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Nun gibt es eine Sonderausgabe – Dr. Norden Aktuell Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. Dr. Daniel Norden betrachtete die Patientin, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, mit nachdenklichem Blick. Es war über ein Jahr her, daß Carla Hauff bei ihm gewesen war. Er hatte sie wegen starker Bandscheibenschmerzen zu einem Orthopäden geschickt. »Eine Zeit ging es ja nach der Behandlung«, erzählte sie, »aber seit ein paar Tagen ist es wieder ganz schlimm, und die Tortur möchte ich nicht noch einmal mitmachen.« Dr. Norden wußte, daß eine solche Behandlung oft sehr schmerzhaft und anstrengend war, und Frau Hauff war eine überaus empfindliche Patientin. Während der langen Krankheit ihres Mannes war sie großen seelischen Belastungen ausgesetzt gewesen und durch die Pflege auch körperlichen. Sein Tod hatte auch ihre finanziellen Verhältnisse verschlechtert, und auch darunter litt sie. »Eine Kur wäre halt angebracht«, sagte er. »Das kann ich mir einfach nicht leisten, solange Ingrid nicht mit ihrem Gesangstudium fertig ist«, erwiderte sie. Na, sie studiert doch schon eine ganze Weile, dachte Dr. Norden, aber das sprach er freilich nicht aus. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, mit welcher Begeisterung Carla Haufff von dem großen Talent ihrer ältesten Tochter gesprochen hatte. »Was macht denn Julia?« erkundigte er sich nach der jüngeren Tochter, die noch die Schulbank gedrückt hatte, als ihr Vater starb. »Sie hat eine gute Stellung gefunden bei der Firma Hess«
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Dr. Daniel Norden betrachtete die Patientin, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, mit nachdenklichem Blick.
Es war über ein Jahr her, daß Carla Hauff bei ihm gewesen war. Er hatte sie wegen starker Bandscheibenschmerzen zu einem Orthopäden geschickt.
»Eine Zeit ging es ja nach der Behandlung«, erzählte sie, »aber seit ein paar Tagen ist es wieder ganz schlimm, und die Tortur möchte ich nicht noch einmal mitmachen.«
Dr. Norden wußte, daß eine solche Behandlung oft sehr schmerzhaft und anstrengend war, und Frau Hauff war eine überaus empfindliche Patientin.
Während der langen Krankheit ihres Mannes war sie großen seelischen Belastungen ausgesetzt gewesen und durch die Pflege auch körperlichen. Sein Tod hatte auch ihre finanziellen Verhältnisse verschlechtert, und auch darunter litt sie.
»Eine Kur wäre halt angebracht«, sagte er.
»Das kann ich mir einfach nicht leisten, solange Ingrid nicht mit ihrem Gesangstudium fertig ist«, erwiderte sie.
Na, sie studiert doch schon eine ganze Weile, dachte Dr. Norden, aber das sprach er freilich nicht aus. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, mit welcher Begeisterung Carla Haufff von dem großen Talent ihrer ältesten Tochter gesprochen hatte.
»Was macht denn Julia?« erkundigte er sich nach der jüngeren Tochter, die noch die Schulbank gedrückt hatte, als ihr Vater starb.
»Sie hat eine gute Stellung gefunden bei der Firma Hess«, erwiderte Carla Hauff. »Und wie es scheint, ist der Juniorchef ernsthaft in sie verliebt«, fügte sie errötend hinzu. »Das wäre natürlich ein Glück für uns alle.«
Ein Glück für alle, dachte Dr. Norden bestürzt. Sie kann doch aus solcher Verbindung nicht Vorteile für sich und Ingrid ableiten. Diese Ingrid hatte er ohnehin als ein sehr eingebildetes und selbstsüchtiges Mädchen in Erinnerung.
Carla deutete sein Schweigen richtig und wurde noch verlegener.
»Ich hoffe, Sie mißverstehen mich nicht, Herr Doktor«, sagte sie. »Ich wäre natürlich froh, wenn ich wenigstens eine Tochter gut versorgt wüßte. Wir müssen uns jetzt sehr einschränken, aber Ingrid soll doch nicht darunter leiden, daß sie ihren Vater so früh verloren hat. Ihre schöne Stimme…«
Und so ging es noch eine Weile fort. Ingrid, immer wieder Ingrid, die Begabte, die Schöne, eindeutig das Lieblingskind ihrer Mutter, dem alles zugebilligt werden mußte.
