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Liebe hat viele Facetten. Sie kommt humorvoll daher oder als Drama. Sie ist oft ist mit einem gewissen Prickeln verbunden, lässt uns Luftschlösser bauen und Herz auf Schmerz reimen. Wir starren stundenlang auf unser Handy, leiden unter permanentem Schlafentzug und sind nicht wirklich zurechnungsfähig. Romantisch, komisch, tragisch, lustig, gefühlvoll oder hart an der Grenze. In diesem Buch sind 66 Kurzgeschichten rund um das Thema Liebe.
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Seitenzahl: 211
Für Rudi - Danke für alles
Ach, es gibt so viele Posts über die Liebe!
Über die Schmetterlinge und die großen Gefühle. Die völlige Unmöglichkeit, auch nur eine Sekunde ohne den Anderen zu sein. Des Nachts mit ineinander verschlungenen Körpern zu schlafen und tags halbstündlich SMS zu verschicken, um sich gegenseitig zu versichern, dass man sich noch immer liebt.
Doch wie ist die Liebe, nachdem der Wahnsinn des ersten Kennenlernens abgeklungen ist? Wenn die Verliebtheit ein wenig schwindet und der Liebe Raum gibt? Wenn die Schmetterlinge zur Ruhe gekommen sind? Nun, das Herz schlägt nicht mehr schneller, wenn ihr euch seht. Im Gegenteil, bei deinem Partner fühlst du dich ruhig und sicher, eben zu Hause. Kein Looping der Gefühle mehr, sondern Entschleunigung und fallen lassen können.
Auch schlaft ihr endlich wieder durch, denn die Körper haben sich entflochten. Manchmal liegt ihr sogar voneinander abgewandt. Aber irgendwann in der Nacht findet ihr euch doch. Du kuschelst dich in seinen Arm und manchmal zieht er dich im Schlaf ganz dicht an sich heran. Vielleicht hat er als Kind so seinen Teddy im Arm gehabt? Vielleicht bist du jetzt seine Geborgenheit! In den kostbaren Morgenstunden, bevor der alltägliche Wahnsinn euch überrollt, schmiegt ihr euch aneinander. Genießt Nähe und Wärme des Anderen.
SMS sind seltener geworden. Der Text lautet nicht mehr: ‚Ich liebe nur Dich, für immer’ sondern ‚Bitte denk doch daran, Küchenrolle mitzubringen, hdl’.
So ist das wohl mit den Beziehungen. Sie sind nicht immer und ewig im Märchenland angesiedelt. Auch das Permanentfeuerwerk ist irgendwann abgebrannt. Doch wenn ihr euch nach der ersten Verliebtheit für einander entschieden habt, dann wärmt ihr euch aneinander, gebt euch Geborgenheit und Halt. Seid euch wichtig, wie sonst niemand anderes.
Ach ja – fast hätte ich die Sache mit den Küssen ganz vergessen. Sie sind jetzt vielfältiger. Es gibt die ‚Tschüß bis gleich’ und die ‚verschlafenen Morgenküsse’, die vom Lärmen des Weckers begleitet werden. Auch die ‚ich habe jetzt gerade keine Zeit, aber ich liebe dich’ und ‚schlaf gut’ Bussis gibt es. Nicht zu vergessen sind die ‚einfach mal so, weil ich dich mag’ Küsschen.
Aber keine Sorge, die richtig heißen, weiche Knie machenden, euch zum Schmelzen bringenden Knutscher gibt es immer noch! Ehrenwort!
In den schottischen Highlands war einmal ein Fels, größer als seine Brüder, doch gehörte er zu ihnen. Gemeinsam trotzten sie dem tobenden Sturm, dem peitschenden Regen und auch der klirrende Frost konnte ihnen nichts anhaben.
Eines Tages trug der freundliche Westwind ein Samenkorn zu ihnen. Es fiel in eine kleine Spalte des großen Felsbrockens und es wuchs eine Pflanze daraus. Klein zunächst und kümmerlich, denn der Fels wollte sie nicht nähren.
„Was tust du hier“, grollte er.
