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Als der junge Michael ins Haus der Holls, der Eltern seiner geliebten Frau Helen, zurückkehrt, ist dort etwas Entsetzliches geschehen. Die Großmutter sitzt reglos in ihrem Lehnstuhl, ist sie tot oder nur vom Schlag gerührt? Gerda Holl ist mit blutdurchtränktem Nachthemd und geknebelt an das Bett gefesselt. Ihr Gatte hängt tot an der Decke. Es ist unmöglich, dass er sich selbst aufgehängt hat. Schnell fällt der Mordverdacht auf Frau Holl. Doch der Leser muss sich wie die Justiz immer wieder die Frage stellen: "Würden Sie Gerda Holl verurteilen?" Der auf Tatsachen aufgebaute Kriminalroman thematisiert die Frage der gerechten Rechtsprechung und der "menschlichen" Justiz, die gerade aus dem Grund, dass Richter und Anwälte auch nur Menschen sind, oft auch "unmenschliche" Urteile trifft. Und nicht immer tritt am Ende auch die Wahrheit zutage ...-
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Seitenzahl: 247
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Robert Heymann
Saga
Würden Sie Gerda Holl verurteilen?
German
© 1931 Robert Heymann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711503768
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
„Würden Sie die Angeklagte verurteilen?“ Die Frage gilt nicht nur für den vorliegenden Roman. Sie ist eine Frage unserer Zeit. Sie schwebt tausendmal auf den Lippen der Unbeteiligten, die Prozesse und Verhandlungsberichte verfolgen. Aber vielleicht erscheinen uns die aktuellen Prozesse nur darum so problematisch, weil wir so wenig Fühlung mit dem Gestern haben. Unser Zeitalter liebt die Schnelligkeit. Immer neue Eindrücke stürmen auf uns ein. Niemand hat Muße, über Vergangenes nachzudenken. Und doch ist die Justiz als Problem keine ausschließliche Angelegenheit unserer Epoche. Man denke nur an die Satiren Daumiers, Gilberts, Bennets. Jedes Zeitalter, jedes Land weist Autoren und Zeichner auf, die die Justiz in der heftigsten Weise angegriffen haben. Schon vor dem Kriege gab es auch in Deutschland viele Prozesse, hinter denen der Schatten eines Fehlurteils stand. Man erinnere sich des „Falles Hau“, man denke an den Steinheil-Prozeß, an den Freispruch der Brunhilde W. in Düsseldorf. Aus einem einfachen Offiziersprozeß wurde die „Affaire Dreyfuß“. Die Gegner der Todesstrafe führen im Laufe der letzten Jahrhunderte ungezählte Justizmorde auf.
Der Roman: „Würden Sie Gerda Holl verurteilen?“ ist auf Tatsachen aufgebaut, die noch in der Erinnerung vieler Leser haften werden. Die Heldin dieser Tragödie lebt noch. Es war also ein Gebot des natürlichen Gefühls, nur das Wesentliche der Begebenheit zu benützen. Aber obgleich die Handlung im Interesse der Spannung vertieft wurde — das Leben bietet ja immer nur Rohmaterial — trotzdem der Mordprozeß also einige Erweiterungen erfahren hat, ist das Tatsächliche grundlegend geblieben. Das Leben hat hier einen der interessantesten Konflikte geschaffen. Im Roman ist, wie im Prozeß, der Ausgang der gleiche. Er versöhnt mit der Unerbittlichkeit des Schicksals, das diese verwirrenden Fäden gesponnen hat, und mit der Tatsache, daß die Justiz eine menschliche Einrichtung und die Richter den menschlichen Fehlern unterworfen sind. Es ist notwendig, das immer wieder zu betonen. Es ist Demagogie, die Justiz und die Richter in ihrer Gesamtheit deshalb ständig anzugreifen.
So lange es eine Gerechtigkit gibt, werden Ungerechtigkeiten geschehen. Umsomehr gereicht es der Menschheit zur Ehre, daß Fehlgriffe mit derselben Heftigkeit bekämpft werden, mit der wir für nachgewiesene Verbrechen die gerechte Sühne fordern.
In dem vorliegenden Roman ist die Aufklärung Konstruktion des Autors. Das Drama selbst, dessen Schauplatz aus oben erwähnten Gründen verlegt werden mußte, endete mit einer Frage, die bis heute unbeantwortet geblieben ist.
Robert Heymann.
Es war noch früh am Morgen, kaum sechs, als der Wagen des Legationssekretärs Michael von Riedner vor dem Hause in der kastanienbestandenen Straße vorfuhr. Der Chauffeur hupte mehrmals, aber kein Gesicht zeigte sich an den dicht verhängten Fenstern.
Das Herbstlaub raschelte um Michaels Füße.
„Wundert mich“, murmelte er. „Holl ist doch Frühaufsteher — sechs Uhr — das ist seine Zeit —“
Er suchte nach dem Schlüssel, der die große Eisenpforte öffnete, und stand einige Augenblicke unschlüssig, wo er seinen Reisekoffer unterbringen sollte, der hinten an dem schmutzverkrusteten Auto angebracht war.
