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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. »Soll ich Sie net doch lieber in meinem Auto mit nach Hause nehmen, Frau Bindl?« Sebastian Trenker öffnete einladend die Beifahrertür seines Wagens und lächelte Anneliese Bindl zu. Die Bäuerin, Anfang fünfzig überlegte noch einen Moment, ehe sie nickte. Einen letzten Blick zurück auf das Gebäude des Garmischer Amtsgerichts werfend, drehte sie sich schließlich zu Pfarrer Trenker um. »Wenn S' unbedingt meinen, Herr Pfarrer, sag ich halt ein herzliches Vergelt's Gott und steig ein«, erwiderte sie matt. »Obwohl mir im Moment wirklich alles gleich ist. Mich würde es net einmal schrecken, wenn ich zu Fuß nach St. Johann zurück müsste. Ich weiß so und so nimmer, wo mir der Sinn steht.« Der Bergpfarrer legte tröstend seine Hand auf Annelieses Arm, als sie sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte. »Nehmen Sie's net so schwer, Frau Bindl«, sagte er. »Es gibt für jedes Problem eine Lösung, auch für Ihres. Und Groll auf Ihren verstorbenen Mann bringt Sie jetzt am allerwenigsten weiter. Sein Testament ist nun einmal wie es ist. Ihr Mann hat halt sein Gewissen erleichtern und, so gut er es vermocht hat, etwas wieder ins Lot bringen wollen. Und jetzt ist es an uns, das Beste daraus zu machen.« »Was Sie da sagen, klingt ja schön und gut, Herr Pfarrer. Aber im Grunde muss doch ich … ich ganz allein das Beste daraus machen«
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»Soll ich Sie net doch lieber in meinem Auto mit nach Hause nehmen, Frau Bindl?«
Sebastian Trenker öffnete einladend die Beifahrertür seines Wagens und lächelte Anneliese Bindl zu.
Die Bäuerin, Anfang fünfzig überlegte noch einen Moment, ehe sie nickte. Einen letzten Blick zurück auf das Gebäude des Garmischer Amtsgerichts werfend, drehte sie sich schließlich zu Pfarrer Trenker um.
»Wenn S’ unbedingt meinen, Herr Pfarrer, sag ich halt ein herzliches Vergelt’s Gott und steig ein«, erwiderte sie matt. »Obwohl mir im Moment wirklich alles gleich ist. Mich würde es net einmal schrecken, wenn ich zu Fuß nach St. Johann zurück müsste. Ich weiß so und so nimmer, wo mir der Sinn steht.«
Der Bergpfarrer legte tröstend seine Hand auf Annelieses Arm, als sie sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte.
»Nehmen Sie’s net so schwer, Frau Bindl«, sagte er. »Es gibt für jedes Problem eine Lösung, auch für Ihres. Und Groll auf Ihren verstorbenen Mann bringt Sie jetzt am allerwenigsten weiter. Sein Testament ist nun einmal wie es ist. Ihr Mann hat halt sein Gewissen erleichtern und, so gut er es vermocht hat, etwas wieder ins Lot bringen wollen. Und jetzt ist es an uns, das Beste daraus zu machen.«
»Was Sie da sagen, klingt ja schön und gut, Herr Pfarrer. Aber im Grunde muss doch ich … ich ganz allein das Beste daraus machen«, stellte Anneliese Bindl mit Bitterkeit in der Stimme klar, während ihr Tränen der Enttäuschung und der Wut in die Augen traten. »Und das bedeutet, dass ich meinen Hof, für den ich
fünfundzwanzig Jahre lang gerackert hab’, mit einer Stieftochter teilen muss, von der ich vor einer halben Stunde noch net einmal gewusst hab’, dass es sie gibt.«
Schniefend presste die Bindl-Bäuerin ihr Taschentuch gegen ihre Augen, als Pfarrer Trenker den Motor seines Wagens startete und losfuhr.
