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Wie lange ist es her, daß ein amerikanischer Politikwissenschaftler mit der These Furore machte, das Ende der Geschichte sei gekommen? Fünfundzwanzig Jahre? Und wie lange haben alle deutschen „Volksparteien“ lauthals und unisono verkündet, Deutschland sei kein Einwanderungsland? Ein besonders heller Kopf war nie nötig, um einzusehen, wie unsinnig solche Behauptungen waren. Dazu mußte niemand nach Somalia oder Ruanda fahren. Ein Blick vor die eigene Haustür, ein Besuch bei der Ausländerbehörde, eine Fahrt in der U-Bahn hat schon immer ausgereicht, um es besser zu wissen. Hans Magnus Enzensberger hat sich diese Mühe schon vor geraumer Zeit gemacht. Vor über zwanzig Jahren überprüfte er unter dem Titel Die Große Wanderung die deutschen Erfahrungen mit Migration und Fremdenhaß. 1993, nach dem Ende des Kalten Krieges, mißtraute er der versprochenen „Friedensdividende“ und nahm Aussichten auf den Bürgerkrieg, die sich abzeichneten, ins Visier. 2006 folgten die SchreckensMänner. Dieser „Versuch über den radikalen Verlierer“ war der brisanten Mischung von Größenwahn und Rachsucht, Mordlust und Todeswunsch auf der Spur, die auf dem nächstbesten Schulhof ebenso explodieren kann wie auf einem afrikanischen Marktplatz oder vor dem Pentagon. Ideologische und religiöse Motive erwiesen sich bei diesen Überlegungen immer deutlicher als bloße Kostümierung tiefer sitzender Obsessionen. An diesem Punkt setzt Enzensbergers Coda von 2015 an. Der vergessene Gottesstaat handelt vom Taiping-Aufstand, dem brutalsten Bürgerkrieg der modernen Geschichte, der im China des 19. Jahrhunderts katastrophale Folgen hatte, die bis heute spürbar sind. Die Parallelen zum selbsternannten islamistischen Kalifat, das heute im Nahen Osten wütet, sind verblüffend; nur daß es damals keine moslemische, sondern eine christliche Sekte war, die alle Ungläubigen köpfen wollte. Enzensbergers vier Versuche über den Unfrieden werden nun in einem einzigen Band mit einem neuen Vorwort und einigen Aktualisi
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Seitenzahl: 185
Vor über zwanzig Jahren überprüfte Hans Magnus Enzensberger unter dem Titel Die Große Wanderung (1992) die deutschen Erfahrungen mit Migration und Fremdenhaß. 1993, nach dem Ende des Kalten Krieges, mißtraute er der versprochenen »Friedensdividende« und nahm Aussichten auf den Bürgerkrieg, die sich abzeichneten, ins Visier. 2006 folgte mit Schreckens Männer ein »Versuch über den radikalen Verlierer«. Der vergessene Gottesstaat, Enzensbergers Coda von 2015, handelt vom Taiping-Aufstand, dem brutalsten Bürgerkrieg der modernen Geschichte. Die Parallelen zum selbsternannten islamistischen Kalifat, das heute im Nahen Osten wütet, sind verblüffend. Allerdings erschien die Ideologie dieses Aufstands damals mit dem Schleier des Christentums.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4626.
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Vier Versuche über den Unfrieden.Eine Vorbemerkung(2015)
Die Große Wanderung.33 Markierungen(1992)
Aussichten auf den Bürgerkrieg(1993)
Schreckens Männer.Versuch über den radikalen Verlierer(2006)
Eine Vorbemerkung
Wie lange ist es her, daß ein amerikanischer Politikwissenschaftler mit der These Furore machte, das Ende der Geschichte sei gekommen? Fünfundzwanzig Jahre? Und wie lange haben alle deutschen »Volksparteien« lauthals und unisono verkündet, Deutschland sei kein Einwanderungsland?
Ein besonders heller Kopf war nie nötig, um einzusehen, wie unsinnig solche Behauptungen waren. Dazu mußte niemand nach Somalia oder Ruanda fahren. Ein Blick vor die eigene Haustür, ein Besuch bei der Ausländerbehörde, eine Fahrt in der U-Bahn hat schon immer genügt, um sie zu widerlegen.