Dr. Norden hörte nur mit halbem Ohr zu, und er horchte erst wieder auf, als Carla Hauff dann doch noch einmal auf Julia zu sprechen kam.
»Ach ja, ich wollte Sie noch fragen, ob man nicht das Muttermal an Julias Oberschenkel beseitigen kann. Ich finde es doch sehr störend. Als sie sich neulich auf dem Balkon sonnte, ist es mir aufgefallen, daß es sehr unschön aussieht. Es ist auch noch ziemlich groß geworden.«
»Ich müßte es mir einmal anschauen«, erwiderte Dr. Norden. »Schicken Sie Julia einmal zu mir.«
»Sie hat ja nie Zeit. Bis fünf Uhr ist sie im Geschäft, und dann besucht sie noch Abendkurse, um sich in den Sprachen zu vervollständigen. Und dann trifft sie sich auch manchmal mit Bernd Hess, was ja verständlich ist.«
»Sie könnte mal an einem Samstag kommen, wenn sie sich vorher anmeldet.«
»Ich werde es ihr sagen. Nun, wenn es zu der Heirat kommt, werde ich mir wohl auch mal eine Kur leisten können. Inzwischen muß ich mich mit den Medikamenten behelfen. Vielen Dank, Herr Doktor, daß Sie sich die Zeit für uns nehmen. Man findet solche Ärzte sehr selten.«
Irgendwie war sie doch nett und noch immer eine hübsche Frau mit ihren fünfundvierzig Jahren. Nur diese übersteigerte Liebe zu ihrer Tochter Ingrid mißfiel Dr. Norden. Ihm ging es gegen den Strich, wenn ein Kind so bevorzugt wurde, denn das war ganz offensichtlich der Fall.
*
Ingrid nutzte die Liebe ihrer Mutter tatsächlich weidlich aus. Ihr gefiel das Leben recht gut, das sie führen konnte. Sie hätte längst eine Stellung als Chorsängerin haben können, denn sie hatte eine wirklich hübsche Stimme, die an Volumen aber nicht für eine Solistin ausreichen würde. Aber in einem Chor zu singen, das fand sie unter ihrer Würde. Sie fühlte sich zu Höherem berufen, und dafür fand sie bei ihrer Mutter ja hinreichend Verständnis. Daß die um drei Jahre jüngere Julia mit für den Lebensunterhalt sorgte, beschämte sie keineswegs. Es wurmte sie nur, daß Bernd Hess sich ernsthaft für Julia interessierte, denn er war nicht nur vermögend, sondern auch ein recht gut aussehender junger Mann.
Ingrid flirtete gern mit attraktiven Männern, und ein unbeschriebenes Blatt war sie auch nicht mehr, obwohl ihre Mutter fest davon überzeugt war. Doch Carla Hauff war in gewissem Sinne immer naiv geblieben. Sie hatte ihre erste Liebe geheiratet und war mit ihrem Maximilian achtzehn Jahre glücklich gewesen. Auch die Zeit seiner Krankheit war inbegriffen.
Sie hatte ihren Mann aufopfernd gepflegt und immer auf seine Genesung gehofft, als schon die Ärzte jede Hoffnung aufgegeben hatten.
Sie hatten wohl auch gehofft, daß Ingrid, die unbestreitbar ein bildhübsches Mädchen war, bald einen gutsituierten Mann finden würde, doch diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Freilich sah es Carla von dem Standpunkt, daß es sich Ingrid leisten konnte, wählerisch zu sein, und wenn wieder mal eine Freundschaft in die Brüche gegangen war, erklärte Ingrid, daß ihre Karriere ihr wichtiger sei. Selbstverständlich billigte Carla auch diese Einstellung, obgleich sie nicht der Wahrheit entsprach.
Ingrid war nämlich so oberflächlich, wie sie hübsch war. Dazu war sie zu sehr von sich überzeugt. Das hatte bisher noch jedem Mann mißfallen, der ihren Weg gekreuzt hatte, und außerdem ließ sie sich allzu leicht von Äußerlichkeiten bestechen.