Da öffnete sich langsam und kreischend die Haustür des Wirtschaftsgebäudes, und Johanna Kargiewicz schlürfte heraus. Sie war eine für ihre vierzig Jahre noch schöne Person, robust und doch leichtfüßig. Sie besaß das einnehmende Äußere gesunder Landfrauen, die keine Schönheitsmittel verwenden. In dem frischen Gesicht standen rote Lippen, die Augen waren jung, die Gestalt nicht gealtert.
Sie bleibt jung wie Frau Gerda, dachte Michael, während er ihr lächelnd entgegensah. Johanna Kargiewicz ging aufrecht und hatte rasch die Schlaftrunkenheit abgeschüttelt, als sie den Ankommenden erkannte. Mit schnellen Schritten eilte sie näher und öffnete mit einem lauten „Willkommen, Herr Legationssekretär!“ die schwere Eisenpforte.
Michael trat mit einem Gruß ein. Er schüttelte Johanna die Hand, während sein Blick über den Rasen flog, der noch grün und gepflegt vor ihm lag. Die Bäume standen beinahe sommerlich dunkel und waren noch dicht belaubt.
„Ich hatte Herrn Holl doch depeschiert, daß ich komme“, sagte Michael.
Johanna lächelte. Ihr Gesicht zeigte einen Zug von plumper Vertraulichkeit.
„Vielleicht wollte Herr Holl die gnädige Frau nicht im Schlaf stören!“
Michael sah nicht in ihr Gesicht, denn er fühlte, daß sie ihn prüfend und lauernd anblickte. Sie war seit vielen Jahren Vertrauensperson im Hause, mehr Vertraute Frau Gerdas, wie es schien, als des Gatten.
„Und wo ist Fräulein Helen?“ fragte Michael, auf das helle und stille Haus zuschreitend. Im Augenblick hat er die visionäre Vorstellung, die Tür, die vom Balkon ins Innere führt, sei geöffnet. Die schmalhüftige, überschlanke Helen sitzt im Schaukelstuhl und er ihr gegenüber. Auch die Tür auf der rückwärtigen Seite des Hauses ist geöffnet. Er kann durch diese offene Gartentür in den Park sehen. Da stehen hohe Ahornbäume um einen Marmorbrunnen, und weiße Steinvasen sind übergossen mit den warmen Farben der Blumen. In Helens Gesicht steht ein feines Lächeln der Güte und des Zugeneigtseins...
Doch schnell erlischt diese Erinnerung. Johanna beantwortet seine Frage.
„Das gnädige Fräulein ist noch in Reval — bei den Verwandten des Herrn Holl.“
Michael nickt schweigend mit dem Kopf. Er möchte fragen, wann sie wiederkommt, aber er bezwingt sich. In seine braunen Augen ist ein sanfter, schwärmerischer Ausdruck getreten. Er ist kaum über dreißig, hochgewachsen, hat ausgeglichene Bewegungen und einen schmalen Kopf mit ausgeprägtem Kinn. Sein Auftreten ist durch Selbstsicherheit und Beherrschtheit ausgezeichnet, die sein Beruf, weite Reisen und ein klarer Charakter ausgebildet haben.
Sie durschschreiten den Garten. Johanna schließt die Tür des Hauses auf. Die Diele liegt dunkel und leer. Das Licht des aprikosenfarbenen Himmels schwebt matt über der Galerie, hinter der die Zimmer des Ehepaares liegen.
Der Chauffeur hat den Reisekoffer hereingetragen.
„Stellen Sie ihn hierher, Franz! Einfach in eine Ecke!“ sagt Michael. „Wir wollen keinen Lärm machen! Sie können sich zurückziehen, Johanna. Nehmen Sie Franz mit und bereiten Sie ihm ein Frühstück. Bis ich gebadet und mich umgekleidet habe, werden Herr und Frau Holl wohl erwacht sein.“
„Sicherlich“, erwidert Johanna und geht mit einem devoten Lächeln hinaus. Der Chauffeur folgt ihr.
Michael ist allein. Er dreht das elektrische Licht an, dreht es wieder aus. Daß Helen nicht in Berlin ist, hat ihm die Stimmung verdorben.
Warum wieder in Reval? denkt er. Man schickt ein junges Mädchen nicht immer in der weiten Welt umher. — Hat Frau Holl das angeordnet? Oder der Gatte? Jedenfalls ist es unverständlich!
Er geht ohne weiteres in das Badezimmer. Bald rauscht das heiße Wasser auf die hellen Kacheln des kleinen Bassins.
Michael badet mit Genuß. Erst während der Dusche fällt ihm ein, daß er weder Pyjama noch einen Morgenanzug zur Verfügung hat. Er muß sich also selbst den Koffer holen.
Vorsichtig öffnet er die Tür und horcht hinaus. Es ist totenstill. Er schlüpft in den Bademantel des Hausherrn, der ihm zu klein ist, zieht sich die Saffianschuhe an und geht hinaus, um den Koffer ins Badezimmer zu schleppen.
Aber an der Tür bleibt er stehen und horcht.
Was ist eigentlich hier los?
Es ist nichts zu hören! Aber es ist eine so beklemmende Stille im Hause, daß Michael plötzlich erschrickt.
