Zwischenbilanz - Günter de Bruyn - E-Book

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Günter de Bruyn

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Beschreibung

Günter de Bruyns Autobiographie über eine »Jugend in Berlin« Skeptisch und gelassen erzählt Günter de Bruyn in ›Zwischenbilanz‹ von seinem Leben in Berlin zwischen dem Ende der zwanziger und dem Beginn der fünfziger Jahre. Ein Entwicklungsroman und Epochenpanorama in einem, das vom Niedergang der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der DDR reicht.

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Günter de Bruyn

Zwischenbilanz

Eine Jugend in Berlin

FISCHER E-Books

Inhalt

GeschichtsquellenSchreiben als LebensersatzDie goldene Zeit der NotCliquen und FahnenMutterspracheSonntageKonvertiten-EiferJugendbewegtesKinofreudenPersil bleibt PersilAhnengalerieExekutionenTausendblütenduftHanne Nüte I.Hanne Nüte II.Hohenfriedberg und GroßbeerenWinnetous ErbenNon scholae, sed morti discimusAnpassungsversucheUnd den Menschen ein WohlgefallenFeldpostInternationales HinterpommernFortsetzung der Politik mit anderen MittelnKunsthonigStreichholzlängeHöhenluftDas PuppenhausGartenlaube und HerrenzimmerSaint Louis BluesDer SchweigerPfingstidyllWie in schlechten RomanenAber keine MenschenJohanna gehtDas FrontschweinDer AdjutantTäler und HöhenRebstöckeAphasiePolit-UnterrichtViktoriaWunder über WunderWaldeslustSchlösser und ScheunenErikaGeld und GutOchsenkutscherGrenzsituationenObrigkeitenMit uns zieht die neue ZeitLauter LiebeSanssouciGastronomischesGefährliche SümpfePholisophischesAstronomischesSeid bereitRückblick auf Künftiges

Geschichtsquellen

Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herumgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen; alles zu sagen, verspricht er nicht.

Bevor ich zu mir komme, ist die Frühgeschichte meiner Familie dran. Sie ist mir vor allem durch meine Mutter bekannt. Ihren Erzählungen fehlten zwar Chronologie und Zusammenhang, doch da ihre Erinnerungsbilder detailreich und farbig waren und wir sie wieder und wieder erzählt bekamen, stellte sich doch eine Familiengeschichte in Umrissen her. Sie begann im Jahre 1911 mit dem Januarabend, an dem der junge Mann, der später mein Vater wurde, auf dem Ball des Postgesangvereins in der Friedrichstraße seine Fähigkeit im Flirt und seine Unfähigkeit im Walzertanzen bewiesen hatte, setzte sich fort mit der Frage des Briefträgers Hilgert: Und wovon, Herr de Bruyn, wollen Sie meine Tochter ernähren? – und wechselte dann mehrmals den Schauplatz. Groß-Wasserburg im Unterspreewald, wohin die Verlobten ihre erste Reise unternommen hatten, wurde mit seinen Booten und Kanälen wie Venedig beschrieben; von Odessa war nur, neben der Erkenntnis, daß die Russen arme, kinderliebe Leute seien, die Erinnerung an Winterabende bei einer Konsulin geblieben; und von dem Eisenbahnzug des Roten Kreuzes, der sie und ihren vier Wochen alten Sohn (meinen Bruder Karlheinz) im Januar 1915 über Rumänien nach Berlin zurückgebracht hatte, wußte sie nur zu berichten, daß dort eine junge Mutter aus Wien genug Milch gehabt hatte, um den Karlheinz mitzuernähren, der bei ihr selbst nicht satt geworden war.

Diese Erinnerungen an die Erinnerungen meiner Mutter sind natürlich eine fragwürdige Geschichtsquelle. Die grobe Periodisierung: vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg, ersetzte die Jahreszahlen, und mit wachsendem Lebensalter wuchs bei der Erzählerin auch die Vergoldungstendenz. Trotzdem läßt sich auf diese Überlieferung bauen; denn nie widerspricht sie dem Dokument, das ich über diese Frühzeit besitze: dem Familienstammbuch, das am Hochzeitstag, dem 18. Oktober 1911, ausgestellt wurde, und das mir, da mein Vater neben Geburt und Tod auch andere Familienereignisse dort notiert hatte, ein zuverlässiges Gerüst von Daten und Fakten gibt. Bis 1915 ist es die einzige Quelle; über die Jahre danach berichtet ein seltsamer Briefwechsel, der 1919 endet, wenn das ersehnte Familienleben beginnt.

Das folgende Jahrzehnt ist arm an Briefen, aber nicht an Bildern. Denn mein Vater fotografierte, und die Fotos, die häufig betrachtet und den Jüngeren erläutert wurden, festigten unsere familienhistorische Kenntnis. Sie irritieren aber auch mein Erinnern. Lange habe ich eine Fahrt im Kindersportwagen, den meine Schwester schiebt, für meine früheste Erinnerung gehalten, bis nach Jahrzehnten ein entsprechendes Foto Zweifel in mir erweckte, ob mein Gedächtnis nicht vielleicht das Abbild für die Wirklichkeit nimmt. An eine narzißtische Phase, in der ich lange und wonnevoll Bilder von mir zu betrachten liebte, erinnere ich mich genau.

Mit Beginn der dreißiger Jahre, als meine Geschwister sich selbständig machten und ich mein bewußtes Leben begann, setzte eine Flut von Geschriebenem ein. Erinnerungssüchtige, also auch Archivierer, waren wohl alle Familienmitglieder; und da sich die Nachlässe aus Rußland und Österreich, aus München und Stuttgart am Ende bei mir in Berlin konzentrierten, fühle ich die Verpflichtung, hier nicht nur Selbstbeschauer, sondern auch Familienchronist zu sein. Besser zu einem solchen geeignet wäre freilich mein ältester Bruder gewesen. An entsprechender Stelle werde ich erzählen, warum.

Schreiben als Lebensersatz

Im Erzählrepertoire meiner Mutter fehlte seltsamerweise die Hochzeitsfeier, erwähnt wurde aber die Tatsache, daß weder ihr Vater, der Briefträger, noch ihr Schwiegervater, ein Schauspieler, mit der Heirat zufrieden gewesen war. Dem preußischen Postbeamten war ein bayerischer, katholischer, ungedienter und auswanderungswilliger Schwiegersohn unerträglich; dem Schauspieler dagegen, der aus einstmals vornehmer Familie stammte, war die Schwiegertochter nicht schön, nicht reich und nicht gebildet genug. Die Hochzeit wurde also im stillen gefeiert, vielleicht des fehlenden Segens der Väter wegen, vielleicht aber auch aus anderen Gründen, über die das Stammbuch keine präzise Auskunft gibt. Die erste nichtamtliche Eintragung besagt nämlich, daß am 19. Januar 1912, also drei Monate nach der Hochzeit, Jenny (so hieß meine Mutter) »wegen Fehlgeburt« in eine Privatklinik gebracht werden mußte; es fehlt aber die Angabe, in welchem Schwangerschaftsmonat dieses geschah.

Über die ersten zwei Ehejahre, die in den Erinnerungen meiner Mutter ausgespart wurden, berichten die Stammbuch-Notizen von Vaters Hand: »15. Septbr. 1912: Endlich hat sich Papa mit unserer Heirat ausgesöhnt. – 20. November 1912: Heute trat Jenny zum katholischen Glauben über. Zeugen: Herr Kaplan Kresse, der Küster von St. Bonifatius und ich. Deo gratias. – Sonntag, d. 15. Dezbr. 1912: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, des Herrn Name sei gelobt! Geb. 5 Uhr 45 N. ISOLDE! Gest. 6 Uhr 15N.Gott sei deiner armen Seele gnädig! – 5. März 1914: Heute fuhr ich allein nach Odessa (Südrußld.), um dort mein Glück zu versuchen. – 15. Juli 1914: fuhr Jenny mir nach Odessa nach. – 31. Juli 1914: Ausbruch des Krieges. – 4. Novbr. 1914: wurde ich aus Odessa ausgewiesen und nach Krassny-Jar, Gouv. Astrachan, verschickt; Jenny bleibt allein zurück. – 14. Dezbr. 1914: wurde in meiner Abwesenheit Karlheinz, abends 8 ½ h geboren. – 28. Februar 1915: fuhr m.Frau von Odessa über Rumänien und Österreich zu ihren Eltern nach Berlin, wo sie nach 12-tägiger Fahrt mit dem kaum noch lebenden Kinde ankam.«

Zwischen dieser Notiz und der nächsten, die die Heimkehr aus Rußland meldet, liegt der erwähnte Briefwechsel, zu dem auch Fotos in Postkartengröße gehören, die auf den Rückseiten mit Adressen und Stempeln versehen sind. Sie zeigen meine Mutter, 1915, 1916, 1917, in weißer Bluse, im schwarzen Kleid, im eleganten Kostüm, das Kind immer dabei, im Steckkissen erst, dann auf einem Gartentisch vor einer Parkkulisse sitzend, und schließlich, mitleiderregend o-beinig, auf einem Stuhl stehend, daneben das gerahmte Postkartenbild seines Vaters – dessen Original mir noch immer erhalten ist: ein ernster, verkommen aussehender, vollbärtiger Mann, mit Hut und Krawatte, aber ohne Jackett, das Hemd, nach russischer Art über die Hosen fallend, mit einem Strick in der Hüfte gegürtet, die Hände auf den Rücken gelegt. Als dieses Bild kam (so mußte meine Mutter jedesmal, wenn wir es sahen, wieder erzählen), habe ihr Vater sie schon die Frau eines Krüppels genannt; denn daß die Russen oder Kirgisen ihrem Mann die Hände abgehackt hätten, sei doch deutlich zu sehen; und daß er noch schreibe, besage gar nichts, denn das lerne man in der Not spielend, mit Fuß oder Mund.

