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„Der größte Zauber bist immer noch du!“ Aryn freut sich schon so sehr auf das nahende Fest der Wintersonnenwende. Eine Zeit, in der Familien ganz eng zusammenrücken – zu ihrem eigenen Schutz, denn wer in dieser Nacht allein ist, überlebt für gewöhnlich nicht. Gesellschaft ist der einzige und beste Schutz. Als ein Fremder zu ihnen ins Dorf stolpert, der sich nichts sehnlicher wünscht, als zu seiner eigenen Familie heimzukehren, ist es darum selbstverständlich, dass ihm Hilfe angeboten wird. Ca. 32.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 152 Seiten.
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„Der größte Zauber bist immer noch du!“
Aryn freut sich schon so sehr auf das nahende Fest der Wintersonnenwende. Eine Zeit, in der Familien ganz eng zusammenrücken – zu ihrem eigenen Schutz, denn wer in dieser Nacht allein ist, überlebt für gewöhnlich nicht. Gesellschaft ist der einzige und beste Schutz.
Als ein Fremder zu ihnen ins Dorf stolpert, der sich nichts sehnlicher wünscht, als zu seiner eigenen Familie heimzukehren, ist es darum selbstverständlich, dass ihm Hilfe angeboten wird.
Ca. 32.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 152 Seiten.
von
Sandra Gernt
Der Fremde
S
chnee! Schnee, Schnee, Schnee.“
Aryn hüpfte vor Begeisterung.
Er war ein großer Anhänger von Winter und Schneemassen und noch viel mehr vom Sonnenwendfest.
Am liebsten war es ihm allerdings, wenn zum großen Fest viel frischer Schnee fiel. Dann wurde es heimelig in der guten Stube, wo sich in dieser Nacht die Familien trafen, bei Kerzen- und Laternenschein zusammen aßen und traditionelle Lieder sangen, um böse Geister fernzuhalten – der Wechsel vom Herbst zum Winter in dieser einen Nacht würde das Tor zur Anderswelt einen Spalt weit aufdrücken. Wenn Rianna, die Herbstgöttin, diese Welt der Sterblichen verließ, um sich nach ihrer Herrschaft zur Ruhe zu begeben, bis ihre Zeit wieder gekommen war, huschten finstere Gestalten auf ihre Seite hindurch. Zwar wurden sie am neuen Morgen von Carun, dem Herrn des Winters, zurück in ihr Reich vertrieben; dennoch musste die längste Nacht des Jahres durchgestanden werden. Am sichersten war man da im Kreis der Familie, umgeben von Licht, Wärme und Frohsinn.
Üblicherweise wachte der Hausherr in dieser Nacht über den Schlaf der Familie und blieb bis zum Aufgang der Sonne auf den Beinen. Nach Möglichkeit unterstützten ihn ein, zwei Erwachsene, seien es die eigenen Söhne, wenn sie bereits alt genug waren, oder Freunde, Nachbarn, Eltern. Je mehr, desto besser, denn ein Mann allein konnte von Schlaf überwältigt werden und damit sämtliche Hausbewohner in tödliche Gefahr bringen. Bei frisch verliebten Paaren war es nicht ungewöhnlich, wenn sich weibliche Wächter dazugesellten, doch üblicherweise durften Frauen und Kinder ausschlafen und dafür sorgen, dass die Männer mit einer kräftigen Mahlzeit in den Winter hineinmarschierten.
Wer allein lebte, wurde in dieser Zeit in die Gemeinschaft geholt. Nicht einmal die grummeligsten Einsiedler lehnten dieses Angebot ab, dafür war es zu gefährlich, in der Winternacht ohne Gesellschaft in einem Haus zu sein, vielleicht sogar einzuschlafen – zu oft war es geschehen, dass sie nie wieder erwachten, selbst wenn sie noch jung und gesund gewesen waren. Fand sich kein Nachbar, der noch genügend Platz zu bieten hatte, ging man zum hiesigen Tempel; und war man zu alt, zu krank oder aus sonstigen Gründen nicht fähig, das Heim oder das Bett zu verlassen, dann wurden junge, starke Priester ins Haus geschickt, um die Wache zu übernehmen. Die Wintersonnenwende war eine ernste Angelegenheit, das lernten schon die Jüngsten.