„Oh, ich wachse und du hilfst mir dabei“, wisperte die Pflanze.
„Ich kann dir nicht helfen, denn ich bin ein harter Fels. Geh lieber weg.“
„Aber du bist stark, gibst mir Schutz und Nahrung, wenn du nur willst. Ich will bei dir bleiben“, antwortete die Pflanze und schmiegte sich haltsuchend an. Darauf wusste der Fels keine Antwort, denn noch nie hatte ihn jemand um so etwas gebeten. So duldete er die Pflanze. Sie wuchs heran, bekam die ersten Knospen, blühte auf. Der Fels bot ihr Schutz, nährte sie.
„Es ist schön hier bei dir“, flüsterte sie eines Tages.
„Ich bin rau und schroff, niemand findet mich schön“, war die Antwort des Felsens, doch insgeheim freute er sich über die Pflanze, schmückte sie ihn doch mit ihren Blüten, machte ihn durch ihre Aufmerksamkeit einmalig.
„Wovon träumst du“, fragte sie ihn einmal.
„Ich weiß nicht“, antwortete er. „Wovon träumst du?“
Die Pflanze lächelte ihn an. „Irgendwann werden wir beide Staub sein und mit dem Wind überall hin fliegen können.“
Da begann er sie zu lieben.
“Diese Geschichte kenne ich nicht”, sagst du.
Ich muss lächeln. “Doch, denn es ist unsere.”
Hallo Vater,
sicher wunderst Du Dich nach so langer Zeit von mir zu hören. Bis vor kurzem hätte ich nicht daran gedacht, Dir zu schreiben, aber es muss ein. Es tut mir sehr leid, dass ich in diesem Schreiben auch Begebenheiten erwähne, die Dir bestimmt nicht so angenehm sind, doch das ist unerlässlich.
Er legt den Brief für einen Augenblick auf die Seite, nimmt die Brille ab, putze sie umständlich. Es ist nicht einfach zu lesen, was sein Sohn ihm geschrieben hat. Bei ihrer letzten Begegnung hatten sich Vater und Sohn heftig auseinandergesetzt. Seufzend setzt er die Brille wieder auf, liest weiter.
Ich werde Dir von ihr erzählen, damit Du verstehst. Das ist mir wichtig. Ich glaube Du und ich haben nie versucht, uns gegenseitig wirklich nah zu kommen, zu erahnen, was in dem Anderen vorgeht.
Sie war neu in unserer Schule und fiel mir direkt auf. Nicht nur, weil sie schön war, sondern auch wegen ihrer ganz besonderen Ausstrahlung, denn obwohl sie niemanden kannte, wirkte sie entspannt. Ich stand mit mehreren zusammen, wie das so war. Dennis natürlich mittendrin, schließlich war er das Alphatier. Dennis mit dem 3 mm Haarschnitt, den Springerstiefeln und dem auf den Rücken tätowierten Hakenkreuz. Er schaute sich nach ihr um, hakte die Daumen unter seinen Gürtel.
„Wieder so ne Türkenschlampe“, grölte er laut. „Was hat das Pack hier verloren?“
Niemand sagte etwas dazu, ich auch nicht. Aber ich schämte mich, denn sie schien ihn gehört zu haben. Jedenfalls musterte sie ihn finster mit ihren wunderschönen schwarzen Augen.
„Hey, was glotzt du? Wo hast du überhaupt dein Kopftuch gelassen?“, provozierte er weiter.
Ihr Blick wanderte abfällig über uns hinweg. „Das habe ich deiner Mutter geliehen“, mit diesen Worten drehte sie sich um und ging in Richtung Schulgebäude, kerzengerade. Ich bewunderte ihre Rückenlinie unter dem dünnen Top und ihre Schlagfertigkeit.
„Scheiß Ölauge. Der werd’ ich’s noch zeigen“, murmelte Dennis, hielt aber die Füße still. Wir sagten alle nichts. Einige grinsten, andere, auch ich, schauten betreten auf ihre Füße.