Als Carla an diesem Morgen nach Hause kam, lag Ingrid noch immer im Bett.
»Hättest du nicht Unterricht?« erkundigte sich Carla, nun doch ausnahmsweise einmal unwillig.
»Ich fühle mich nicht wohl, Mutti«, stöhnte Ingrid. »Ich habe Halsschmerzen.«
»Soll ich nicht lieber Dr. Norden rufen?« fragte Carla sogleich besorgt.
»Nein, ich gehe lieber zu einem Spezialisten. Ich stehe gleich auf.«
»Aber es ist ziemlich kühl, Ingrid. Die Luft könnte dir schaden. Du solltest endlich einmal dein Examen machen.«
Sie hatte tatsächlich endlich gesagt. Ingrid blickte ihre Mutter unter halbgeschlossenen Lidern an.
»Ich werde es schon noch machen«, erwiderte sie aggressiv. »Willst du mir jetzt Vorwürfe machen?«
»Aber nein!« wehrte Carla erschrocken ab. »Du weißt, daß ich dir den bestmöglichen Start wünsche, aber unser kleines Vermögen schrumpft immer mehr zusammen. Ich kann nicht von Julia erwarten, daß sie von ihrem Verdienst noch mehr abgibt.«
»Warum denn nicht? Wenn sie es schlau anfängt, ist sie bald Frau Hess, und dann kann sie sich alles leisten.«
Es klang ziemlich gehässig, aber das hörte Carla Hauff nicht.
»Ja, ich wäre froh, wenn sie heiraten würden«, sagte sie gedankenverloren. »Dann könnte ich die oberen Räume vermieten, und es würde mir nicht so schwer fallen, die Hypothek abzuzahlen.«
»Du denkst ans Vermieten?«, fragte Ingrid unwillig. »Auch dann, wenn Bernd dein Schwiegersohn wird?«
»Ich kann nicht von ihm erwarten, daß er uns unterstützt, und ich kann auch von Julia nicht verlangen, daß sie zubuttert. Das mußt du verstehen. Schließlich habe ich auch meinen Stolz.«
Ingrids Augen verengten sich noch mehr. »Wenn ich einen reichen Mann heirate, wird es selbstverständlich für mich sein, dich zu unterstützen, Mutti«, sagte sie. »Dann wirst du ein schönes Leben haben, das verspreche ich dir.«
»Dr. Norden hat gesagt, daß mir eine Kur helfen würde«, sagte Carla geistesabwesend.
»Er braucht wohl Patienten für seine Insel der Hoffnung«, sagte Ingrid anzüglich.
»Aber nein, das hat er doch nicht nötig. Dort sind sie ständig ausgebucht.«
»Vielleicht ist das auch nur Gerede«, meinte Ingrid herablassend.
Nachdenklich blickte Carla ihre Tochter an. »Was hast du eigentlich gegen Dr. Norden?«
»Er hat immer bagatellisiert, was mir fehlte. Wie ein dummes Gör hat er mich behandelt, und seine Frau bildet sich wer weiß was ein. Ich verstehe nicht, was man ihr schön findet.«
Bestürzt sah Carla auf. »Sie ist schön«, sagte sie, »schön und klug.«
»Bin ich etwa dumm?« begehrte Ingrid auf.
»O nein, das wollte ich nicht sagen, Ingrid. Du lebst nur deiner Kunst und bedenkst nicht, mit welchen Sorgen ich zu kämpfen habe seit Vaters Tod. Es soll gewiß kein Vorwurf sein, mein Kind, aber ich kann Julia nicht alles abverlangen, das mußt du einsehen.«
»Sie ist bedeutend realistischer als ich, Mutti«, sagte Ingrid sanft. »Sie hat sich einen vermögenden Mann geangelt. Ich verstehe nicht, warum du dir Gedanken um sie machst. Julia weiß ihre Vorteile zu wahren. Ich bin halt romantischer, aber dir zuliebe, und damit du eine Kur machen kannst, würde ich den nächstbesten Mann heiraten, der uns aus der Misere herausbringt.«
»Gott bewahre, Ingrid, das will ich nicht«, widersprach Carla. »Wir kommen sehr gut zurecht, wenn Julia aus dem Hause ist und ich die Mansarde vermieten kann. Aber jetzt sollten wir lieber daran denken, daß deine Halsschmerzen nicht schlimmer werden.«
»Ich ziehe mich an und fahre gleich zu Dr. Küppers«, sagte Ingrid schnell. »Du sollst dir keine Sorgen machen, Mutti. Hoffentlich machst du dir aber auch keine falschen Hoffnungen, denn ich wüßte wirklich nicht, was Bernd an Julia findet.«
Das klang auch sehr hintergründig, aber Carla überhörte es wieder.
