Warten auf die Anderen / Pina Bausch, Nachruf / Vom Sterben nach dem Tod - Harald Birgfeld - E-Book

Warten auf die Anderen / Pina Bausch, Nachruf / Vom Sterben nach dem Tod E-Book

Harald Birgfeld

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Beschreibung

Harald Birgfeld schrieb seine Geschichten, Warten auf die Anderen/ Pina Bausch, Nachruf/ und Vom Sterben nach dem Tod, Trennung erster, zweiter, dritter Art, überwiegend während der Fahrten in der Hamburger S-Bahn zur und von der Arbeit. Der Autor begegnet den neuen Phänomen, Trennung erster Art, Trennung zweiter Art und Trennung dritter Art. Aus dem Gutachten, 1986, der an der Universität Freiburg tätigen Germanistin, Gabriele Blod: "Es lohnt sich, einmal einen heutigen Dichter kennen zu lernen, der mit der deutschen Sprache einen faszinierend fremden Weg betritt und trotzdem dem Leser Freiraum lässt für eigene Gedankengänge, ohne dass die Probleme in erhobener Zeigefingermanier zu zeitkritischen Trampelpfaden werden." Harald Birgfeld, geb. in Rostock, lebt seit 2001 in Heitersheim. Von Hause aus Ingenieur, befasst er sich seit 1980 hauptsächlich mit Lyrik. Von den 53 Büchern, die online veröffentlicht wurden, erschienen bisher 17 auch im Buchhandel. Alle Bände können, jedermann zugänglich, online gelesen werden. In mindestens 27 Anthologien ist Birgfeld vertreten. Harald Birgfeld schrieb hauptsächlich Gedichte, inzwischen mehr als 12.000 Strophen, und andere Texte überwiegend während der Fahrten in der Hamburger S-Bahn zur und von der Arbeit. Aus der Presse: Das Hamburger Abendblatt und andere Zeitungen berichteten vielfach über Harald Birgfeld.

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Inhaltsverzeichnis

Warten auf die Anderen

Trennung erster Art.

Er fuhr schon

Eine ohnmächtige Leere

Bei jedem der Berge

Sein Kopf lag auf der Seite

Er erzwang den Rhythmus

Seinen Geist überkam

Nie würde er es jemandem

Zu seiner Linken

Er schwamm

Pina Bausch, Nachruf

Trennung zweiter Art.

Vom Sterben nach dem Tod

Trennung dritter Art.

Warten auf die Anderen

Trennung erster Art.

Er fuhr schon sieben oder acht Jahre zur See. Er hatte immer dasselbe Schiff gehabt und die Mannschaft war seit drei Jahren gleich geblieben. Mal ging einer in Urlaub oder wurde krank, aber abgeheuert hatte keiner in der Zeit.

Das Leben an Bord war, bis auf kleine Unterbrechungen, recht eintönig. Die Wachen wurden geschoben, man schlief, sobald es Zeit war und fütterte die Bordkatze, die immer weglief, wenn man sie streicheln wollte. Wäre nicht die elende Gewohnheit, dachte Alan, könnte man von Erholung sprechen. Von Sydney nach Santiago. Wie lange wird es dauern? Ach, ist auch gleichgültig, wenn das Wetter so bleibt, können wir uns freuen. Es wehte tatsächlich kaum Wind, und tagsüber liefen fast alle ohne Hemd an Deck herum.

Es war noch sehr früh heute, vielleicht halb vier. Alan hatte Wache, und um vier würde er abgelöst werden. Danach würde er sich bis acht in die Koje lagen und später Frühstück machen. Aber erst einmal schlafen. Er band sich seine Armbanduhr wieder um, die er immer auf das Pult legte, um sie nachher nicht zu vergessen. Noch eine halbe Stunde.

Von Sydney nach Santiago, dachte er wieder, quer über den Großen Ozean oder den Stillen Ozean. Kann wirklich sehr still sein. Er empfand eine große Stille. Sein Ohr hatte sich schon so lange an die Geräusche der Maschine gewöhnt, dass er sie nicht mehr wahrnahm. Selbst, wenn er darauf achtete, wusste er manchmal nicht, ob er sie hörte oder nicht. Wie das Ticken einer Uhr. Man horcht auf, hört's und hört's doch nicht. Noch eine Viertelstunde, dann leg ich mich hin. Alan bewohnte mit Charles dieselbe Kajüte. Sie waren Freunde, und sie vertrugen sich gut miteinander.