Vor Anneliese Bindls geistigem Auge tauchte wieder der Raum im Garmischer Amtsgericht auf, in dem die Testamentseröffnung stattgefunden hatte. Erneut sah sie sich neben Pfarrer Trenker auf der hölzernen Bank sitzen und glaubte ein weiteres Mal die Stimme des Notars zu hören: »Mein Barvermögen und die an den Ainringer Forst angrenzende Wiese vermache ich Herrn Sebastian Trenker, dem Pfarrer unserer Gemeinde. Er soll das Geld für die Instandhaltung unserer schönen Kirche verwenden oder es einem anderen guten Zweck zuführen, der ihm vielleicht dringlicher erscheint.« Nach diesen Worten hatte der Notar sich nervös geräuspert, bevor er fortfuhr: »Der Bindl-Hof mit Wohnhaus und Grundbesitz soll zu jeweils gleichen Teilen in das Eigentum meiner Frau Anneliese und meiner inzwischen 26-jährigen Tochter Sissi Hastreiter übergehen, die, soweit ich weiß, in München wohnhaft ist.«
Anneliese Bindl konnte es immer noch nicht fassen. Sie fühlte sich wie in einem bösen Traum gefangen, aus dem sie jeden Augenblick erwachen würde.
Sie wollte sich nur zögernd mit dem Gedanken anfreunden, dass alles, was sie in der letzten Stunde erlebt hatte, Wirklichkeit war, vor der es kein Entrinnen gab.
»Wenn der Verlust des Barvermögens und der Waldwiese Sie in Schwierigkeiten bringt, Frau Bindl, bin ich selbstverständlich gerne bereit, auf meinen Anteil am Erbe Ihres Mannes zu verzichten«, sagte in diesem Moment Sebastian Trenker zu ihr.
Ruhig und sicher steuerte er seinen Wagen aus dem Ortskern von Garmisch heraus und bog schließlich in die Straße ein, die in Richtung Wachnertal führte.
Anneliese Bindl schüttelte heftig den Kopf.
»Aber nein, Herr Pfarrer. Das brauchen Sie auf gar keinen Fall«, erwiderte sie fest. »So etwas kommt überhaupt net in Frage. Dass mein Albert die Kirche testamentarisch bedacht hat, ist schon in Ordnung. Das ist es net, was mir zu schaffen macht. Mir geht es um …«
Die Bäuerin verstummte mitten im Satz und schaute in den Nieselregen hinaus, der die Landschaft wie mit einem Grauschleier überzog. Tief herabhängende Wolken verhüllten die Berge und den Himmel, als wollten sie sie nie wieder freigeben.
»Ein Kind mit einer anderen hat er gehabt, der Albert«, sagte Anneliese Bindl tonlos. »Und zu mir hat er immer gesagt, dass er keine Kinder will. Net einmal an einem Hoferben war ihm gelegen. Wer gibt mir denn die Garantie, dass unser Kind das Anwesen auch wirklich einmal übernehmen wird, hat er jedes Mal gemeint. Die meisten jungen Leute wollen doch heutzutage gar keine Bauernarbeit mehr tun. Sie wandern sowieso bloß in die Stadt ab, weil sie sich ihr Geld dort schneller und leichter verdienen.«
Sebastian Trenker schwieg.
Er überlegte, wie er Anneliese Bindl Trost spenden konnte. Die verwitwete Bäuerin tat ihm leid. So plötzlich mit der Existenz einer Stieftochter konfrontiert zu werden und noch dazu unter diesen Umständen, musste ein schwerer Schock für sie sein.
»Net einmal zur Testamentseröffnung ist sie erschienen, diese Sissi Hastreiter«, sagte Anneliese Bindl nach einer Weile verächtlich. »Die denkt wohl, dass sie so etwas gar net nötig hat.«
Pfarrer Trenker sagte eine Weile nichts, dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Das Fernbleiben ihrer Stieftochter hat, wenn Sie mich fragen, wohl eher andere Ursachen, Frau Bindl«, meinte er schließlich. »Es könnte doch zum Beispiel auch sein, dass sie gar net willens ist, ihr Erbe anzutreten.«
Für einen Moment trat ein leiser Hoffnungsschimmer in Anneliese Bindls Augen, doch er verschwand schneller als er gekommen war.