Das Blut schießt ihm ins Gesicht.
Diese Stille schreit ja mit hundert Stimmen! Oder rauscht das Blut in seinen Ohren?
Zum Kuckuck, denkt Michael, bin ich denn so nervös?
Er sieht auf die Armbanduhr.
Es ist sieben.
Nichts regt sich.
Aber Frau Leyden! geht es ihm durch den Kopf. Frau Gerdas Mutter! Die alte Dame klingelt doch täglich um sechs Uhr um ihr Frühstück! Es ist ihr oft belächelter Ehrgeiz, es dem Gatten ihrer Tochter im Frühaufstehen gleichzutun.
Und kein Mädchen hantiert im Haus!
Das ist doch zum Verrücktwerden! Wie in Dornröschens Schloß! Mit raschen Schritten geht Michael nach dem Wohnzimmer, öffnet die Tür.
Die Fenster liegen nach rückwärts, dem Park zu. Die Stores sind geschlossen. In der mattgelben Dämmerung versinken die Umrisse der Gegenstände.
Vogelgezwitscher dringt in Michaels Bewußtsein, und er sieht, daß auf dem Teppich ein Stock liegt, der Stock, auf den Frau Leyden sich zu stützen pflegt.
Dann bleibt er wie versteinert stehen, keines Wortes, keines Atemzuges fähig.
Da sitzt doch Frau Leyden!
In der Tat, da sitzt die alte Dame, schaut ihn an und redet kein Wort!
„Großmama!“ sagt Michael. Er hat sich als Helens Verlobter an diese vertraute Anrede gewöhnt. Er selbst hat früh die Mutter und die Großeltern verloren, er liebt dieses Haus und die Frauen, die ihm Leben und Seele geben.
„Großmama!“ wiederholt er. Seine Stimme klingt schmerzhaft laut. Eine dunkle Angst schnürt ihm die Kehle zu. „Warum reden Sie nicht, um Gottes willen?“
Ist sie tot?
Michael erinnert sich einer Begebenheit aus seiner Knabenzeit: Er hat in Berlin die Schule besucht, und einmal nahm ihn sein Vater mit in ein Panoptikum der Friedrichstraße. Er wird nie das Grauen vergessen, das er beim Anblick dieser Wachsfiguren empfand. Das gleiche Grauen überfällt ihn jetzt.
Er tritt schnell näher.
Aber sie ist nicht tot! Dem Himmel sei Dank, sie lebt, seine Furcht ist nichts weiter als die Folge überreizter Nerven.
Das Rauchen, denkt Michael. Warum rauche ich so viel?
„Nun, Großmama! Sagen Sie doch etwas!“
Die alte Frau mit dem gescheitelten weißen Haar sitzt in einem schwarzen Seidenkleid in einem farbigen Moquette-Sessel. Das Kleid trägt sie offenbar noch vom vergangenen Abend her, hat es gar nicht abgelegt. Aber ist das nicht seltsam? Die Totenblässe ihres Gesichts fällt Michael jetzt auf. Ihr versteinertes Wesen ist unheimlich.
Grauen stürzt Michael an.
Die Augen, denkt er ... Das sind ihre Augen — und diese Augen leben! Ja! Kein Zweifel! Aber die Pupillen sind wie Kiesel! Ganz starr, bewegen sich nicht! Nichts an ihrem Körper bewegt sich. Nur der Atem geht leise über ihre schmalen Lippen.
„Großmama!“ schreit Michael, reißt die Stores zur Seite, stößt das Fenster auf, und begreift jetzt erst ihren hilflosen Zustand. „Großmama! Was ist hier geschehen? Und was ist mit Ihnen?“
Sie gibt keine Antwort, sie kann keine Antwort geben. Sie schaut mit geisterhaften Augen an ihm vorbei ... geradeaus ... ins Leere.
In eine rätselhafte Stunde sieht sie hinein, das fühlt Michael. Ihre Augen sind erstarrt und doch voll Leben, in ihren Augen schreit etwas, jammert etwas, weint etwas ...
Ich kann ihre Augen nicht ansehen, denkt Michael. Hier ist etwas Furchtbares vorgefallen! Oder ist es nur der Schlaganfall? Eine Lähmung liegt vor, das ist ganz klar!
Michael stürzt zur Klingel. Wild schrillt der Lärm durch das Haus. Warum erst jetzt? fährt es ihm durch den Kopf. Ich hätte längst klingeln müssen!
Der Lärm tut wohl. Michael schreit, ruft.
Noch mehr Lärm! Lärm ist Leben! Hier kauert der Tod!
Diese unglückliche Frau ist gelähmt! Gelähmt! Vom Schlage gerührt!
Sie sitzt also schon die ganze Nacht hier! Seit dem gestrigen Abend sitzt sie hier in dem Sessel, bei vollem Bewußtsein, denn ihre Augen sind ganz klar! Sie kann sich nicht rühren und nicht regen! Und niemand ahnt hier, daß der Tod ihr gegenübersaß, eine ganze lange Nacht, und sie gezeichnet hat! —
Es ist wieder totenstill im Hause.
