Unvorhergesehene Wege - Simone Aigner - E-Book

Unvorhergesehene Wege E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Thomas Angermann strich bedächtig Butter auf seine Brötchenhälften. Die Morgensonne schien durch die hohen Fenster in das Esszimmer, das mit mahagonifarbenen Möbeln etwas gediegen eingerichtet war. Durch das gekippte Fenster drang milde Sommerluft, die den Duft von gemähtem Rasen und süßen Blüten mitbrachte und die schneeweißen Vorhänge sanft aufbauschte. Thomas griff nach dem Glas mit der Erdbeermarmelade und bemühte sich, die leidende Miene seiner Frau Klara zu ignorieren. Er hatte es so satt, ihr ständiges Jammern und Klagen, dass sie keinen Nachwuchs bekommen konnten. Er konnte schließlich nichts dafür, auch wenn er selbst gar keine Kinder wollte. Nie gewollt hatte, um genau zu sein. Das Gesicht seiner Ex-Freundin Julia erschien vor seinem inneren Auge. Ihr gemeinsames Kind, von dem er nicht einmal den Namen wusste, mochte bald zur Schule gehen. Er war nicht sicher. Er hätte nachrechnen müssen. Klara stieß ein tiefes Seufzen aus, wohl, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Notgedrungen sah er von seinem Frühstück auf und zu ihr. Klara schlug die Augen nieder. Sie wusste sehr genau, wie anstrengend und zermürbend er ihr ständiges demonstriertes Elend fand. Mit unruhiger Hand nahm sie ihre Kaffeetasse. Das sicher nur noch lauwarme Getränk schwappte gefährlich nahe an den Rand der Tasse. Sie nippte daran, verzog das Gesicht und stellte die Tasse zurück. »Wenn ich es nicht besser wüsste …«, begann sie vielsagend.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 99 –

Unvorhergesehene Wege

Unveröffentlichter Roman

Simone Aigner

Thomas Angermann strich bedächtig Butter auf seine Brötchenhälften. Die Morgensonne schien durch die hohen Fenster in das Esszimmer, das mit mahagonifarbenen Möbeln etwas gediegen eingerichtet war. Durch das gekippte Fenster drang milde Sommerluft, die den Duft von gemähtem Rasen und süßen Blüten mitbrachte und die schneeweißen Vorhänge sanft aufbauschte.

Thomas griff nach dem Glas mit der Erdbeermarmelade und bemühte sich, die leidende Miene seiner Frau Klara zu ignorieren. Er hatte es so satt, ihr ständiges Jammern und Klagen, dass sie keinen Nachwuchs bekommen konnten. Er konnte schließlich nichts dafür, auch wenn er selbst gar keine Kinder wollte. Nie gewollt hatte, um genau zu sein. Das Gesicht seiner Ex-Freundin Julia erschien vor seinem inneren Auge. Ihr gemeinsames Kind, von dem er nicht einmal den Namen wusste, mochte bald zur Schule gehen. Er war nicht sicher. Er hätte nachrechnen müssen.

Klara stieß ein tiefes Seufzen aus, wohl, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Notgedrungen sah er von seinem Frühstück auf und zu ihr. Klara schlug die Augen nieder. Sie wusste sehr genau, wie anstrengend und zermürbend er ihr ständiges demonstriertes Elend fand. Mit unruhiger Hand nahm sie ihre Kaffeetasse. Das sicher nur noch lauwarme Getränk schwappte gefährlich nahe an den Rand der Tasse. Sie nippte daran, verzog das Gesicht und stellte die Tasse zurück.

»Wenn ich es nicht besser wüsste …«, begann sie vielsagend. Der Satz blieb offen.

Thomas hätte gerne einen Blick in die Tageszeitung geworfen, doch das bedeutete neue Vorwürfe. Er wusste, worauf sie anspielte. Bei einer Schwangerschaft rebellierte häufig der Magen der werdenden Mutter gegen das koffeinhaltige Getränk. Doch Klara hatte eine Fehlbildung an ihrer Gebärmutter und konnte nicht schwanger werden, das hatten ihr mehrere Gynäkologen bestätigt. Er beschloss, auf ihre angedeutete Unpässlichkeit nicht einzugehen.