Aryn freute sich so sehr auf dieses Fest, es war für ihn jedes Mal der Höhepunkt des Jahres. Im Kreis seiner Familie – Mutter, Vater, seine beiden jüngeren Schwestern, sein älterer Bruder mit Frau und neugeborenem Sohn, seine Großmutter mütterlicherseits sowie eine verwitwete Tante und dazu noch zwei Nachbarn – würden sie eine wundervolle Zeit verbringen, so wie in jedem Jahr. Noch knapp fünf Tage musste er zappeln und die Vorfreude ertragen, dann war es endlich soweit! Das alte Jahr endete. Caruns Erscheinen und der Beginn des Winters bedeutete das Ende und der neue Anfang zugleich.
Bis dahin war allerdings auch noch viel zu tun. Er musste rotblättriges Hilsterkraut an der Stalltür und sämtliche Fensteröffnungen anbringen, damit auch die Tiere vor den bösen Geistern bestmöglich geschützt blieben. Holz hacken und den großen Steinofen anfeuern, in dem seine Mutter für das gesamte Dorf Brot für das Fest backen wollte. Den Hühnerstall prüfen, ob der letzte Herbststurm die Balken beschädigt hatte. Den Schnee vom Weg vor dem Haus beiseiteschippen, so oft es notwendig war. Die Ziegen und den treuen Esel versorgen. Und noch vieles, vieles mehr; was eben anfiel, wenn man der letzte daheim lebende Sohn war und der Vater allmählich in seiner Kraft nachließ.
Aryn war recht froh, dass man ihn mittlerweile nicht mehr drängte, sich endlich in einem der Nachbardörfer eine Frau zu suchen. Auch wenn er bereits das zweiundzwanzigste Wintersonnenfest feierte, er hatte kein Bedürfnis nach einer eigenen Familie. Für ihn könnte das Leben auf ewig so weitergehen, wie es augenblicklich war: Im Haus herrschte dank seiner jüngeren Schwestern beständig Trubel, er schaffte auf den Feldern und überall sonst das, was sein Vater mit den wehen Knien und der kaputten Schulter liegenlassen musste, seine Mutter sorgte für sie alle. Was sollte er da mit einer Frau und Kindern?
Ihm war bewusst, dass die Veränderungen schon bald genug hereinbrechen würden. Die Welt war im steten Wandel begriffen, schon allein, weil die vier Götter der Jahreszeiten sie abwechselnd beherrschten. Vielleicht würde er sich also im Frühling nach dem verzehren, was er jetzt im nahenden Winter auf keinen Fall haben wollte. Sollte es auf diese Weise geschehen, nun, dann war es noch lange nicht zu spät, nach einer tüchtigen Frau Ausschau zu halten.
Nur in den finstersten Stunden der Nacht gestand er sich selbst ein, dass seine Sehnsucht keineswegs in diesen normalen, anerkannten Richtungen wanderte … Sehnsucht, die er zu beherrschen gelernt hatte, um in der Gemeinschaft des Dorfes in Frieden leben zu können.
Aryn schüttelte diese dummen Gedanken ab, eilte mit langen Schritten zur Scheune und holte sich dort die große, breite Schaufel, um mit dem Schneeschippen zu beginnen. Angetan mit warmem Wollmantel, Fäustlingen und der Mütze, die seine Schwägerin ihm erst heute Morgen als Geschenk überreicht hatte, schaufelte er fröhlich pfeifend und singend gegen die Kälte an.
Schnee! Wie er es liebte. Die Welt wurde still, wenn die dicken weißen Flocken dicht an dicht fielen. Kein Windhauch regte die nackten Zweige der Bäume. Das harsche Knarzen unter seinen Stiefeln begleitete jeden Schritt. Er konnte kaum die Häuser der Nachbarn erkennen, so eifrig kündigte Carun sein Kommen an. Der Himmel besaß die absonderlichste Farbe, stahlgrau mit einigen blauen und weißen Schlieren. Weich und ruhig ließ die Erde es sich gefallen, mit einer Daunendecke eingehüllt in den Winterschlaf geschickt zu werden.