Bei der Gefangenenpost, die über das Dänische Rote Kreuz befördert wurde, waren im Monatsabstand offene Karten erlaubt, die nur eine Seite zur Mitteilung ließen; denn die andere wurde für die Adresse in russischer und französischer Sprache, für Zensurvermerke und Poststempel gebraucht. Außer der Tatsache, daß man noch lebe, gesund sei und auf ein baldiges Ende der Trennung hoffe, erfährt man durch sie, daß das Geld knapp sei, aber immer noch reiche, daß Jenny in der Kreuzberger Nostitzstraße bei ihren Eltern lebe, sich von Näharbeiten und dem Beackern eines Gemüsebeetes auf dem Tempelhofer Feld ernähre, und daß Carl (das ist mein Vater) als Bäcker arbeite, sich mit eigner und fremder Literatur beschäftige und für Kopekenbeträge Sprachunterricht gebe: deutschen für Russen, russischen für Deutsche, und englischen und französischen auch.

Mehr als die Karten, die zur Hälfte die üblichen Floskeln bedecken, bietet ein 20-Seiten-Brief aus Odessa, in dem meine Mutter erzählt, was sie ißt, trinkt und näht, und wie sie den Jungen zur Welt bringt, den sie nicht stillen kann. Es ist ein Brief, der atemlos wirkt, obwohl er in Abständen von Tagen geschrieben wurde. Absatzlos werden Details aneinandergereiht, die erschüttern, während jeder Versuch, von Liebe zu reden, in Formeln erstarrt. Leichter als auf den Fotos aus jener Zeit kann ich in diesem Brief meine Mutter wiedererkennen: in ihrem Sinn fürs Praktische (der sie dazu treibt, die Herstellung der Babynahrung haargenau zu erklären), in ihrer Unsentimentalität (die sie die Sätze schreiben läßt: »Weihnachten habe ich diesmal ganz gestrichen. Wenn man daran denkt, ist man nur traurig. Friede auf Erden ist ja doch nicht.«), in ihrem Lebensmut, in ihrem Optimismus und in ihrem Drang zum Wohlanständigen, Besseren, Höheren, zu dem sie sich durch ihren Mann verpflichtet glaubte – und der mich später manchmal wütend machen, andere Leute aber amüsieren wird. Denn diesem Anspruch war sie nicht gewachsen. Die Sensibilität, die sie, um ihrem Mann zu gleichen, ständig zeigte, fehlte ihr in solchem Maße, daß sie das Unglaubwürdige daran, das jeder spürte, nie empfand.

Da sie den Vorsatz hat, mit ihrem Mann gemeinsam Fremdsprachen zu lernen, versucht sie in diesem Brief die lateinische Schrift zu benutzen, fällt aber immer wieder in die deutsche Steilschrift zurück. Die Gesetze der Sprache sind nicht ihre Stärke. 1914 hat sie die Hoffnung, ihrem Carl bald »das Kindchen im Arm legen« zu können, und das Foto von 1917 kommt »von Deiner Dir stets vertrauende Frau«.

Des Kindchens wegen schlägt sie die Möglichkeit aus, ihrem Mann in das Malaria-Klima der Wolga-Mündung zu folgen, und kehrt an den Kreuzberg zurück. Carl ist enttäuscht, und Mißtrauen quält ihn, doch als am Kaspischen Meer Flecktyphus ausbricht, billigt er nachträglich die Entscheidung der Frau. Zuviel schon habe sie in Rußland erleiden müssen, schreibt er im März 1915, »was Dich aber, wie ich zu hoffen wage, nicht hindern wird, später wieder mit mir hinauszuziehen in ein fremdes Land«.

Das steht nicht auf den Karten, die Berlin nach etwa 14 Tagen erreichten, sondern in Briefen, deren Beförderung nicht zulässig war. Fünf Oktavhefte wurden so vollgeschrieben, eine Art Tagebuch für die Geliebte, das dieser bis an ihr Lebensende die liebste Lektüre blieb. Liebesbeteuerungen, die auf Dritte stets komisch wirken und nur von der, an die sie sich richten, in die Sprache wahren Gefühls zurückübersetzt werden können, wechseln mit Erlebnisberichten; Mutmaßungen werden ausgesprochen, als sei mit ihrer Bestätigung oder Widerlegung zu rechnen; Fragen werden gestellt, als wäre die Hoffnung auf Antwort da. Jeder Brief klingt, als wäre er wirklich einer, so daß ich bei erster Durchsicht vermuten konnte, hier hätte mein Vater Briefe, die tatsächlich versandt worden waren, kopiert.

Im Vordergrund der Berichte stehen Geld-, Nahrungs- und Wohnungssorgen. Die Internierten dürfen das Städtchen, das 4000 Einwohner hat, nicht verlassen; sie dürfen kein Arbeitsverhältnis eingehen und müssen sich täglich auf der Polizeistation melden; sonst aber kümmert sich niemand um sie. Wer Geld hat, leidet nur unter Heimweh und Langeweile, wer keins hat, dem geht es schlecht. Carl erhält 15 Rubel im Monat von seiner Odessaer Firma. Anfangs reicht das zu einem kärglichen Leben, dann setzt mit einer Teuerungswelle die Hungerzeit für ihn ein. Als Aushilfe in der Backstube und beim Sprachunterricht kann er nur Kopeken verdienen. Die elenden Zimmer, die er bei Fischern und Arbeitern mietet, muß er alle paar Monate wechseln, weil sich die Miete, die anfangs fünf Rubel beträgt, immer weiter erhöht. Zeitweilig hat er nur selbstgeangelte Fische zu essen. Der Läuse und Ratten muß er sich ständig erwehren. Die feuchte Hitze der Wolgamündung versetzt ihn im Sommer in völlige Apathie. 1916 befällt ihn Malaria. Zu deren Bekämpfung muß er Chinin und Salzsäure schlucken, von denen sein Magen sich nie mehr erholt.

Gegen das, was er die »russische Krankheit« nennt und als grund- und ziellose Trauer erklärt, geht er mit Schreiben an. Neben dem Brief-Tagebuch und epigonalen Gedichten, in denen die stümperhaft imitierte klassische Form jeden eigenen Gedanken erstickt, verfaßt er Märchen, kurze Prosa und einen von sexuellen Nöten diktierten Roman.

Auch in den Briefen kommt Sexuelles häufig, aber immer gebändigt vor. Da werden Ehekrisen seiner russischen Wirtsleute erörtert, über seelische und sinnliche Liebe wird ausdauernd geredet, und die »teuflische Onanie« wird beklagt. Gedankliche Untreue (die immer Angst um die Treue der Frau erzeugt) wird gestanden, der Plan, ein russisches Dekamerone zu schreiben, wird flüchtig erwogen, und lustig wird vom Versuch eines Fehltritts berichtet, der vor der Tür einer als käuflich verrufenen Frau scheitert, weil ein Bekannter auftaucht, der nicht weniger verlegen ist.

Der Roman, in dem die unbefriedigten Triebe dann ausgelebt wurden, führte den Titel Gefangenenliebe, war also von der Situation seiner Entstehung durchaus inspiriert. Der Mann, der keine Frau hatte, erträumte sich eine Unzahl von ihnen, indem er sich zum Gefangenen von Amazonen machte, die ihre verschiedenartigen Begierden von ihm gestillt haben wollten – was ihm natürlich, da seine Potenz nie versiegte, auch glänzend gelang. So eindeutig diese Paarungsvisionen auch waren, der Wortschatz, mit dem sie beschrieben wurden, war vorwiegend der Pflanzen- und Tierwelt entnommen, blieb also wohlanständig und wurde niemals vulgär.

Um das Andenken ihres verstorbenen Mannes zu schützen, hat meine Mutter den Roman später vernichtet. Doch ich hatte ihn als Siebzehnjähriger schon gelesen und war schockiert. Die Liebe der Eltern und die ganze Familie schien mir auf Lügen gegründet. Auch meine Mutter, die mit diesem Mann hatte leben können, wurde mir widerwärtig. Die heile Kindheitswelt brach mir entzwei.

Später gelang es mir, den Romanschreiber vom Vater zu trennen. Heute, da ich in einem Alter bin, das er nicht erreichte, kann ich die beiden wieder zusammendenken: den Internierten, der nur schreibend lebte, und den Vater meiner Erinnerungen, den schweigsamen Dauerleser, der uns den Rücken zukehrte, den geduldigen Kranken, der, mit den Händen den schmerzenden Magen pressend, nachts durch die Wohnung wandert, den gütigen, hilflosen Mann, dem alles, außer der Liebe, mißlang.

Die goldene Zeit der Not

Hätte ich meinen Vater in den zwanziger Jahren erleben können, wäre mein Bild von ihm sicher anders geworden; denn das war seine beste und glücklichste Zeit. Sie begann für ihn mit zwei Revolutionen: mit der russischen, der er seine Heimkehr verdankte, und mit der deutschen, die ihn davor bewahrte, noch in den Krieg zu ziehen. Leider bieten die fünf Hefte der Brief-Tagebücher nichts über die russischen Vorgänge; die wurden im sechsten behandelt, das später vernichtet wurde; Gründe dafür gab es genug. Auf den Postkarten an seine Frau steht nur Beruhigendes: Sorgen um ihn brauche sie nicht zu haben, mehr als den Kanonendonner aus Astrachan hätten sie von den Unruhen nicht gehört. Monatelang kommt danach keine Nachricht, bald aber kommt er selbst. Am 3. März 1918 wird in Brest-Litowsk der Friedensvertrag unterzeichnet; am 25. April kann der »deutsche Reichsangehörige Carl de Bruyn«, mit einem »Schutzbrief« des Königlichen Schwedischen Generalkonsulats in der Tasche, die Wolgamündung verlassen, verschiedene Fronten durchqueren, am 15. Juni Berlin erreichen und dort drei Monate als freier Mann leben, dann kommt der Gestellungsbefehl. Wie zwei Jahrzehnte danach seine Söhne, hat sich der Vater mit einem Persilkarton in der Hand an einem Berliner Bahnhof zu melden, um in Waggons gesperrt und abgefahren zu werden, in neue Gefangenschaft.