»Liebes, denk bitte daran, dass wir morgen Nachmittag bei Magnus und Elvira Weber eingeladen sind. Das Wetter soll wunderbar werden, ich gehe davon aus, dass die Party im Garten stattfindet.«

Er schob den Teller mit seinen Brötchen zur Seite, nahm sich ein Ei aus dem abgedeckten Körbchen und stellte es in seinen Eierbecher. Obwohl er sich auf diese Handlung konzentrierte, nahm er wahr, dass sich Karlas Augen mit Tränen füllten. Der Appetit auf sein Frühstück verging ihm endgültig.

»Ausgerechnet bei Webers, mit ihren drei Kindern.« Sie fing an zu schluchzen. »Du musst absagen, Thommi. Ich halte das einfach nicht aus.«

»Klara, bitte.« Ungehalten legte er das Messer weg, mit dem er das Ei hatte aufschlagen wollen. »Darüber haben wir doch schon geredet. Weber ist einer meiner besten Kunden. Ich kann ihn unmöglich vor den Kopf stoßen.«

»Dann geh alleine hin.« Tränen strömten über ihre Wangen und ihre Schultern zitterten. Es machte ihn wütend, er konnte es nicht ändern.

»Kommt nicht infrage. Du vergräbst dich hier, gehst kaum unter die Leute und versinkst immer tiefer in deinem persönlichen Drama. Wie soll denn das mit uns weitergehen? Ich habe eine fröhliche, lebensfrohe Frau geheiratet und jetzt …«

»Ja, ja. Gib nur mir die Schuld. Du hast ja recht, es liegt ja auch an mir.«

Thomas rang um Beherrschung. Er hatte sich in Rage geredet, wie so oft in letzter Zeit, obwohl er wusste, davon wurde nichts besser.

»Selbst wenn, medizinisch gesehen, dein Körper für unsere Kinderlosigkeit verantwortlich ist, so frage ich mich doch, was in dich gefahren ist. Du weißt seit über fünfzehn Jahren, dass du nicht schwanger werden kannst. Ich wollte nie Kinder, das habe ich dir auch immer wieder gesagt. Und nun baust du, seit wir verheiratet sind, ein Drama daraus. Dachtest du, mit unserer Ehe wird alles anders? Du wirst vielleicht doch schwanger, zufällig und unerwartet sozusagen? Und ich werde doch noch freudig Vater? Was ist denn los mit dir?«

Stumm und unter weiteren Tränen hatte sie seinem entrüsteten Ausbruch zugehört. Nun nahm sie ihre Serviette und trocknete sich das Gesicht. Ihre Augen waren rot und verquollenen und auch auf den Wangen und um den Mund zeichneten sich Rötungen ab. Die dunkle Wimperntusche war verschmiert.

»Du hast leicht reden. Du bist ja schon Vater. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso du dein Kind nie kennenlernen wolltest.«

Er presste die Lippen aufeinander. Sie drehten sich im Kreis, diese Gespräche hatten sie schon unzählige Male geführt.

»Wie dem auch sei«, versuchte er, die unschöne Diskussion zu beenden. »Wir gehen morgen Nachmittag um 15 Uhr zu Webers. Vielleicht macht es dir Freude, das weiße Kleid zu kaufen, das wir letzthin in der Stadt in Monis Boutique gesehen haben.«

Klara knüllte ihre Serviette zusammen.

»Mir macht gar nichts mehr Freude«, erwiderte sie mit monotoner Stimme.