Charles hatte ein Radio an Bord und Bücher waren auch da. Er sollte Alan ablösen und musste gleich kommen. Welch herrliche Ruhe hier oben ist, dachte Alan wieder und welch eine Einsamkeit. Sein Blick glitt über die Wellen zum Horizont und in die beginnende Bläue des Himmels und wieder zurück auf das Wasser. Er tastete die ganze Fläche ab, kein Schiff, keine Insel, nur Wellen, Wellen, Wasser. Er verfolgte die weißen Kämme, die vereinzelt entstanden, eine Weile getragen wurden, um langsam zu verlöschen. Er suchte sich eine Welle heraus und verfolgte sie, indem er sich krampfhaft an sie heftete. Aber es waren so viele, und eine sah wie die andere aus. Es war unmöglich. Seine Augen tanzten einmal von ihr fort und schon hatte er sie verloren. Er gab das Spiel bald wieder auf, kontrollierte den Kurs und dann hörte er die langsamen Schritte Charles', die ihm sofort das gelangweilte Gesicht seines Bettgenossen vorzauberten. Die Tür ging auf, sie grüßten sich.

"Alles klar?"

„Alles klar!“

Alan verließ den Raum, sah noch durch das Türfenster zurück und musste leise, lachen, als er ihn drinnen mit der Klarsichtscheibe spielen sah.

Er ging die Stufen hinunter, und als er auf Deck stand, bemerkte er nur die kleine Katze. Er ging zu ihr, und sie wartete ruhig, bis er auf einen Meter vielleicht heran war, dann, als er sich bückte und den Arm ausstreckte, um sie zu streicheln, bog sie sich geschmeidig zur Seite, lief mit schnellen Pfoten an die Reling und leckte sich dort das Fell. "Kleines Biest,“ murmelte er und ging an den Luken vorbei nach hinten.

Er trat an die Reling, beugte sich vorsichtig weit nach vorne über, bis er das Gewicht seines Körpers nach beiden Seiten gleichmäßig verteilt hielt, löste langsam die Füße, dann die Hände und balancierte so, nur mit dem Bauch auf dem Eisen liegend, indem er die fast gleichmäßigen Schiffsbewegungen mitmachte. Seine Arme zuckten manchmal zurück, als brauchten sie doch einen Griff, dann knickte er zögernd wieder ein und suchte mit den Fußspitzen den bekannten Halt. Als er sich kraftvoll, ohne die Hände zu benutzen, abdrücken wollte, rutschten seine Schuhe ab, und er stürzte lautlos ins Meer. Er tauchte tief ein. Das Schiff fuhr volle Kraft und als er auftauchte, nur für den Augenblick eines Atemzuges, war er schon mehr als hundert oder zweihundert Meter hinter dem immer kleiner werdenden Schiff. Ihn erfassten die Wirbel der Schraube, er schluckte Wasser, ruderte wie besessen mit den Armen und war plötzlich wieder im Licht.

Er keuchte und versuchte, sich entsetzt im Wasser herumwerfend, das Schiff zu entdecken. Es war in seinem Rücken. Bevor er es zu sehen bekam, war es schon so weit fort, dass er nicht einmal mehr seinen Namen hätte lesen können. Ihn ergriff panische Angst, und ein fürchterlicher Schrei entrang sich seinem Mund. Er stand fast im Wasser, seine Arme versuchten in der freien Luft zu winken und schlugen das Wasser. Eine überkommende Welle ließ ihn beinahe ertrinken, und er kämpfte nur um die Luft des nächsten Atemzuges. Als er hochkam, nahm ein einziger Gedanke von ihm Besitz. Die Kleider, du musst die Kleider ausziehen, die Hose, die Schuhe, die Strümpfe. Ausziehen, ausziehen, hämmerte sein Hirn. Er atmete bis ihn ein Schwindel erfasste, ließ sich schnell untergehen, zog die Schuhe aus und die Strümpfe und knöpfte die Hose auf. Seine Arme begannen nach oben zu rudern, und die Hose rutschte ihm bis zu den Füssen, wo sie wie eine Fessel liegen blieb. Sein Herz jagte erneut von Furcht getrieben: Luft, Luft. Die Füße konnten nur gemeinsame Stoßbewegungen ausführen, und er erkannte schon beim zweiten Mal, dass das Heraufholen der Beine ebenso viel Schwung raubte wie er durch den Stoß gewonnen hatte. So ließ er sie schlaff hängen, und nur mit Hilfe der Arme erreichte er die Wasseroberfläche.

