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Jason soll beschnitten werden. Ob das wohl weh tut? Nein, sagen alle, es ist vielleicht ein bisschen unangenehm, mehr nicht. Aber warum weicht sein Freund Hakan dann allen Fragen aus? Warum reißt jeder, mit dem er darüber reden will, bloß dumme Witze? Warum huschen alle so schnell wie möglich über das Thema hinweg, als fürchteten sie, eine verbotene Tür zu öffnen und etwas Schreckliches herauszulassen? (Eine Kurzgeschichte. Das Buch enthält außerdem ein Gespräch mit Betroffenen)
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Seitenzahl: 48
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Gunnar Kunz
Unberührbar
oder: Nur ein kleiner Schnitt
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Inhalt:
Unberührbar
Manchmal wird es fast unerträglich
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Impressum neobooks
Jason soll beschnitten werden. Ob das wohl weh tut? Nein, sagen alle, es ist vielleicht ein bisschen unangenehm, mehr nicht. Aber warum weicht sein Freund Hakan dann allen Fragen aus? Warum reißt jeder, mit dem er darüber reden will, bloß dumme Witze? Warum huschten alle so schnell wie möglich über das Thema hinweg, als fürchteten sie, eine verbotene Tür zu öffnen und etwas Schreckliches herauszulassen?
oder:
Nur ein kleiner Schnitt
Ein Mittel gegen Masturbation, das bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders wenn er mit der Vorstellung von Strafe in Verbindung gebracht wird.
John Harvey Kellog: Plain facts for Young and Old, 1888
Je mehr er rannte, desto mehr Lust machte es ihm, und so rannte er noch schneller, weil er spüren wollte, wie sein Herz gegen seine Brust schlug, wie seine Füße sich vom Boden abstießen und der Wind seine Haut berührte. Sein Körper war wie Musik. Er fühlte seine Beine. Er fühlte seine Arme. Er fühlte seinen Po und seinen Schniepel und seine Ohren und seine Zunge, und alles war, wie es sein sollte.
Jason erreichte die Kuppe des Hügels und sprang mit offenen Armen in den Himmel. Er war Buzz Lightyear, der durch den Weltraum raste, ein Adler, der König der Lüfte. Die Wolken kamen auf ihn zu, die Sonne, ich fliege!, ich fliege!, und auf dem Scheitelpunkt stieß er ein Jauchzen aus, das weit über die Wiesen schallte. Dann landete er mit einem harten Schlag im Gras, der ihn nur umso intensiver fühlen ließ, wie lebendig er war, und kugelte kopfüber den Abhang hinunter, bis er zwischen Löwenzahn und Gänseblümchen ausrollte. Hinter ihm kamen die anderen Jungen den Hügel herabgepurzelt und prallten gegen ihn, und dann balgten sie sich und wälzten sich durch eine matschige Pfütze und fühlten sich so wohl in ihren Körpern, wie es nur neunjährige Jungen können.
***
Während Fay die dreckige Hose und das schlammbeschmierte T-Shirt in die Waschmaschine stopfte, hörte sie, wie Jason schon wieder durchs Haus rannte, Raumschiffgeräusche imitierte und wie ein Raubtier brüllte, und konnte ein zärtliches Gefühl nicht unterdrücken. Der Racker, dachte sie. Mein kleiner Löwe. Von oben, aus dem Kinderzimmer, scholl sein Lachen herunter. Was er wohl jetzt wieder ausheckte?
Bob kam herein, die Arme voll Beutel mit Blumenerde, hörte das Brüllen und lächelte sie an. »Er ist mal wieder ganz in seinem Element, was?«
»Sieh mal, was ich vorhin am Kühlschrank fand.« Sie reichte ihm einen selbstklebenden Notizzettel, auf den in ungelenker Kinderhand geschrieben stand: Für die liebste Mami der Welt.
Typisch Jason. Er konnte einem mit seiner Energie den letzten Nerv rauben, aber dann schrieb er einem so einen Zettel, und man schmolz dahin. Bob stellte die Beutel ab. Er kannte keinen zweiten Jungen in seinem Alter mit einem so großen Herzen. Der einem zum Geburtstag unbedingt das Frühstück ans Bett bringen wollte und bereitwillig seine Schokolade mit anderen Kindern teilte. Oder etwas so Großherziges tat wie letztes Wochenende.
Bob schob die Blumenerde in eine Ecke. Vierzehn Jahre lang hatte er in derselben Firma gearbeitet, der deutschen Niederlassung eines amerikanischen Konzerns, und dann war er Knall auf Fall im Zuge der Rationalisierung entlassen worden. Die neue Stelle, die er zum Glück gefunden hatte, fing erst in vier Monaten an, und das Geld, das Fay mit ihrem privaten Englischunterricht verdiente, reichte vorn und hinten nicht. Sie hatten gerechnet und gerechnet und Zahlen gewälzt, und dann hatte Jason ihn am Ärmel gezupft und gesagt: »Ich habe 37 Euro 58 gespart, die könnt ihr haben.«
»Wwrrrrr!« Jason kam in die Küche gerannt, eine Buzz Lightyear-Figur in der Hand, und prallte gegen ihn.
»Hoppla, Sportsfreund!« Bob hob seinen Sohn hoch und setzte ihn auf die Arbeitsfläche des Küchenschranks. »Du kommst gerade recht, wir wollten sowieso mit dir reden.«
»Worüber denn?«
»Weißt du, es ist langsam an der Zeit, dass du beschnitten wirst.«
»Beschnitten? Was bedeutet das?«
»Dass die Vorhaut um dein Glied entfernt wird.«
»Warum?«
»Weil das hygienischer ist. In Amerika machen das fast alle so.«
»Es sieht auch ästhetischer aus, finde ich«, mischte sich Fay ein.
Jason legte die Stirn in Falten. »Tut das weh?«
»Von der Operation selbst wirst du gar nichts spüren, weil du ja betäubt wirst. Hinterher ist es ein bisschen unangenehm, ein paar Tage vielleicht, aber nichts, was man nicht aushalten könnte. Alles in allem nicht der Rede wert.«
»Okay.« Jason sprang vom Küchenschrank, noch ehe Fay ihm einen Kuss geben konnte, und rannte wieder mit einem »Wwrrrrr!« durchs Haus.
***
Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, aber es herrschte immer noch eine solche Hitze, dass Jason Mühe hatte einzuschlafen. Er strampelte die Decke fort. Seine Hoden klebten an den Oberschenkeln. Er schlüpfte aus dem Schlafanzug und löste sie von den Beinen, aber sie klebten gleich wieder fest. Im Mondlicht betrachtete er seinen Schniepel. Die Vorhaut sollte also weg. Er berührte sich da, wie so oft. Es war ein schönes Gefühl. Schön und zugleich ein bisschen beängstigend, weil es heftige Reaktionen in ihm hervorrief. Wenn er sich auf eine bestimmte Art streichelte, dann geriet alles in ihm in Aufruhr: Sein Herz klopfte, seine Wangen wurden heiß, seine Beine kribbelten. Erschreckend. Faszinierend. Überwältigend.