Thomas schwieg. Seine Energie war aufgebraucht und das schon seit einer Weile. Vielleicht sollte er Klara zu einem Arzt schicken. Es war doch nicht mehr normal, wie sie sich in ihre Kinderlosigkeit hineinsteigerte, von der sie doch schon lange wusste. Natürlich war ihm klar, dass die Konfrontation mit den drei kleinen Kindern von Webers ihr noch einmal deutlicher machte, was ihr vermeintlich fehlte. Die Zwillinge Mona und Grit, die zwischen den Gästen herumtoben würden und nebenher tatsächlich niedlich aussahen mit ihren blonden Locken und den hübschen Kleidern, die Elvira Weber ihnen so gerne anzog, ebenso, wie Baby Matteo. Der Junge war jetzt ein halbes Jahr alt.

Unvermittelt fiel seine Empörung in sich zusammen und wich Kraftlosigkeit. Eine Ehe auf dieser Basis der Selbstzerstörung konnte und wollte er nicht führen. Trotz allem liebte er Klara immer noch. Oder nicht? Rasch verdrängte er die zweite Möglichkeit, auch wenn er im tiefsten Inneren wusste, ihr Verhalten machte die Gefühle, die er für sie hatte, kaputt.

»Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann«, sagte er resigniert. Flüchtig ging ihm der Gedanke an eine Adoption durch den Kopf. Sofort ließ er die Idee wieder fallen. Es blieb dabei. Er wollte keine Kinder in seinem Leben haben. Julias ungeplante Schwangerschaft seinerzeit hatte ihre Beziehung ruiniert. Sie hatte das Kind unbedingt bekommen wollen, obwohl er sich absolut nicht in der Rolle eines Vaters sah.

Klara zerbröselte ihr Hörnchen, das noch unangerührt auf ihrem Teller lag.

»Ich würde gerne dein Kind kennenlernen«, sagte sie, sah auf und blickte ihn mit unbewegter Miene an. Thomas merkte, wie in seinem linken Mundwinkel ein Nerv zu zucken begann, wie immer, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlte.

Etliche Sekunden rang er um eine Antwort.

»Du weißt, dass ich das nicht möchte«, erwiderte er schließlich, während es ihm heiß den Rücken hinunterlief. Er kannte Klara gut genug, sie würde ihm so lange zusetzen, bis er nachgab. Im tiefsten Inneren hatte er schon eine ganze Weile gefürchtet, dass sie das Kind irgendwann kennenlernen wollte.

»Es geht hier nicht nur um dich«, erwiderte sie, noch immer mit monotoner Stimme.

»Wir reden ein anders Mal darüber. Ich muss jetzt ins Büro.« Thomas legte seine Serviette neben den Teller. Er hatte so gut wie nichts gegessen. Das konnte er in seiner Kanzlei nachholen. Der erste Mandant kam um zehn Uhr, da blieb genug Zeit.

*

Denise von Schoenecker saß im Büro des Kinderheims Sophienlust und überprüfte die Kontoauszüge, als aufgeregtes Hundegebell aus dem Garten durch das gekippte Fenster drang. Sie stand auf und sah hinaus.

Ihr Sohn Dominik, allgemein Nick genannt, stand auf dem Rasen und verteilte etwas an einige der Kinder, die hier im Heim wohnten. Denise sah Heidi und Kim, die beiden Grundschulkinder, die Geschwister Leon und Marie, mit vier und drei Jahren die beiden Kleinsten, die derzeit in Sophienlust ein Zuhause gefunden hatten, und den zehnjährigen Simon. Eifrig hielten sämtliche Kinder Nick, dem das Kinderheim gehörte, die Hände entgegen.

Die Dogge Anglos und der Bernhardiner Barri sprangen herum, wedelten und bellten.

Denise lächelte. Offenbar hatte Nick, der in der Stadt Maibach zum Einkaufen gewesen war, Leckeres für die Hunde mitgebracht, das die Kinder ihnen nun geben durften.

Reihum hielten sie den Tieren die Nascherei hin. Den Anfang machte die kleine Heidi mit den blonden Zöpfen, die der allgemein bekannten Ansicht war, mit ihren inzwischen acht Jahren schon recht groß zu sein.

