit. Müssen die mir in die Fresse schlagen? Wegen einer Bratwurst? Ich hatte doch nur Hunger!«, verteidigte sich das Kind.
»Wenn du hiergeblieben wärst, dann hättest du erst gar keinen Hunger bekommen! Und du hättest mir und dir unheimlich viel Stress und Scheiße erspart. – Warum hast du dich unerlaubt entfernt? Was – bitte schön – gefällt dir bei uns nicht?«
Oliver blickte Kaufmann mit Rehaugen an, die bei jedem anderen Mitleid erzeugen konnten. Seine Hände zitterten, die Tränen hinterließen helle Spuren auf den Wangen.
»Mensch, Olli, rede! Warum bist du wieder weggelaufen?«, fragte der Dreiundvierzigjährige erneut und ergriff die Hände des Jungen. »Ist in der Schule was passiert, wovon ich nichts weiß?«
»Nein, nicht in der Schule.«
»Wo dann?«
Zögernd flüsterte Oliver: »Im Bus.«
»Was war im Schulbus?« Kaufmann verstärkte den Druck auf die Hände.
Der Junge schluckte. »Einer hat gesagt, meine Mutter wäre eine asoziale Hure«, flüsterte er schließlich.
»Einer? Was für einer?«
»So ein aufgeblasener Nazi aus der Achten. Und dann hat er mich in den Schwitzkasten genommen.«
»Und?«
»Die anderen Idioten haben in meine Schulsachen gerotzt und meine Bücher zerrissen.«
Kaufmann richtete sich auf und ging zum Fenster. »Sie haben ...?« Da sollte einer behaupten, seine Heimkinder hätten es leicht im Leben. »In Ordnung«, sagte er und ging zu einem Spind, den er öffnete und dem er zwei Flaschen entnahm. Die reichte er dem Jungen, der gerade aufatmete, weil das Verhör beendet schien. »Seife und Haarwäsche. Du gehst jetzt duschen und schrubbst dich richtig. Morgen gehen wir zum Arzt, Elka wird das übernehmen.«
»Müssen wir wirklich?« Der Junge gähnte ausgiebig. »Ich hab keinen Bock auf Arzt.«
»Nicht wir müssen. Du musst. Das ist Pflicht nach einem unerlaubten Entfernen, und das weißt du. Du hättest zu mir kommen können. Es gibt immer Möglichkeiten. Die Polizei hätte sich um die Typen gekümmert. Aber scheinbar vertraust du mir nicht. Und deshalb bin ich sehr enttäuscht, Olli.«
»Was könnten die Bullen denn tun? Die Nazi-Typen würden behaupten, alles wäre nicht wahr. Und die Bullen würden mir nicht glauben. So ist es doch immer. Weil ich nur ein Heimkind bin.«
»Nun mach mal halblang, Olli. Mitleid musst du von mir nicht erwarten. – Wie ist der Name von dem Typen aus der Achten?«
»Weiß nicht. Aber der Bulle, der mich in Dresden auf den Beton geworfen hat, hat was gesagt, als ich unter ihm lag.«
»Und was hat er gesagt?«, fragte Baumann.
»Er hat extra leise gesprochen, damit es niemand außer mir hört.«
»Du hast es aber gehört? Was hat er gesagt?«
»Er sagte, solche wie ich gehörten vergast. – Aber mir würde eh keiner glauben. Außerdem ... Vielleicht hat er ja recht.«
»Wie hieß der Typ aus der Achten?«
Oliver zuckte mit den Schultern.
»Ich sag ja, du vertraust mir nicht.« Nervös zucke Baumann mit dem Kopf. »Komm mit. Und sei leise in deinem Zimmer, du hast jetzt einen Mitbewohner.«
Olli blickte wütend auf. »Wieso denn? Wer ist das?«
»Das wirst du sehen. Und reiß dich bloß zusammen!«
Im Haus herrschte Ruhe. Hier waren nur wenige Kinder untergebracht. Die meisten wohnten in Gruppen außerhalb des Heims, in Wohnungen und richtigen kleinen Familien.
