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Die Revolution neu und anders erzählt Die Revolution von 1848/49 gehört zu den Sternstunden der europäischen Geschichte. Matthias von Hellfeld liefert zum 175. Jahrestag der Revolution kurz und kompakt das notwendige Faktenwissen. In 48 kurzweiligen Kapiteln stellt er uns die Vorgeschichte der eigentlichen Revolution vor, geht an die wichtigsten Orte, porträtiert die entscheidenden Personen und benennt außergewöhnliche Objekte, die für die Geschichte von 1848 eine herausragende Rolle spielen. So verleiht er diesem Meilenstein hin zu Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Gleichheit auf höchst unterhaltsame und anschauliche Weise neuen Glanz. Neben vielem bekannten Schulwissen lernt man in diesem Buch aber auch Neues kennen. Wir erfahren, was es mit einer berühmten Laterne in Wien auf sich hat, hören von ersten Luftangriffen mittels Heißluftballons, von der Gründung des ersten amerikanischen Turnvereins und dem Kommunistischen Manifest, vom Oberbefehlshaber der badischen Revolutionsarmee, dem Polen Ludwik Mierosławski oder der brasilianisch-italienischen Freiheitskämpferin Anita Garibaldi. Glossare, Zeittafeln und Karten sorgen für die notwendige Orientierung. Ein schön gestaltetes Buch für alle Freunde der Demokratiegeschichte und der populären Unterhaltung.
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Seitenzahl: 297
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Matthias von Hellfeld
1848 in 48 Kapiteln
Geschichte einer Revolution
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagmotiv und -gestaltung: Lukas Woßagk
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-451-39155-2
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82844-7
Von Philadelphia bis Wien 1776–1815
Vorgeschichte 1815–1847
1. Der Wiener Kongress – Gemeinsame Kontrolle über Europa
2. Die Jenaer Burschenschaft – Keimzelle der Revolution 1815
3. Das Wartburgfest 1817 – Wetterleuchten der deutschen Revolution
4. Karlsbader Beschlüsse – Verfolgung der »Demagogen« 1819
5. Das Hambacher Fest – Einheit und Freiheit 1832
6. Die Rheinkrise – Es lebe die Nation 1840
7. Der Weberaufstand in Schlesien – Gegen den Hunger 1844
Orte
8. Paris: Februarrevolution in Frankreich – Initialzündung für Deutschland 1848
9. Berlin: Barrikadenkämpfe 1848
10. Mannheim: Die Märzforderungen der »Mannheimer Petition« 1848
11. Odenwald: Bauernkrieg und antijüdische Pogrome 1848
12. Cincinnati: Der erste deutsche Turnverein in den USA 1848
13. München: Die Abdankung König Ludwigs I. von Bayern – 1848
14. Frankfurt: Das Paulskirchenparlament – 1848
15. Prag: Der Pfingstaufstand – 1848
16. Malmö: Der preußisch-dänische Waffenstillstand – 1848
17. Dresden: Der Maiaufstand – 1849
18. London: Karl Marx und die Exilanten – 1849
19. Rastatt: Das Ende der Badischen Revolution – 1849
20. Olmütz: Das Ende der Revolution – 1850
Personen
21. Anita Garibaldi – Die italienische Freiheitskämpferin
22. Johann von Österreich – Der Reichsverweser
23. Heinrich von Gagern – Der Präsident der Nationalversammlung
24. Klemens Fürst Metternich – Der Außenminister Österreichs
25. Robert Blum – Der radikale Revolutionär
26. Friedrich Wilhelm IV. – Der preußische König
27. Philipp Jakob Siebenpfeiffer – Der demokratische Publizist
28. Johann Georg August Wirth – Kämpfer für Einheit und Freiheit
29. Ludwig Uhland – Der Dichter
30. Friedrich Hecker – Der Radikaldemokrat
31. Carl Schurz – Der Politiker und Feldherr
32. Otto I. von Wittelsbach – Der griechische König
33. Karl Schapper – Der Arbeiterführer
34. Franz Sigel – Der Kriegsminister der Badischen Revolution
35. Amalie Struve – Die Revolutionärin der ersten Stunde
36. Louise Otto-Peters – Die Gründerin der Frauenbewegung
37. Emma Herwegh – Die unangepasste Revolutionärin
38. Ludwik Mierosławski – Der polnische General
Objekte
39. Revolutionäre Solidarität – Die Polenvereine in Deutschland 1830
40. Der erste Binnenmarkt – Das Zollpfund 1834
41. Hunger und Elend – Kartoffelrevolution 1847
42. Germania – Der deutsche Mythos
43. Schwarz-Rot-Gold – Die deutsche Trikolore 1848
44. Lynchjustiz – Der Laternenpfahl in Wien 1848
45. Internationale Solidarität – Das Kommunistische Manifest 1848
46. Alle sind gleich – Erklärung der Grundrechte des deutschen Volkes 1848
47. Italienischer Unabhängigkeitskrieg – Heißluftballone als Bombe 1849
48. Einheit und Freiheit – Die Paulskirchenverfassung 1849
Die Revolution ist nicht gescheitert!
Glossar
Chronologie der Deutschen Revolution von 1815 bis 1849
Literatur
Bildnachweise
Über den Autor
Die Geschichte der Revolutionen in Europa, von denen die Deutsche Revolution von 1848 eine war, begann eigentlich Ende des 18. Jahrhunderts im Nordosten des amerikanischen Kontinents. Dort hatten sich englische Siedler niedergelassen und im Auftrag ihres Königs dreizehn Kolonien gegründet. Um diese und viele andere Kolonien ging es zwischen 1756 und 1763 im Siebenjährigen Krieg. Er wurde zeitgleich in Mitteleuropa, Portugal, Nordamerika, Indien, in der Karibik und auf den meisten Weltmeeren ausgetragen. Frankreich und England waren darin verwickelt, weil beide um die koloniale Vormachtstellung in der Welt kämpften. Am Ende dieser globalen Auseinandersetzung, die mitunter auch »Erster Weltkrieg« genannt wird, standen Frankreich und England vor einem Staatsbankrott. Die britische Krone wollte durch eine Besteuerung von Waren für die Kolonisten einen Teil der Kosten für deren militärischen Schutz decken, löste damit aber einen Aufstand in den Kolonien aus, der am 16. Dezember 1773 zur Boston Tea Party und zum Beginn des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs führte.