So. Jetzt hatte er es fast geschafft. Aryn brauchte nur noch einmal rasch um die Ecke zu eilen, um einen Zugang zum Haus von der alten Betrel zu schaufeln. Eine Witwe von über achtzig Jahren, die ganz allein zurechtkommen musste, da sie ihren Mann und die Kinder schon in die jenseitige Welt hatte vorausgehen lassen müssen und die Enkel weit fort lebten. Die Dorfgemeinschaft half ihr und trotz ihres harten Schicksals war sie noch immer erstaunlich lebensfroh und erledigte viele Arbeiten weiterhin allein. Sie schaute ihm durch die Fensterscheiben zu und winkte zahnlos lächelnd mit ihren knorrigen, alterssteifen Händen, sobald er in ihre Richtung blickte. Bloß wenige Minuten dauerte es, um den Zugang zu ihrem Haus zu befreien. Falls es auf diese Weise weiterschneien sollte, würde er das heute noch zwei- bis dreimal wiederholen müssen. Na! Das bekümmerte ihn nicht.
Aryn winkte der alten Betrel zu, schulterte vor sich hinsingend seine Schaufel, bog um die Ecke des Weges, vorbei an der großen Scheune und den Ställen und …
„Waaah!“
Beinahe wäre er in eine dunkle Gestalt hineingelaufen. Ein Fremder! Aryn wusste sofort, dass er diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Mit Gebäck beladen und in einen viel zu dünnen Mantel gehüllt starrte ihn der Fremde für einen Moment lang überrascht an, bevor er sich fing und ihm respektvoll zunickte. Seine Wangen waren rot gefleckt von der Kälte, die Lippen blau-violett gefroren. Schneeflocken schmolzen auf seinem dunkelbraunen Haar, das von keiner Mütze und keiner Haube oder Kaputze beschützt wurde.
„Möge Rianna Euch leuchten“, stieß er mit bebender Stimme hervor und blies wärmend auf seine bloßen Hände. „Sagt, wo befinde ich mich?“
„In Norderndorf, Herr“, erwiderte Aryn verblüfft. „Habt Ihr Euch verirrt?“
„Nein, den Vieren sei Dank! Wenn dies das Norderndorf am großen Kyphensee sein sollte, dann bin ich zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder auf dem rechten Pfad.“ Er schwankte, darum fasste Aryn ihn entschlossen am Arm.
„Mein Herr, Ihr friert und scheint eine lange Wanderung hinter Euch zu haben. Kommt mit ins Warme. Meine Mutter hat sicherlich noch etwas Hirsebrei mit Honig vom Frühstück übrig, und ein heißer Kräutertee wird Euch wohltun.“
Der Mann zögerte kurz. Er war in Aryns Alter, wie es schien, auch wenn der Frost an den Augenbrauen und der kurze Bart ihn etwas älter wirken ließen. Aryn gehörte zu den Frühlingskindern – Männer, die unter der Herrschaft der Frühlingsgöttin Shariz geboren wurden, besaßen allesamt hellbraunes Haar, grünliche Iriden und Bartwuchs wollte sich frühestens im vierten bis fünften Lebensjahrzehnt einstellen. Der Fremde hingegen war ohne jeden Zweifel ein Rianna-Sohn. Schöne braune Augen waren das, die Aryn nun musterten, als wollten sie ergründen, ob ihm wirklich zu trauen war. Dann nickte er endlich und folgte seinem Drängen.
Utrik hieß er, der Fremde, der in zwei Wolldecken gehüllt an der Feuerstelle saß und sich an seinem Teebecher wärmte. Er hatte trockene Kleidung von Aryn erhalten, da sie annähernd gleich groß und ähnlich gebaut waren – auch Utrik war noch etwas schmal in den Schultern und extrem sehnig statt männlich-muskulös. Man sah, dass er jemand war, der ein Leben lang hart gearbeitet hatte, seine Hände verrieten es. Anscheinend hatte er einige Wochen des Hungerns hinter sich, was kein Wunder war, wenn man sich verirrte.