Wieder geht es nach Osten, aber nur bis zur Warthe. Am Stadtrand von Landsberg (doch nicht in der großen Kaserne, in der im folgenden Krieg Gottfried Benn stumpfsinnige Jahre verbrachte) soll er zum Kanonier gemacht und an die Westfront verfrachtet werden, aber er zeigt wenig Neigung dazu. Er reicht Entlassungsgesuche ein, bemüht sich, als Dolmetscher verwendet zu werden, sucht Ärzte auf – und schreibt jeden Tag seiner Frau einen Brief. Der schönste und längste entsteht Ende September. Jenny wird einunddreißig, und er gratuliert ihr. Die Angst vor dem Tod und der endgültigen Trennung gibt ihm den Mut, sich ihr ganz zu öffnen und eine uns heute barock anmutende Frömmigkeit zu enthüllen – die er später an seine Kinder weiterzugeben versucht. Ich habe die Echtheit seiner religiösen Gefühle früher manchmal bezweifelt; seit ich diesen Brief kenne, bin ich von ihr überzeugt.

Sein kranker Magen beschäftigt den Oktober hindurch die Ärzte. Die aber halten ihn für kriegstauglich. Mitte November soll seine Truppe nach Frankreich verladen werden. Jenny will ihn noch einmal besuchen. Er kann mit Mühe ein Gasthauszimmer für sie reservieren. Doch kurz vor dem vereinbarten Wochenende kommt eine Karte von ihm, die ihr rät, zu Hause zu bleiben, die Eisenbahnen seien gestört. Am Sonntag, dem 10. November, gibt er schriftlich Bericht darüber, wie die Revolution im 3. Rekruten-Depot in Landsberg verlief:

»Am Abend beim Essenholen merkte man schon an der allgemeinen Stimmung, daß sich etwas vorbereitete; die Nudeln, sonst das reine Wasser, waren dicker geworden, und als sich viele zur zweiten Portion sammelten, ließ der Offizier vom Küchendienst noch extra einen Kessel voll kochen, um die hungrigen Mäuler zu stopfen. Abends kurz vor 9 h traf das Extrablatt vom Sieg der Revolution in Berlin ein. Wir legten uns schlafen wie immer, nur daß wir noch längere Zeit über einige unserer Vorgesetzten schimpften. Um ¾ 12 h wurden wir von einem großen Radau geweckt, und siehe da, unsere Kameraden waren eifrig damit beschäftigt, von allen Mützen die preußischen Kokarden abzureißen. Sie erzählten uns, daß sich ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet habe, daß alle Offiziere entwaffnet seien, die Mannschaften ohne Seitengewehr und Karabiner auf der Straße gingen und alle Posten abgelöst seien. Unter großem Hallo setzten sich einige hin und spielten bis zum Morgen Karten, so daß an ein Schlafen nicht zu denken war. – Heute morgen um 6 h stand alles auf, Kaffee wurde geholt wie immer, und dabei wurde auch festgestellt, daß drei unserer Leute getürmt waren. Um 9 h war Versammlung. Unser Feldwebel hielt eine schöne Rede, in der er zur Wahl 1 Unteroffiziers, 1 Gefreiten und 1 Mannes zum Soldatenrat aufforderte. Dann kam der Offiz.-Stellvertreter Gottschalk, der schön angeschmiert wurde. Wir gaben ihm deutlich genug zu verstehen, daß er verschwinden solle. Er konnte gar nicht begreifen, daß er uns so tief beleidigt haben solle, bat direkt um Verzeihung, erhielt sie aber nicht. Mit dem Oberleutnant und dem Feldwebel dagegen erklärten wir uns zufrieden. Zu Mittag gab es wie immer Pellkartoffeln und Gulasch, aber nicht doppelte Portion, wie uns versprochen worden war. Um 2 h war großer Umzug, bei dem ich allerdings nicht mitmachte. Sonst ist alles wie immer, nur daß man die Vorgesetzten nicht grüßt.«

Von Revolution ist später so wenig die Rede wie vom Krieg, der verloren wurde. Der Briefschreiber denkt nur an Heimkehr. Die Demobilisierung geht ihm zu langsam. Als auch die Hoffnung schwindet, als Bayer eher als die Preußen von den »Preußen« loszukommen, nimmt er sich vor, heimlich zu Fuß nach Hause zu wandern, führt aber, da er ohne Entlassungsschein keine Lebensmittelkarten erhalten würde, den Vorsatz nicht aus. Er sitzt in der Schreibstube und registriert Frontheimkehrer, schreibt abends, wie immer, seine Briefe an Jenny, freut sich über die Entlassungsuniform und die neuen Stiefel – und ist Ende November wieder ein freier Mann.

Im Sommer schon hatte man eine Ein-Zimmer-und-Küche-Hinterhauswohnung am Kreuzberg gemietet. Für Carl beginnt nun die Arbeitssuche; Jenny verdient mit Näharbeiten die Miete. Im Krieg hat sie auf ihrer schwarzen Singer-Nähmaschine Wach- und Reitmäntel gefertigt, jetzt ändert sie Uniformen, näht Kindermäntel, ist gegen Butter und Eier für ihre ländliche Verwandtschaft tätig, während die Mark verfällt und aus der dreiköpfigen Familie eine fünfköpfige wird. Das Existenzminimum ist durch die Singer gesichert. Mehr will und braucht man nicht, da die Freuden, die man genießt, keine käuflichen sind.

Der Beruf meines Vaters war, laut Heiratsurkunde, Handlungsgehilfe, und als solcher trat er im Mai 1919 eine Stellung am Dönhoff-Platz an. Sechs Jahre später verließ er sie freiwillig wieder, um selbständig zu werden, doch worauf diese Selbständigkeit sich gründen sollte, war aus meiner Mutter nicht herauszubekommen; sie hatte die unsicheren Zeiten, die um das Jahr meiner Geburt lagen, weitgehend verdrängt. An Hand eines Fotos, das ihren Mann in einer Ladentür zeigte, glaubte sie sich an die kurzfristige Pachtung einer Bäckerei erinnern zu können; und ein zufällig erhalten gebliebener Briefkopf: Carl de Bruyn, Versandhandlung, Berlin SW19, Fidizinstraße 41, sagte ihr nichts. Sie bestand darauf, daß ihr Mann versucht hatte, als freier Schriftsteller zu leben; doch was er, außer den Weihnachtsgedichten und -märchen für seine Kinder, in diesen Jahren geschrieben hatte, wußte sie nicht. Geschrieben hat er doch immer, wenn er nicht mit euch spielte, sagte sie ungeduldig; und als ich ihr eine Zeitungsannonce zeigte, in der Carl de Bruyn das Angebot machte, preiswert englische, französische und russische Texte zu übersetzen, meinte sie achselzuckend: Vielleicht war es auch das.

Lange hat wohl die Arbeitslosigkeit nicht gedauert. Zwar gehört zum Erinnerungsbild meiner glücklichen Frühzeit ein Vater, der Zeit und Lust hat, mit den Kindern zu spielen, doch kann dieses Bild auch zu späteren Zeiten gehören, als ihn die Kirche mit Heimarbeiten versorgte, sich die Kirchensteuerbescheide zu Bergen türmten und meine älteren Geschwister zählten, falzten und klebten, während ich am Boden hockte, Kartenhäuser baute und die freundliche Betriebsamkeit um mich herum genoß.

Die Kirchensteuerbehörde, die auf den seltsamen Namen Gesamtverband (der katholischen Kirchengemeinden Groß-Berlins nämlich) hörte, wurde für meinen Vater dann zur ständigen Arbeitsstelle, bei der er bis zu seinem Tod blieb. Nach seinen Versuchen, ein abenteuerliches Leben zu führen, hat er das lange als Niederlage und Versagen empfunden, es 1933 aber begrüßt. Denn im Raum der Kirche lebte er unbehelligt; niemand verlangte von ihm Bekenntnisse, die er nicht ablegen konnte; seine Weigerung, sich der Gewalt anzupassen, wurde ernsthaft nie auf die Probe gestellt. Er lebte in den Enklaven Familie und Kirche, das feindliche Umfeld wurde nur zweimal täglich flüchtig passiert.

Obgleich er sich für Politik nicht sonderlich interessierte, wäre es falsch, ihn unpolitisch zu nennen. Er wählte das Zentrum, dessen Zeitungen er auch abonnierte; alles, was er für preußisch hielt, war ihm zuwider; und das Übernationale am Katholizismus imponierte ihm. Gern betonte er die Verflochtenheit unserer Familie mit halb Europa. Die de Bruyns kamen aus Holland, die Hilgerts, falls an der Sage was dran war, aus Frankreich, er selbst war in der Schweiz, sein ältester Sohn in Rußland geboren und mit österreichischer Muttermilch am Leben gehalten worden, während sein Vater, der Schauspieler, bei den Tschechen begraben war.