Als die Delegierten der dreizehn britischen Nordamerika-Kolonien in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania am 4. Juli 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten und sich damit von der britischen Krone lossagten, schrieben sie Geschichte. Denn zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurden bürgerliche Rechte und Freiheiten formuliert und garantiert: »Alle Menschen sind gleich geschaffen, der Schöpfer hat ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«1 gehören.
Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika
Diese unveräußerlichen Rechte finden sich in der französischen »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«2 vom 26. August 1789 ebenso wieder wie in dem von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beschlossenen Katalog der »Grundrechte des Deutschen Volkes«3 vom 27. Dezember 1848. Diese Verfassungen waren von den Gedanken der europäischen Aufklärung inspiriert. Jene geistesgeschichtliche Entwicklung hat rationales Denken und wissenschaftliches Erforschen dem Glauben an eine göttliche Schöpfung der Welt entgegengestellt. Mit dem neuen Denken rückten die Menschen und ihre Rechte in den Mittelpunkt des Interesses. Im Rückgriff auf die frühen Humanisten, die die Philosophie der griechischen Antike wiederentdeckt hatten, sollte der »Mensch das Maß aller Dinge« sein.
Die Aufklärer propagierten rationales Denken und forderten, jeden einzelnen Menschen in die Lage zu versetzen, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Auf die Frage, was denn eigentlich die Aufklärung sei, antwortete der Königsberger Philosoph Immanuel Kant 1784: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.« Der Mensch, so Kant weiter, solle sich also seines Verstandes bedienen, um der Unmündigkeit zu entkommen. Absolutistische Herrscher des ausgehenden 18. Jahrhunderts schreckten angesichts solcher Aufforderungen hoch, denn ihre Herrschaft basierte auf dem Gegenteil des von Immanuel Kant geprägten Anspruchs der Aufklärung. Zwar war das neue Denken anfangs auf intellektuelle Zirkel beschränkt, aber aufhalten ließ es sich nicht mehr.
In dieser Situation war nicht nur die britische Staatskasse wegen der vielen Kriege geplündert, sondern auch die französische. König Ludwig XVI. hatte die amerikanischen Aufständischen um George Washington gegen England unterstützt. Das französische Kalkül zielte auf eine globale Schwächung des Konkurrenten England und eine Stärkung der eigenen Position in Nordamerika ab. Dem Rivalen England dort eine Niederlage beizubringen, war dem französischen König wichtiger als die eigenen Staatsfinanzen. Als Ergebnis des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs verlor England 1783 seine dreizehn nordamerikanischen Kolonien, und Frankreich war nun endgültig bankrott. Zur Konsolidierung der Staatsfinanzen wollte der französische König Steuern und Abgaben erhöhen, musste sich dafür aber die Zustimmung der Generalstände einholen. Diese Generalstände repräsentierten den Adel, den Klerus und das Bürgertum und waren zuletzt 1614 nach Paris eingeladen worden. Die Versammlung der Generalstände widersprach zwar dem absolutistischen Amtsverständnis des französischen Königs, aber für Steuererhöhungen brauchte Ludwig XVI. die Zustimmung der Generalstände.
Für den König war das eine reine Formsache, zu der er per Gesetz verpflichtet war. Aber die Delegierten machten am 9. Juli 1789 aus ihrer Versammlung eine Verfassungsgebende Nationalversammlung und lösten damit die Französische Revolution aus. In den nächsten Wochen wurden die Monarchie gestürzt, die erste Französische Republik ausgerufen und der Revolutionsdreiklang »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« über Europa ausgerufen. Wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die amerikanische Verfassung von 1787 war auch die Französische Revolution eine Folge der Aufklärung. Nahezu wortgleich zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung stellte die französische Nationalversammlung dies am 26. August 1789 mit der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« auch unter Beweis. Das Postulat der Gleichheit der Menschen und ihrer unveräußerlichen Rechte wurde in die französische Verfassung aufgenommen: »Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern.« Damit waren zum ersten Mal in Europa die universell gültigen Menschen- und Bürgerrechte formuliert, auf die sich rund sechzig Jahre später auch die Revolutionäre in Deutschland berufen sollten.
Die Befreiung des Menschen aus den Zwängen absolutistischer Herrscher, die Trennung von Kirche und Staat und die Gültigkeit der Menschenrechte – diese Ziele unterstützten die meisten Europäer. Die Ideen der französischen Revolutionäre von einem starken Parlament, dem Ende des Absolutismus, dem Zurückdrängen des kirchlichen Einflusses auf Politik und Gesellschaft und die von den französischen Revolutionären durchgesetzte Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Glaubensfreiheit machten vor keinem europäischen Land Halt. Die Vorstellung einer konstitutionellen Monarchie, in der der Herrscher an eine vom Parlament kontrollierte Verfassung gebunden war, traf auf nahezu ungeteilte Zustimmung, weil viele Bürger eine Veränderung der Verhältnisse wollten. Das 19. Jahrhundert war folgerichtig gekennzeichnet vom »Nation Building«, in dem zwischen 1830 und 1871 in Griechenland, Belgien, Frankreich, Deutschland und Italien konstitutionelle Monarchien entstanden. Aber die Entstehung der Nationalstaaten war begleitet von heftiger Gegenwehr des Ancien Régime. Beim Wiener Kongress 1814/15 hatten sich die »alten« Monarchien Europas zu einem antirevolutionären Schutzbündnis zusammengeschlossen. Sie beriefen sich dabei auf ihre angeblich von Gottes Gnaden übertragene Macht und versicherten sich gegenseitigen Beistand, wenn ihre Macht durch Revolutionen ins Wanken geraten würde. Nationalen Bewegungen, die es überall in Europa gab, sagten sie den Kampf an. Mit der rigorosen Verfolgung Andersdenkender und der Inhaftierung von Anhängern der nationalen Opposition in Deutschland läuteten sie das Zeitalter der Restauration ein, mit der die Machtverhältnisse der Zeit vor der Französischen Revolution wiederhergestellt und langfristig abgesichert werden sollten.