Wenn es nur nicht ihrer Stimme schadet, dachte sie in mütterlicher Besorgnis und völlig ahnungslos, was wirklich im Schilde führte.
Bernd Hess und Julia gingen am Dienstag und Donnerstag immer gemeinsam in ein nettes kleines Restaurant zum Mittagessen. Das war seit vier Wochen zur Gewohnheit geworden, und Ingrid wußte es von Julia selbst. Mochten Bernds Eltern über die Wahl ihres Sohnes auch nicht gerade begeistert sein, so zeigten sie sich doch recht tolerant, da Julia von sich aus nichts forcierte und nach wie vor ihrer Stellung in dem Großhandel sehr korrekt gerecht wurde. Sie wahrte die nötige Distanz, aber sie war auch sehr beliebt und ein durch und durch anständiges Mädchen.
Julia war ein Mädchen, das genau wußte, was sie wollte, aber noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie Bernd wirklich heiraten wollte, obgleich er immer öfter davon sprach.
Auch an diesem Donnerstag äußerte sie ehrlich ihre Ansichten.
»Wir brauchen doch nichts zu überstürzen, Bernd«, sagte sie. »Mir wäre es lieber, wir würden erst über die Zukunft sprechen, wenn Ingrid ihre Ausbildung abgeschlossen hat.«
»Du denkst immer nur an deine Mutter und deine Schwester«, sagte er ziemlich ungehalten, »denk doch mal in erster Linie an dich selbst, oder noch besser an uns.«
Julia blickte ihn aus ihren schönen grauen Augen nachdenklich an.
»Ich kann es nicht, Bernd. Ich möchte auch nicht so ohne irgend etwas deine Frau werden. Der Gedanke, daß man mir nachsagen könnte, ich wolle mich in ein gemachtes Bett legen, wäre mir gräßlich.«
»Hör doch endlich mit diesem Unsinn auf, Julia«, sagte Bernd. »Wenn du mich liebst, darfst du so etwas gar nicht denken.«
Julia senkte den Kopf. Ihr dichtes aschblondes Haar fiel über ihr feines Gesicht.
»Mir ist ja nicht einmal klar, ob es wirklich Liebe ist, Bernd«, sagte sie leise. »Es kam zu plötzlich für mich. Ich habe dich wahnsinnig gern, aber…«
»Immerzu aber«, unterbrach er sie gereizt. »Ich habe kein Mädchen kennengelernt bisher, das so redet.«
Ernst war ihr Blick auf ihn gerichtet. » Vielleicht würde ich unter anderen Voraussetzungen anders reden, Bernd. Aber ich bin eine Angestellte im Betrieb deines Vaters. Und ich glaube, daß dein Vater genauso skeptisch ist wie ich auch. Ich habe viel über das nachgedacht, Bernd. Vielleicht reizt es dich nur, weil ich nicht gleich begeistert einem Wochenende mit dir zustimmte. Das würde ich aber auch nicht tun, wenn wir uns verloben würden.«
»Du bist total verklemmt«, sagte er. »Deine Mutter und deine Schwester haben dich unterjocht. Mach dich endlich frei von diesen Sentimentalitäten, Julia. Im Betrieb hast du dir doch so viel Respekt verschafft.«
»Bei dir nicht?« fragte sie.
In diesem Augenblick kam Ingrid mit schwingenden Schritten an ihren Tisch.