Ernst war es ihm mit dem Hinweis, daß wir alle die bayerische Staatsangehörigkeit hätten, uns in Zeiten der Not also dorthin wenden sollten – eine Mahnung, die ich glücklicherweise niemals beherzigt habe; denn der »Heimatschein des Freistaates Bayern«, den ich noch heute besitze, trägt zwar die Namen meiner älteren Geschwister, aber den meinen nicht mehr. Mein Heimatrecht einzuklagen, hätte mir auch moralisch nicht zugestanden; denn in der Nord-Süd-Diskussion, die uns ständig bewegte, stand ich auf mütterlichpreußischer Seite, hauptsächlich deswegen, weil ich kein Mehlspeisen-, sondern ein Kartoffelfreund war.

Als bayerischer Patriot mißtraute mein Vater dem Nationalstaatsgedanken; Reichseinheit war ihm Reichseinerlei. Der Zentralismus hatte seiner Meinung nach die alten Mannigfaltigkeiten eingeebnet und den Deutschen eine Tugend ausgetrieben, die ihnen durch die Unterschiede, die von Ort zu Ort bestanden hatten, einmal anerzogen worden war: die Toleranz. Die lebt vom Wissen um die Unterschiede, Intoleranz dagegen ist beschränkt.

Die Toleranz innerhalb unserer Familie wurde ermöglicht durch ein Gewebe traditioneller Regeln. Vom täglichen Morgen- und Abendgebet über die Gestaltung der Sonntage bis hin zum Höhepunkt des Familienjahres, der Weihnachtsfeier, waren wir in Rituale eingebettet, die nicht als Zwänge empfunden wurden, sondern als Sicherheit. Sie bildeten den festen Rahmen, in dem die Individualitäten sich entwickeln konnten, relativ frei, wenn auch durch ein Gesetzsystem gebunden, das dafür sorgte, daß die Eigenart des andern auch geachtet wurde und der Stärkere dem Schwächeren nicht den Lebensraum beschnitt.

Dieses leicht verletzliche Tolerierungssystem zu beachten, fiel besonders meiner Mutter schwer. Sie konnte nur das ihr Vertraute für normal und richtig halten, neigte also dazu, die Kinder nach ihrem Bilde formen zu wollen, und da ihre Erziehung vor allem Gehorsamseinübung bedeutete, geriet die befehlsgewaltige Mutter in ihr mit der gehorsamen Gattin, die dem toleranten Mann alles recht machen wollte, oft in Konflikt. Nicht Liebe, die hatte sie reichlich, wohl aber Güte, Geduld und Sanftmut mußten ihr oktroyiert werden; doch da sie sich, um die Autorität des Vaters zu stärken, gern als gehorsame Frau zeigte, gelang das ganz gut.

Dieses in Vater und Mutter verkörperte Widerspiel von Liberalem und Autoritärem wurde in der Familie als Sinnbild für preußisch-protestantisches und süddeutsch-katholisches Wesen genommen, es war aber wohl eher sozial bedingt. Während die Mutter, eine Soldaten- und Beamtentochter, mit dem Glauben an die Allmacht des Vaters und des Staates und des Kaisers aufgewachsen war und unter Glück die Sicherheit in Lohn und Brot, wenn möglich mit Pensionsberechtigung, verstanden hatte, war mein Vater in sozial, politisch, geographisch nicht recht festgelegten Verhältnissen groß geworden, wo Erfahrungsvielfalt Toleranz zur Folge hatte und, außer dem Katholischsein, sich nichts von selbst verstand. Seine Eltern, die beide Schauspieler waren, hatten, der wechselnden Engagements wegen, nie seßhaft werden können, und in die Städte ihres Wirkens hatten sie von ihren sieben Kindern immer nur die jeweils kleinsten mitgenommen; die anderen blieben irgendwo bei Pfarrern, Lehrern oder mittellosen Witwen in Pension. Auf einem Foto von 1890 etwa ziehen alle sieben in phantastischen Kostümen einen Blumenwagen; auf einem andern, späteren, steht der etwa dreizehnjährige, blonde Carl, der älteste von ihnen, mit ernstem, wissendem Gesicht, im schwarzen Anzug, weißem Hemd mit Schleife, vor einer Palmen- und Schlingpflanzen-Kulisse, in der Hand den Hut, am Arm den Bruder Franz, der kleiner ist, doch unerschrockener aussieht (und der 15 Jahre später an der Westfront sterben wird). Das erste Foto ist in einem Augsburger Lichtbildatelier gemacht, das zweite beim Königlichen Hof-Photographen J.W. Hornung, Uhlandstraße 11 in Tübingen, wo die Brüder als Pensionäre vier Jahre wohnten und das Gymnasium besuchten, bis Carl, einer Zirkustänzerin wegen, floh. Ob es Riga oder nur Riesa gewesen war, bis wohin er die Truppe begleitet hatte, wußte meine Mutter, die geographische Vorstellungen mit keinem der Orte verband, nicht zu sagen, wohl aber daß sein Vater ihn aufgegriffen und in ein Kontor nach Hamburg verbannt hatte, wo seine Mutter Souffleuse am St.-Pauli-Theater geworden war. So kam es, daß mein Vater, dessen Geschwister alle Schauspieler oder Musiker wurden, als einziger der Familie einen bürgerlichen Beruf ergriff. Glücklich in ihm wurde er nicht. Die Sehnsucht nach künstlerischer Betätigung blieb, wie auch die Reiselust.

1914 hatte sie ihn über Odessa nach Afghanistan führen sollen. Später opferte er sie der Familie auf. Schwacher Ersatz wurden seine Einzelwanderungen, die er sich auch als kranker Mann nicht nehmen ließ. Einmal im Jahr, im Herbst, fuhr er mit einem Rucksack und mit wenig Geld nach Schlesien, in den Harz, in die Alpen, die Karpaten, später auch nach Norwegen und Dalmatien, wanderte wochenlang allein, schrieb manchmal Liebesbriefe, auch gereimte, an die Frau und Ansichtskarten an die Kinder, die sich wenig für den Großen Arber oder den Jablunka-Paß interessierten, sehr dagegen für den Tag, an dem der Vater wiederkam. Er fehlte ihnen: als Richter bei den Streitereien mit der Mutter, als Begleiter, der den langen Weg zur Kirche sonntags mit Geschichten kürzte, und als Initiator all der Würfel, Karten-, Brett- und Sprach- und Ratespiele, die ohne ihn an Qualität verloren, da seine Phantasie, noch ehe Langeweile merkbar wurde, immer neue Spielvarianten schuf.

Von den Erlebnissen seiner Reisen erzählte mein Vater so wenig wie auch sonst von sich selbst. Vielleicht tat er das abends seiner Frau gegenüber, wenn die Kinder, relativ früh, ins Bett geschickt wurden; aber ich glaube es nicht. Verschlossen war er bis dorthinaus, pflegte meine Mutter später, aber bewundernd, zu sagen, und ich muß es ihr glauben, weil es meiner Erinnerung entspricht.

Viel sagt das freilich nicht; denn ich, als der Jüngste und nicht der Klügste, war nie ein Gesprächspartner für ihn. Als ich zur Schule kam, quälte die Krankheit ihn schon; ehe ich 15 wurde, war er schon tot. Sein Interesse an der Familie hatte er lange vorher verloren. Seine letzte Eintragung auf den Gedenkblättern des Stammbuches ist bezeichnenderweise die Mitteilung meiner Geburt: »1. Novbr. 1926 ist abends 9 ½ h ein 8 ½ Pfund schwerer Junge, Günter Martin, geboren. Die Wehen dauerten von morgens 3 h an. Günter hat sich dabei einen Schlüsselbeinbruch auf der rechten Seite zugezogen. Möge er groß und gut werden!«

Cliquen und Fahnen

Historische Details, die dem Zeitgenossen unerheblich erscheinen, können dem Nachgeborenen symptomatisch sein; das kommende große Unheil kündigt sich durch Kleinigkeiten schon an. Die Chronik meines Geburtsjahres ist voll davon, und auch der Tag meiner Geburt zeigt in zwei Ereignissen schon die Katastrophentendenz: Goebbels wird zum Gauleiter der NSDAP in Berlin ernannt, und Reichsbahn und Reichspost führen um Mitternacht die 24-Stunden-Zählung ein. Einen Zusammenhang bekommt das in der Rückschau erst: Wahn- und Präzisionsdenken schreiten gleichzeitig voran; während die Ethik verfällt, wird die Technik verfeinert; die Modernisierung, für die das Jahr 1933 keine Zäsur bedeutet, wird die Perfektionierung des Mordens ermöglichen, in Auschwitz, in Coventry, an der Front.

In beide Richtungen werden 1926 immerfort die Weichen gestellt. Während der Volksentscheid über die entschädigungslose Fürstenenteignung scheitert, wird im Reichstag entschieden, daß neben den Farben der Republik auch das Schwarz-Weiß-Rot des alten Reichs amtlich ist. Die Feier des Rückzugs der Besatzungstruppen aus Köln und Bonn wird mit nationalistischem Pathos begangen und auch im Rundfunk übertragen, der schon mehr als eine Million Empfänger hat. Im Geheimen wird aufgerüstet, und das künftige Autostraßennetz wird entworfen. Der Gloria-Film-Palast am Kurfürstendamm wird eröffnet und der erste Tonfilmversuch vorgeführt. Die Reichspost kreiert die Schmuckblatt-Telegramme, und in Berliner Straßen leuchten die ersten Verkehrsampeln auf.

Stärker als an diesen zentralen Ereignissen waren meine Eltern, die noch immer in einem Zimmer mit Küche am Kreuzberg wohnten, wahrscheinlich an einem peripheren interessiert: an der Bautätigkeit in Berlin-Britz. Dort nämlich hatten sie eine Wohnung in Aussicht, die zwar kaum größer als die alte, aber mehrräumiger, heller und komfortabler war. Statt Gasbeleuchtung gab es dort Elektrizität; ein Bad war da, und wenn man aus dem Fenster blickte, sah man nicht Hinterhöfe, sondern Parks und Wiesengrün.