Niemand regt sich.
Nichts!
Kein Dienstbote! Kein Mädchen! Gärtner und Chauffeur schlafen wie Johanna im Wirtschaftsgebäude. Aber die Mädchen wohnen doch im Haus! Die Zofe, die Köchin! Sind die denn taub?
Michael rennt zum Fenster und brüllt hinaus.
Schlafen die schon wieder? Nichts regt sich draußen!
Die Tür ins Wirtschaftsgebäude geht nicht auf.
Michael rast die Treppe hinab, immer mehrere Stufen überspringend. Hinüber ins Wirtschaftsgebäude.
Reißt die Tür auf.
Johanna kommt die Stiege herab. Sein eigener Chauffeur steht an der offenen Tür des Wohnzimmers und blickt ihm entgegen, ungewiß, woher die Rufe gekommen sind.
An der Wand des Wohnzimmers, in das man durch einen kaum meterlangen Vorraum tritt, hängt eine alte Schwarzwälderuhr. Sie steht. Die Zeiger weisen auf zwölf.
Michael starrt diese Uhr an, als ob von ihr die Lösung eines fürchterlichen Rätsels kommen könnte. Nichts haftete von diesem Augenblick in seiner Erinnerung als diese Uhr, die doch mit den Dingen, die um ihn vorgehen, nichts, rein nichts zu tun hat.
Aber wie oft ist unser Gedächtnis, diese unzuverlässige Wachsplatte, die die Eindrücke unserer Sinne aufzunehmen bestimmt ist, wie oft ist sie bereit, Nebenumstände, belanglose Erscheinungen festzuhalten, während das Wichtigste scheinbar im Nichts versinkt?
„Was ist los, Herr Legationssekretär?“ ruft Johanna, noch auf den Stufen über ihm.
„Kommen Sie! Schnell!“ stammelt Michael. „Ein Unglück!“ Er winkt mit beiden Armen. Rennt wieder in die Villa, fliegt die Treppe zum ersten Stock empor, immer rufend:
„Holl! Frau Gerda! Warum gebt ihr kein Lebenszeichen?“
Niemand antwortet. Michael weiß, daß etwas Entsetzliches geschehen ist. Warum er es weiß? Er fühlt es. Eisig rieseln Schweißperlen über seinen Nacken.
Unten füllt sich die Diele: Johanna, der Chauffeur des Hauses, Michaels Chauffeur — alle eilen ins Wohnzimmer, sind um die Gelähmte bemüht.
Michaels Wagenführer telephoniert nach einem Arzt.
„Polizei! Polizei!“ schreit Michael von oben herunter. Franz nickt und setzt sich mit dem Alexanderplatz in Verbindung.
Die Tür in Frau Gerdas Schlafzimmer ist nicht verschlossen. Michael zaudert. Eine Sekunde nur. In diesem Augenblick des Schreckens und der Angst ist er ein großer armer Junge. Er denkt nicht sofort an Holl, den Freund seines Vaters. Er denkt an Frau Gerda. Die Frau, das Mütterliche, rufen ihn zuerst.
Er tritt ein. Frau Gerdas Bett ist unberührt. Ein Blick genügt Michael. Die Jalousien sind herabgelassen. Es herrscht Dämmerung. Er muß die Augen erst an die undurchsichtige Atmosphäre gewöhnen. Wie Schleier wallen die Schatten vor ihm.
Dann sieht er Umrisse. Etwas bewegt sich.
Frau Gerda. Sie trägt ein helles Nachtkleid. Blut hat die Spitzen am Halse rot durchtränkt. Aber sie bewegt sich. Sie ist nicht tot. Michael kniet nieder, tief aufatmend, umfaßt sie, umklammert sie.
„Frau Gerda! Frau Gerda!“ stammelt er. „Mama!“ flüstert er. Sie ist doch Helens Mutter! Und bemerkt jetzt erst: Sie ist an das Bett festgebunden. An eine Säule des großen italienischen Bettes. Über ihrer zusammengekauerten Gestalt steht auf der Holzsäule ein geschnitzter Engel, der mit drei andern Engeln den Betthimmel trägt.
Frau Gerdas Augen sind offen wie die ihrer Mutter. Aber diese Augen bewegen sich. Heischen Hilfe. Sind mit rührender Unbeholfenheit auf Michael gerichtet. Sie spricht mit dem Kopf. Ruft mit Kopfbewegungen um Hilfe! Aus ihrem Mund sickert das Blut. Ein Knebel verschließt ihn. Roh und grausam sind die Stricke zusammengezogen, die ihre nackten Arme und Beine fesseln. Michael will sie zerreißen. Frau Gerda stöhnt auf. Er bittet sie mit bewegten Worten um Verzeihung. Sein Chauffeur stampft die Treppe herauf.
„Ein Messer, Franz! Ein Messer!“
Entsetzt starrt der einfache Mann auf die Szene. Reicht seinem Herrn ein Taschenmesser. Michael entfernt den Knebel, durchschneidet die Stricke. Wie eine weiße Blume sinkt Frau Gerda in sich zusammen und gleitet auf den Boden.