»Welch eine nette Überraschung«, sagte sie, »oder störe ich etwa? Ich bin hier verabredet.«
Sie und Julia gemixt, das wäre die vollkommene Frau, dachte Bernd. Ihr Auftreten und Julias Intelligenz, das würde auch seine Eltern vollends überzeugen, denn sie wollten ja eine Schwiegertochter, die repräsentieren konnte. Aber dafür zeigte Julia keine Neigung. Sie wollte nur lernen, immer noch dazulernen. Und das war Bernds Eltern, die nur eine Allgemeinbildung hatten, unheimlich.
»Sie stören nicht, Ingrid«, sagte er höflich. »Was darf ich Ihnen bestellen?«
»Einen Sherry«, erwiderte sie mit ihrem charmantesten Lächeln. »Ich bin mit Dr. Küppers verabredet. Er darf sich doch sicher zu uns setzen.«
»Aber selbstverständlich«, erwiderte Bernd.
»Ich möchte pünktlich im Büro sein«, sagte Julia.
»Mein Gott, auf ein paar Minuten wird es doch nicht ankommen«, meinte Ingrid lächelnd.
»Unsere kleine Patientin nimmt es sehr genau«, sagte Bernd.
Julia sah ihre Schwester an.
»Genau«, fiel ihr Ingrid ins Wort, »ich hatte Halsschmerzen, aber mit Dr. Küppers verstehe ich mich auch privat sehr gut. Er opfert mir seine Mittagspause. Du brauchst es Mutti nicht gleich weiterzusagen. Sie möchte mich ja gern vor dir unter die Haube bringen, weil der Volksmund behauptet, daß die jüngere Schwester nicht vor der älteren heiraten dürfe, da diese dann keinen Mann mehr bekommen würde.«
Dann gelang Ingrid ein melodisches Lachen, in das Bernd einstimmte.
»Sie hätten aber nichts dagegen, wenn ich und Julia vorher heiraten würden?« fragte er.
»Was sollte ich dagegen haben?« fragte Ingrid. »Einen so charmanten Schwager kann ich mir doch nur von Herzen wünschen.«
»Es wäre nett, wenn Sie Julia zureden würden, Ing-rid«, sagte Bernd.
Julia blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich muß gehen«, sagte sie.
»Da kommt ja auch schon Dr. Küppers«, sagte Ingrid. »Danke für den Sherry, Bernd.«
Dr. Küppers hatte schon graues Haar, aber er sah recht gut aus. Er küßte Ingrid die Hand, blieb Julia und Bernd gegenüber allerdings recht reserviert.
»Deine Schwester hat Niveau, Julia«, sagte Bernd, als sie das Restaurant verlassen hatten.
»Und ich nicht«, sagte sie spöttisch. »Ich mag dieses Getue nicht, das dir anscheinend imponiert. Das ist auch ein Grund für mich, uns genau zu prüfen.«
»Du bist ein komisches Mädchen«, sagte er.
»Dann bin ich eben ein komisches Mädchen. Ich möchte akzeptiert werden, wie ich bin.«
»Ich akzeptiere dich doch«, sagte er verwundert.
»Und für mich bist du der Juniorchef«, sagte Julia, doch dabei fragte sie sich, ob sie ihn auch in jeder Beziehung akzeptieren könnte.
Bernd hatte schon sehr bald, nachdem sie in der Firma Hess angestellt worden war, Kontakt zu ihr gesucht. Nähergekommen waren sie sich aber erst vor acht Wochen bei einem Betriebsfest, anläßlich des fünfundzwanzigjährigen Bestehens. Da waren sie in sehr beschwingter Stimmung gewesen, und was sich daraus dann entwickelt hatte, ängstigte Julia ein bißchen.
Nein, sie war sich keineswegs klar über ihre Gefühle für Bernd. Er sah gut aus, er war charmant und auch clever, aber für ihre Begriffe doch zu einseitig orientiert. Aber sie mochte ihn. Sie mochte ihn sogar sehr, nur war sie sich nicht klar darüber, ob das für eine Ehe reichen könnte. Andererseits wußte sie mittlerweile aber auch, daß ihre Mutter große Hoffnungen darauf setzte, daß aus ihnen beiden ein Ehepaar würde. In ihrer Ehrlichkeit hatte sie nicht verschwiegen, daß Bernd ihr schon einen Antrag gemacht hatte.