Er kann sich gut an die Diskussionen erinnern. „Dennis ist ein Nazi, echt. Das geht gar nicht. Sind seine Eltern auch so assig?“
„Wie redest du von den Leuten. Die sind hochanständig und gut situiert. Der Vater ist im Presbyterium, sehr engagiert, was unsere Kirche anbetrifft. Dennis ist einfach jung. Das legt sich dann schon. Vielleicht hat er Berührungsängste mit anderen Kulturen. An sich ist er ein feiner Kerl.“
Sein Junge hatte ihn lange angeschaut. „Und weil sie in den anderen Kulturen ihren Gott anders nennen als du, darf man auf ihnen herumhacken, was?“
„Davon ist keine Rede. Gerade als Pfarrer bin ich offen für fremde Religionen. Lass den Unsinn.“
Der Jungs war hinausgestapft, wortlos.
Sahra war in meiner Klasse, doch sie beachtete mich nicht. Genau genommen beachtete sie gar keinen Jungen. Was mich erleichterte und ärgerte. Erleichtert war ich, dass sie keinen Freund hatte, gleichzeitig ärgerte es mich, dass sie mich so vollständig ignorierte, egal was ich tat, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Einzig Dennis beachtete sie hin und wieder, denn er provozierte sie, wo er die Gelegenheit dazu hatte. Er ging in die Klasse über uns, wie du weißt. (Weißt Du das eigentlich? Viel hast Du Dich nie um mich gekümmert.) Manchmal gab sie ihm Kontra, aber meistens ließ sie alles von sich abprallen, ging ihren Weg, unbeirrbar und stolz. Ich sagte nie etwas zu Dennis’ Widerwärtigkeiten, sonderte mich aber von ihm ab. Sicher war das zu wenig. Ich hätte sie beschützen müssen, tat es aber nicht, weil ich einfach zu feige war. Dennis, das war der coole Typ, der Macker, dem alle folgten. Wenn ich Partei für sie ergriffen hätte, dann wäre ich ein für alle Mal unten durch gewesen. Übrigens hatte ich schlicht und ergreifen keine Chance, eine Prügelei mit ihm zu überstehen, vom Gewinnen mal ganz abgesehen. Er, der Kraftprotz, der in jeder Sportstunde seine Mannschaft zusammenstellte gegen mich, den mickerigen Typen, der immer als letzter übrig blieb, weil ihn keiner in seiner Mannschaft haben wollte. Der Gedanke an körperliche Gewalt ließ mich in kalten Schweiß ausbrechen. So tat ich, als würde ich Dennis Gerede nicht zur Kenntnis nehmen und versuchte weiter vergeblich an sie heranzukommen.
Ja, der Junge wollte in der Schule immer der Beste beim Sport sein, doch lag das nicht in seinen Möglichkeiten. Der Vater lächelt bei dem Gedanken ihn gesehen zu haben, wie er heimlich mit viel zu schweren Hanteln trainierte. Dabei fiel ihm das Lernen immer so leicht. Mühelos schrieb er ausschließlich gute Noten, bestand jeden Test. Verstand nie, dass es nicht auf viel Muskelmasse ankommt, sondern auf das, was sich im Hirnkasten abspielt.. Einmal mehr bedauert er, dass er nicht erkannt hat, was den Jungen bedrückte, damals, vor langer Zeit. Nachdenklich nippt er an seinem Cognac, liest weiter.
Schließlich gab ich es auf, erkannte, dass sie mich nicht wahrnehmen wollte. Wahrscheinlich stand sie auf Typen wie Dennis, nur in nett, dachte ich mir. Ich hatte auch mit dem Abi genug zu tun, schließlich wollte ich als Bester abschließen. So steckte ich meine ganze Energie und irgendwie auch meinen ganzen Frust ins Lernen, was ja auch gelang. Ich war der Jahrgangsbeste, was Du wohlwollend zur Kenntnis nahmst. Ich weiß, dass Du enttäuscht warst, weil ich nicht Theologie studieren wollte. Gott interessierte und interessiert mich auch jetzt nicht. Die Rechtswissenschaften hatten es mir angetan. Ich würde einmal ein berühmter Strafverteidiger werden, das war mir völlig klar.