Michael nimmt sie in seine Arme, trägt sie aufs Bett.
„Sieh nach Herrn Holl!“ herrscht er Franz an.
Der Chauffeur durchschreitet einen kleinen Raum, in dem Frau Gerda Toilette zu machen pflegt und geht in das Schlafzimmer des Hausherrn. An der Tür taumelt er zurück, kommt kreidebleich zu Michael.
Flüstert nur: „Schnell!“
Michael, ein neues Unglück ahnend, rennt mit ihm hinüber. Die Fenster sind weit offen. Es ist empfindlich kalt. Der Herbstwind bewegt leicht die Kleidung der Gestalt, die an einem Strick von der Decke hängt. Dicht neben der großen elektrischen Lampe.
„Holl!“ ächzt Michael. „Holl! Lieber Freund!“
Der Chauffeur jagt zurück, holt das Messer, das in Frau Gerdas Zimmer auf dem Teppich liegt, schneidet mit einem Ruck den Strick durch. Michael fängt den leblosen Körper, der massig und schwer herabfällt, in seinen Armen auf. Das Gesicht des Toten ist blau und verzerrt. Als ob noch ein schreckliches, ein teuflisches Gelächter über den Unglücklichen hinweggebraust wäre, ehe er den Geist aufgab.
Er ist tot, es gibt nicht den leisesten Zweifel.
Trotzdem schreien Michael und Franz um einen Arzt. Franz rennt hinunter, Michael geht mit bleischweren Schritten zurück zu Frau Gerda. Sie liegt bewußtlos auf dem Bett. Sie ist fast nackt, und obgleich sie beinahe vierzig Jahre alt ist, ist ihr Körper so weiß und fehlerlos wie der eines jungen Mädchens. Michael geht die Erinnerung an ein Bild Fragonards durch den Kopf, er wird erbittert gegen sich selbst und zieht errötend eine rote Decke über Frau Gerdas Körper. Unten ist Lärm entstanden, Arzt und Polizei sind angekommen.
Nun rattert auch das Auto des Überfallkommandos laut und dröhnend heran. Viele Tritte eilen nach oben.
Dann sind die Zimmer angefüllt mit Beamten in Zivil und Uniform. Michael antwortet auf viele Fragen ohne zu wissen. Er blickt in fremde Gesichter, die hinter einer Wolke halben Bewußtseins auf ihn schauen. Er sieht den Arzt hantieren und denkt an einen bösen Traum. Und dann sieht er eine jähe Bewegung Frau Gerdas, er sieht, wie sie die Augen weit öffnet in grauenvollem Entsetzen, wie sie totenblaß in sich zusammensinkt ... nun haben sie es ihr gesagt, denkt er. Sie weiß jetzt, wie sie ihren Mann drüben in seinem Zimmer gefunden haben .....
Doch dann sagt jemand: „Die Mordkommission“, und geschäftige Männer verwandeln das Schlafzimmer Frau Gerdas in ein Forum von Bewegtheit.
Michael hört Frau Gerda mühsam antworten, während die Zofe ihr eben ein Getränk aus Wein, mit rohem Ei vermischt, zurechtmacht.
„Wo waren Sie?“ schreit Michael das Mädchen an, seiner Sinne nicht mehr mächtig.
„Ich hatte Ausgang“, erwidert sie verschüchtert.
„Und die Köchin?“
„Auch.“
Pack! denkt Michael. Das ist ja erlogen!
„Ich bitte Sie, jetzt nicht mehr zu sprechen“, sagt der Führer der Mordkommission zu Michael. Er hat ein großes Gesicht mit Schmissen und kalten blauen Augen.
„Kommen Sie zu sich! Nehmen Sie etwas zur Stärkung, Sie sehen furchtbar aus!“
„Ja“, erwidert Michael mechanisch.
„Dann halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.“
„Jawohl“, sagt Michael wie vorher, verneigt sich und sieht Frau Gerda mit einem langen, beinahe zärtlichen Blick an. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung“, meint er und geht hinaus. Er nimmt das Bild Frau Gerdas mit: wie sie bleich unter der roten Decke liegt, die von der jugendlichen Brust abgeglitten ist. Sie ist noch schöner als in ruhigen Tagen. Man könnte denken: Die Schwester Helens! Niemand würde auf den Gedanken kommen, diese Frau, an der die Zeit spurlos vorübergegangen ist, könnte eine erwachsene Tochter haben, die Michael liebt.
Johanna ist wie eine Mutter um Michael bemüht. Sie flößt ihm Kognak ein. Er kommt langsam zu sich.
Das Denken fällt ihm schwer.
Sein verstörtes Gesicht birgt er an der Brust der einfachen Frau:
„Sagen Sie, Johanna — ist das wahr? Ist das alles Wirklichkeit? Furchtbare Wirklichkeit?“
„Ja, es ist wahr, Herr“, antwortet sie. Ihm fällt auf, wie sonderbar gefaßt sie ist.
„Warum sind Sie so ruhig, Johanna?“ sagt er zornig und bedauert im gleichen Augenblick, daß er seine Nerven nicht besser in der Gewalt hat.