Der Wiener Kongress hatte einerseits den Charakter einer »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa«, weil die Großmächte gemeinsame Verantwortung für Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent übernahmen. Andererseits verbarg sich hinter den Beschlüssen des Kongresses enorme Sprengkraft, deren Wirkung dramatisch unterschätzt wurde. Die nationalen Bewegungen in Europa waren mit den Ergebnissen des Kongresses nicht zufrieden und machten daraus auch keinen Hehl. Je länger der Zustand andauerte, desto mehr begehrten diese Bewegungen auf – erst in Belgien und Griechenland, dann in Polen und Deutschland und schließlich in Italien. In Deutschland empörten sich Angehörige der nationalen Opposition wie der Philosoph und Staatsmann und spätere Gründer der Berliner Universität Wilhelm von Humboldt darüber, dass in Wien »kein Funken Gefühl für Deutschland« zu spüren gewesen sei.
Frankreichs Kalkül eines »Kleindeutschland« ging durch die Gründung eines Deutschen Bundes unter preußischer und österreichischer Führung zunächst ebenso auf, wie sich Russlands Hoffnung erfüllte, eine weitere Großmacht verhindert zu haben, die sich gegen russische Interessen wenden könnte. Für den russischen Zaren Alexander I. war damit der Weg frei zu einer autoritären Herrschaft in Polen, das vom Wiener Kongress zwar »wiederhergestellt«, aber unter russische Hegemonie gestellt worden war. Ohnehin hatten die kleineren europäischen Völker grundsätzliche Bedenken gegenüber einem großen, ökonomisch wie militärisch mächtigen Deutschland. Für England zählte hingegen nur, dass Deutschland, egal wie es im Inneren organisiert sein würde, Russland im Osten und dem Erzrivalen Frankreich im Westen die Stirn bieten würde. Auf dieser Grundlage war 1815 die Gründung eines deutschen Gesamtstaates nur gegen den Willen der europäischen Mächte zu realisieren und deshalb utopisch.
Darüber waren die Anhänger der deutschen nationalen Bewegung enttäuscht, weil sie sich von einer europäischen Nachkriegsordnung einen gemeinsamen deutschen Nationalstaat erhofft hatten. Aber die fünf Großmächte Frankreich, England, Preußen, Russland und Österreich einigten sich stattdessen auf die Gründung eines Deutschen Bundes. Dieser Bund verhinderte die Entstehung eines geeinten deutschen Staates und garantierte den Großmächten auch weiterhin politischen Einfluss auf die deutschen Länder in der Mitte des Kontinents. In Artikel 11 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 wurde geregelt, dass sich die »Mitglieder des Bundes versprechen, sowohl ganz Deutschland als auch jeden einzelnen Bundesstaat gegen jeden Angriff in Schutz zu nehmen und ihre Besitzungen sich gegenseitig zu garantieren«. Keines der Mitglieder durfte »einseitig Waffenstillstand oder Frieden schließen« oder »Verbindungen eingehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Staaten gerichtet wären«.4 Damit war zwar einerseits ein Sicherheitsnetz über die Mitglieder des Deutschen Bundes gezogen, aber jede Veränderung von Grenzen im Inneren des Bundes war genauso ausgeschlossen wie die gewaltlose Gründung eines deutschen Nationalstaates.
Die europäischen Großmächte wollte den Status quo vor der Französischen Revolution festschreiben und, wenn nötig, mit Gewalt aufrechterhalten. Deutschland war vor 1789 in viele kleine Territorien aufgeteilt und sollte es – wenn auch in einem gemeinsamen Bund vereint – nach 1815 bleiben. Das war weniger eine antideutsche, sondern vor allem eine antirevolutionäre und antinationale Politik der Großmächte. Sie garantierten zwar den Deutschen ihre Existenz in der Mitte Europas, verhinderten aber gleichzeitig einen deutschen Nationalstaat, der aller Voraussicht nach im Konzert der Großmächte eine ernstzunehmende Rolle gespielt hätte. Die Konsequenz dieser Politik zeigte sich rasch: Die Mitte des Kontinents war unruhig. In Polen und Deutschland waren die nationalen Töne nicht mehr zu überhören, Griechenland und Belgien strebten das Ende der osmanischen bzw. niederländischen Herrschaft an, und aus Italien waren bald die Töne des Risorgimento nicht mehr zu überhören.
1 Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten gegeben im Kongress am 4. Juli 1776 (in einer Übersetzung aus dem Jahr 1849: http://www.verfassungen.net/us/unabhaengigkeit76.htm
2 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: www.conseil-constitutionnel.fr
3 Die Grundrechte des deutschen Volks vom 27. Dezember 1848: http://www.documentarchiv.de/nzjh/1848/grundrechte1848_ges.html
4 Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815: http://www.documentarchiv.de/nzjh/dtba.html
Im September 1814 versammelten sich in Wien rund 300 gekrönte Häupter und Diplomaten aus Europa. Sie standen vor der selbstgewählten Aufgabe, den europäischen Kontinent nach den Kriegen gegen Napoleons Revolutionstruppen wieder so zu ordnen, dass es keine neuerlichen Revolutionen wie die von 1789 in Frankreich geben würde. 1814 – und noch einmal nach der Schlacht bei Waterloo 1815 – hatten sie in zwei Friedensverträgen Frankreich die Hand gereicht und wieder in den Kreis der europäischen Großmächte aufgenommen. So konnte die gerade erst installierte Monarchie des Bourbonenkönigs Ludwig XVIII. am Wiener Kongress teilnehmen, obwohl Frankreich Revolution und Krieg über Europa gebracht hatte. Die Delegationen waren in Wien zusammengekommen, um das »Rad der Entwicklung anzuhalten«. Damit lösten sie unterschiedliche Reaktionen aus: Die einen waren zufrieden über die »Restauration« des machtpolitischen Zustands Europas aus der Zeit vor 1789. Die anderen hielten verbittert an ihrem Vorwurf fest, die Gründung von Nationalstaaten und damit eine notwendige Entwicklung verhindert zu haben.1
Der Wiener Kongress in einer zeitgenössischen Darstellung
Die Verhandlungsdelegationen aus Frankreich, Preußen, Österreich, Russland und England folgten zunächst also dem Prinzip der Restauration, mit der der alte Zustand von 1789 mit absolutistischen Monarchien, die an keinerlei verfassungsmäßige Einschränkungen gebunden waren, wiederhergestellt wurde. Zudem galt fortan das Prinzip der Solidarität, denn die Monarchen sollten untereinander solidarisch sein und immer dann, wenn die wiederhergestellte alte Ordnung in einem ihrer Königreiche bedroht war, sich gegenseitig zu Hilfe eilen. Und schließlich einigten sie sich auf das Prinzip der Legitimität, damit legitime Ansprüche auf einen Thron auch durchgesetzt werden konnten. So wurden mit der »Wiener Congreß-Akte« vom 8. Juni 18152 die Königreiche Spanien, Portugal und Neapel wiederhergestellt, zudem erhielten die Niederlande die »österreichischen Niederlande« zurück, und die Schweiz erlangte ihre Unabhängigkeit wieder. Polen hingegen wurde nicht wieder zu einer Monarchie, sondern ein weiteres Mal unter Fremdherrschaft gestellt. Nach langem geopolitischem Geschacher wurde das Herzogtum Warschau – eine Gründung Napoleons – durch das sogenannte Kongresspolen ersetzt.