Gierig sog er, trank er die Luft, und nun machten seine Beine doch irgendwelche Bewegungen, die ihn an der Oberfläche hielten. Er dachte nur noch daran, seine Beine zu befreien, aber er befahl sich selbst zuvor so viel Luft zu atmen, bis ihm erneut schwindlig werden würde. Er wusste noch von früher aus den Tauchversuchen mit seinen Schulkameraden, dass man es gleich nach dem Schwindelgefühl am längsten unter Wasser aushielt. Sein Atem ging gezwungen gleichmäßig, bis er etwas ruhiger wurde und seine Beine zu erschlaffen drohten, dann erst füllte er die Lungen schnell hintereinander und ließ sich fallen. Es war ganz leicht, und er kam, nur mit der Unterhose bekleidet nach oben zurück. Ihn packte neues Entsetzen, als er die Hose etwa einen Meter unter sich treiben sah. Das Schiff. Keiner war auf Deck gewesen und Charles? Doch Charles, bitte, bitte, Charles! Er muss mich gesehen haben, sicher hat er mir zugesehen. Ganz sicher. Sie können nur die Maschinen nicht so schnell stoppen. Charles. Charles muss mich gesehen haben. Ich werde winken. Rufen! Nein, nicht rufen. Rufen nützt nichts. Dazu sind sie schon viel zu weit. Aber winken. Ich muss winken. Womit? Die Hand! Nein, ich muss doch schwimmen. Du musst mit einer Hand schwimmen! Aber mit der Hand... Mit einer Hand.. Das sehen sie ja nicht. Mit der Hose! Wo ist die Hose. Ich muss mit der Hose winken. Ich hab' sie doch eben noch gesehen. Unter mir. Unter mir war sie. Er drehte sich, sah in das Wasser und konnte sie, jetzt noch tiefer unter sich erkennen. Die Hose, nein. Die Unterhose und gleich danach: das Taschentuch! Sein gejagter Geist klammerte sich an den Gedanken wie an die Rettung. Mein Taschentuch ist in der Hose. Er war schon untergetaucht, hatte sie erfasst und zog sie mit nach oben. Eine kurze Strecke schwamm er auf dem Rücken, suchte die Taschen, griff in die Seide, die sich saugend um seine Finger legte, holte das Tuch hervor, ließ die Hose achtlos fallen, drehte sich um und blickte nach dem Schiff. Er drehte den Kopf, um es zu sehen, und es war in seinem Rücken. Ihn trug der Kamm einer Welle, und er warf sich herum, indem er ruckartig das Tuch schwang, welches sich vor Nässe immer wieder um seine Hand legte.

Dann musste er die Hand zum Schwimmen benutzen. Der Wellenberg glitt unter ihm dahin, nach vorne zu, und ließ ihn langsam auf seinem Rücken abwärts gleiten. Das Schiff entschwand seinem Blick und er schrie: Charles! Charles! Hört mich doch Hilfe! Hilfe! Hört mich doch, ihr verfluchten Hunde! Oh. Gott! Bei allen Teufeln! Ihr müsst mich doch hören!” Er spürte sein verzerrtes Gesicht, nachdem er das letzte hinausgeschrien hatte, erkannte seine namenlose Angst und machte sich neuen Mut. Sie werden die Maschinen gestoppt haben. Sie werden ein Boot aussetzen und mich holen. Hier kann man doch alles auf dem Wasser erkennen. Sie sind ja noch so nah. Du brauchst nur ab und zu zu winken. Ja, du musst nur winken, dann kommen sie. Sie können mich doch nicht allein lassen. Das können sie nicht. Das ist doch undenkbar, das gibt es einfach nicht. Stell dir doch vor, mitten im Ozean bei schönstem Wetter und einfach weiter fahren. Das gibt es doch nicht. Du musst nur winken, dass sie dich auch sehen, sonst hast du selber schuld. Wenn du nicht winkst finden sie dich nie! Nie gibt es nicht! Nur winken. Immer, wenn du oben bist, musst du winken.

Er spürte den sanften Aufschwung, der von hinten kam, und sein Herz schlug ihm vor Aufregung im Hals. Sowie ich das Schiff sehe, werde ich winken. Er stieg höher und höher und das Schiff lag genau vor ihm. Sein Arm schlug aus dem Wasser, und er sah gar nicht hin, so sehr war er überzeugt. Er schwamm auf der Seite, das eine Ohr in Wasser, und er achtete weniger auf sein Winken als auf das drängende Rauschen in seinem Ohr. Er konnte ohne große Mühe schwimmen, wie mit zwei Armen, und es beruhigte ihn sehr, dass es so unerwartet leicht ging. Ihn trug bereits der dritte Berg, ohne dass er sich nach dem Schiff umgesehen hätte. Die Wellen kommen immer von hinten, dachte er. Ich schwimme direkt auf das Schiff zu. Ich mache ihnen die Arbeit leicht. Sie werden nicht lange zu suchen brauchen. Ich brauche heute auch nicht mehr zu arbeiten. Ich werde mich in die Koje legen dürfen und schlafen, schlafen.

