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»Wir sind erfolgreich im Entlarven, versagen jedoch beim Weitergeben oder Neusetzen von Werten.« Günter de Bruyn Mit der ihm eigenen Klarheit und Schärfe widmet sich Günter de Bruyn in seinen unzeitgemäßen ›Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart‹ u.a. der Wiedervereinigung der Deutschen, dem wiedererwachten Interesse an Preußen und dem Blick der Geschichtsschreibung auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Ein kluger, elegant geschriebener Essay, der das Älterwerden als Erkenntnismittel nutzt.
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Seitenzahl: 57
Günter de Bruyn
Unzeitgemäßes
Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart
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Unzeitgemäß nenne ich diese Betrachtungen, weil sie in einer Zeit, die das Jungsein verherrlicht, kein Hehl daraus machen, von einem alten Manne verfaßt worden zu sein. Altwerden aber bedeutet auch immer, sich in Teilbereichen gegenwärtigen Fühlens und Denkens nicht mehr als Kind der Zeit zu empfinden, vielmehr aus diesen Kinderschuhen herausgewachsen zu sein. Schuld daran ist erstens die sich ständig verändernde Alltagswelt mit ihren anderen Lebensformen, die die Alten nicht mehr mitmachen können und wollen, und zweitens die Historisierung des eigenen Lebens, die man mit den Erinnerungen an eignes Handeln und Denken nicht in Übereinstimmung bringen kann. Zwischen der Vergangenheit, die man erlebt hat, und der, die die Nachgeborenen mit ihren an anderen Erfahrungen geschulten Blicken zu sehen meinen, klafft jene Lücke, die immer das Einzelschicksal von dem der Gesamtheit trennt.
Geschichte wird verständlicherweise nicht nach den Erinnerungen der damals an ihr Beteiligten geschrieben, und der Historiker, der auch das Danach schon kennt, nach anderen Maßstäben urteilt und seine vorgefaßten Absichten hat, sieht auf die geschichtlichen Geschehnisse zwangsläufig auch mit einem anderen Blick. Auf der Höhe des zeitlichen Abstands steht er gleichsam wie auf einem Feldherrnhügel, sieht, ohne Einzelheiten erkennen zu können, die größeren Zusammenhänge und kann daraus Folgerungen ableiten und Urteile fällen, die der gegenwärtigen Zeit mehr als der vergangenen verpflichtet sind.
Nach dem Tun oder Lassen, den Leiden und Freuden des einzelnen Menschen fragt die Geschichtsschreibung wenig. Sie ist interessiert an den allgemeinen Tendenzen, unter denen sich die Bewegungen der Geschichte auf das vorgefaßte Ziel hin vollziehen. So wurde im 19. Jahrhundert die Geschichte Preußens als ein umwegiger Marsch hin zum Deutschen Reich Bismarcks verstanden; die DDR sah die deutsche Geschichte als eine von Klassenkämpfen mit versuchten und unterlassenen Revolutionen, die endlich auf Ulbrichts Staat zielten; und heute nun wird der lange Weg Deutschlands nach Westen beschworen – und überall erscheint das Individuum nur als Illustration von Thesen, falls es in diese paßt.
Nicht anders verhält es sich mit den Urteilen, die, immer im Interesse der Gegenwart, von der Historie gefällt werden. Sie müssen zwangsläufig pauschal ausfallen, können auf Einzelschicksale keine Rücksichten nehmen, so daß ein Zeitzeuge, der damals außerhalb oder gegen die Zeitströmung lebte oder zu leben meinte, das Urteil nur um den Preis selbstverleugnender Anpassung annehmen könnte, was mancher, um sich als jung oder dazugehörig zu erweisen, ja auch tut. Wer aber versucht hat, sich selbst die Treue zu halten, möchte nicht gern zu jenen Alten gehören, die sich mit Baseballmützen, die sie auch in der Kirche nicht abnehmen, wie Junge gebärden, Schönes als cool bezeichnen, sich den Unterschied zwischen Kunst und Vergnügungsbetrieb ausreden lassen, Höflichkeit für veraltet halten und in jedem Tabubruch einen Segen für die Menschheit sehen.