Europa 1815
Der russische Zar Alexander wollte Polen wiederherstellen und in Personalunion selbst regieren. Damit Preußen diesem Plan zustimmte, musste Friedrich Wilhelm III. für die Gebiete entschädigt werden, die bei den drei Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 von Preußen annektiert worden waren. Für das Kulmerland, Hinterpommern, die Kurmark, für »Südpreußen« mit Posen und »Neuostpreußen« mit Warschau bekam Preußen Teile Sachsens sowie Gebiete in Westfalen und am Rhein. Preußen war damit zur deutschen Großmacht geworden, stand an den Ufern des Rheins dem französischen »Erbfeind« gegenüber und hielt in deutschem Namen die später so bezeichnete »Wacht am Rhein«. Österreich verzichtete auf alle Ansprüche in Polen, Belgien und im Westen Deutschlands und wurde dafür mit Venezien und der Lombardei »entschädigt«. Damit war der Weg frei für das russisch beherrschte »Kongresspolen«, dessen Bewohner fortan einer drastischen Russifizierung ausgesetzt waren. Aber der polnische Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat ließ sich nicht unterdrücken, wie 1835 aus einer Rede des späteren Zaren Nikolaus I. hervorging: »Wenn Ihr darauf besteht, an Euren Träumen von (…) einem unabhängigen Polen und allen diesen Chimären festzuhalten, so werdet Ihr großes Unheil über Euch heraufbeschwören. (…) Bei der geringsten Unruhe werde ich die Stadt beschießen lassen.«3
Die deutschen Fürsten waren am Wiener Kongress nicht beteiligt, über die Zukunft ihrer Länder entschieden die Großmächte, indem sie den von Napoleon gegründeten Rheinbund auflösten und an gleicher Stelle einen »Deutschen Bund« ins Leben riefen. Damit sollte die Mitte Europas unter ihrer Kontrolle bleiben und für politische Ruhe sorgen. Insofern kamen die Delegationen von Wien ihrer Gesamtverantwortung für den Kontinent nach, die mit der Gründung einer »Heiligen Allianz« von Preußen, Russland und Österreich auch eine stabilisierende Einheit hervorbrachte. Fortan sollte diese Allianz die Ordnung des Wiener Kongresses garantieren und dem christlichen Herrschaftsprinzip auf dem Kontinent zum Durchbruch verhelfen. Im Allianzvertrag vom 26. September 1815 verkündeten sie, dass sie »als die Richtschnur ihres Verhaltens (…) allein die Gebote dieser heiligen Religion« ansehen und nur »den Geboten der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens« folgen werden.4
Der Wiener Kongress war nach dem Westfälischen Frieden von 1648 die zweite europäische Sicherheitskonferenz, die das fragile Verhältnis zwischen den europäischen Völkern austarieren sollte. Dazu trug wesentlich die Teilnahme Frankreichs bei. Ein Friedensschluss gegen oder ohne Frankreich hätte mit einiger Sicherheit den Keim neuerlicher Konflikte in sich getragen. Die »deutschen Frage« wurde in Wien nicht beantwortet, aber mit der Gründung des Deutschen Bundes konnte die politisch-territoriale Einheit Deutschlands erhalten werden.5 Österreich, das bis dahin in Konkurrenz zu Preußen um die Vormacht in Deutschland gestritten hatte, wurde durch die territorialen Zugewinne in Norditalien eine südosteuropäische Schutz- und Großmacht, während Preußen diese Rolle für den deutschsprachigen Raum außerhalb Österreichs übernahm. Dadurch dass Preußen nun stärker in Westdeutschland vertreten war, verlagerten sich auch dessen Interessen nach Zentraleuropa.
Streitpunkte oder unlösbare Fragen, die beim Wiener Kongress auftauchten, wurden auf Folgekonferenzen6 verwiesen, was darauf hindeutet, dass es den Delegationen um die Realisierung des Machbaren ging und nicht nur um die Durchsetzung der eigenen Interessen. Insofern hat dieser Kongress diplomatische Maßstäbe gesetzt. In Wien sollte gleichermaßen Schutz vor neuen revolutionären Prozessen gewährleistet wie die Interessen der europäischen Großmächte berücksichtigt werden. England, Russland, Preußen, Österreich und Frankreich übernahmen gemeinsame Verantwortung für Europa, dem sie Frieden durch Stabilität brachten. Zweifellos waren ihre Ordnungsvorstellungen rückwärtsgewandt – eben restaurativ –, aber dadurch konnte revolutionären Entwicklungen wenigstens eine Zeitlang der Boden entzogen werden. Das neue Gleichgewicht der Kräfte – die Pentarchie – war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Krimkrieg 1853 alte Gräben wieder aufriss, in der Lage, den Frieden zu bewahren.7 Unruhe ging in den folgenden Jahren allerdings von den nationalen Bewegungen aus. Sie waren in Wien ignoriert worden und anschließend staatlichen Repressionen ausgesetzt. Ihre Sprengkraft erhöhte sich nach und nach.