Kim, der als Baby als Bootsflüchtling nach Deutschland gekommen war, reichte Anglos einen Hundekeks. Kim war ein Jahr jünger als Heidi und ging in die zweite Klasse der Grundschule in Maibach. Mit der deutschen Sprache hatte er noch ein paar Schwierigkeiten, doch diese würde er mit der Zeit in den Griff bekommen.

Auf der Terrasse, an einem der vielen Tische, saßen einige größere Kinder. Pünktchen, die eigentlich Angelina Dommin hieß, beugte den Kopf mit den rotblonden krausen Haaren über ein Schulbuch. Mit dem Kosenamen wurde sie gerufen, weil sie sehr viele Sommersprossen hatte.

Ihr gegenüber saßen Martin und Fabian, und machten ebenfalls Schularbeiten. Fabian sagte etwas, zog ein missmutiges Gesicht und Pünktchen sah auf. Die beiden sprachen miteinander. Pünktchen versuchte stets zu helfen, wo immer sie konnte. So wohl auch diesmal, doch Fabians Gesicht hellte sich nicht auf.

Nick trat zu den drei Teenagern an den Tisch, wechselte einige Worte mit ihnen und sah dann auf, als hätte er den Blick seiner Mutter gespürt, die aus dem Bürofenster zu ihm heruntersah. Er hob die Hand, um ihr zu winken und lächelte.

Denise winkte und lächelte zurück. Nick ging auf die Freitreppe zu, die zum Hauseingang führte und entschwand ihrem Blick. Denise setzte sich wieder hinter den Schreibtisch. Gleich würde ihr Sohn bei ihr im Büro sein, das wusste sie. Wenn sie in seinem Büro saß, führte sein erster Weg immer zu ihr, sowie er Sophienlust betrat. Bis zu seiner Volljährigkeit vor zwei Jahren hatte sie das Heim, das er von seiner Urgroßmutter geerbt hatte, stellvertretend für ihn geleitet. Auch heute noch stand sie ihm zur Seite, was Nick dankbar annahm. Gleichwohl leitete er die Geschicke des Hauses vorbildlich.

Kaum eine Minute später klopfte es an die Tür und nach ihrer Aufforderung betrat Nick den Raum.

»Hallo, Mama«, grüßte er freundlich.

»Hallo, Nick. Du hast ja große freudige Aufregung bei Barri und Anglos ausgelöst«, sagte Denise und lächelte. Nick setzte sich auf den Besucherstuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand und schmunzelte.

»Ja, im Supermarkt hatten sie gerade ein Angebot an Keksen mit Karotten. Die lieben sie«, antwortete er.

»Man hat es gesehen«, sagte Denise und lachte leise. Nick schmunzelte.

»Manchmal sind die Hunde wie kleine Kinder. Außer Rand und Band«, stimmte er zu.

»Fabian scheint sich mit etwas zu plagen«, fuhr Denise fort und sprach jetzt ernst. »Hat er Probleme in der Schule?«

»Nein, soweit läuft alles gut. Aber kämpft gerade mit einer Gedichtsanalyse und möchte eigentlich viel lieber ins Freibad, in dem heute ein paar seiner Klassenkameraden sind.«

»Das kann ich verstehen«, erwiderte Denise. »Aber das herrliche Wetter soll uns ja die nächste Zeit noch erhalten bleiben. Er hat sicher demnächst noch reichlich Gelegenheit dazu.«

»Das habe ich ihm auch gesagt«, stimmte Nick zu. »Pünktchen hat angeboten ihm zu helfen. Er hat das angenommen, aber deswegen hat er noch immer keine bessere Laune. Er muss zusätzlich noch Mathematikaufgaben lösen und Vokabeln lernen. Also klappt es heute mit dem Schwimmbad auf keinen Fall. Und das, wo er am liebsten täglich gehen würde.«

»Er tut mir richtig leid«, sagte Denise. »An den Gymnasien wird viel von den Kindern gefordert. Aber ich bin sicher, Fabian bekommt das hin und kann bald ins Freibad gehen.«

»Ich bin ganz deiner Meinung«, erwiderte Nick. »Ich habe übrigens eben Magda in der Eingangshalle getroffen. Sie wollte mit dir über den Speiseplan für die kommenden Tage sprechen.«

»Ich weiß. Ich gehe gleich zu ihr in die Küche, wenn ich mit den Kontoauszügen fertig bin«, antwortete Denise. Nick lächelte ihr zu.