Er schüttelt den Kopf. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn der Sohn in seine Fußstapfen getreten wäre, doch er war so stolz auf die Leistung des Jungen, dass es ihm letztendlich egal gewesen war, was er studierte. Auch darüber war nie geredet worden. So viele Versäumnisse ...
So ging ich also nach Münster, an die Uni. Das war schon toll. Eine eigene Bude in einer WG, Freiheit, keine Rücksichtnahme auf den protestantischen Haushalt. Keine Vorhaltungen: „Was sollen die Leute denken, schließlich bin ich hier der Pfarrer und eine Respektsperson.“ Dann geschah das Unfassbare. Sie tauchte an der Uni auf. Ganz unvermittelt stand sie vor mir, stutzte, sah mich an. Zum ersten Mal hatte ich ihre ganze Aufmerksamkeit.
„Hey, dich kenne ich doch.“
Ich schluckte. Jetzt oder nie, dachte ich. „Ja, wir waren in einer Klasse, Sahra. Ich war der kleine Streber, der dich immerzu nur angeschaut hat.“
Sie schnipste mit den Fingern. „Genau. Markus, jetzt fällt es mir wieder ein. Hast du nicht immer mit Dennis herumgehangen?“ Bei dem Namen verdüsterte sich ihr Gesicht, selbst jetzt noch.
Ich schaute betreten auf meine Füße, einmal mehr. „Ich ... muss dir was sagen ...“, murmelte ich. „Das ist gar nicht so einfach. Es tut mir furchtbar leid ...“
Sie lachte leise. „Okay, aber ich muss jetzt los. Wollen wir uns nachher treffen? Dann kannst du es mir in Ruhe sagen.“
„Ja, ja“, presste ich atemlos hervor. „Ja, wo? Ich komme überall hin.“
Wieder lachte sie, dieses Mal amüsiert. „Ich weiß da eine Kneipe. Heute Abend um acht?“
Später saß ich ihr gegenüber, schaute sie einfach nur an. Sie war noch schöner geworden, fraulicher. Rundungen an den richtigen Stellen, die Haare dunkel und voll. Am liebsten hätte ich meine Nase in ihnen vergraben, ihren Duft inhaliert. Und diese Augen. Unergründlich, ich konnte mich in ihnen verlieren. Sie hatte mit einem Germanistikstudium angefangen. „Ausgerechnet ich, als Türkin“, lächelte sie. „Aber ich habe mich durchgesetzt. Gut, dass meine Eltern tolerant sind.“ Das war mein Stichwort. „Ich kann mich nur für damals entschuldigen. Ich war so feige. Tausend Mal habe ich mir vorgenommen, Dennis was aufs Maul zu hauen, wenn er herumgepöbelt hat, aber ich hab’s nicht hingekriegt. Hinterher habe ich mich geschämt, für mich, aber auch für ihn.“
Sie sah mich aufmerksam an, lange, schweigend. Schließlich nahm sie meine Hand. „Ist schon in Ordnung. Er war widerwärtig, aber ich habe das überstanden. Du kannst das wieder gut machen, indem du mit mir Essen gehst. Aber bitte nicht deutsch und nicht türkisch.“
„Italienisch, Indisch, Mexikanisch, Vulkanisch, Chinesisch, Thai, Chappy, Whiskas – mit dir ist mir alles Recht“, sagte ich atemlos.
Nun kicherte sie wie ein kleines Mädchen. „Das sind ja schöne Angebote. Wie wäre es mit Trill für Wellensittiche?“
Von da an trafen uns, wann immer das möglich war, lachten viel miteinander, hatten ernste Gespräche, stritten uns, wenn auch freundschaftlich, alberten herum. Alles schien plötzlich leicht zwischen uns. Irgendwann wagte ich es, sie zu küssen und stellte fest, dass sie meine Zärtlichkeit erwiderte. Doch zu mehr kam es zunächst nicht. Ich war hoffnungslos verliebt und wäre für sie durch den Bosporus geschwommen oder durch den Ärmelkanal.