Sechs Jahre vorher hatte das Dorf Britz noch zum Kreis Teltow gehört. Zwar war es um die Jahrhundertwende schon an die Stadt Rixdorf, die später Neukölln hieß, mit einer locker bebauten Straße herangewachsen, doch hatte es seinen dörflichen Charakter, mit Kirche, Dorfteich, Schloß und Schule in der Mitte, noch bewahrt. Der abseits zwischen Feldern und Wiesen gelegene Buschkrug, der seit dem 14. Jahrhundert schon den Reisenden zwischen Berlin und der Lausitz als Raststätte gedient hatte, war zum beliebten Ausflugslokal geworden. Die Nähe der Großstadt hatte Gärtnereien entstehen lassen, die Berlin mit Rosen versorgten und Jahr für Jahr das Britzer Rosenfest arrangierten; kurz nach dem Krieg war nordwestlich des Dorfes eine Fleischwarenfabrik hinzugekommen; und nun wurde die östliche Feldmark, in Richtung Johannisthal und Baumschulenweg, für den sozialen Wohnungsbau genutzt. Unter der Leitung von Bruno Taut und Fritz Wagner entstand hier, erstmalig in rationeller Typenbauweise errichtet, die erste Großsiedlung Deutschlands (mit 1000 Wohnungen), die bis heute dem modernen Bauen in sozialer und ästhetischer Hinsicht ein Vorbild ist. Östlich an diese sogenannte Hufeisensiedlung anschließend, wurde zu gleicher Zeit eine zweite, mehr romantisierende Siedlung gebaut. Hier, in der Rudower Allee 8, zwei Treppen rechts, wurde ich kurz nach Fertigstellung des Baus geboren. Hier habe ich 17 Jahre und einen Monat gewohnt. Dann hat eine Luftmine das Haus zerstört.

Groß war die Wohnung nicht. Neben Küche und Bad gab es zweieinhalb Zimmer: für sechs Personen nicht viel. Mein ältester Bruder Karlheinz bewohnte die nicht heizbare Kammer; die siebenjährige Gisela mußte im Wohnzimmer, ich Kleinkind bei den Eltern schlafen, und für den fünfjährigen Wolfgang wurde abends in der Küche ein Ziehharmonikabett aufgestellt. Bewußt aber war mir die Enge nie. Der vermutliche Zusammenhang, der zwischen ihr und dem Drang der Geschwister bestand, das Elternhaus bald zu verlassen, wurde mir erst nachträglich klar.

Im Gegensatz zu Bruno Tauts Siedlung mit ihren kubischen Formen und satten Farben setzte die unsere mit Satteldächern, Erkern, Fensterläden und spitzbogigen Balkonen den sogenannten Heimatstil fort. Einfamilienreihenhäuser mit Gärten bildeten zum Teil gewundene Straßen, die eine Kleinstadtatmosphäre schufen, und eine Mauer aus dreigeschossigen Häusern schirmte die großen Innenhöfe gegen die verkehrsreiche Rudower Allee (heute Buschkrugallee) ab. Lag ich abends im Bett, ohne einschlafen zu können, ließen die Autos, die ab und zu kamen, Lichtflecke über die Zimmerdecke wandern, und da Platanen die Straße flankierten, wurden phantastische Formen daraus. Die Straßenbahnen (Elektrische genannt) ratterten vorbei (die 21 in 15-, die 47 in 30-Minuten-Abständen), und gegen Morgen war Pferdegetrappel zu hören; der Bierwagen kam oder der Kohlenhändler oder der Einspänner vom Gut, dessen Kutscher die Hausfrauen laut klingelnd zu einem Tauschgeschäft einlud: Brennholz für Kartoffelschalen!

Nach vorn raus konnte man, da die östliche Seite der Allee nicht bebaut war, über die Britzer Wiesen hinweg bis nach Johannisthal sehen, nach hinten raus aber sah man den Hof, wo sich zwischen terrassenförmig ansteigenden Rasenflächen die Müllkästen und Teppichklopfstangen hinter Hecken und Baumgruppen versteckten, während die Buddelkästen offen dalagen, damit die Mütter beim Waschen und Kochen ihre Kleinsten beobachten und notfalls vom Küchenfenster her auch eingreifen konnten, wenn Zank die Sandkastenharmonie unterbrach.

Meine ersten Erfahrungen mit der Welt außerhalb der Familie stammten von diesem Hof. Unfrieden und Ungerechtigkeit, Entwürdigung und Zerstörungslust habe ich da erlebt, Angst und getäuschtes Vertrauen kennengelernt, aber die Liebe auch: eine Woche, einen Monat, einen Sommer lang kannte der Vier- oder Fünfjährige keine größere Wonne, als eine Dreijährige zu beschützen und ihr beim Sandkuchenbacken behilflich zu sein. Warum es unter den vielen Mädchen, die es dort gab, gerade dieses und nur dieses war, beschäftigte den Vierjährigen lange, aber auch der Sechzigjährige weiß noch keine Antwort darauf; er hat nur gelernt, sich nicht mehr darüber zu wundern.

Auch Schauplatz meiner ersten (wie schon gesagt durch ein Foto fragwürdig gemachten) Erinnerung war dieser Hof, und zwar sein südlichstes Ende, an dem ich vorher nie war. Hier fuhr mich meine Schwester im Sportwagen umher und erteilte mir eine Geschichtslektion: Als unsere Häuser schon standen, waren hier noch Baugruben und Lehmberge zu sehen, und die Havermannstraße, die jetzt auf die Freitreppe zuführte, war nichts als ein sandiger Weg. Seltsamerweise erfüllte mich diese Mitteilung mit Angst und mit Trauer; die Veränderbarkeit meiner Welt kam mir unheimlich vor.

Meine ganze Kindheit über ging mir das so: Neuerungen erzeugten Unbehagen in mir, jeder Wechsel wurde als schmerzlicher Abschied empfunden, durch Änderungen wurde die Wirklichkeit, wie in Alpträumen, in furchteinflößender Weise verzerrt. Als die Allee, die erst einbahnig war, auf zwei Bahnen verbreitert wurde, rief das zum erstenmal das scheußliche Gefühl ohnmächtiger Wut hervor, und als dann auch noch die Wiesen eingezäunt wurden, forderte diese Freiheitsbeschneidung kindlichen Widerstandswillen heraus. Die Straßenbauer fanden morgens ihre Laufbretter und Karren nicht mehr; die Kabeltrommeln waren in die Gräben gerollt, der Drahtzaun durchlöchert und untergraben, und in der Laubenkolonie, die sich auf unseren Wiesen breitmachte, waren die jungen Obstbäume ausgerissen und die Fenster entzwei. Aber aufzuhalten war damit die Einkreisung nicht. In das letzte Stück Wildnis am Parkrand wurde ein Kriegerdenkmal gesetzt. Das Stoppelfeld, auf dem man im Herbst den Drachen hatte steigen lassen, war im Frühjahr zu Bauland geworden. Kaum hatte man an etwas sein Herz gehängt, war es schon wieder verloren. Da ständig etwas geschah, auf das man keinen Einfluß hatte, wurde man früh auf das Ertragen des Ohnmachtsgefühls gedrillt. Und auch die Problematik jeden Widerstandes wurde klar: man trifft immer den Falschen, den ebenfalls Ohnmächtigen nämlich, weil man den Mächtigen, dem die Wut eigentlich zu gelten hätte, nie zu sehen bekommt.

So groß mein Beitrag zur späteren Legendenbildung über den Krieg mit den Parkwächtern, Straßenarbeitern und Polizisten auch war, so unbedeutend war meine Rolle in den Freiheitskämpfen selbst. Ich war der kleinste Mitläufer der Clique (ein Wort, das ich lange noch Klicke schrieb und nie mit der ihm zustehenden negativen Bedeutung belegen konnte) und wurde in ihr nur geduldet, weil Wolfgang, mein Bruder, ihr Anführer war. Seines Schutzes gewiß und dennoch von Angst gepeinigt, machte ich alle Abenteuer in Höfen und Parks, auf Straßen und Wiesen mit und lernte dabei nicht nur die weitere Umgebung kennen, sondern auch meine Unfähigkeit zum Leben im Kollektiv. Jeder Junge (Wolfgang nicht ausgenommen), den ich als Einzelperson kannte, wurde mir, wenn er Mitglied der Gruppe war, fremd; er verwandelte sich. Aus einem Kind, das sich normal bewegte und zu Gesprächen fähig war, wurde ein alberner Schreihals und Prahlhans, der den Mut von Zehnen in sich spürte und keines vernünftigen Gedankens mehr fähig war. Ich aber blieb, auch wenn ich aus Opportunismus mitjohlte, immer derselbe; das völlige Eintauchen in den Gemeinschaftsgeist war mir verwehrt.