Oben, im zweiten Stockwerk, betraten sie Olivers Zimmer. Als Kaufmann das Licht anmachte, stöhnte ein kleiner Junge in einem der beiden Betten und kroch gänzlich unter seine Decke. Der Heimleiter nahm Olivers Schlafanzug vom Bett, löschte das Licht und schob den Jungen wieder auf den Flur zurück.
»Das ist ein Zwerg. Ich will keinen Zwerg in meinem Zimmer haben!«, protestierte Oliver. »Warum wohnt der nicht in der Villa?«
Die Villa war das zweite Gebäude auf dem Heimgelände. Dort wohnten vor allem die jüngsten Kinder in kleinen Gruppen.
Kaufmann griff unerwartet derb zu und kniff Oliver in den Hals. »Hör mal zu, du kleiner Hosenscheißer: Wer in welchem Zimmer wohnt, entscheide immer noch ich. Und lass dir nicht einfallen, dem Neuen das Leben schwerzumachen, dann mach ich dir deins zur Hölle. Verstanden? – Der hat mächtig was durchgemacht. – Und jetzt geh duschen, in zehn Minuten will ich dich in deinem Bett finden! Sauber und im Tiefschlaf! Ist das klar?«
Zehn Minuten später betrat der Heimleiter erneut das Zimmer der beiden Jungen. Oliver schlief tatsächlich. Immerhin: Die halbwegs sauberen Füße schauten unter der Decke hervor.
*
»He, ich soll dich wecken!«
Oliver öffnete gähnend die Augen. »Was ist?« Er betrachtete den kleinen blonden Jungen, der wahrscheinlich noch nicht einmal zur Schule ging, kaum Zähne im Mund hatte und mit hoher Stimme sprach.
»Herr Kaufmann hat gesagt, ich soll dich wecken. Und wenn du nicht bald aufstehst, dann macht er dir Beine, hat er gesagt.«
»Hör mir genau zu!« Der Elfjährige erhob und streckte sich. »Ich bin aufgestanden, weil ich das wollte. Nicht weil du es gesagt hast«, legte er fest. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er zurück im Heim und nicht mehr in Dresden war. Der Zwerg vor seinem Bett entpuppte sich als der neue Mitbewohner.
Oliver ließ sich zurück in das Bett fallen und verschwand unter der Decke. »So ein Mist, ich könnte noch ewig schlafen. – Wie heißt du?«, tönte es dumpf.
»Elias Miller«, antwortete der Kleine und zog dem größeren Jungen die Decke weg.
»Lass bloß meine Decke in Ruhe! Verstanden?« Oliver starrte den Zwerg wenig begeistert an. Der sah klein und frech aus, ziemlich dünn und drahtig. Und er trug eine glänzende Kette mit kleinen Legosteinen am Hals. »Wie heißt du?«
»Hab ich doch grade gesagt. Elias. Hörst du etwa schlecht?«
»Du hast eine ziemlich große Klappe.« Der Ältere erhob sich, ging zum Schrank und nahm saubere Sachen heraus. »Los, dreh dich um!« Doch der Kleine dachte nicht daran. »Wenn du alles weißt, weißt du dann auch, wie ich heiße?«, fragte Oliver schließlich.
Der neue Mitbewohner schüttelte den Kopf. »Du hast mir das ja noch gar nicht gesagt.«
Oliver zog umständlich den Schlafanzug aus und schlüpfte anschließend rasch in eine Hose, so dass der Neue nicht viel von ihm zu sehen bekam.
»Oliver«, drang es unter dem Pullover, den er nach der Hose anzog, hervor. »Dich werde ich ›Kleines Arschloch‹ nennen. Das kann ich mir besser merken als Elias. Klaro?«
Elias verzog das Gesicht. »Das wirst du ganz bestimmt nicht tun.«
Der Große grinste. »Und warum nicht, Hosenscheißer?«
»Weil ich dir sonst so zwischen die Beine trete, dass du Rührei im Schlüpfer hast!«
Während er den Hosenstall zumachte, blickte Oliver den Zwerg erstaunt an. Er ging zum Schrank und nahm Zahnputzbecher und Zahnbürste heraus. Dann drehte er sich zu dem neuen Zimmerkameraden um und flüsterte grinsend: »Hast du dir schon dein letztes Beißerchen geputzt, kleines Arschloch?«
Eine Sekunde später blickte Oliver mit aufgerissenem Mund und schmerzerfülltem Gesicht den Zahnputzutensilien hinterher, die wie in Zeitlupe auf den Boden fielen. Dann ging er langsam in die Knie und hielt sich die Hände zwischen die Beine, während er nach Luft rang und ein »Du dämlicher Idiot!« aus der Kehle quetschte.