»Wer glaubt wird selig«, gab die Bäuerin mürrisch zurück. »Mit Sicherheit will sich das Weibsstück ihren Anteil am Bindl-Hof auszahlen lassen. Und weil sie sich leicht zusammenreimen kann, dass ich das Anwesen dann werde verkaufen müssen, will sie mir erst gar net unter die Augen treten.«
Sebastian Trenker richtete seine Blicke konzentriert auf das graue Band der Straße vor seinen Augen.
Wenn er Anneliese Bindls Wut und Verletztheit auch sehr gut nachvollziehen konnte, sah er die Angelegenheit doch nicht in ähnlich düsteren Farben.
»Einerseits bin ich ja froh, dass ich meiner frisch gebackenen Stieftochter net auch noch hab’ gegenübertreten müssen«, redete indessen Anneliese Bindl weiter. »Ich weiß wirklich net, was passiert wäre, wenn sie mir plötzlich gegenüber gestanden hätte. Gut möglich, dass ich mich dann vergessen hätte.«
Pfarrer Trenker bedachte Anneliese mit einem kurzen Seitenblick, dann lächelte er.
»Das glaub ich net, Frau Bindl«, erklärte er. »Wenn ich mir alles vorstellen kann, aber dass Sie sich vergessen …«
Anneliese Bindl sagte fürs Erste nichts mehr.
Es tat ihr gut, dass Pfarrer Trenker ihr nichts wirklich Böses zutraute, und sie wollte die hohe Meinung, die er offenbar von ihr hatte, nicht Lügen strafen.
Gedankenverloren schaute sie in das triste Grau hinaus.
Sie seufzte tief und schwer.
»Ich weiß net, ob Sie mich verstehen können, Hochwürden«, sagte Anneliese Bindl schließlich. »Aber was mich am allermeisten enttäuscht, ist die Tatsache, dass mein Albert in den fünfundzwanzig Jahren unserer Ehe nie ein Sterbenswörterl über seine außereheliche Tochter verloren hat. Von einem Menschen, den man geliebt und dem man vertraut hat, derart angelogen und hintergangen zu werden, tut bitter weh.«
Sebastian Trenker nickte. Auch ihm gegenüber hatte Albert Bindl kein Wort über seine Tochter verloren. Sebastian hätte Albert Bindl, der ihm immer einen grundehrlichen Eindruck gemacht hatte, nie zugetraut, dass er ein dunkles Geheimnis mit sich herumtrug.
Wieder herrschte Schweigen zwischen dem Bergpfarrer und der Bindl-Bäuerin.
Aus dem feinen Nieseln war mittlerweile starker Regen geworden und die Scheibenwischer konnten der Flut kaum Herr werden.
Selbst das Ortsschild von St. Johann konnte Anneliese Bindl nur verschwommen erkennen. Oder lag das an ihren Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte?
»Kann … kann man dieses vermaledeite Testament eigentlich net anfechten, Hochwürden?«, brach es schließlich aus ihr heraus.
Sebastian Trenker setzte den Blinker und bog in die Straße ein, die zum Pfarrhaus führte.
Unwillkürlich zuckte er die Schultern.
»Große Hoffnungen würde ich mir an Ihrer Stelle net machen«, meinte er. »Ihr Mann war, als er bei diesem unglückseligen Unfall ums Leben gekommen ist, schließlich bei vollem Verstand und weder geistig noch körperlich krank. Ich kenne zwar ein paar Rechtsanwälte, die ich um Rat fragen könnte, aber wie gesagt …«
Sebastian Trenker brachte seinen Wagen vor dem Pfarrhaus zum Halten und lächelte Anneliese Bindl, als er deren fragenden Blick bemerkte, aufmunternd zu.
»Bekanntlich wird nix so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, meinte er. »Und vielleicht kommt doch noch alles ganz anders als es im Moment aussieht.« Der Bergpfarrer machte eine kleine Pause, dann setzte er hinzu: »Möchten Sie net noch auf eine Tasse Kaffee und ein Stückerl Kuchen mit in das Pfarrhaus kommen, Frau Bindl? Meine Haushälterin, Frau Tappert, freut sich immer, wenn ich Besuch mitbringe.«
Anneliese Bindl schaute eine Weile mit leeren Augen vor sich hin, dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein danke, Herr Pfarrer«, erwiderte sie. »Ein andermal gern. Aber nehmen Sie es mir bitte net übel, wenn ich heute lieber allein sein möchte. Was mir mein Albert da angetan hat, ist schon ein dicker Brocken, den es erst einmal zu verdauen gilt.«
Dieser Feststellung konnte Sebastian Trenker nicht widersprechen.