Der Drang mancher Alten, möglichst jung zu erscheinen, hängt wohl auch damit zusammen, daß man sich nie so alt fühlt, wie man ist. Das junge Herz in den Alten, von dem die Redensart kündet, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Denn mit der immer schneller dahineilenden Zeit, die den Körper verfallen läßt, kann die Seele nicht mithalten. Sie will immer noch tätiger sein, als die schwindenden Kräfte es zulassen, und versucht, die von Jahr zu Jahr sich verändernde Umwelt, in der man sich nicht mehr zurechtfindet, und die immer breiter werdende Kluft zwischen den Generationen unbeachtet zu lassen – bis man dann schließlich notgedrungen die wachsende Fremdheit als naturgemäß akzeptiert. Es entsteht eine eigenartige Solidarisierung mit den Altersgenossen, in der hinter deren Gemeinsamkeit der Erfahrungen frühere Feindschaften und Antipathien verschwinden. Und wenn diese Zeitgefährten dann wegsterben, ist man, auch unter Kindern und Kindeskindern, verteufelt allein.
Weder weiser noch abgeklärter wird man im Alter, wohl aber weniger anfällig für Modeerscheinungen und treffsicherer in der Menschenbeurteilung, weil man darin Jahrzehnte hindurch Erfahrungen sammeln konnte, die nicht so schnell wie unser Fachwissen veralten, sondern immer wieder anwendbar sind. Wer den Wechsel vieler Moden erleben und Zeitgenossen verschiedener Zeiten, sich selbst darin eingeschlossen, beobachten und in ihrer Entwicklung verfolgen konnte, hat dabei auch gelernt, sie einzuschätzen, das, was sie sind, und das, was sie darstellen wollen, auseinander zu halten und relativ schnell das dem eignen Charakter Fremde oder Verwandte in ihnen zu sehen. Seltener als in jungen Jahren täuscht man sich in ihnen oder läßt sich von ihnen täuschen. Die Anzahl der Frauen und Männer, die noch Neugier erregen können, wird deshalb geringer, und aus Selbstschutz ist man auch vor Enttäuschungen auf der Hut. Denn leider wird die Empfindlichkeit nicht, wie man vermuten könnte, mit steigendem Lebensalter geringer, sie wächst vielmehr mit dem schärfer werdenden Blick immer mehr an.
Man wird so hochgradig empfindlich, daß Erinnerungen an lange zurückliegende eigne Dummheiten und Verfehlungen, die man sich damals verziehen hatte, verspätet zur Qual werden können, und die Entwürdigungen, die man früher einmal hatte hinnehmen müssen, schmerzen, als seien sie noch akut. Man leidet stärker als früher unter dem nutzlosen Gerede an Kaffeetafeln und auf Konferenzen, unter den Phrasen von Referenten und unter dem Fernsehkitsch. Man glaubt, die Verrohung in Filmen und die intellektuellen Skrupellosigkeiten, mit der die Verwilderungen, auch unserer Sprache, als heilsam gepriesen werden, nicht mehr ertragen zu können, und ist von den geheuchelten Gefühlsaufwallungen eitler Politiker und gestikulierender Teilnehmer an Fernsehgesprächsrunden, als sei man verantwortlich für sie, peinlich berührt.
Wenn die Serienkiller, die Folterer, die im Öl verendenden Seevögel, die Schlachthäuser und Leichenberge auf dem Bildschirm erscheinen, kann man schlechten Gewissens, weil man sich blind stellt vor dem Bösen, den Apparat abschalten. Man kann sich in stoischem Denken üben, sich in die Arme der Geliebten oder in Kunst und Geschichte flüchten, sich Frühlingswiesen mit blauem Himmel vorstellen – oder aber sich den Kummer und die Sorgen von der Seele schreiben, in der wahnwitzigen Hoffnung, daß das außer dem Schreiber auch noch einigen Lesern ein wenig nützt.
Als unzeitgemäß wird es schon seit einigen Jahren empfunden, bei dem Gedanken an die Wiedervereinigung der Deutschen Genugtuung oder gar Freude zu zeigen, doch muß ich, damit man weiß, wer hier redet, zu Anfang meiner Betrachtung dergleichen noch einmal äußern, obwohl bald zwölf Jahre darüber vergangen sind. Ich muß also, sozusagen als Grundlegung für meine folgenden Gedanken, hier das Geständnis ablegen, daß mich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein historisches Ereignis so angenehm wie die deutsche Vereinigung von 1990 berührt hat und daß diese angenehmen Empfindungen, die sich anfangs als Jubel äußerten, in schwächerer Form andauern, allen Dummheiten, Fehlern, Ärgernissen und Widrigkeiten zum Trotz.