Elias hingegen stand regungslos vor ihm. Auge in Auge standen sie sich gegenüber. »Willst du nicht mal nach dem Rührei gucken?«, fragte der Zwerg. »Wir haben das im Kindergarten gelernt. So sollen wir uns wehren, wenn wir mal angefasst werden. Dabei sollen wir dann auch noch laut um Hilfe schreien. Aber das mache ich jetzt lieber nicht. Du brauchst ja keine Hilfe.« Elias drehte sich um und öffnete die Zimmertür. »Was ist? Wollen wir nicht Zähne putzen gehen?«
Kurz darauf standen sie nebeneinander am Waschbecken. Der Elfjährige war froh, dass die Schmerzen allmählich nachließen. »Hör zu! Das machst du nie wieder!«, fluchte Oliver, nachdem er derb ausgespuckt hatte. »Das Beste ist, du gehst mir einfach aus dem Weg!«
Elias stand auf Zehenspitzen und spuckte ebenso derb ins Waschbecken. »Wenn du nicht gemein zu mir bist, dann tu ich’s auch nicht wieder. Und aus dem Weg kann ich dir nicht gehen, weil wir nämlich zusammen ein Zimmer haben.«
»Das wird sich bald ändern! Darauf kannst du dich verlassen!«
Beide gurgelten gleichzeitig, spuckten aus und trockneten sich die Gesichter ab. Elias schaute den Großen mit fragendem Blick an.
Die Tür zum Waschraum öffnete sich und Elka schaute lächelnd herein. Sie war eine der drei Erzieherinnen, die für die kleine Gruppe im Haupthaus zuständig waren. Elka wirkte eher wie ein junger Mann. Ihre blonden Haare waren kurz geschnitten, die Figur äußerst schlank und durchtrainiert, und es war kaum ein Brustansatz zu sehen. Oliver konnte sie gut leiden, weil er sich bei ihr ausheulen durfte und sie ihn trotzdem nicht wie ein kleines Mädchen behandelte. Außerdem half ihm Elka oft bei den Hausaufgaben.
»Und? Alles klar mit euch zweien?«, fragte die Dreißigjährige. »Mach hin, Großer, du musst noch frühstücken. Um zehn hast du den Termin bei Dr. Fuchs.«
Die Tür fiel laut ins Schloss.
Auf dem Flur zum Speisezimmer begegneten die Jungen Kaufmann. »Und? Alles klar mit euch zweien?«, fragte auch er. »Beeil dich, Großer, du musst noch frühstücken. Um zehn ist der Termin bei Dr. Fuchs.«
»Ja doch, das weiß ich schon«, meinte Oliver. »Elka hat’s mir schon gesagt.«
Der Heimleiter lächelte Elias an. »Und? Versteht ihr euch gut?«
»Klar doch. Super«, sagte der Große und ging rasch weiter. »Nur, dass der Zwerg ein klugscheißerischer Teufel ist.«
»Zeig’s ihm!« Kaufmann fuhr dem Sechsjährigen durch die Haare und grinste. »Setz dich durch.«
Elias machte ein wichtiges Gesicht, folgte dem größeren Jungen zum Speiseraum und nahm an einem der Tische Platz. Oliver setzte sich auf die andere Seite des Tisches. Sofort erhob sich der Neuzugang und wählte den Stuhl neben ihm.