Die Clique, die viel anarchistischen Freiheitsdrang, aber keine feste Spielideologie hatte, sich mal als Schillsches Freikorps, mal als Indianerstamm, als Räuberbande oder Landsknechtshaufen verstand, duldete im allgemeinen Mädchen nicht in ihren Reihen, doch an dem Frühlingstag, an dem die kollektive Prahlerei in kollektive Quälerei sich wandelte, war meine Schwester Gisela, zwei Jahre älter als mein Bruder Wolfgang, auch dabei. Nach Rebhuhnjagden, die wie stets erfolglos geblieben waren, ruhten wir uns an einem der stinkenden Gräben, die die Wiesen netzartig überzogen, im Sonnenschein aus. Die Wasserratte, die von Wolfgang gesichtet wurde, hatte bei zehn Verfolgern, die mit Stöcken, Bogen und Katapulten bewaffnet waren, keine Chance zu entkommen; sie flog an das Ufer, wurde in eine Sandkuhle getrieben und mußte jeden Versuch, den Kreis, den ihre Peiniger um sie gebildet hatten, zu verlassen, mit Stockhieben bezahlen, die immer von der Mahnung begleitet wurden: Schlagt sie nicht tot! Der Unglückliche, der versehentlich den Todesschlag führte, wurde beschimpft und bedroht und schließlich dazu verurteilt, der Ratte den Kopf abzubeißen, also den anderen ein neues Objekt ihrer Lust zu sein. Stumm umgaben sie ihn, sahen, mit Ekel gemischte Spannung in den Gesichtern, zu, wie er den nassen, blutigen Leichnam ergriff und zum Munde führte. Da sprang meine Schwester, die mich bei Beginn der Rattenjagd schon beiseite gezogen hatte, mit hysterischem Kreischen auf Wolfgang zu, warf ihn, der sich nicht wehrte, ins Gras, zerrte an seinen Haaren und schrie: »Hört auf! Hört endlich auf!« Niemand vergriff sich an ihr, niemand kam Wolfgang zu Hilfe. Der Verurteilte, ein schmächtiger Langer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, da alle ihn Neuerte (das ist: der Neue) nannten, sah, daß der Wahn zerstört, das grausame Spiel zu Ende war, warf die Ratte ins Wasser, säuberte sich im Gras die Hände und lief vorsichtshalber davon. Langsam, ohne den Vorfall zu kommentieren, gingen die anderen. Nur Gisela lag noch lange und weinte.

Zu den Sagen aus Heldenzeiten, die ich in den Jahren danach meinem Freund Hannes erzählte, gehörte diese Geschichte nicht. Auch meine Geschwister erwähnten sie nie, und mir gelang zeitweise, sie zu vergessen; doch wenn in den nächsten Jahrzehnten Erlebnisse ähnlicher Art mich verstörten, brach die Erinnerung daran wieder auf.

Wolfgangs Nachfolger wurde ich nicht. Als ihn die Mädchen mehr als die Abenteuer zu locken begannen, löste seine Clique sich auf, und ich hatte weder die Kraft noch den Drang, sie wieder zu gründen. Ich erzählte nur gerne von ihr- und ich lernte dabei, daß man Wirklichkeit durch Erzählen nur schattenhaft wiederbelebt, wenn die Fähigkeit fehlt, sie um Mögliches, das wie Wirkliches wirkt, zu ergänzen. Tatsachenberichte einfallslos aneinandergereiht, ergeben nur blasse Geschichten; erst die Erfindung verleiht ihnen Kontur. Also kam zu den Rebhuhnjagden endlich die Beute hinzu; die den Straßenarbeitern entwendeten Karren wurden zu Kleinlokomotiven und Loren; und wenn wir auf trockenen Wiesen ein Feuer entfachten, das außer Kontrolle geriet, liefen wir nicht, wie wirklich geschehen, erschrocken davon, sondern alarmierten die Feuerwehr, halfen beim Löschen und wurden für selbstlose Hilfsbereitschaft geehrt.

Ein schlechtes Gewissen, das mich bei jeder Gelegenheitslüge plagte, hatte ich beim Erzählen nie. Vielleicht war das Glück, beim Zuhörer Spannung erzeugen zu können, zu groß, um andere Gefühle dagegen aufkommen zu lassen, vielleicht glaubte ich meinen Erfindungen selbst, vielleicht ahnte ich etwas vom Verwirrspiel der Kunst. Hannes, mein Publikum, wollte ja keine exakte Geschichtsschreibung, sondern Geschichten; und die Voraussetzung dafür, daß er diese genießen konnte, war die Aufrechterhaltung der Illusion.

Einen besseren Zuhörer als Hannes, der ein Jahr jünger als ich, aber größer und stärker war, hatte ich später nie mehr. Da er phantasielos war und stotterte, fehlte ihm das Bedürfnis zu reden, und er machte mir als Erzähler nie Konkurrenz. Wenn er, was häufig geschah, einen Zusammenhang nicht begriff, fragte er: Wa?; wenn er etwas nicht glaubte, stieß er ein kurzes, tief in der Kehle sitzendes: Ö! hervor, und wenn er doch mal versuchte, Geschichten zum besten zu geben, waren es biblische, die er in einer Art Kirche, die Stadtmission hieß, gehört, aber halb nur verstanden und davon die Hälfte wieder vergessen hatte; und ich konnte ihm auch nicht helfen, denn meine Kenntnis der Bibel war, wie bei Katholiken üblich, gering.

Da Hannes aus seiner Fähigkeit, mich auf der Straße beschützen zu können, nie Führungsansprüche ableitete, hielt unsere Freundschaft die Kindheitszeit über an. Da er Spielideen kaum hatte, war er für meine stets dankbar, und wenn man von Kurzzeitbeschäftigungen, wie es das Messen von Länge und Schwellkraft unseres kaum erst entwickelten männlichen Gliedes war, absieht, lag die Gestaltung der Straßenstunden ausschließlich bei mir. Wenn mir im Frühling nach Trieseln zumute war, wurde getrieselt, war ich auf Murmeln, auf Hopse, auf Fußball aus, war er dabei. Seine Leidenschaft fürs Zigarettenbildersammeln begann und endete mit meiner, und wenn ich unabkömmlich oder krank war, verbrachte er die langen Stunden oder Tage mürrisch und gelangweilt auf den Stufen vor der Haustür; denn mit anderen Kindern, die ihn seines Stotterns wegen hätten hänseln können, spielte oder sprach er nicht. Erstaunlich war, daß er, der später mit Lesen und Schreiben immer Schwierigkeiten haben sollte, eher als ich zählen konnte und mir im Rechnen überlegen war. Das Glück, das er empfand, als er mir Zählen beibringen konnte, gehört zum Schönsten, das ich noch aus dieser frühen Freundschaft weiß. Wir zählten alles, was sich uns nur bot: die Stufen, Fenster, Mieter unseres Hauses, Kinder in der Schlange vor der Kino-Kasse, die Marschierer in den SA- und den RFB-Kolonnen und die Krähen, die an den Winterabenden im Akazienwäldchen auf den alten Bäumen saßen. Wir schrieben Autonummern auf, die nach dem Herkunftsort (I, das war Preußen, IA Berlin, IE die Mark) geordnet wurden, und als die Straßenbahner streikten, war uns die Zahl der Wagen, die ihre Strecke (manchmal mit eingeschlagenen Fensterscheiben) dennoch fuhren, interessant. Am spannendsten aber, weil es auch Erwachsene interessierte, war die Fahnenzählerei.

Vor Reichstagswahlen, die in diesen Jahren häufig waren, gaben viele Leute dem Bedürfnis nach, Gesinnungen öffentlich bekanntzumachen, ließen deshalb vor dem Küchenfenster oder dem Balkon die Fahne flattern und nahmen damit, wohl der Propagandawirkung wegen, ihre Wahl vorweg. Die ockerfarbene Wand des Wohnblocks war dann bunt betupft; die kleinen, mittelgroßen, riesenhaften Rechtecktücher, seltener Dreieckswimpel, trugen die verschiedensten Farben und Symbole; und jede Sorte hatte auf den Schreibheftseiten, die wir vorbereitet hatten, ihre eigene Rubrik. Die roten Fahnen (sieht man von Unikaten, wie der einen schwarzen, der schwarz-weißen oder der mit dem Berliner Bären ab) waren in der Minderzahl; die schwarz-weiß-roten und die nazifarbenen hielten sich die Waage; doch an der Spitze lag das Schwarz-Rot-Gold. Das kleinste Tuch, das in Schwarz-Weiß, zeigte das alte Fräulein von Hildebrandt, in unserem Hause, rechts, parterre, das größte ein Herr Mägerlein aus Nummer 5. Es hing vom ersten Stock herunter bis zur Weißdornhecke, die den Rasen vor dem Haus begrenzte, und war geziert mit weißem Rund und Hakenkreuz.

Die gleiche Fahne, aber im Normalformat, hing auch an unserem Hause, links, parterre, wo Hannes wohnte; und an seiner Wohnungstür klebte ein rundes Schild, das, unverständlich abgekürzt, zu wissen gab, daß hier ein Mitglied des Reichsbundes für Kinderreiche wohnte – was mir logisch schien, da Hannes zwar, wie ich, das Jüngste, aber nicht von vier, sondern von sieben Kindern war.

Muttersprache

Die Familiensage der Hilgerts, die meine Mutter gern erzählte, wußte von einem französischen Grenadier dieses Namens zu berichten, der mit der Armee Napoleons zusammen erst Preußen erobert hatte, dann aber, als Besatzungssoldat in der Mark, von einem preußischen Mädchen erobert wurde, das ihn, als sein Kaiser geschlagen war, in einem Backofen versteckte – bis die Kuchen für die Siegesfeier hinein mußten und die Hochzeitskuchen auch. Falls an dieser Desertions-Geschichte Wahres wäre, müßte sie sich in Schulzendorf im Ruppinschen ereignet haben; aber leider waren die Hilgerts, wie die Kirchenbücher ausweisen, schon im 18. Jahrhundert dort ansässig, allesamt arme Leute, deren Berufsbezeichnungen zwischen Knecht, Tagelöhner und Arbeitsmann wechselten, weshalb es ihnen später auch leichtfiel, in die Stadt umzusiedeln, erst nach Lindow und dann nach Berlin. Um die Sage von der französischen Herkunft dennoch zu retten, könnte man sie auf den Vater meiner Schulzendorfer Ururgroßmutter, einer geborenen Longwiel, übertragen, doch war die eine Reformierte, was eher hugenottische Abstammung verrät.