»Natürlich kann ich verstehen, wenn Sie lieber nach Hause möchten, Frau Bindl«, pflichtete er der Bäuerin bei. »Ich fahr Sie selbstverständlich gleich heim. Aber Sie sollen wissen, dass ich immer für Sie da bin. Sie können sich gerne jederzeit an mich wenden.«
Anneliese Bindl nickte stumm.
*
Als Anneliese sich von Pfarrer Trenker verabschiedet hatte, blieb sie vorm Bindl-Hof stehen.
Lange ließ sie ihre Augen auf der schmucken Fassade ruhen. Schließlich schweifte Annelieses Blick hinüber zu den erst vor einem Jahr aufs Beste instand gesetzten Stallungen und zu dem Bauerngarten, den sie immer mit viel Liebe gepflegt hatte.
Der Bindl-Hof war in den fünfundzwanzig Jahren ihrer vermeintlich glücklichen Ehe ihr Zuhause geworden, und nun …
Mit hängenden Schultern stand Anneliese da. Sie merkte nicht einmal, wie die Nässe ihre Kostümjacke durchweichte, ihr bis auf die Haut drang und sie frösteln machte.
Erst das Schlagen einer Tür, das vom Wohnhaus des benachbarten Hirlingerhofs herüberdrang, ließ sie aufhorchen.
Anneliese sah den jungen Toni Hirlinger, der einen Moment im Rahmen seiner Haustür innehielt, unverwandt zum Bindl-Hof herübersah und dann wieder verschwand.
Hatte sich nicht fast gleichzeitig am Wohnzimmerfenster der Hirlingers die Gardine bewegt?
Anneliese schluckte.
Was sollten der junge Hirlinger und vor allem Resi, seine Mutter, von ihr denken, wenn sie vor ihren neugierigen Augen in aller Offenheit ihren traurigen Gedanken nachhing! Sie mussten ihr die Hiobsbotschaft, die sie im Amtsgericht der Kreisstadt erhalten hatte, ja regelrecht an der Nasenspitze ansehen!
Von einer Sekunde auf die andere straffte sich Annelieses Gestalt.
Dass Resi Hirlinger und ihr Sohn Toni, die dem Bindl-Hof und seinen Bewohnern stets feindlich gesonnen gewesen waren, sich über ihr Unglück freuten, hatte ihr gerade noch gefehlt.
Wohl würde sie die leidige Erbangelegenheit, die ihr so sehr zu schaffen machte, nicht völlig vor den beiden verheimlichen können. Aber deshalb brauchten Toni und seine Klatschbase von Mutter noch lange nicht das volle Ausmaß des Unglücks, das sie getroffen hatte, mitbekommen. Und sich schon gar nicht daran weiden, wie sehr sie darunter litt.
So schwer es Anneliese auch wurde, zwang sie ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie dem Wohnhaus des Bindl-Hofs zuschritt, den Hausschlüssel unter dem Fußabtreter hervorholte und aufschloss.
Als erstes fiel ihr Blick auf einen auf dem Dielenboden liegenden Briefumschlag.
Ächzend hob Anneliese ihn auf und las den Absender.
»Vom Grundbuchamt«, murmelte sie kopfschüttelnd vor sich hin. »Was will denn das Grundbuchamt von mir? Ob das auch mit der Erbschaft zusammenhängt?« Sie seufzte. »Ich kenn mich mit dem ganzen Behördenkram einfach net aus, weil solche Sachen immer der Albert für mich erledigt hat. Und jetzt …«
Sie unterbrach sich mitten im Satz.
Albert hatte sie belogen und betrogen. Und deshalb musste sie endlich lernen, sich selbstständig um ihre Angelegenheiten zu kümmern, und sie würde es lernen. Es war höchste Zeit dafür. Was Albert gekonnt und gewusst hatte, konnte und wusste sie auch. Vielleicht sogar besser.