Ich hatte mich oft gefragt, wie sich eine solche Liebe anfühlen würde. Eine Liebe wie Du und Mutter sie hattet. Allumfassend, glücklich machend und tödlich verletzend, wenn der Partner einen verlässt. Ich weiß, dass Du nach Mutters Tod nie wieder derselbe warst, Vater. Dass vieles zwischen uns anders gelaufen wäre, wenn sie noch leben würde.
Umständlich zieht er sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, fährt sich über die Augen. Schließlich putzt er sich die Nase, energisch. Keine Zeit für Tränen, erst muss er zu Ende lesen.
Jetzt erlebte ich so eine Liebe und war glücklich. Sie nahm mich mit zu ihren Eltern, die mich misstrauisch beäugten, aber wenigstens mit mir redeten. Ich glaube, sie hat mich als einen Kommilitonen vorgestellt. Als einen guten Freund. Ihre Eltern waren modern, fortschrittlich. Sie verboten ihrer Tochter den Umgang mit mir nicht, aber sie missbilligten ihn und ließen uns das spüren. Erstaunlicherweise war sie ein Einzelkind. Aber das weißt Du ja oder hast Du es vergessen? Kannst Du Dich noch an den Sonntagnachmittag erinnern, an dem ich sie mitbrachte. Auch Du warst nicht gerade begeistert. Du hast versucht das zu überspielen, aber man hat Dir Deine Gedanken angesehen. ‚Was, wenn das in der Gemeinde bekannt wird: Der Sohn des Pfarrers ist mit einer Muslimin zusammen.‘ Uns war das egal. Am Abend nach dem Besuch bei Dir kam sie noch mit in mein Zimmer, eigentlich nur auf einen Sprung. Doch sie blieb bis zum nächsten Morgen. Es war eine wunderbare, perfekte Nacht.
Von da an waren wir unzertrennlich. Planten ein gemeinsames Leben, wollten aber beide erst das Studium zu Ende bringen.
Ein paar Monate später kam sie bedrückt zu mir. Ihre Regel war ausgeblieben, schon das zweite Mal. Sie hatte mir das verheimlicht, weil sie erst sicher sein wollte. Ich nahm sie in die Arme. „Dann müssen wir eben sofort heiraten. Das wollten wir doch sowieso irgendwann. Warum also nicht jetzt. Wollen wir zuerst zu meinem Vater gehen oder zu deinen Eltern? Oder sollen wir einfach aufs Standesamt und sie vor vollendete Tatsachen stellen?“
Sie winkte erschrocken ab. „Ich muss es meinen Eltern sagen. Wenn ich heimlich heirate, so reden sie nie wieder mit mir.“
„In Ordnung, wann machen wir das“, fragte ich.
Wieder die Geste. „Nein, das mache ich lieber allein. Ich gehe jetzt heim und spreche mit ihnen. Ich habe das schon viel zu lange aufgeschoben.“
Ich nahm sie in die Arme. „Soll ich nicht lieber mitkommen? Ich kann ja erst mal vor der Tür warten.“
„Ach was. Ich gehe jetzt und bin heute Abend wieder bei dir. Mach dir keine Sorgen. Meine Eltern werden mich verstehen. Sie haben doch gemerkt, wie sehr ich dich liebe.“
Ich wartete auf sie. Den ganzen Abend, bis in die Nacht und den nächsten Vormittag.
Schließlich fuhr ich zum Haus der Eltern. Ich klingelte und ihr Vater öffnete mir. „Ich möchte zu Sahra“, sagte ich fest.
Er schaute mich einen Moment an. „Meine Tochter heiratet keinen Christen.“ Dann schloss er die Tür. Er schlug sie mir nicht vor der Nase zu, er verschloss sie einfach vor mir.
Wie betäubt ging ich nach Hause, konnte nicht glauben, was ich gehört hatte.