»Was hältst du davon, Mama, wenn ich die restlichen Auszüge überprüfe? Ich bin froh, dass du mich immer vertrittst, wenn ich außer Haus muss, so wie vorhin. Aber jetzt bin ich ja wieder da und du machst wahrlich genug für Sophienlust, wofür ich dir sehr danke.«

Denise lächelte.

»Danke, Nick. Ich mache es sehr gerne. Gut, dann gehe ich jetzt zu unserer herzensguten fleißigen Köchin.«

Sie stand auf und auch Nick erhob sich, um nun an ihrer Stelle hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen.

Denise verabschiedete sich von ihrem Sohn und verließ den Raum.

*

Thomas stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, vor dem großen Fenster im Büro seiner Steuerkanzlei im ersten Stock des Geschäftshauses in der Innenstadt von Maibach. Heute war der Himmel grau und feine Regentropfen sprühten gegen die Scheibe. Welch tristes Wetter. So trist, wie seine Beziehung zu Klara mit der Zeit geworden war.

Zu der Gartenparty, zu der Webers alljährlich im Frühsommer einluden, war sie zwar dann doch mitgekommen, hatte jedoch den gesamten Nachmittag über eine Leidensmiene gezeigt, sodass er mehrfach darauf angesprochen worden war, ob sie krank war oder vielleicht großen Kummer hatte. Er hatte stets ausweichende Antworten gegeben. Am frühen Abend hatte Klara sich ein Taxi bestellt um vorzeitig und ohne ihn nach Hause zu fahren. Bei Webers hatte sie starke Kopfschmerzen vorgegeben.

Thomas wandte sich vom Fenster ab und lehnte sich gegen das Sims. Vor drei Tagen hatte er versucht, mit Karla über einen Arztbesuch zu sprechen. Die erste Anlaufstelle, so meinte er, wäre ihr Hausarzt, der sie im besten Fall zu einem Therapeuten schickte. Vielleicht gelang es jemandem vom Fach, sie aus ihrem Tief herauszuholen.

Sie hatte ihn jedoch schon bei den ersten Sätzen unterbrochen und ihm sehr entschlossen gesagt, dass sie absolut nicht dazu bereit war. Ein Kind, natürlich nur ein eigenes, wäre das beste und einzige Heilmittel. Da das ausgeschlossen war, blieb nur noch eine Möglichkeit. Er sollte Kontakt zu dem Kind aufnehmen, dass er mit der anderen Frau hatte.

Thomas verschränkte die Arme vor dem Bauch.

Es widerstrebte ihm zutiefst, sich nach all den Jahren bei Julia zu melden. Doch je mehr Klara ihm zusetzte, desto mürber wurde er und desto mehr beschäftigte ihn seine Vergangenheit, ob er wollte oder nicht. Er wusste ja nicht einmal, ob er einen Sohn oder eine Tochter hatte. Es interessierte ihn auch nach wie vor nicht. Oder doch?

Ungehalten stieß er sich vom Fensterbrett ab. Ob Julia noch in Weilheim wohnte? Es waren etwa zwanzig Kilometer von Maibach bis dorthin. Vielleicht war sie auch inzwischen verheiratet und hatte einen anderen Namen.

Thomas setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. In die Suchleiste des Örtlichen Telefonbuches gab er den Namen ›Julia Greve‹ ein. Sie erschien gleich an erster Stelle, sogar mit Adresse. Sie war nicht umgezogen. Er rieb sich den Nacken. Nun gut. Sollte Klara ihren Willen bekommen. Er hatte durchaus auch seine Rechte als Vater. Da gab es doch irgendeine Regelung, dass er sein Kind jedes zweite Wochenende sehen durfte. Wenn Klaras Seelenheil damit Stück für Stück wieder hergestellt wurde, würde er sich eben auf die Sache einlassen. Zwei Wochenenden pro Monat, das war überschaubar.