Energisch riss Anneliese den Umschlag auf.
»Sehr geehrte Frau Bindl«, las sie dann, »wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie sich, den Angaben Ihrer Nachbarn Resi und Toni Hirlinger zufolge, mit dem von Ihrem verstorbenen Mann selbst gezogenen Staketenzaun an der Süd- und an der Ostseite Ihres Anwesens teilweise einen halben bis zu einem Meter auf Hirlinger’schem Grund und Boden befinden. Deshalb ist es unumgänglich, die tatsächlichen Grundstücksgrenzen im Zuge einer Neuvermessung exakt festzulegen, da sich an ihnen die gegebenenfalls notwendige Neuerrichtung des Zauns zu orientieren hat.«
Genervt blies Anneliese die Luft durch ihre geschürzten Lippen. Sie hatte zwar bis jetzt nicht viel mehr verstanden, als dass ihre Nachbarn wieder einmal dabei waren, ihr Schwierigkeiten zu machen, aber das genügte ihr vollauf, um in Weißglut zu geraten.
Sie zerknüllte den Brief und warf ihn wutentbrannt in eine Ecke, hob ihn aber im nächsten Augenblick mit Todesverachtung schon wieder vom Boden auf. Sorgsam strich sie den Bogen Papier glatt und begann, unter gemurmelten Verwünschungen auf die unverständliche Amtssprache, das Schreiben von Neuem zu lesen.
Beim dritten Versuch gab sie es auf und beschloss, Pfarrer Trenker um Rat zu fragen.
Dann konnte er doch gleich einmal sehen, wes Geistes Kind Resi Hirlinger war. Selbst wenn sie jede Woche sowohl die samstägliche Vorabendmesse als auch den Hauptgottesdienst und die sonntägliche Abendmesse besuchte. Vielleicht würde Pfarrer Trenker Resi Hirlinger endlich ordentlich in ihre Schranken weisen.
Diese Vorstellung gefiel Anneliese, sodass sie sich, zumindest was das amtliche Schreiben betraf, wieder einigermaßen beruhigte. Vielleicht hatte Resis und Tonis Versuch, ihre Hilflosigkeit als Witwe auszunutzen, sogar den gegenteiligen Effekt! Zu gönnen wäre es den beiden, so fand Anneliese, von ganzem Herzen.
Achtlos ließ die Bäuerin den Brief auf der Kommode im Flur liegen. Jetzt war es erst einmal das Wichtigste, aus den nassen Sachen zu kommen.
Wenig später betrat Anneliese, in Wollhose, Haussocken und einen alten, aber angenehm flauschigen Pullover gekleidet, die geräumige Wohnküche des Bindl-Hofs und öffnete den Kühlschrank, um sich etwas zum Essen herzurichten.
Dabei stellte sie fest, dass ihr die Ereignisse des Tages gründlich den Appetit verdorben hatten. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit spürte sie weder nach Wurst noch nach Käse Verlangen.
Was sollte werden, wenn Alberts Stieftochter ihren Anteil des Anwesens verlangte und sie den Hof verkaufen musste? Wo würde sie eine neue Heimat finden?
Erst jetzt, da Anneliese wieder zu Hause in ihren vier Wänden war, wurde ihr so recht bewusst, was es für sie bedeuten würde, ihr gewohntes und geliebtes Daheim zu verlieren.
Vorwurfsvoll wanderte ihr Blick zu dem Foto ihres Mannes, das, mit einem schwarzen Trauerflor versehen, neben der Kuckucksuhr an der Wand hing.
Mit ein paar entschlossenen Schritten ging Anneliese auf das Bild zu und nahm es in die Hand.
»Wenn ich gewusst hätte, was für eine Sorte Mensch du bist, Albert, hätte ich dich nie und nimmer geheiratet«, sagte sie zu dem Gesicht ihres Mannes, das sie so liebevoll anlächelte, als wäre nichts gewesen. »Dann hätte ich den Berghuber-Anderl genommen. Oder den Hintersteiner-Rudi. Jeder wäre besser gewesen als du. So jedenfalls hätte mich keiner von ihnen im Regen stehen lassen. Darauf gehe ich jede Wette ein.«