1 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 3.
2 Die Schlussakte von Wien findet sich bei »Staatsverträge«: http://www.staatsvertraege.de/Frieden1814-15/wka1815-i.htm (zuletzt abgerufen am 30.01.2022).
3 Seignobos, Charles: Politische Geschichte des modernen Europa. Leipzig 1910, S. 532.
4 Der Vertrag ist im »documentarchiv« zu finden: http://www.documentarchiv.de/ (zuletzt abgerufen am 30.01.2022).
5 Gruner, Wolf: Die deutsche Frage in Europa. 1800 bis 1990.München 1993, S. 108 ff.
6 Eine solche Folgekonferenz fand 1818 in Aachen statt: Duchhardt, Heinz: Der Aachener Kongress 1818. Ein europäisches Gipfeltreffen im Vormärz. München 2018.
7 Geiss, Imanuel: Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815–1914. München 1990, S. 72 f.
Viele Studenten, die gegen die Truppen Napoleons gekämpft hatten, taten dies in der Hoffnung auf einen deutschen Einheitsstaat nach dem Krieg. 1814/15 aber kehrten sie nach den Ergebnissen des Wiener Kongresses enttäuscht in die Hörsäle zurück. Aus einem deutschen Einheitsstaat sollte nach dem Willen der europäischen Großmächte nichts werden. In Gegenteil: Mit einer »Heiligen Allianz« sorgten sie dafür, dass sich in der Mitte Europas kein einheitliches Deutsches Reich und damit eine weitere Großmacht etablieren konnte. Dennoch wollten die Studenten ein Zeichen für die Einheit Deutschlands setzen und organisierten im Juni 1815 in Jena den Zusammenschluss der bis dahin landsmannschaftlich organisierten Studenten zu einer »Burschenschaft«. Ihr Wahlspruch war dem Dreiklang der Französischen Revolution nachempfunden: »Ehre, Freiheit, Vaterland«. Sie wählten mit der schwarz-rot-goldenen Trikolore die Farbkombination der Uniform des Freikorps Lützow zu den Farben der Jenaer Burschenschaft und riefen damit die erste »politische Jugendbewegung der europäischen Geschichte«1 ins Leben.
Die Verfassungsurkunde der Jenaer Burschenschaft vom 12. Juni 1815 hält den Charakter und den Zweck der Vereinigung fest. Für »ein gemeinsames Vaterland« heißt es dort, gehe es darum, die »vorherige Ehre und Herrlichkeit unseres Volkes wieder fest zu gründen und es für immer gegen die schrecklichste aller Gefahren, gegen fremde Unterjochung und Despotenzwang zu schützen«.2 Die in der Burschenschaft vereinten Studenten, die im damaligen Sprachgebrauch »Burschen« genannt wurden, forderten also die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei zugunsten eines vereinten Deutschlands. Unterstützt von »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn, den Dichtern Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und dem Philosophen Jakob Friedrich Fries forderten sie ihre Kommilitonen in Jena und anderswo auf, sich der Burschenschaft anzuschließen.
Student in altdeutscher Tracht, zeitgenössische Karikatur
Ihre äußerlichen Symbole waren lange Haare, Backenbart und eine besondere Kleidung – die altdeutsche Tracht. Sie war bereits während der Befreiungskriege 1813 bis 1815 aufgekommen und galt als Gegenmodell zu den »französischen Modetorheiten«: langer geschlossener Rock mit weit geöffnetem Hemdkragen, weit geschnittene Hosen und ein samtenes Barett. Die Burschenschaft breitete sich rasch auch in anderen deutschen Ländern aus, was am 18. Oktober 1818 zur Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaften durch Vertreter von vierzehn deutschen Universitäten führte.
In dieser innenpolitischen Situation sorgte der Ausbruch eines Vulkans auf der indonesischen Insel Tambora im April 18153 in den kommenden beiden Jahren in weiten Teilen Nordamerikas und Europas für Missernten, Hungersnöte und Wirtschaftskrisen. Zudem hatten die lange Kriegszeit, massive ökonomische Probleme und die restaurative Politik in den deutschen Ländern dafür gesorgt, dass viele Menschen sich zurückzogen und ihr Glück im privaten Umfeld von Familie und Freunden suchten. Nationale Debatten blieben in dieser Biedermeierzeit neben den akademischen Zirkeln einer kleinen Schicht des Bildungsbürgertums vorbehalten, deren Wortführer oft Universitätsprofessoren waren. Folgerichtig sprang der nationale Funke auch auf die studentischen Burschenschaften über. Sie deklarierten die Befreiungskriege gegen Napoleon, die sie teilweise als Soldaten selbst erlebt hatten, zum nationalen Kampf um Unabhängigkeit und schwärmten pathetisch vom Heldenmut der deutschen Soldaten. Damit waren sie zur Zielscheibe staatlicher Unterdrückungsmaßnahmen und -behörden geworden, die in nationalem Pathos die Keimzelle einer deutschen Revolution erkannten. Das wollten die Staatsorgane unter allen Umständen verhindern und bekamen auch bald einen Anlass geliefert, die Repressionen gegen die Burschenschaften zu verstärken. Nach dem Attentat des Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 auf den Dichter August von Kotzebue richtete sich die staatliche Repression gegen die Studenten und ihre Professoren insgesamt. Bald darauf folgte ein zweites, aber missglücktes Attentat auf den nassauischen Regierungsdirektor Karl von Ibell. Ergebnis dieser beiden Taten war die »massivste Verfolgung politischer Überzeugungen«,4 die es je gegeben hatte.