»Du bist eine entsetzliche Klette«, flüsterte Oliver. »Ich bin nicht deine Amme!«
»Was ist eine Amme?«
»Lass mich in Ruhe, ich muss mich beeilen. Du weißt doch.«
»Ja, von wegen dem Doktor. Au backe. Bist du etwa krank? Warum musst du zum Onkel Doktor?«
Oliver betrachtete den Kleinen von der Seite. »Hör zu: Ich bin nicht krank.«
»Und warum musst du dann hin, wenn du nicht krank bist?«
»Weil ich’s muss.«
»Und was ist eine Amme? – Hilfst du mir mit der Butter? Die ist so knochenhart, ich krieg die nicht geschmiert.«
»Ich bin nicht dein Babysitter!«
Elias quälte sich mit der Butter. »Tut mir leid, ich wollte nicht, dass es dir so sehr weh tut. Bist du mir immer noch böse?«
»Es hat nicht wehgetan«, log Oliver, nahm dem Zwerg das Messer aus der Hand, schnitt dünne Scheibchen von der Butter ab und schmierte dem Kleinen die Brötchen. »Und jetzt halt die Klappe und iss!«
Kauend saßen beide nebeneinander.
»Ist eine Amme ein Babysitter?«, fragte Elias mit vollem Mund.
»Ja.«
»Ich brauch aber keinen Babysitter. Ich komm bald in die Schule.«
»Freust du dich etwa darauf?«
»Klar doch.«
Oliver grinste. »Ich hab mich auch drauf gefreut. Bis zum zweiten Schultag.«
»Und dann nicht mehr?«
»Nie wieder. Schule ist ätzend. Und das ist so ziemlich das Einzige, was du dort lernst.«
Während Elias kaute, sprang Oliver auf. »Jetzt musst du einen anderen mit deinen Fragen quälen.«
»Ich schreib sie mir auf«, rief ihm der Kleine hinterher. »Ich kann nämlich schon schreiben!« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Fast alle großen Buchstaben.«
*
Der kleine Seat rollte ein Stück vorwärts, ruckte kurz und blieb dann stehen.
»Das war der dritte Gang«, raunte Oliver, der grinsend, wenngleich mit leichten Magenschmerzen, auf dem Beifahrersitz saß, »und nicht der erste.«
»Kannst du’s besser, Klugscheißer?« Elkas Gesicht war leicht gerötet.
»Ganz bestimmt kann ich das«, antwortete der Junge.
»Untersteh dich, mit meinem Auto Spritztouren zu unternehmen! Du bist erst elf!« Der Kleinwagen startete und fuhr rasant vom Hof.
»Aber bald zwölf. Keine Angst, nicht mit deinem Kotzklotz auf Rädern. Da ist ja jedes Dreirad schneller.«
Elka boxte Oliver gegen die linke Schulter. »Komm bloß von deinem hohen Ross runter, Olli. Sonst rede ich mit dem Arzt, damit er dich einschläfert.«
»Darf der das?«
»Klar doch. Mit Tieren macht man es doch auch so. Aber vorher soll er dich richtig untersuchen. Vielleicht findet er ja doch noch einen vernünftigen Fetzen an dir.«
Der Junge blickte durch das Seitenfenster auf die vorbeihuschenden Häuser. »Hör auf, Elka. Bitte!«
»Was – bitte?«
»Das ist ekelhaft.«
»Ekelhaft? Meinst du die Untersuchung?«
Oliver schwieg.
»Du hättest es nicht dazu kommen lassen müssen. Was ist denn so ekelhaft daran?«
Jetzt rötete sich das Gesicht des Elfjährigen. »Alles.«
»Ach, alles?« Elka nickte. Sie beugte sich weit nach vorn, um das Ampellicht zu sehen. »Dr. Friedrich ist doch ein netter Mensch.« Wieder gab sie beim Starten zu viel Gas.
»Hör schon auf damit«, forderte Oliver. »Der Doc ist vielleicht nett, aber wie er das macht, ist pervers.«
Elka hüstelte. »Wie gesagt. Dass du dich untersuchen lassen musst, hast du dir selbst zuzuschreiben. Warum bist du überhaupt abgehauen?« Sie blickte während der Fahrt immer nur kurz zu ihrem Beifahrer.