*

Julia Greve beugte sich über ihr Töchterchen Finja und gab ihrer Kleinen einen Kuss auf die Stirn.

»Schlaf gut, meine Finja«, sagte sie liebevoll.

»Gute Nacht, Mama«, antwortete das Kind.

Julia richtete sich auf und noch ehe sie sich umgedreht hatte, um das Zimmer zu verlassen, läutete das Telefon. Vielleicht war es ihre Lektorin wegen dem neuen Kinderbuch.

»Sagst du mir noch, wer angerufen hat?«, bat Finja, schon recht schlaftrunken.

»Natürlich, Finja. Aber erst morgen, beim Frühstück. Du musst jetzt schlafen«, erinnerte Julia sie.

»Wegen dem Kindergarten?«

»Ja. Damit du richtig munter bist, wenn wir hingehen.«

Das Läuten des Telefons machte sie mittlerweile nervös. Es machte Finja wieder wacher. Wurde sie aus der ersten Müdigkeit geholt, dauerte es, ehe sie in den Schlaf fand. Zudem wollte Julia ihre Lektorin nicht warten lassen, falls sie es denn war.

»Gute Nacht«, sagte sie und ging rasch aus dem Zimmer. Sie zog die Tür hinter sich zu und eilte ins Wohnzimmer, wo der mobile Hörer auf dem Couchtisch lag. Die Nummer auf dem Display sagte ihr nichts – somit war es nicht der vermutete Anruf.

»Greve«, meldete sie sich.

»Julia? Hier ist Thomas.«

Julias Herz sackte ruckartig in ihren Magen. Diese Stimme hätte sie wahrscheinlich noch in fünfzig Jahren sofort wiedererkannt. Sie setzte sich auf das Sofa.

»Thomas. Was willst du?« Ihr Herz schlug schneller und ihre Hände wurden kalt.

»Wie geht es … euch?«, fragte er. Er wollte etwas. Irgendetwas ganz Bestimmtes. ›Einfach so‹ rief er mit Sicherheit nicht an. Nicht, nach all den Jahren und der unerschütterlichen Entscheidung, die er damals getroffen hatte.

»Was willst du?«, erwiderte sie, ohne auf seine Frage zu antworten.

»Ja, gut. Lassen wir sämtliche Floskeln und Höflichkeiten. Du hast recht, ich möchte etwas. Dazu sollten wir uns sehen.« Er sprach ruhig und entschlossen, so, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

»Nein. Sag es mir jetzt, am Telefon.« Ein Zittern durchlief sie. Dass er seinen Entschluss von derzeit bereute, war nicht vorstellbar. Und doch spürte sie, dass mit seinem Anruf etwas auf sie zukam, was mit Finja zu tun hatte, und dass ihr übel Angst machte.

»Julia. Bitte. Es ist mir wirklich wichtig. Kann ich vorbeikommen? Oder können wir uns irgendwo in der Stadt treffen?«

»Vorbeikommen ist völlig ausgeschlossen.« Finja schlief und sie würde aufwachen, wenn Besuch kam. Und gerade Thomas sollte sie nicht kennenlernen. Jedenfalls nicht jetzt und nicht so und überhaupt. Von einer Sekunde zur anderen brach ihr der Schweiß aus.

»Das dachte ich mir schon. Geht es morgen Nachmittag? Im Café Wagner in Maibach? Oder mach du einen Vorschlag, ich komme auch nach Weilheim.«

Julia umklammerte den Hörer. Nein, nein, nein. Egal was. Und doch wusste sie jetzt schon, sein Anliegen würde ihr keine Ruhe lassen. Sie wollte wissen, was er wollte. Außerdem würde Thomas sowieso nicht lockerlassen.