Auf Einladung des österreichischen Außenministers von Metternich berieten im Sommer 1819 bei einer Konferenz im böhmischen Karlsbad die Vertreter der Länder des Deutschen Bundes über geeignete Abwehrmaßnahmen gegen die nationalen Strömungen. Die Ergebnisse der Karlsbader Beschlüsse waren andauernde Unterdrückung der Meinungsfreiheit, eine allgegenwärtige Präsenz von Polizei und Staat und eine für jeden sichtbare Verfolgung von sogenannten Demagogen. Damit waren jene Intellektuelle gemeint, die an Universitäten oder in Turnvereinen mit den Studenten in Verbindung standen und per se als Hort nationaler Unruhe galten. Im Zuge der nun einsetzenden Demagogenverfolgung wurden nicht nur die Burschenschaften, sondern auch Professoren verfolgt, verhaftet oder amtsenthoben. Ernst Moritz Arndt, Turnvater Jahn und viele andere lernten preußische Gefängnisse von innen kennen oder mussten das Land verlassen. Bei den Studenten zeigten die Verfolgungsmaßnahmen Wirkung. 1822 löste sich die Allgemeine Deutsche Burschenschaft auf, die anhaltenden Verfolgungen hatten die Studenten zermürbt. Als fünf Jahre später in Bamberg eine Neugründung erfolgte, wurde der als Mensur bekannte, streng reglementierte Fechtkampf der studentischen Corps übernommen. In dieser Zeit begann die Phase von Abspaltungen, Neugründungen oder Fusionen innerhalb der Burschenschaften.
Die Burschenschaften waren Teil der deutschen Nationalbewegung, obwohl sie sich in der Öffentlichkeit nicht selten als Brutstätte eines grotesk anmutenden nationalen Hochmuts entpuppten, dem die Verachtung alles Fremden ebenso eigen war wie Antisemitismus. Zwischen den einzelnen Burschenschaften und den jeweiligen Universitätsstandorten gab es öfters politische Differenzen, aber die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates war das gemeinsame Ziel. Für Heinrich von Gagern, den späteren Präsidenten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, war »das leitende Prinzip« der Burschenschaften die Einheit der Deutschen in einem gemeinsamen Staat. Diesem Ziel fühle er sich verpflichtet, ließ er in einem Brief an seine Eltern wissen. Er beschrieb damit die eine Seite der Burschenschaften, die die in akademischen Zirkeln und im universitären Umfeld geführten nationalen Debatten in die Öffentlichkeit transportierten. Einerseits druckten Studenten unentwegt Pamphlete mit nationalem Pathos und teilweise aufrührerischen Thesen, für die sich mehr und mehr staatliche Behörden interessierten. Andererseits trugen rohe Sitten, abartige Alkoholexzesse, wenig geistvolle Rauf- und Duellrituale zum schlechten Ansehen der »Burschen« in der Bevölkerung bei. Dennoch waren am 18. Mai 1848 bei der ersten Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung unter den 809 Abgeordneten mehr als 170 ehemalige Burschenschaftler.
1 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution. 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 125.
2 Die Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaften findet sich im Bestand der Bayrischen Staatsbibliothek: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10735433/bsb:BV001698333?page=7
3 Zu diesem Naturereignis mit weltweiten Folgen: Behringer, Wolfgang: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015.
4 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: a. a. O., S. 149.
Es war ein symbolisches Datum, an dem sich mehrere hundert Studenten und einige Professoren am 18. und 19. Oktober 1817 auf der Wartburg bei Eisenach im Großherzogtum Weimar trafen. 1517 war der Wittenberger Mönch Martin Luther hier mit 95 Reformationsthesen an die Öffentlichkeit getreten, was ihm vier Jahre später eine Reichsacht auf dem Reichstag in Worms einbrachte. Der nunmehr vogelfreie Luther landete nach einer Scheinentführung durch Ritter des sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise auf der Wartburg, wo er das Neue Testament ins Deutsche übersetzte. Und zwischen dem 16. und 19. Oktober 1813 kämpfte eine europäische Allianz erfolgreich gegen die Truppen Napoleons und beendete so die französische Herrschaft über die deutschen Länder.
300 Jahre nach der mutigen Tat des Wittenberger Reformators und vier Jahre nach der Befreiung von Napoleon sollte nun von der Wartburg ein nationaler Weckruf ausgehen. Organisiert wurde das Wartburgfest von den Burschenschaften in Jena und Halle. Sie hatten enge Verflechtungen zur Turnerschaft des Friedrich Ludwig Jahn, der seit Jahren Studenten über Bock und Seil springen ließ, um sie für die nationale Sache zu ertüchtigen. Das passte zu den Zielen der Burschenschaften, die sämtliche Studenten vereinen wollten, um so die Keimzelle für die Überwindung des deutschen Partikularismus zu legen.
Das Fest selbst verlief in ruhigen Bahnen. Es wurden patriotische Reden gehalten, wie jene des Theologiestudenten Heinrich Riemann, der klagte, dass das deutsche Volk, zwar »schöne Hoffnungen gefasst« habe, »sie aber alle vereitelt«1 worden seien. Aber die Anwesenden verfassten auch ein Manifest, das später als »das erste deutsche Parteiprogramm« bezeichnet wurde. Darin forderten sie das Ende der »politischen Zerrissenheit Deutschlands«, eine konstitutionelle Monarchie, die »Gleichheit vor dem Gesetz« für alle Deutschen, die Abschaffung von Adelsprivilegien, der Leibeigenschaft, eines stehenden Heeres in Friedenszeiten und die Geltung der Presse- und Redefreiheit. An sich selbst richteten sie die Anforderung, »Kastengeist und Despotendienst abzuschwören: Von dem Lande oder Ländchen, in welchem wir geboren sind, wollen wir niemals das Wort Vaterland gebrauchen. Deutschland ist unser Vaterland; das Land, wo wir geboren sind, ist unsere Heimat.«2 In Wien und Berlin wurden derartige Äußerungen als Kampfansage gegen den Deutschen Bund und die beim Wiener Kongress mühsam ausgehandelte europäische Nachkriegsordnung verstanden. Dabei stand der eigentliche Eklat noch aus.