Mein Großvater, der Briefträger, stammte also aus der nördlichen Mark, die Familie meiner Großmutter aber, einer geborenen Stöpper, aus der südlichen, aus dem beeskowstorkowschen und dem teltowschen Kreis. Kamen in der hilgertschen Linie Ortsnamen wie Perleberg, wo der Großvater bei den gelben Ulanen gedient hatte, wie Lindow, Gransee und Rheinsberg vor, so waren die stöpperschen Tagelöhner und Arbeitsmänner im Kolonistendorf Friedrichhof und in den Dahme-Dörfern Kablow und Prieros zu Hause, und einer von ihnen erheiratete sich in Klein-Kienitz bei Mittenwalde ein Gasthaus mit Bauernhof. Da meine Mutter neben drei Schwestern, die auch verheiratet waren, noch eine Stiefmutter, mit Anhang in Pommern, hatte, war ihre Verwandtschaft schwer überschaubar; wir hörten weg, wenn sie uns erklärt werden sollte, denn all die Hilgerts und Stöppers, die Rosins und Käferts interessierten uns nicht. In der Ablehnung unserer preußischen Verwandtschaft waren wir mit unserem bayerischen Vater einig, doch gelang nie ganz, sie von uns fernzuhalten, was besonders von den Schwestern meiner Mutter, Else, Frieda, Grete, galt. Nachmittags, wenn der Vater nicht da war, kamen sie manchmal und wurden dabei sehr laut. Sie lachten viel, wenn sie von ihrer Kindheit in der Friedrichstraße und am Kreuzberg erzählten, fielen sich gegenseitig ins Wort, nippten an süßen Likören, und schließlich wurde das Grammophon aufgezogen und Walzer getanzt. Um fünf, wenn mein Vater erwartet wurde, war der Spuk schon vorbei. Die vor Lachen kreischende Jenny, die ordinäre Wörter benutzte, wurde wieder zu unserer korrekten Mutter; mein Gefühl, verraten zu werden, das sich in Heulen und Maulen, wie meine Mutter das nannte, Luft gemacht hatte, legte sich wieder, Liebkosungen (Schmuserei genannt) besänftigten mich; die schöne Normalität, die jeder Mensch, der von außen kam, mir verdarb, kehrte zurück. Heute frage ich mich, ob diese zwei, drei Stunden im Monat, in denen meine Mutter die Frau-de-Bruyn-Rolle vergessen und sich loslassen konnte, nicht vielleicht die schönsten für sie waren und die ihres sonstigen Lebens ein ständiger innerer Zwang. Daß ihre Sprache im hohen Alter, als ihre Familienaufgaben nicht nur hinter ihr lagen, sondern fast auch vergessen waren, zu dem Jargon ihrer Kindheit zurückfand, spricht sehr dafür.

Das Deutsch, das meine Mutter sprach, war schon für meine älteren Geschwister (Wolfgang ausgenommen) ständig Anlaß zur Kritik, und ich, kaum daß ich selber sprechen konnte, machte es ihnen, obwohl sich mein Vater darüber empörte, in unangenehmster Weise nach. Dabei wußte ich schon früh, wie ihre Art zu reden mal entstanden war. Ihr Vater, Julius Hilgert aus Lindow, hatte in seiner Kindheit noch Platt gesprochen und erst als Soldat und Beamter sich an hochdeutsche Verständigungsformen gewöhnt. Im Gegensatz zu seiner stillen Frau, der Gastwirtstochter aus Klein-Kienitz, die ihm die vier Töchter schenkte, sprach er viel und laut, er sang auch viel und trank sehr viel, und da er gerne ausging, häufig Gäste hatte und bei den Töchtern Wert auf hübsche Kleidung legte, reichte sein Gehalt als Postzusteller oft nicht aus, um sechs Personen satt zu machen, obwohl Kartoffeln und Pökelfleisch aus Kienitz geliefert wurden. Jenny, die Älteste, mußte als Vierzehnjährige dazuverdienen. Sie hatte in der Schule, Lindenstraße, nicht viel mehr gelernt als ihre steile, schräge deutsche Schrift. Jetzt in der Druckerei, Gitschiner Straße, wo sie tagein, tagaus Pakete packte, mit Proletariermädchen, die ihr an Frechheit und Lebenskenntnis überlegen waren, umgehen mußte und sich der Kutscher und der Boten zu erwehren hatte, lernte sie hochnäsig auszusehen. Die Unterlegenheit, die sie bedrückte, formte sich in ihr um zu Trotz. Sie wurde arrogant, weil sie so hilflos war, und bildete sich ein, die Isoliertheit selbst zu wollen. Durch Kleidung und Frisur betonte sie das Bessere, das sie war, und ihre Art zu sprechen paßte sich ihrer Vorstellung von einer Beamtentochter an. In dieser Zeit (es waren nur zwei Jahre, da die Mutter starb und Jenny sie zu Haus ersetzen mußte) gewöhnte sie sich das Berlinern ab, und zwar so radikal, daß sie bis kurz vor ihrem Lebensende ein angestrengtes, fast korrektes, durch wenige Fehler aber doch entstelltes Hochdeutsch sprach.

Mir war diese Mischung aus sprachlicher Gehobenheit und Fehlerhaftigkeit ein Greuel, auch weil ich darin jede Konsequenz vermißte. Ich fand es unerklärlich, wie ein Mensch, der sonst doch richtig sprechen konnte, beispielsweise immer sagte: Du liegst ja noch ins Bett! Warum, so wollte ich von meiner Mutter wissen, müsse sie, die Zug, Zigarre und Zitrone richtig sprechen konnte, das Z, wenn es im Wort Zivil vorkam, und nirgends sonst, zu einem S entstellen, warum das Wörtchen eben zu einem Ebent machen und jede Pluralform von Messer mit einem N verzieren?

Von Kindheitsprägung weiß ein Kind noch nichts; es bildete sich noch ein, daß jeder jedes lernen kann, und läßt deshalb historische Milieuerklärung als Entschuldigung nicht gelten. Damals ärgerte ich mich über meine Mutter, über ihre Unbelehrbarkeit; heute neige ich dazu, sie ihrer Selbsterziehung wegen zu bewundern. Hatte sie doch ihr sprachliches Familienerbe, ein berlinisch-niederdeutsches Dialektgemisch, sehr fremdwortreich, durchsetzt von Postund Militärjargon, das unartikuliert gesprochen wurde und das Grammatikregeln unterlag, die undurchschaubar, weil systemlos, waren, aus eigenen Kräften abgeworfen – bis eben auf den Rest, der blieb: Die Fehler, die sie auch noch später machte, waren die, die sich durch häufigen Gebrauch fest eingefressen hatten, wie das Sivil gesprochene Zivil, das nirgendwo so häufig hörbar wird wie da, wo Uniformen üblich sind: bei Post und Militär. Nicht daß sie das Wort Zivil falsch sprach, ist meiner heutigen Meinung nach erwähnenswert, sondern die Tatsache, daß sie es wertneutral benutzen konnte, ohne den abfälligen Ton, der bei ihrem Vater immer mitgeschwungen hatte. Dem hatte als ein richtiger Mann nur der in Uniform gegolten, und wenn er keine trug, so mußte er sie doch getragen haben, und zwar gern. Ein Zivilist aus Überzeugung, wie mein Vater, war in seinen Augen nur ein Hampelmann gewesen; seine Tochter Jenny aber liebte den.

Daß ich der Sprache meiner Mutter, so gestelzt und fehlerhaft sie war, viel verdanke, wurde mir erst später klar. So künstlich sie in Artikulation und Syntax war, so reich an Bildern, Redensarten, alten, kaum noch benutzten Wörtern war sie auch. Das Hauptstädtische, das sie formal verleugnete, war inhaltlich in vollem Maße da. Fühlte meine Mutter sich verpflichtet, über Dinge, die sie für die höheren hielt, zu reden (über Opern beispielsweise, über ihre Ehe, über Gott), war ihre Sprache farblos, matt und leer, begann sie aber ihre Alltagssorgen auszubreiten oder über das, was früher war, zu reden (übers Tempelhofer Feld zum Beispiel, die Paraden dort, die bunten Uniformen der Dragoner und Ulanen, den Wagen der Prinzessin sechselang), dann wurde auch ihr Wortschatz bunt, sie konnte witzig werden; es war eine Lust, ihr zuzuhören – vorausgesetzt, man hatte die Geschichte nicht schon zwanzigmal gehört.

Glücklicherweise machte sich unsere Mutter aus den Quengeleien über ihre Sprechgewohnheiten nichts. Sie hörte selten hin, wenn sie verbessert wurde, fand den sprachlehrerhaften Eifer ihrer Kinder komisch und beschränkte ihre Meinung zu dem Thema Sprache auf die Worte: Ihr versteht mich doch, was will man mehr!

Sonntage

Die Sicherheit, der ich das Glück meiner frühen Kindheit verdanke, basierte neben der Liebe der Eltern zu uns und zueinander auch auf einem Familien-Katholizismus, der unser Leben in die festen Regeln von Tisch- und Abendgebet, von sonntäglichem Kirchenbesuch und fleischlosen Freitagen zwängte, sonst aber von Person zu Person individuell gefärbt war. Meinem Vater, der diese Rituale überliefert hatte, waren sie zu selbstverständlich, als daß er viel Wesens von ihnen gemacht hätte; er befolgte sie, ohne Eifer dabei zu zeigen, und war sich immer im klaren darüber, daß die Kirche (im Gegensatz zu den Preußen, die alles perfekt haben wollten) zwar Gehorsam verlangt, aber die Unvollkommenheit von Sündern mit einkalkuliert. Er gab mir den Schutzengel mit, der mich auf der Straße und im Dunkeln behütete und der Angst vor der Zukunft zu wachsen verbot. Er machte das Weihnachtsfest zum Höhepunkt des Jahres und jeden Sonntag zum Festtag, dessen einziger Fehler war, daß in ihm die Zeit schneller als sonst verging. Kaum hatte man in dem Bewußtsein, einen langen Freudentag vor sich zu haben, den Sonntagsstaat angezogen, mußte er schon wieder abgelegt werden, weil Schlafenszeit war.