In dem nächsten Tal schwamm er wieder mit beiden Armen. Die linke Hand hielt das Taschentuch umschlossen. Er erwartete den kommenden Aufschwung, und das Schiff war klein und weit weg. Mein Gott! Die linke Hand blieb im Wasser. Das Schiff fährt, es fährt weiter! Großer Gott!

Eine ohnmächtige Leere kam über ihn und schuf dort, wo er eben noch die Hoffnung trug, die Überzeugung, ein unendliches Nichts. Von jeden Buckel, der ihn langsam in die Höhe hob, ließ er seine Blicke nach dem davoneilenden Schiff gleiten. Seine Augen waren so mit Traurigkeit, mit Mutlosigkeit gefüllt, so willenlos waren seine Schwimmbewegungen, dass sich sein Ich von ihm entfernte und ihn in Zeitlosigkeit zurückließ. Er trieb im Wasser, hielt die Augen geradeaus, sah eine Wand, sah einen Punkt, sah eine grüne Ewigkeit, sah hoffnungslose Vergangenheit. Das Unentrinnbare umklammerte sein Herz, ließ es Stein werden, kalt, eiskalt, und er schmeckte nicht mehr das Salz des Meeres.

Sein Körper war eine ausgespülte Höhle, in welche die Brandung schlug und nur den hohlen Klang erzeugte, nur das Nichts wie einen Gong berührte. Dort lebte sein Feind. Das Allein, die Einsamkeit, saß ihm in Nacken, hielt seinen Hals umklammert, schlug ihm schwer auf den Kopf, drückte ihn nach unten, wollte ihn töten, vernichten, seines Ich berauben. Seines Ich, das ihn liebte, lieben musste, schützte, schützen musste. Sein Gegner war die Leere des Meeres, die allzu große Weite, die flüsternde Stimme, der schmeichelnde Klang.

Du kannst ja deinen Schlaf bekommen, du kannst ja alles bekommen, alles was du dir wünschst! Kannst du jetzt eine Frau begehren? Kannst du Schönheit, Liebe begehren? Kannst du etwas anderes verlangen außer Ruhe, sanftem Getragen sein, dem ewigen Schweigen? Der Tod ist doch süß. Das ganze Leben war bitter und nun bietet es dir den Lohn an. Das ist süßer Lohn! Nimm ihn dir, berühr mich, leg dich in meine Arme. Du wirst dich vergessen, alles lieben und nichts begehren. Kannst du dir Schöneres wünschen? Gibt es Besseres? Nur deine Arme. Gib mir deine Hand. Es geht leicht, und du kennst alles genau. Du wirst keine Furcht haben, keine Angst. Bin ich nicht das, was du suchst? Bist du nicht ich? Hindert dich nicht nur dein armseliger Körper, diese lächerliche leere Höhle? Mach dich doch frei. Sei groß, sei ewig. Nimm, nimm das Angebot. Greif zu. Jedem Leben wird nur eine Chance gegeben, alles andere ist Zwang. Dies ist deine Chance. Nur einen Satz brauchst du zu denken: nicht mehr sein! Sieh, wieg' ich dich nicht schon in meinen Versprechen? Die Wellen sind meine Boten, meine Diener, deine Träger, dein Verlangen. Sie schaukeln dich, damit du mir glaubst, damit du siehst, dass ich dich wirklich liebe. Ich bin doch dein Ich! Ich spreche wahr! Komm, komm.. Zweifelst du noch? Du traust mir noch nicht? Hängst du etwa an der Verzweiflung, an dem, der dir die Kehle schnürt? Komm zu mir, und er lässt dich frei. Wozu glaubst du denn, bin ich geschaffen. Für euch! Für dich! Nur für dich. Zu deinem Guten. Alles ist zu eurem Leiden bestimmt, nur ich bin das wahrhaftig Gute. Ich bringe das Licht! Ich biete mich dir an und du zweifelst, zweifelst wirklich. Sieh, wenn du mich rufst, komm’ ich nicht. Wenn ich komme, rufst du mich nicht. Nur einmal komme ich, wenn du mich nicht gerufen hast, aber mich brauchst. Ich komme freiwillig, weil du mich vergessen hast, weil du nicht weißt um die Wärme, die von mir ausgeht, weil du nicht weißt um die Geborgenheit, die du in mir findest. Vertrau dich den Boten an. Lass einen Augenblick nur dir befehlen, ach, lass sie einen Augenblick dich lenken.

Komm, komm...