Bei einem war es nicht geblieben, und anscheinend war es ihm wirklich ernst. Aber Julia blieb dennoch mit den Füßen auf dem Erdboden, wenn dieser auch manchmal schwankte.
»Du wünschst, daß ich Ingrids nonchalante Art hätte«, sagte sie, als sie das Bürogebäude betraten.
»Ich würde es eher souverän nennen«, sagte Bernd.
»Ach so«, sagte Julia ironisch, »souverän. Oder meinst du vielleicht arrogant?«
Er sah sie erstaunt an. »Bist du etwa eifersüchtig auf deine Schwester?« fragte er.
»Eifersüchtig?« fragte sie erstaunt zurück. »Warum denn?«
»Weil sie so attraktiv ist.«
Julia lächelte rätselhaft. »Man sieht Ingrid schon gleich im Rampenlicht«, sagte sie. »Ich wollte, sie würde ihr Talent endlich beweisen, dann würde ich mich freier fühlen. Ich würde bestimmt zu denjenigen gehören, die ihr enthusiastisch Beifall klatschen würden, wenn sie ihren ersten Erfolg verzeichnen würde.«
»Was willst du damit sagen, Julia?« fragte Bernd.
»Nicht mehr und nicht weniger, als daß Ingrid jetzt vier Jahre Gesang studiert, und das kostet einen Haufen Geld. Es mag hart klingen, aber ich sehe darin keinen Sinn, wenn man dadurch nicht auch etwas verdient. Bist du dir über unsere Verhältnisse eigentlich im klaren, Bernd? Ich könnte mir vorstellen, daß deine Eltern doch ganz gern eine Schwiegertochter haben würden, die wenigstens eine Aussteuer mitbringt.«
»Du bist altmodisch«, sagte er.
»Deine Eltern wohl auch«, konterte Julia. »Und kann dich der Gedanke nicht schrecken, daß meine Mutter mich sehr gern mit einem gutsituierten Mann verheiratet sehen würde?«
»Julia«, sagte Bernd leise, »wie kannst du nur so denken?«
»Ja, wie kann ich nur! Ich möchte nicht, daß Unklarheiten zwischen uns bestehen. Ich bin kein attraktives Mädchen, bei dessen Anblick man den Verstand verliert. Ja, schau mich nur an, Bernd! Ich sehe das wirklich nüchtern. Der frühe Tod meines Vaters hat mich gezwungen, den Tatsachen direkt ins Auge zu sehen. Ich habe ihn sehr geliebt. Er hat ein unmenschliches Leiden tapfer ertragen. Er hatte uns ein Haus gebaut. Ich konnte doch nicht zulassen, daß dieses Haus unter den Hammer kam.«
»Verbittert es dich, daß du nicht studieren konntest?« fragte Bernd.
»Nein«, erwiderte sie lakonisch.
»Aber es kränkt dich, daß Ingrids Ausbildung viel Geld kostet.«
»Nein, es kränkt mich nicht, wenn ich diese Ausbildung auch für wenig sinnvoll halte. Es ist hinausgeworfenes Geld, um es deutlich zu sagen. Ihre Stimme reicht nicht aus für eine Opern- oder Konzertsängerin. Ich halte es einfach nicht für gut, wenn man überschätzt wird, oder noch für weniger gut, wenn man sich selbst überschätzt. Ich bin der Meinung, daß man aus sich und seinen Talenten das Bestmögliche machen muß.«
»Ich schätze deine Aufrichtigkeit, Julia«, sagte Bernd.
»Aber gleichzeitig irritiert sie dich«, erwiderte sie. »Ich jedenfalls wünsche, daß Klarheit zwischen uns herrscht.«
Rank und schlank stand sie vor ihm, nur wenige Zentimeter kleiner als er. Ihr schmales blasses Gesicht wurde von dem aschblonden Haar umrahmt, ihre klaren grauen Augen blickten ihn forschend an. Eine kleine steile Falte stand zwischen den schöngeschwungenen Augenbrauen, inmitten der sonst so glatten, hohen Stirn.