Jeder Sonntag fing mit dem Kirchgang an, meist ohne die Mutter, die im Interesse der Festmahlbereitung schon zur Frühmesse gegangen war. Da die Britzer Kirche, die mir später zum Alpdruck wurde, noch nicht existierte, mußten wir nach Neukölln, der Straßenbahnfahrpreisersparnis wegen zu Fuß. Bis zum Buschkrug wurde über den Weg diskutiert. Den drei Kanalbrücken entsprechend, gab es drei mögliche Wege, die als oben, unten und in der Mitte bezeichnet wurden, und da es auch drei Meinungen dazu gab, wurde abgestimmt. Ich wählte den oberen, der mir, weil er der interessantere war, auch der kürzere schien. Er begann im Akazienwäldchen, wo ich (soviel Zeit war immer) den ersten Schnee zusammenkratzen, süßen Saft aus weißen Blüten saugen oder mit den Füßen im trockenen Laub rascheln konnte, und führte dann in die Chausseestraße, wo ein Fahrradgeschäft zu bewundern war. Ein Steinmetz hatte seiner Ausstellungsfläche ein schloßparkähnliches Aussehen gegeben. Am Kanalufer brummten die Treidelbahnen; auf den an Drahtseilen gezogenen Lastkähnen schien immer Waschtag zu sein. Hinter dem Kanal lag eine eingezäunte Wildnis, die den unpassenden Namen Rosenterrassen führte. Hier war im Bau-Rausch der Rixdorfer Gründerjahre eine Kiesgrube gegraben worden, die sich mit Wasser gefüllt hatte, worauf der Besitzer Karpfen eingesetzt, die Ufer mit Rosen bepflanzt und eine Badeanstalt errichtet hatte, bis 1906 der Teltow-Kanal gegraben wurde, in dessen tieferes Bett das Seewasser abgeflossen war. Dem bankrotten Badeanstaltsbesitzer war nur ein Schlammloch mit verendenden Karpfen zurückgeblieben, das im Lauf der Jahrzehnte zum mit Müll verunzierten Urwald geworden war.

Aus den Gründerjahren stammte auch unsere Kirche, ein neugotischer Bau mit Nebenaltären und Seitenschiffen, der sonntags dem Ansturm der Gläubigen kaum gewachsen war. Berlin, die Diaspora-Stadt, die in diesen Jahren Bischofsstadt wurde, hatte etwa zehn Prozent Katholiken, und denen war Kirchgang Pflicht. Da es schwer war, im Gedränge noch Platz zu finden, konnten wir fünf selten nebeneinander sitzen, so daß ich mir meist selbst überlassen war. Andacht gelang mir nur selten, nie aber plagte mich Langeweile. Zu sehr mußte ich darauf achten, beim Aufstehen und Setzen, beim Knien und Kreuzschlagen, Beten und Singen alles richtig zu machen; zu spannend war es, der Liturgie in ihrem Ablauf zu folgen und die vielen fremden Gesichter zu sehen. Statt frommer Gefühle beschäftigte mich die Frage, ob wirklich, wie Vater behauptete, kein Menschengesicht dem anderen gleicht; statt zu beten, nährte ich Mißtrauen gegen nach außen gekehrte Frömmigkeit oder Zerknirschung, oder ich teilte alle Gesichter in ehrliche und falsche, in sympathische und unsympathische ein. Daß die sympathischen Gesichter meist weibliche waren, fiel mir erst später auf. Sie verloren übrigens oft, wenn sie zu reden begannen; die Worte brauchte ich dabei gar nicht zu hören; die Bewegung der Lippen reichte zur Illusionszerstörung schon aus.

Diese Gefahr bestand nicht bei den Madonnen und Engeln. Die sah ich so gern wie den segnenden oder auferstehenden Heiland. Die Heiligen dagegen, in denen Schwerter und Pfeile steckten, entsetzen mich wie die Kruzifixe. Ich mußte wegsehen, um nicht die Nägel zu spüren, die meine Hände und Füße durchbohrten; ich hörte die Hammerschläge. Das geht mir noch heute so.

An Predigten kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an die Prediger, die überraschenderweise ohne ihr prächtiges Obergewand auf der Kanzel erschienen, und wenn ich die später gehörten Predigten bedenke, kann ich mir das verzeihen. Predigten waren für mich liturgische Pausenfüller, in denen man ausruhen konnte, ehe die heilige Handlung sich fortsetzte und bald ihr Ende fand. Die letzten jubelnden Orgelklänge waren immer mit Hungergefühlen verbunden, sie waren schon Auftakt zum Mittagessen, das nicht nur weniger bescheiden war als an Wochentagen, sondern auch festlicher und kurzweiliger, weil an ihm alle Familienmitglieder vereint waren und dem Freudengipfel entgegen fieberten: dem gemeinsamen Spiel.

Das Spielen war die Sonntagsschule der Familie, die jeder, ich als letzter, mit Erfolg durchlief. Mein Vater aber war der schöpferische Spielmeister, der das nur sein konnte, weil er die Freuden, die er damit verbreitete, selber empfand. Zählen, Farbenunterscheiden und Vorausberechnen lernte man dabei; man übte sich in Fairneß und Geduld, und man begriff, daß dieser Spaß, auf den man sich die ganze Woche freute, nur durch andere, die auch Spaß dran haben mußten, möglich war. Von der Mensch-ärgere-dich-nicht-Klasse arbeitete man sich ohne Mühe zu der Mühle-Dame-Stufe hoch; vom Schwarzen-Peter-Spieler wurde man zum Bimbo-Könner und qualifizierte sich dann schließlich auch zu Salta, Schach und Go.

Besondere Bedeutung für mich aber erlangte ein Spiel, das mich schon mit Begeisterung erfüllte, bevor ich an ihm teilnehmen konnte: ein Zitaten-Quartett. Am Abend, wenn ich ins Bett geschickt wurde (und über den so schnell verflossenen Sonntag Tränen vergoß), vertieften sich die Großen in ihr Bildungsspiel. Hast du, Papa, vielleicht: Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehn? – Nein, leider nicht, doch möchte ich von Wolfgang gerne haben: Herr, dunkel war der Rede Sinn.

Die Frage-Antwort-Melodie verfolgte mich noch in den Schlaf, und die Zitate, die ich bald den Dichterbildern zuzuordnen lernte, flossen unbemerkt in meinen kleinen Sprachschatz ein. Als Vierjähriger konnte ich, wie oft erzählt wurde, dem Zwang zum Zähneputzen mit Lessings: Kein Mensch muß müssen! widerstehen, und wenn ich Hilfe in der Badewanne nicht mehr wollte, mit Schiller (Quartett 3, Aus späten Dramen) sagen: Der Starke ist am mächtigsten allein.

Mit Goethe aber, von dem es ebenfalls drei Quartette gab (Aus Faust, Aus den Gedichten, Aus Iphigenie und Torquato Tasso), habe ich mich später, mit dreizehn oder vierzehn Jahren, sehr blamiert. Ein Lehrer, vor dem ich als Kenner glänzen wollte, benutzte das Zitat: Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt, und fragte, als wollte er mir zum Triumph verhelfen, von welchem Dichter und aus welchem Werk das wäre – worauf ich blitzschnell rufen konnte: Von Goethe, aus Iphigenie und Torquato Tasso, die ich für ein Tragödienpaar wie Romeo und Julia hielt.

Konvertiten-Eifer

Ein Jahr nach ihrer Hochzeit bereits war meine Mutter katholisch geworden, doch wurde sie eine Unsicherheit, die sich hinter Eifer versteckte, nie los. Kaplan Kresse von St. Bonifatius, der sie im Jahre 1912 in Glaubensfragen unterrichtet hatte, galt ihr auch 20 Jahre später noch als unfehlbare Autorität. Auf ihn und seinen Grundsatz: lauer Glaube sei nicht weniger schlimm als Heidentum, berief sie sich, wenn ihre Kinder ihre Glaubensstrenge kritisierten, und ging auf diese Weise Diskussionen aus dem Weg. Von den Glaubensinhalten wußte sie wenig, sie kannte nur deren Form, wie Händefalten und Kreuzschlagen, und schrieb ihnen magische Bedeutung zu.

Dem Kaplan, so nehme ich an, war verborgen geblieben, daß die junge Frau, die soviel Sehnsucht nach dem neuen Glauben zeigte, den alten zwar ererbt, doch nicht besessen hatte, genau besehen also keine Christin war. Sie war getauft und konfirmiert, das schon, doch war das alles; begriffen oder gar behalten hatte sie von dem in Schule und Kirche Gelernten nichts. Bei Hilgerts hielt man nichts von diesen Dingen. Gott, das war der, dem man den Kaiser verdankte; dem Deutschen war der Altar heilig, weil er dem Throne nahestand; die Pfarrer gab es, weil getauft, getraut und auch begraben werden mußte; und Kirchgang war, der Stimmung wegen, einmal im Jahr zur Weihnachtszeit. Das Fundament, auf dem der Kaplan zu bauen glaubte, existierte also nicht. Was er da mit katholischem Zierat schmückte, war nur der Wille der Konvertitin, ihrem Mann auch religiös nahe zu sein. Als ihre Lehrzeit endete, wußte sie zwar über die fünf Gebote der Kirche, nicht aber über die zehn der Bibel Bescheid.