Der Junge war völlig außer sich zu ihm gekommen. Erzählte, dass das Mädchen schwanger war. Dass ihre Eltern ihm verwehrten sie zu sehen. Natürlich tat es ihm leid, dass sein Sohn litt, doch insgeheim war er erleichtert gewesen. Was sollte aus dem Kind werden, das in zwei Welten aufwuchs? Welchen Glauben sollte es annehmen? Die Komplikationen würden vorprogrammiert sein. So versuchte er zu beschwichtigen. „Nun, wenn es so ist, dann musst du es akzeptieren. Sicher lernst du bald ein nettes Mädel kennen. Du bist noch jung und wirst sie vergessen.“
Es kam zu einem fürchterlichen Streit, in dem der Junge ihm vorwarf, ein Heuchler zu sein und Schlimmeres. Im Zorn verließ er das Elternhaus. Schrie, dass er nie wieder zurückkehren würde.
In der Folgezeit versuchte ich alles, um Sahra zu sehen, doch sie schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Schließlich erfuhr ich von einer Kommilitonin, dass sie in die Türkei gereist war und dort geheiratet hatte. Einen Mann, der schon immer in sie verliebt gewesen war, dem es wohl egal war, dass sie von einem anderen schwanger war.
Ich schloss mein Studium summa cum laude ab, ich denke, das hast Du zur Kenntnis genommen. Anschließend standen mir eine Menge Türen offen und ich begann mit der Arbeit in einer renommierten Anwaltskanzlei in München. Ich arbeitete hart, verdiente eine Menge Geld, hatte viele Frauen. Doch sie bedeuteten mir nichts. Wenn mir eine zu nahe kam, so beendete ich die Beziehung. Gefühle waren für mich nebensächlich. Sahra war meine große Liebe gewesen, alle anderen Frauen waren mir nicht wichtig.
Schließlich geschah das Unfassbare. Ich steckte auf dem Weg zur Arbeit im Stau, fummelte missgelaunt an meinem Radio herum, schaute dann zum Seitenfenster heraus. Da stand sie neben einem geparkten Auto, hatte einen blonden Jungen an der Hand. Meinen Sohn. Wie in Trance stieg ich aus, lief quer über die Fahrbahn auf sie zu. Blieb einfach vor ihr stehen, schaute sie nur an, versank in ihren Augen.
„Mama, ist das ein Verrückter?“, fragte der Junge.
„Ja“, antwortete sie, erwiderte meinen Blick. So standen wir eine ganze Weile, bis mir ein Polizist auf die Schulter tippte. „Ist das ihr Wagen?“
„Ja“, murmelte ich.
„Dann sollten sie ihn schleunigst wegfahren, sie blockieren den Verkehr.“
„Meine Handynummer“, Sahra drückte mir eine Visitenkarte in die Hand und ich folgte unwillig dem Polizisten zu meinem Auto.
Ich will es kurz machen, wir trafen uns wieder. Heimlich dieses Mal. Ihre Eltern hatten sie damals tatsächlich in die Türkei geschafft und verheiratet. Sie hatte unseren Sohn zur Welt gebracht, der als ehelich galt, den Namen ihres Mannes trug, ihn als seinen Vater betrachtete. „Ich weiß nicht, ob mein Mann in eine Scheidung einwilligt“, erklärte sie mir traurig. „Das ist in unserer Familie nicht üblich. Meiner Eltern jedenfalls werden mich dann nicht mehr sehen wollen.“
Schließlich war Sahra wieder schwanger. Von mir. Sie hatte schon seit Jahren keinen sexuellen Kontakt mehr mit ihrem Mann. Die Scheidung ging schnell und reibungslos über die Bühne. Er hatte nur eine Bedingung: Der Junge, unser Sohn, sollte bei ihm bleiben. Ich musste versichern, keinen Kontakt mit dem Kind aufzunehmen und die Vaterschaft zu verschweigen. Ich willigte schweren Herzens ein.
Sahra und ich heirateten im ganz kleinen Kreis. Endlich hatten wir uns gefunden. Die Schwangerschaft bereitete ihr wenige Probleme, wir waren den Umständen entsprechend glücklich. Ich war fest davon überzeugt, dass es ein Mädchen werden würde. Es würde Sara heißen, das durfte ich bestimmen. Würde es ein Sohn, so hieße er Marc, das bestimmte Sahra.