Sie wendet sich ab, denn eben kommt ein Beamter und holt sie zur Vernehmung.
„Schrecklich“, sagt ein anderer Polizist.
„Schrecklich!“ Er sucht den fassungslosen Michael zu trösten. Michael weint. Michael weint stoßweise wie ein Knabe. Die einfachen Worte, die der Beamte findet, tun Michael wohl. Der Polizist gibt der Hoffnung Ausdruck, daß der Erhängte doch noch gerettet werden kann. Er erzählt seltsame Fälle von kaum glaublichen Wiederbelebungen durch Sauerstoff.
„Sie sind immer noch im Bademantel“, fährt der Beamte fort. „Wo sind Ihre Kleider?“
„Ja“, erwidert Michael, ohne den Sinn der Frage gleich zu begreifen. Er fährt sich verwirrt durch das Haar. „Ach so, mein Anzug? Im Badezimmer — ich wollte mich umziehen — da erschreckte mich die Stille“.
Wieder überfällt ihn ein Weinkrampf.
Der Beamte holt ihm seine Sachen und geht hinaus.
Mit zitternden Händen kleidet sich Michael an. Immer muß er an Frau Gerdas rührende Schönheit denken. Und an die fürchterliche Grimasse des toten Malers Holl. Ich war ihm eigentlich nie sehr zugetan, denkt er. Er war ein sonderbarer Mensch, und zu Helen war er nicht gut. — —
Inzwischen hatte die Mordkommission ihre Arbeit begonnen. Frau Gerda Holl war kaum recht bei Besinnung, als sie nach ihrer Mutter rief. Sie wollte in das Wohnzimmer hinabeilen, denn irgend jemand hatte davon gesprochen, daß Frau Leyden sich noch immer unten befände. Aber der Regierungsrat hinderte sie daran, das Zimmer zu verlassen.
„Ihre Mutter befindet sich nicht wohl ..“
Frau Gerda schrie, man dürfe es ihr nicht verwehren, ihre Mutter zu sehen; da trat der Arzt ein und erklärte ihr, daß er es bei dem Zustand, in dem sie sich befände, nicht erlauben könnte, daß sie sich erneut errege.
„Sie ist tot?“ schrie Frau Gerda.
„Nein, ich gebe Ihnen mein Wort, sie ist am Leben“, erwiderte der Arzt. „Beruhigen Sie sich, Sie werden nachher Gelegenheit haben, sie zu sehen.“
„Aber irgend etwas ist geschehen!“
„Sie lebt, das muß Ihnen im Augenblick genügen. Ich gebe Ihnen keinesfalls die Erlaubnis, sich und die Kranke von neuem aufzuregen.“
„Sie ist also krank?“
„Ja, aber sie befindet sich bereits in ärztlicher Obhut.“
„Seien Sie doch vernünftig, gnädige Frau“, sagte Kriminalrat Trettner. „Es handelt sich doch nicht nur um Sie, sondern auch um die Gesundheit Ihrer Frau Mutter. Wollen Sie denn durch eine Szene die unglückliche alte Dame in neue seelische Verwicklungen stürzen?“
Frau Gerda sank auf ihr Bett zurück.
Der Regierungsrat bat sie um Auskünfte.
„Ich bin zu schwach, um jetzt zu sprechen“, erwiderte Frau Gerda. „Ich will, daß man Michael holt.“
Der Regierungsrat sah den Kriminalrat fragend an.
„Michael ist der Legationssekretär, Verlobter der Tochter“, sagte dieser.
Der Regierungsrat schüttelte den Kopf.
„Nein, gnädige Frau, ich kann auch nicht gestatten, daß jetzt Ihr zukünftiger Schwiegersohn geholt wird. Sie stehen unter dem frischen Eindruck der Ereignisse. Ich muß Sie bitten, uns jetzt Rede zu stehen. Sie selbst haben doch das größte Interesse daran, daß wir so rasch als möglich Licht in diese dunkle Geschichte bringen!“
„Ja“, erwidert Frau Gerda und zieht den blauen Morgenmantel, den die Zofe ihr gebracht hat, fester über der Brust zusammen. „Es ist kalt hier, ich friere.“
Der Kriminalrat befiehlt, daß der Ofen im Keller angeheizt wird.
„Ich will Herrn von Riedner hier haben“, beharrt Frau Gerda.
Aber wie der Regierungsrat nun ihrem Wunsche doch nachkommen will, ruft sie lebhaft:
„Nein! Er soll nicht zugegen sein, wenn ich aussage. Ich will es nicht!“
Der Regierungsrat macht eine zustimmende Handbewegung.