Die Familie stand im Raum versammelt und schaute ihm zu, wie er trank und aß und allmählich wieder eine gesunde Gesichtsfarbe annahm.
„Ich danke euch“, murmelte er, als er sein Mahl beendet hatte und sich sichtlich erschöpft zurücklehnte. „Meine Kräfte habe ich wohl überschätzt. Weit wäre ich vermutlich nicht mehr gekommen …“
„Von woher kommt Ihr denn? Und wohin geht die Reise? Wenn Ihr diese Fragen gestattet, mein Herr“, sagte Aryns Vater freundlich und nahm Utrik den Becher ab, um ihn neu zu füllen.
„Ich stamme aus Gerdersheim, jenseits des großen Carun-Passes. Sicherlich habt ihr davon gehört? Dort lebt meine Familie. Meine Eltern, meine Frau und meine kleine Tochter, die ich seit ihrer Geburt nicht mehr sehen konnte.“ Kummer verzerrte Utriks Gesicht und für einige Momente blickte er stumm in die Flammen des Kamins. Gerdersheim war etwa eineinhalb Tagesreisen von hier entfernt. Im Frühjahr und Sommer eine leichte Wanderung durch das schöne Carun-Tal. Im Herbst immer noch gut zu schaffen, auch wenn die zahlreichen Stürme gefährlich waren. Ab dem Augenblick, in dem sich der Gott Carun erhob, wurde der Bergpass unter Schneemassen begraben und er blieb unpassierbar, bis der Frühling einkehrte.
„Im Frühsommer ist mein kleine Mirja geboren … Dann wurde ich nach Nyrtenstadt gerufen. Ich bin Steinbildhauer. Sicherlich hattet auch ihr den Aufruf des Königs erhalten?“
„Gewiss. Turnald, unser Steinhauer, ist ihm ebenfalls gefolgt, aber er war schon heimgekehrt, bevor Rianna sich für die Herbstwacht erhob“, entgegnete Aryns Vater verblüfft. Der König hatte alle Bildhauer des Landes in die Hauptstadt gerufen, um mit ihrer Hilfe ein gewaltiges Denkmal zu erschaffen. Aryn konnte sich nicht richtig vorstellen, wie genau es aussah oder wie groß es sein mochte. Turnald hatte von einer Reiterstatue gesprochen, die das Antlitz des Königs trug und angeblich höher als der Palast selbst sein sollte. Jeder Bild- und Steinhauer hatte einen kleinen Beitrag geleistet, wodurch innerhalb weniger Wochen geschafft wurde, was sonst viele Jahre gedauert hätte. Die Handwerker erhielten einen gerechten Lohn für die Arbeit und eine Entschädigung für die Anreise. Steinhauer erschufen Götterstatuen, von denen in jedem Haus ein beständiger Bedarf herrschte. Zudem arbeiteten sie fast immer auch als Schmiede, um Hufeisen und Nägel, Erntegeräte und Werkzeug für die Dorfgemeinschaften zu fertigen. Nur in der Königsstadt konnten sie vom Erschaffen der Statuen allein überleben.
„Ich wurde bei den Arbeiten am Bein verletzt“, erzählte Utrik. „Ich hatte am Kopf der Pferdestatue gearbeitet, dicht an dicht mit einem Dutzend weiterer Bildhauer, alle auf einem engen Gerüst zusammengedrängt. Es dauerte mehrere Wochen, bis ich weit genug genesen war, um endlich die Heimreise antreten zu können. In dieser Zeit wurde ich auf Kosten des Throns versorgt, darum litt ich keine Not, und man gab mir meinen vollen Lohn, obwohl ich nur neun statt vierzehn Tage gearbeitet hatte. Dazu großzügige Verpflegung für die Heimreise. Dann allerdings muss mich ein Unglücksfluch getroffen haben, anders ist es kaum zu erklären … Vielleicht hatte er mich auch schon früher gefunden, wie sonst ist mein schwerer Unfall zu verstehen? Jedenfalls trieb mich ein starker Sturm vom Weg ab. Fast wäre ich im Moor versunken. Ich musste vor Räubern fliehen und irrte danach viele Tage orientierungslos durch Täler und Wälder, ohne je auf Menschen oder Dörfer zu treffen. Dazu kamen weitere Unwetter, meine Vorräte gingen aus und ich verlor viel wertvolle Zeit damit, auf die Jagd zu gehen, damit ich nicht verhungere. Als dann der Schneefall begann, dachte ich, ich wäre endgültig verloren …“
„Ihr seid nun in Sicherheit“, sagte Aryns Mutter und tätschelte ihm begütigend den Kopf, als wäre er ein kleiner Junge. „Leider werdet Ihr hier im Dorf festsitzen, bis der Frühling kommt.“
Utrik biss verkrampft die Kiefer aufeinander, als er stumm zu diesen Worten nickte. Er sackte regelrecht in sich zusammen und schlagartig wurde Aryn von Mitleid erfasst.