Das gehört nicht unbedingt zu den Aufgaben eines Schriftstellers, auch wenn ab und zu solche Aufforderungen laut werden. Die meisten Dichter lassen sich ungern sagen, was sie zu schreiben haben. Auch soll es Autoren geben, die politisch unmusikalisch sind und besser daran tun, Geschichten zu erzählen, als Leitartikel zu verfassen.
Was mich betrifft, so habe ich mich, wider besseres Wissen, mehr als einmal dazu hinreißen lassen, mich öffentlich über politische Ereignisse zu äußern. Einmal ist mir, vor mehr als zwanzig Jahren, der Geduldsfaden gerissen, als bisher unauffällige Ortsnamen wie Hoyerswerda, Lichtenhagen, Mölln und Solingen durch Mordanschläge von sich reden machten. Ich beschloß, mir über die deutschen Erfahrungen mit Migration und Fremdenhaß ein paar Gedanken zu machen. 1992 erschienen diese Überlegungen unter dem Titel Die Große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen. Mit einer Fußnote »Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd«.
Kurz darauf wurde das Ende des Kalten Krieges eingeläutet. Von dieser erfreulichen Veränderung versprachen sich viele Experten eine ansehnliche »Friedensdividende«, die es nun einzufahren galt. Zu schön, um wahr zu sein, dachte ich. Immer neue Ortsnamen wie Mogadischu, Kuweit und Kigali tauchten auf; selbst in der Nachbarschaft, etwa im Baskenland oder in Nordirland, zeichneten sich Aussichten auf den Bürgerkrieg ab. In den Zeitungen machten sich Fremdwörter wie Mob, Hooligan, Dschihad, Schuh- oder Unabomber breit.
War unsere geld- und machtgestützte Idylle so unangreifbar, wie es schien? Daran fing ich zu zweifeln an. Immer mehr SchreckensMänner erschienen auf den Bildschirmen. Das waren nicht nur Amok laufende Einzelfiguren. Ganze Kollektive, die sich mit Vorliebe als Armeen, Befreiungsbewegungen und Heilbringer ausgaben, waren unterwegs, um sich wichtig zu machen.
Ihre brisante Mischung von Größenwahn und Rachsucht, Mordlust und Todeswunsch konnte auf dem nächstbesten Schulhof ebenso explodieren wie vor dem Pentagon oder auf einem afrikanischen Marktplatz. Mit einem Versuch über den radikalen Verlierer, den ich 2006 unternahm, wollte ich zeigen, daß die ideologischen oder religiösen Motive für die Massaker nur als Maskerade für tiefer sitzende Obsessionen dienen. Der kleinste gemeinsame Nenner des Terrors ist der Wahn.
An diesem Punkt setzt eine Coda von 2015 an, die vom Taiping-Aufstand handelt. Der vergessene Gottesstaat war wohl der brutalste Bürgerkrieg der modernen Geschichte. Er forderte mehr Todesopfer als der amerikanische Sezessionskrieg und führte im China des 19. Jahrhunderts zu katastrophalen Folgen, die bis heute spürbar sind. Die Parallelen zum selbsternannten islamistischen Kalifat, das heute im Nahen Osten wütet, sind verblüffend.
Daß meine vier Essays über den Unfrieden nach so vielen Jahren noch nicht veraltet sind, ist natürlich ein schlechtes Zeichen. Sie werden in diesem Band, bis auf ein paar Fußnoten aus heutiger Sicht, unverändert abgedruckt. Viel Mühe ist seither darauf verwendet worden, die Konflikte, von denen sie handeln, zu verharmlosen oder zu verleugnen. Das hat alles nichts genützt. Die Lage ist zu gefährlich geworden, als daß man sie Politikern und Demagogen überlassen dürfte.
33 Markierungen
Wir wissen nicht mehr, wen wir achten und respektieren sollen und wen nicht. In dieser Hinsicht sind wir gegeneinander Barbaren geworden. Denn von Natur sind alle gleich, ob Barbaren oder Griechen. Das folgt aus dem, was von Natur aus für alle Menschen notwendig ist. Wir atmen alle durch Mund und Nase, und wir essen alle mit den Händen.
Antiphon, Von der Wahrheit.5. Jahrhundert v. Chr.