„Erzählen Sie also, gnädige Frau. Wie war das gestern abend, nachdem Sie gespeist hatten ...“
„Ich habe mich mit meinem Gatten gestern etwa um 11 Uhr abends zurückgezogen ...“
„Verzeihung“, unterbrach sie Regierungsrat Dr. Hofer, der die Mordkommission führte, während sich Kriminalrat Dr. Trettner vorläufig noch Notizen machte, „verzeihen Sie, gnädige Frau. Wo haben Sie den Abend verbracht? In den unteren Räumen oder im ersten Stock?“
„Im Eßzimmer, hier im ersten Stockwerk. In diesem Flügel liegen: das Atelier meines Mannes, unsere Schlafräume, neben dem meinen noch das Schlafzimmer meiner eben abwesenden Tochter, ihr Arbeitszimmer, ein Fremdenzimmer. In dem anderen Flügel sind das Musikzimmer und das Eßzimmer!“
„Ich danke. Das Verhältnis zwischen Ihnen, Ihrem Gatten und Ihrer Tochter ist stets ein gutes gewesen?“
„Durchaus. Wir lieben Helen, und sie ist die beste und treueste Tochter der Welt.“
„Also, Sie befanden sich im anderen Flügel im Eßzimmer. Bis 11 Uhr abends?“
„Ja. Dann gingen wir in unsere Schlafräume.“
„Die Dienerschaft war bereits fortgegangen?“
„Nein. Erst als wir zu Bett gingen, verließen die Köchin und das Zimmermädchen das Haus.“
„Ist es Ihre Gewohnheit, zu so später Abendstunde noch Ihrem Personal die Erlaubnis zu geben, auszugehen?“
„Die Mädchen wollten noch tanzen. Sie wissen, Herr Regierungsrat, unsere Zeit hat darüber ihre eigenen Ansichten. Ich kann die Mädchen nicht zurückhalten.“
„Sie hatten keinen Gast?“
„Niemanden.“
„Und zwischen Ihrem Gatten und Ihnen hat keine Auseinandersetzung stattgefunden?“
Frau Gerda zögert. Sie schüttelt den Kopf, aber wie sie den durchdringenden Blick des Regierungsrates fühlt, antwortet sie verwirrt: „Doch ja! Eine unbedeutende Meinungsverschiedenheit!“
„Darf ich wissen, wodurch diese Meinungsverschiedenheit entstanden ist?“
„Muß ich es sagen?“
„Unbedingt!“
„Mein Gatte weigerte sich, in die Scheidung unserer Ehe zu willigen!“
„Oh! Das ist wichtig! Sie wollten sich scheiden lassen?“
„Ja.“
„Und Ihr Gatte? Traf ihn irgendein Verschulden? Oder ...“
Frau Gerda schaut zu Boden. Sie denkt nach. Kriminalrat Dr. Trettner hat zu schreiben aufgehört. Er betrachtet Frau Holl mit zusammengekniffenen Augen.
„Mein Gatte ist mir nicht treu gewesen ...“
„Sie haben Beweise?“
„Nicht gerade Beweise. Eine Frau fühlt das.“
„Ihr Gatte verhielt sich Ihren Plänen gegenüber ablehnend?“
„Ja.“
„War die Auseinandersetzung erregt?“
„Mein Gatte wurde immer sehr leicht erregt.“
„Und befand sich in Ihrer Gesellschaft Ihre Frau Mutter?“
„Gewiß. Meine Mutter war zugegen.“
„Haben Sie irgend etwas Auffälliges an ihr bemerkt? Wie nahm sie den Wortwechsel zwischen Ihnen und Ihrem Gatten hin?“
„Ich glaube, ziemlich gleichmütig.“
„Demnach war Ihre Ehe sehr unglücklich?“
„Wer sagt das?“
„Wenn Ihre Frau Mutter der Szene gegenüber gleichmütig geblieben ist, so war dies nicht die erste Auseinandersetzung, der sie beigewohnt hat!“
Frau Gerda schweigt.
„Bitte, wollen Sie uns weiter erzählen, was dann geschah, als Sie sich zurückgezogen hatten? Ging Ihr Gatte gleichzeitig mit Ihnen in sein Schlafzimmer?“
„Ich hörte ihn noch umhergehen. Eben wollte ich mich schlafen legen, als ich in dem Zimmer meines Gatten ein ungewöhnliches Geräusch hörte. Ehe ich aber zur Besinnung kam, mir vorstellen konnte, was das zu bedeuten hatte, hörte ich laute Stimmen und dann ein Toben, als kämpften Männer. Gegenstände fielen zu Boden. Ich eilte ans Fenster, um Hilfe herbeizurufen. Da stürzten zwei Männer ins Zimmer und rissen mich mit brutaler Gewalt zurück. Während der eine mich festhielt, steckte mir der andere einen Knebel in den Mund. Ich war nicht mehr imstande zu schreien. Ich konnte nicht einmal um mein Leben bitten. Die Elenden banden mich mit rohen Witzen an das Bett. Schließlich verlor ich das Bewußtsein.“
„Aber in jenem Augenblick, während die Verbrecher Sie überwältigten und festbanden, haben Sie doch ihre Gesichter gesehen?“
„Nein, sie waren vermummt —“
„Aber man bekommt doch irgendeinen Eindruck, auch wenn sich eine Begebenheit noch so schnell abspielt! Gehörten die Männer einer besseren Gesellschaftsklasse an, oder waren es typische Verbrechergestalten?“
„Ich glaube, mich zu erinnern, daß es einfache Menschen waren.“
„Können Sie sie uns näher beschreiben?“