„Vater, Mutter“, rief er. „Es sind doch noch einige Tage bis zur Sonnenwendnacht. Genügend Zeit für eine Hinreise wäre auf jeden Fall. Trotz des Schneefalls ist das Risiko auch nicht zu groß, den Pass zu nutzen. Warum soll er nicht versuchen, zu seiner Familie heimzukehren? Jeder Tag mehr, den er von seinem Kind und seiner Frau getrennt ist, bedeutet nichts als Qual, könnte ich mir vorstellen.“
„Ihr glaubt nicht, wie quälend es ist“, murmelte Utrik, ohne ihn direkt anzusehen.
„Aufgrund des Schneefalls ist die Reise durchaus sehr gefährlich“, entgegnete sein Vater. „Niemand sollte so kurz vor der Sonnenwende allein reisen. Was, wenn sich ein Schneesturm auswächst und man irgendwo Unterschlupf suchen muss? Wenn man in einer der Schutzhütten am Pass festsitzt und die Winterwendnacht kommt? Es wäre so unsinnig, allein und einsam in der Wildnis zu sterben, wenn man in unserem Dorf in der Sicherheit einer Gemeinschaft sein könnte.“
„Sicherheit ist wichtig“, sagte Utrik bedächtig. „Dennoch weint mein Herz, es sehnt sich so unglaublich nach meiner Familie. Ich habe getan, was ich konnte, um noch vor dem Wintereinbruch heimzukehren. Es ist bitter, unmittelbar vor dem Ziel zu scheitern. Aber ich verstehe, dass ich niemandem die Risiken zumuten kann, mich zu begleiten. Schließlich bestünde dieselbe Situation dann wieder – mein Begleiter würde in meinem Heimatdorf einen ganzen Winter lang festsitzen, weil es zu riskant wäre, die Rückreise anzutreten und dann womöglich einsam und allein in die Winterwendnacht zu gelangen.“
„Was wäre, wenn ihn zwei junge Männer begleiten?“, fragte Naumi, die Frau von Aryns Bruder. „Aryn ist nicht der einzige erwachsene junge Mann in diesem Dorf, der noch keine eigene Familie gegründet hat. Im Winter wird die Kraft ihrer Arme nicht so dringend benötigt wie bei der Aussaat im Frühjahr oder der Ernte im Spätsommer. Sie könnten Utrik nach Hause zu seiner Familie bringen und anhand des Wetters entscheiden, ob sie den Heimweg noch antreten können oder besser den Winter jenseits des Carun-Passes verbringen. Und selbst wenn sie zur Sonnenwendnacht irgendwo festsitzen, wären sie entsprechend zu zweit und somit nicht weiter in Gefahr.“
„Schlimmstenfalls würden dann aber zwei Familien einen Winter lang nicht wissen, ob ihre Söhne sicher in Gerdersheim oder während eines Schneesturms am Pass erfroren sind!“, rief Aryns Mutter aufgeregt. Sie streckte die Hände nach ihm aus und er musste sich beherrschen, um sie nicht abzuschütteln. Er war ein erwachsener Mann! Warum behandelte sie ihn noch immer wie ein kleines Kind?