Denn am Abend war genug Bier geflossen, dass sich die Studenten trauten, ein Fanal zu setzen. Unter Anleitung von Turnvater Jahn verbrannten sie neben ein paar Dutzend »reaktionären oder antinationalen« Büchern auch die Abschrift der Schlussakte des Wiener Kongresses. Anschließend flogen als Symbole des militaristischen Obrigkeitsstaates eine preußische Uniform, ein Soldatenzopf und ein Korporalsstock in die Flammen. Wie Martin Luther, der 1520 das Kirchenrechtsbuch und die päpstliche Bannbulle »dem Feuer übergeben« hatte, erregten die Studenten mit dieser Aktion öffentliche Aufmerksamkeit. Zu den Büchern, die als »Schandschriften des Vaterlands« verbrannt wurden, gehörte mit dem Code Napoléon auch das damals fortschrittlichste Gesetzeswerk, das über das gesamte 19. Jahrhundert die europäische Rechtsprechung beeinflusste. An diesem Eklat gab es wenig zu beschönigen, denn es war ein wirres Spektakel, das Germanenkult und Frankophobie ebenso einschloss wie antikonservativen Zorn und Judenhass. Das Verbrennen von Büchern war Ausdruck eines »konfusen Idealismus«3 und eines »politischen Analphabetentums«4, das vermutlich nach Ermunterungen von Turnvater Jahn durchbrach.
Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest
Die Studenten, die mit langen Haaren und Backenbärten auch äußerlich Aufmerksamkeit erregten, zogen sich mit dieser Aktion den Zorn sämtlicher Fürstenhäuser und der Regierungen in Paris, Wien oder Berlin zu. Der französische Außenminister Armand du Plessis fragte, ob dies der Beginn einer deutschen Revolution gewesen sei. Friedrich von Gentz, der Berater des österreichischen Außenministers, sprach von einer »gefährlichen Begeisterung für das Vaterland«. Die Ereignisse auf der Wartburg trafen ins Mark der österreichischen Politik, denn bei Außenminister Klemens von Metternich liefen die Fäden der restaurativen Ordnung Europas zusammen. Nationalistische Bestrebungen in Deutschland waren ein Fundamentalangriff auf diese Ordnung und erschütterten das Habsburgerreich zutiefst. Metternich schürte fortan die Angst vor einem revolutionären Umsturz in Europa, der im März 1819 nach dem Attentat auf den Dichter August von Kotzebue unmittelbar bevorzustehen schien.
In Berlin witterte der preußische König Friedrich Wilhelm III. den Geist der Französischen Revolution, weswegen er den Direktor des Berliner Polizeiministeriums Karl Albert von Kamptz anwies, beim Großherzog Karl August von Sachsen gegen den »Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten«5 zu protestieren und die Schließung der Universität Jena zu fordern. Dieses »Asyl für Staatsverbrecher« gehöre ebenso zugesperrt wie die studentischen Verbindungen zu schließen seien. Kritik übte 1840 auch Heinrich Heine. Im »Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren!«, schrieb er und fügte an, dass auf der Wartburg »jener beschränkte Teutomanismus« geherrscht habe, der nichts »Besseres zu erfinden wusste als Bücher zu verbrennen!«6
So berechtigt die Kritik an Bücherverbrennungen war, so deutlich war auch der Ruf nach einem deutschen Einheitsstaat zu vernehmen, der von der Wartburg ausging und im ganzen Land Widerhall fand. Dieser Einheitsstaat sollte an Recht und Verfassung gebunden sein, wesentliche Grund- und Freiheitsrechte garantieren und durch die Farben Schwarz, Rot und Gold gekennzeichnet sein. Diese Forderungen fanden sich 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung wieder, genau wie die Farben des Freikorps Lützow aus dem Krieg gegen Napoleon in Frankfurt zu den Farben der Staatsflagge erkoren wurden. Als 1949 die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurden, war die Wahl der Nationalfarben – mit unterschiedlichen politischen Ambitionen – eine bewusste Anlehnung der neuen deutschen Staaten an ihre demokratischen Vorläufer der deutschen Revolution von 1848. Insofern ist das Wartburgfest über die Nationalfarben mit der deutschen Gegenwart verbunden.
1 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 124 f.
2 Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1, Stuttgart 1990, S. 722.
3 Palmer, Alan: Metternich. Der Staatsmann Europas. Düsseldorf 1977, S. 227.
4 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 335.
5 So der Buchtitel von Fesser, Gerd: … ein Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten. Das Wartburgfest der deutschen Studentenschaft 1817. Lüneburg 2017.
6 Das Zitat stammt aus einer Denkschrift Heines von 1840: http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Essays+III%3A+Aufs%C3%A4tze+und+Streitschriften/Ludwig+B%C3%B6rne.+Eine+Denkschrift/Viertes+Buch (zuletzt abgerufen am 04.02.2022).
Die Jahre nach dem Befreiungskrieg gegen Napoleon waren in Deutschland von einer schweren Hungersnot und Wirtschaftskrisen gekennzeichnet. 1815 war im fernen Indonesien auf der Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausgebrochen und hatte tonnenweise Staub, Asche und Schwefelverbindungen in die Stratosphäre geschleudert, wo sie verharrten und wie ein Schleier vor der Sonne als Schatten auf der Erde ankamen. Die Folgen waren verheerende Missernten in Europa und Nordamerika in den beiden darauffolgenden Jahren. Diese existenziellen Krisen kamen in einer Zeit, in der die Repressionen gegen Andersdenkende und die Verfolgungen sogenannter Demagogen zunahmen. Über das Land legte sich eine nahezu unheimliche Stille. Mitglieder der studentischen Burschenschaften, Angehörige von verdächtigen Turnvereinen und Universitäten wurden verfolgt, verhaftet oder amtsenthoben. Prominente Professoren und Intellektuelle wurden eingesperrt oder verließen das Land.