„Ich fürchte, nein, denn ich verlor, wie gesagt, sehr schnell das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, war alles still. Ich konnte nicht rufen, mich nicht bemerkbar machen, mußte viele Stunden in meiner entsetzlichen Lage verharren, bis heute morgen Herr von Riedner, mein zukünftiger Schwiegersohn, kam und mich befreite.“
Auf die Frage des Regierungsrates Dr. Hofer, warum Frau Holl nicht die kurze Spanne Zeit, die ihr geblieben war, ehe die Verbrecher sie vom Fenster zurückgerissen hatten, ausnutzte, um laut zu schreien, antwortete Frau Gerda: „Ich war meiner Stimme nicht mehr mächtig. Ich war wie gelähmt. Mir war zu Mute wie einem Menschen, der Entsetzliches träumt, schreien will und keinen Laut aus der Kehle bringt. Im übrigen waren die Jalousien herabgelassen. Man hätte mich gar nicht gehört.“
„Haben Sie das alles in jenem kritischen Augenblick gedacht, oder erwägen Sie es erst jetzt?“
„Der Gedanke ist mir erst jetzt gekommen. Ich habe in jenen furchtbaren Minuten überhaupt nicht gedacht!“
Dies also war der einfache Tatbestand. Die Verbrecher waren zweifellos durch die offenen Fenster bei dem Maler Holl eingedrungen. Das Gartengelände war an dieser Seite des Hauses stark ansteigend, so daß die Fenster hier etwa nur anderthalb Meter über dem Erdboden lagen. Unter den Fenstern fanden sich zudem von Fußspuren Fragmente im Humus des Gartens. Aber es hatte während der Nacht geregnet, die Spuren waren verwischt, man konnte nicht viel mit diesem Beweismittel anfangen. Zwei angesetzte Polizeihunde liefen ein Stück durch den Park in den Grunewald, machten dann einen großen Bogen und landeten schließlich in der Heerstraße, also auf der entgegengesetzten Seite. Hier versagten sie.
„Die Verbrecher sind von hier ab mutmaßlich in einem Auto geflohen“, sagte Kriminalrat Trettner. Die Beamten hatten, was Michael in seiner grenzenlosen Erregung entgangen war, sofort festgestellt, daß der Geldschrank in dem Zimmer des Erhängten offen stand. Ob und was die Verbrecher geraubt hatten, ließ sich endgültig zunächst nicht feststellen. Frau Gerda war der Meinung, ihr Gatte habe mindestens zehntausend Mark in dem Schrank aufbewahrt.
„Vermögen?“ fragte der Regierungsrat.
„Eine Summe, die mein Gatte erst vor kurzem durch den Verkauf seines letzten Bildes erzielt hatte.“
„Ihr Gatte war Maler von Beruf? Nicht nur aus Neigung?“
„Von Beruf.“
„Der Name Ihres Gatten wurde in den letzten Jahren immer häufiger genannt. Sie lebten in guten Verhältnissen?“
„Ja“, erwidert Frau Gerda zögernd.
„Und wer war der letzte Bilderkäufer? Von wem stammen die zehntausend Mark?“
„Von Herrn Gutsbesitzer Alfred Kürtner.“
„Kürtner — Kürtner, Abgeordneter Kürtner?“
„Ja.“
„Seine Güter liegen bei Prenzlau?“
„Ja! Sie kennen ihn, Herr Regierungsrat?“
„Oberflächlich!“
Frau Gerda konnte nur schwer sprechen. Immer wieder wurde sie von heftigem Schluchzen geschüttelt. Die Beamten, wagten noch immer nicht, ihr mitzuteilen, daß ihre Mutter in dieser verhängnisvollen Nacht einen Schlaganfall erlitten hatte.
Aber Frau Holl kam von selbst wieder auf ihre Mutter zurück.
„Kommt meine Mutter nicht?“ schrie sie plötzlich wild auf. „Was ist denn mit ihr geschehen? Warum sagen Sie mir nicht endlich die Wahrheit? Ich will wissen, wo sich meine Mutter befindet!“ Und mit einem forschenden Blick in die verlegenen Gesichter der Beamten: „Ist denn ein neues Unglück passiert? Sagen Sie es mir! Was ist mit ihr geschehen?“
Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Sie ist tot! Sie ist doch tot! Sie sagen es mir nicht! Sie belügen mich!“
„Beruhigen Sie sich doch“, erwidert der Kriminalrat. „Mein Wort, sie lebt. Aber sie ist krank. Schwer krank.“
„Es ist einfach unmöglich, daß Sie Ihre Mutter jetzt schon sehen, gnädige Frau“, setzte der Regierungsrat hinzu.
Frau Gerda sank wieder lautlos weinend in sich zusammen.
„Strangulationsspuren sind beim besten Willen nicht festzustellen“, sagte der Gerichtsarzt achselzuckend, von der Untersuchung in dem Schlafzimmer des Kunstmalers Holl kommend. Er stand unter der Tür und rückte an seinen Brillengläsern. Die Herren gingen wieder in das Mordzimmer und ließen Frau Gerda unter der Obhut ihrer Zofe.
Regierungsrat Hofer und der ihn begleitende Kriminalrat konnten die Feststellungen des Arztes kaum glauben.