Endlich war es so weit. Die Wehen setzten ein, ich brachte meine Frau ins Krankenhaus, bereitete mich darauf vor, sie bei der Geburt so gut wie möglich zu unterstützen. Doch bald wurde ich aus dem Kreissaal gewiesen, Sahra für eine Operation bereit gemacht. Ich tigerte im Flur auf und ab, wie schon Generationen von Vätern vor mir.
Schließlich kam der Arzt.
„Ist es ein Mädchen?“
Er zögerte. „Ja, es ist ein Mädchen. Wollen sie sich nicht setzen? Oder besser noch kommen sie doch mit in mein Büro.“
Ich folgte ihm, setzte mich vor den Schreibtisch. „Ist etwas nicht in Ordnung? Wieso kann ich nicht zu meiner Frau und zu meiner Tochter?“
„Es tut mir sehr leid. Ihre Frau hat nicht mit ihnen darüber gesprochen?“
Mir wurde übel vor Angst. „Worüber sollte sie mit mir gesprochen haben?“
„Ihre Frau hätte kein weiteres Kind mehr bekommen dürfen. Sie hatte einen Herzfehler. Es tut mir sehr leid. Sie ist während der Operation an Herzversagen gestorben. Wir haben wirklich alles versucht.“
Sara, unsere kleine Tochter, hatte während der Geburt eine mangelhafte Sauerstoffzufuhr erlitten, sie befand sich schon auf der Intensivstation. Ich durfte zu ihr, sah, wie sie kämpfte. Auch von Sahra nahm ich Abschied, küsste sie zum letzten Mal.
Heute, einen Tag vor der Beerdigung bin ich ins Krankenhaus gekommen. Ich war zu spät. Sara, unser Mädchen hatte gerade ihren letzten Atemzug getan.
Vater, ohne meine Liebe, ohne meine Tochter will und kann ich nicht weiterleben. Ich möchte neben den beiden bestattet werden.
Markus
Er legt den Brief sorgsam auf dem Schreibtisch ab. Gestattet sich jetzt zu weinen. Dann steckt er ihn in den Umschlag zurück, so wie in jedem Jahr.
Er liest ihn immer am Todestag seines Sohnes und seiner Enkeltochter.
Damals war sie von ihrem kleinen Hotel am Montmartre aus zum Place du Tertre geschlendert, hatte entzückt die Atmosphäre eingesogen, den Malern über die Schulter geschaut. Plötzlich stand er vor ihr, musterte sie ernst. „Darf ich Sie malen, Mademoiselle?“ fragte er fast schüchtern. Sie war gleich von seinem Blick gefangen, nickte, folgte ihm zu seiner Staffelei. Seine schwarzen Augen fixierten sie ernst, konzentriert. „Sehen Sie mich an, ma belle“, sagte er leise, sanft.
Sie schaute in seine Augen, spürte Hitze aufsteigen. Ein belustigtes Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel, machte sein hartes Gesicht weich, liebenswert. Während er sie malte überlegte sie, wie alt er wohl sein könnte. Sicher Mitte, Ende 30, also mindestens zehn Jahre älter als sie.
Schließlich hatte er das Bild vollendet, zeigte es ihr. Sie hielt unwillkürlich die Luft an. „Das bin ich nicht“, entfuhr es ihr. Dieses wunderschöne Gesicht hatte Ähnlichkeit mit ihr und wieder nicht. Die Augen zeigten einen Schimmer von Sehnsucht und Verwirrung, ja Angst.
„So sehe ich Sie“, sagte er schlicht, und: „Ich glaube, ich kann das Bild nicht verkaufen, nicht einmal an Sie. Es ist unverkäuflich. So, wie Schönheit unverkäuflich ist.“
Sie zuckte hilflos mit den Schultern, wusste nichts zu erwidern. Wieder hellte ein Lächeln seine Gesichtszüge auf. „Ich könnte es Ihnen schenken, Mademoiselle. Aber ich habe eine Bedingung. Sie müssen ein Glas Wein mit mir trinken, damit ich mich von der Schönheit verabschieden kann ...“
Sie gingen in ein kleines Bistrot, das in einer ruhigen Seitenstraße lag, wo der Kellner ihn mit Handschlag begrüßte und ungefragt ein Glas Rotwein vor jedem von ihnen abstellte. Er leerte das erste Glas auf Ex, dann lehnte er sich entspannt zurück, während der Kellner ihm ein weiteres brachte. Der Kellner stellte das Radio lauter, denn Charles Aznavour sang ein sentimentales Lied.