„Lasst uns eine Dorfversammlung einberufen!“, sagte er und entzog sich möglichst sanft dem Klammergriff seiner Mutter. „Ich bin nur allzu bereit, Utrik zu seiner Familie zu begleiten, aber es müsste sich ein zweiter Freiwilliger dazu finden.“
„Ich kann das nicht verlangen. Nicht, dass sich zwei Männer für mich in Lebensgefahr begeben“, murmelte Utrik, den Blick zu Boden gesenkt. Man spürte, dass er nicht vom Herzen her protestierte, sondern rein aus Anstand und Vernunft. Seine Hoffnung war geweckt und Aryn betete zu allen vier Göttern, dass diese Hoffnung nicht enttäuscht werden würde. Viel zu grausam war das Schicksal, auf Monate von seinen Liebsten getrennt zu sein. Zur Wintersonnenwende sollte er heimkehren, koste es, was es wollte!
Die Dorfversammlung
I
mar fluchte laut und lästerlich auf Caruns Namen, als es an seiner Tür klopfte.
Es war mindestens das siebte Mal in dieser Woche, und jedes Mal hatte ein Dorfbewohner davorgestanden, der ihn zum Sonnenwendfest zu sich nach Hause einladen wollte. Obwohl Imar sich nichts sehnlicher wünschte, als jeden dieser Trottel mit seiner besten stählernen Bratpfanne um den Kyphensee zu jagen, bis sie endlich begriffen, dass er in Ruhe gelassen werden wollte, hatte er selbstverständlich nichts dergleichen getan.
Er lebte erst seit dem vergangenen Frühling im Norderndorf. Es war die einzige Gemeinschaft in der weiten Umgebung, die noch keinen Korbflechter gehabt hatte. Üblicherweise gab es in jeder Familie ein Handwerk, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Jedes Dorf mühte sich, mindestens eine Familie von Bäckern, Wurstmachern, Korbflechtern, Bildhauern, Priestern, Lehrern und Tischlern zu haben. Die Gemeinschaft bewirtschaftete die umliegenden Felder zusammen, wobei auch jeder mit anpacken musste. Auch die größeren Nutztiere waren in der Regel Dorfbesitz und wurden in Absprache von allen Bewohnern versorgt. Geflügel wie Hühner und Gänse gehörten den einzelnen Familien, trotzdem wurden ihre Eier und auch ihr Fleisch mit all jenen geteilt, die keine eigenen besaßen.
Das Dorf brauchte jeden Einzelnen, und jeder brauchte das Dorf. So lautete der Grundsatz und Imar bemühte sich redlich, ihm gerecht zu werden. Immerhin hatte die Gemeinschaft ihn aufgenommen …
Darum beherrschte er sich mühsam, öffnete die Tür langsam, statt sie wütend aufzureißen und demjenigen, der davor stand, aggressiv ins Gesicht zu brüllen, dass er nicht eingeladen werden wollte, auch wenn er alleinstehend war; er würde in den Tempel gehen und es seinem Besucher freundlich und geduldig erklären.
Es war Yosiri, die ihn strahlend anlächelte und hibbelig im Schnee umhersprang. Yosiri war eine entzückende Sechsjährige. Ein Frühlingskind, energiegeladen und immer fröhlich, wie es sich für eine Shariz-Tochter gehörte. Mit wippenden hellbraunen Zöpfen und grünblitzenden Augen begrüßte sie ihn mit einer herzlichen Umarmung, als wäre sie sein eigenes Kind. Oder mindestens eine Nichte.
Imars Ärger schmolz rascher als die Schneeflocken, die seinen Arm trafen.
„Die Viere zum Gruße, Yosiri“, brummte er und versuchte nicht, gegen das Lächeln anzukämpfen. „Kann ich dir weiterhelfen?“
„Es gibt eine Versammlung!“, stieß sie hervor. „Du sollst ins Langhaus kommen.“ Sprach’s und verschwand trällernd, hüpfend und singend im Schneegeriesel.
Imar schaute ihr noch einen Moment verdutzt hinterher, bevor er sich umwandte, um Stiefel, Mantel und Fäustlinge zu holen. Versammlungen mitten am Vormittag, ohne jede Vorwarnung? Da musste irgendetwas geschehen sein. Vielleicht war die Brücke über den Kyphensee beschädigt worden? Es standen alte Bäume in der Nähe, gut vorstellbar, dass einer von denen umgefallen war.