Die Maßnahmen basierten auf den Karlsbader Beschlüssen, die auf Betreiben des österreichischen Außenministers Klemens von Metternich von den meisten Staaten des Deutschen Bundes getroffen worden waren. Karl Ludwig Sand hatte im Oktober 1817 am Wartburgfest teilgenommen und war von der nationalen Euphorie, die auf diesem Fest herrschte, ebenso fasziniert wie von den revolutionären und patriotischen Losungen, die auf der Wartburg erhoben wurden. Knapp anderthalb Jahre später hatte er sich so weit radikalisiert, dass er den Worten Taten folgen lassen wollte. Am Vormittag des 23. März 1819 besuchte er den Dichter August von Kotzebue in dessen Mannheimer Wohnung, stellte sich als Herr Heinrichs vor, zog einen Dolch aus seinem Mantel und fügte von Kotzebue mehrere tödliche Stichverletzungen zu. Karl Ludwig Sand stach anschließend auf sich selbst ein, überlebte aber.
Die Ermordung August von Kotzebues durch Ludwig Sand
Sogleich begann eine Debatte über die Hintergründe des Attentats, die der Schriftsteller Karl-August Varnhagen von Ense am selben Tag in einem Schreiben an die badische Gesandtschaft in Wien skizziert. Man habe einen Aufruf bei dem Attentäter gefunden, in dem er »das erniedrigte deutsche Volk zur mutigen Erhebung, zur Ermordung aller Schlechtgesinnten« auffordert. Ein anderes Papier habe ein »Todesurteil nach Beschluss der Universität« enthalten, was auf eine »Gemeinschaft und Verbrüderung«1 schließen lasse.
Das war der Startschuss für den österreichischen Außenminister, der am 6. August 1819 nicht nur seinen preußischen Amtskollegen, sondern auch die Bevollmächtigten zehn weiterer Staaten des Deutschen Bundes zu einer Geheimkonferenz ins böhmische Karlsbad einlud. Es folgten 23 intensive Arbeitstage, an deren Ende die Karlsbader Beschlüsse2 zu Papier gebracht waren. Mit diesen Beschlüssen wurde die gesamte staatliche Macht gegen die nationalen und liberalen Bestrebungen in Deutschland gerichtet. Als Keimzelle der Unruhen hatte man die Burschenschaften ausgemacht, sie wurden verboten, jede burschenschaftliche Betätigung stand nun unter Strafe. Neben den Studenten waren es vor allem die Professoren, die jetzt einen »Landesbevollmächtigten« zur Kontrolle des Universitätsbetriebs vor die Nase gesetzt bekamen. So hatten staatliche Behörden immer Einblicke in die universitären Abläufe und konnten jederzeit unliebsame Entwicklungen stoppen. Zudem konnten sie Professoren, Journalisten, nationale und liberale Schriftsteller sowie aufmüpfige Studentenführer ohne Umschweife hinter Gitter bringen.
Das vermutlich schärfste Schwert der Restauration war die Zensur. Damit konnten sämtliche Druckerzeugnisse der nationalen Opposition konfisziert werden. In Mainz wurde eine zentrale Untersuchungskommission eingerichtet, die das universitäre Leben außerhalb der Hörsäle nahezu vollständig lahmlegte. Die Zensur und die permanente Überwachung schwächten so das wichtigste Mittel der Opposition, denn durch diese »Kommunikationsunterbrechung« konnte jede liberale Meinung gegen das Bestehende zum Schweigen und durch die Kriminalisierung des Handelns jeder Zusammenhalt liberaler und nationaler Kreise zerstört werden.3 Die Verfolgung von Oppositionellen erfolgte in Wellen, von denen die erste 1822 den Philosophen Friedrich Schleiermacher und den Dichter Ernst Moritz Arndt mit langwierigen Dienststrafverfahren traf. Arndt und Friedrich Ludwig Jahn, der Begründer der deutschen Turnbewegung, mussten sogar mehrjährige Haftstrafen antreten.4 Diese »Demagogenverfolgungen« endeten erst mit dem Beginn der deutschen Revolution 1848.
Bis dahin aber war die berufliche Zukunft vieler Studenten und Hochschullehrer zerstört. Als zu Beginn der 1830er Jahre sich in vielen Staaten des Deutschen Bundes sogenannte Polenvereine bildeten, um ihre Unterstützung des nationalen Befreiungskampfs der benachbarten Polen gegen die russische Herrschaft zu signalisieren, löste das die zweite Welle der Demagogenverfolgung aus. Besonders hart griffen Preußen und das Großherzogtum Hessen durch, die 39 Todesurteile gegen Studenten aussprachen, sie jedoch alle in lebenslange Haftstrafen umwandelten. Aber es gab auch Beispiele dafür, dass trotz der massiven Bedrohung von Leib und Leben Widerstand gegen die Staatsgewalt möglich und erfolgreich war. 1837 bestieg im Königreich Hannover, das zu Großbritannien gehörte, Ernst August, der Duke of Cumberland, den Thron. Ernst August war nicht nur antiliberal, sondern auch höchst unpopulär. Seine erste Amtshandlung war die Aufhebung der liberalen Verfassung. Dagegen protestierten sieben Göttinger Professoren, da sie mit ihrem Amtseid dazu verpflichtet seien, zur Verteidigung der Verfassung der Staatsgewalt entgegenzutreten.
Die Reaktion des wütenden Königs war eindeutig, die Professoren wurden entlassen. Drei von ihnen mussten sogar binnen dreier Tage das Land verlassen. Kein Ereignis während des Vormärz hat die Herausbildung einer liberalen öffentlichen Meinung so befördert wie der staatsstreichartige Eingriff in die Verfassung Hannovers durch Ernst August. Als dann auch noch die übrigen Staaten im Bundestag des Deutschen Bundes auf eine Intervention verzichteten, solidarisierten sich viele Liberale im Land. Es gab spontane Kundgebungen, auf denen für das Honorar der suspendierten Professoren gesammelt wurde.5 Das Handeln der Göttinger Sieben hat nicht nur für landesweites Aufsehen gesorgt, sondern auch der liberalen und nationalen Bewegung in Deutschland einen enormen Schub gegeben.
1 Pollmann, Bernhard: Lesebuch zur Deutschen Geschichte. Texte und Dokumente aus zwei Jahrtausenden. Dortmund 1989, S. 579 f.
2 Der vollständige Text der Karlsbader Beschlüsse findet sich unter: http://www.verfassungen.de/de06-66/karlsbad19.htm