„Magst du diese Art von Musik?“, fragte er leise. Sie nickte, spürte seinen Blick prickelnd auf ihrer Haut, empfand das vertraulich ‚Du’ fast als eine Intimität.
„Er ist Armenier, so wie ich“, erklärte er und erzählte ihr vom Schicksal seines Volkes. Vom Hass, von der Trauer und der Liebe. Vom Willen zu überleben. „Ich habe es geschafft, aber ich habe keine Heimat, ich bin ein Wanderer zwischen den Welten“, endete er.
Sie habe eine Heimat, sagte sie. Da nahm er sie bei der Hand, führte sie zu einem kleinen Hotel. „Ich will dich. Schon als ich dich zum ersten Mal sah, wollte ich dich“, flüsterte er heiser.
Sie folgte ihm, fasziniert und voller Erwartung, wollte, dass der Rausch des Abenteuers niemals aufhören würde. In dem kleinen, schmuddeligen Zimmer nahm er sie, langsam, bedächtig und doch voller Leidenschaft. Danach trennten sie sich widerwillig, verabredeten sich für den nächsten Tag in dem kleinen Bistrot.
„Auf einen Wein oder mehr“, sagte er, lächelte, doch seine Augen blickten traurig.
Auf dem Platz sind die Stände der Maler aufgebaut. Sie schaut sich ihre Gesichter genau an, doch er ist nicht dabei. Sie weiß genau, dass sie ihn erkennen würde, auch wenn es so viele Jahre her ist. Schließlich verlässt sie den Place du Tertre. Sucht das kleine Bistrot, ist erstaunt, dass sie es tatsächlich findet. Dass es noch da ist. Sie setzt sich, bestellt sich ein Glas Rotwein, schaut sich um. Verblasste Fotos hängen an den Wänden. Seltsam, damals waren ihr die Bilder gar nicht aufgefallen. Ein Foto zieht ihre Blicke auf sich. Sie meint ihn zu erkennen, steht auf, schaut sich das Bild genau an. Das Lächeln, das sein Gesicht so sanft aussehen lässt. Die dunklen Augen, die so traurig blicken.‚Das ist er’, denkt sie, fährt gedankenverloren mit dem Finger über die Glasscheibe, die das Foto schützt.
„Ja, Levon, der Armenier, ein genialer Maler, aber ein Trinker vor dem Herrn. Er schien immer auf etwas oder jemanden zu warten.“ Der Kellner hat sich unbemerkt zu ihr gesellt, betrachtet das Foto gedankenversunken.
Sie dreht sich aufgeregt zu ihm um. „Wo ist er? Wo finde ich ihn?“
„Es tut mir Leid, Madame. Er ist ganz plötzlich verschwunden, schon vor ein paar Jahren. Er hat oft davon geredet, zurück in die alte Heimat zu gehen ...“. Der Kellner entfernt sich achselzuckend.
Sie fährt noch einmal zärtlich über das Foto. „Levon ...“, flüstert sie.
Er schaute immer wieder in den Innenspiegel, hatte ihn so eingestellt, dass er sie sehen konnte. Auf dem Kopf trug sie ein Tuch, unter dem ein paar vorwitzige rote Haare hervorlugten. In ihren großen grünen Augen schimmerte Schmerz, ihr Gesicht war blass, sodass die zarten Sommersprossen als dunkle Punkte zu sehen waren. Ihre kleine Sporttasche hatte sie neben sich auf den Sitz gestellt, hielt sie krampfhaft fest.
Er hatte eine alte Frau zum Krankenhaus gefahren. Praktisch für die junge Frau, dass er mit seinem Taxi gerade vor dem Gebäude stand. Lukrativ für ihn, sie mit zurück zu nehmen.