Der Junge sah wieder nach vorn und schaltete das Radio ein. »Weiß nicht.«
»Manchmal frag ich mich, was in deiner Hohlrübe los ist. Denkst du etwa, wir anderen haben keine Probleme? Denkst du, irgendetwas wird besser, wenn du immer wieder abhaust? Ich wäre ständig unterwegs, wenn ich jedes Mal abhauen würde, wenn mir was nicht passt.«
Der Wagen hielt abrupt am Straßenrand an. Elka stieg aus, lief um den Wagen herum und öffnete Olivers Tür.
»Manchmal denke ich, du versuchst ununterbrochen, vor dir selbst wegzulaufen, Olli«, sagte sie, während der Junge ausstieg. »Los, komm jetzt!«
*
Zwei Stunden später betrat Oliver wieder sein Zimmer im Kinderheim. Elias lag auf dem Bauch in seinem Bett, daneben saß ein Mädchen, das dem Kleinen den Hinterkopf streichelte.
»Raus hier! Das ist ein Jungenzimmer«, forderte Oliver barsch.
Das Mädchen starrte ihn an. »Sei leise, bitte«, flüsterte es.
Elias schluchzte und blickte kurz auf.
Oliver ging zu seinem Bett, setzte sich hin, lehnte sich an die Wand, an der ein Yami-Yugi-Poster hing – die Abbildung eines Charakters der Yu-Gi-Oh! –, und beobachtete das Mädchen. Es war bestimmt schon zehn Jahre alt, schien viel geweint zu haben und trug Sachen, die nicht aus dem Heimfundus stammten. Ihre hellen, langen Haare hingen in Strähnen vor dem schmalen Gesicht. Sie war ziemlich groß und hager und sah Elias trotzdem verdammt ähnlich.
»Du bist seine Schwester, nicht wahr?«
Sie schaute nicht auf. »Halt doch einfach mal deine dämliche Klappe«, flüsterte sie nur.
»Entschuldigung, Madam. Das hier ist mein Zimmer. Da kann ich ja wohl noch fragen!«, rief der Junge ein wenig zu laut.
Sie erhob sich ruckartig, warf Oliver einen hasserfüllten Blick zu und ging zur Tür. »Du blödes Arschloch!«
Die Tür fiel geräuschvoll ins Schloss. Oliver rührte sich nicht.
Elias blickte kurz auf, dann kroch er mit dem Kopf unter die Decke und weinte so heftig, dass sein Körper ununterbrochen bebte.
Bevor Oliver etwas fragen konnte, öffnete sich die Tür erneut. Jetzt stand Conrad Kaufmann im Zimmer. Auch der schaute ihn böse an. »Kannst du dich wenigstens einmal zusammenreißen?«
Der Elfjährige erhob sich und verließ wutentbrannt den Raum. »Ich hab doch gar nichts gemacht!«, schrie er auf dem Flur. »Und jeder scheißt mich hier zusammen!«
Oliver saß wie ausrangiert auf dem Baumstumpf am Ende des großen Gartens, der zum Grundstück des Heims gehörte. Er zerpflückte ein Blatt zwischen den Fingern und sah immer wieder hinüber zum Haupthaus. Keiner hatte ihn gefragt, was bei der ärztlichen Untersuchung herausgekommen war. Stattdessen machten ihn alle runter.
Die grauen Wolken hingen tief über dem angrenzenden Wald. Das Wetter passte sich Olivers Gemütslage an.
Lore, ein vierzehnjähriges korpulentes Mädchen, näherte sich. »He, was ist los?« Sie schlug Oliver derb gegen die Schulter. Grobheit war ihre Masche.
»Die behandeln mich wie einen Bekloppten«, flüsterte Oliver. »Alle.«
»Sensibelchen. Wundert dich das? Du bist doch bekloppt. Du hättest Brummi mal erleben müssen, als er erfahren hat, dass du dich schon wieder verpisst hast. Da war Polen sperrangelweit offen. Und dabei hast du bei Brummi mehr Pluspunkte als alle anderen zusammen.«
»Brummi« war der von den Kindern verwendete Spitzname des Heimleiters.
»Lass mich doch in Ruhe«, flüsterte Oliver.
»Warum bist du überhaupt abgehauen?«
Oliver zuckte mit den Schultern. »Auch wegen Franke. Der hat mich beleidigt und mein Schulzeug versaut.«
»Beleidigt? Franke?«