Die Genese Europas - Matthias von Hellfeld - E-Book

Die Genese Europas E-Book

Matthias von Hellfeld

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Beschreibung

"Die Genese Europas" ist meine über drei Trimester gehaltene Vorlesung am Kölner "Campus für lebenslanges Lernen", die im September 2013 begonnen hat. Dabei werden jene Traditionen freigelegt, die für das Verständnis des modernen Europas des 21. Jahrhunderts notwendig sind und die der Politik von heute zu Grunde liegen. Von den ersten "demokratischen" Schritten im antiken Griechenland bis in unsere Tage sind 2600 Jahre vergangen - Jahrhunderte, in denen in Europa viel Blut vergossen worden ist für Ideen, nach heute das geeinte Europa ausgerichtet wird: Parlamentarismus, Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder den allgemeinen Menschenrechten. Europa ist ein Kontinent, der sich definieren muss, wenn er der wirtschaftlichen eine politische Einheit folgen lassen will. Da es weder eine gemeinsame Sprache noch einen gemeinsamen Staat in der Vergangenheit gegeben hat, bleiben als Definitionskriterien nur die gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Diese Wurzeln sind es, die alle europäischen Staaten gleichermaßen beeinflusst und inspiriert haben. Sie sind über viele Jahrhunderte durch Kriege und gegenseitiges Misstrauen möglicherweise verschüttet gewesen. Aber verloren sind sie nicht. Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten von Amerika schafft Europa eine politische Einheit – wenn überhaupt – erst nach dem Prozess des "nation building". Als sich die Amerikaner zwischen der Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 und der Verfassung 1787 zu den "Vereinigten Staaten von Amerika" zusammenschlossen, hatten die einzelnen Mitglieder dieser Konföderation den Prozess des "nation building" noch vor sich – und zwar gemeinsam. In Europa ist das genau umgekehrt und deshalb ungleich schwieriger, ohne dabei die zahlreichen Probleme zu ignorieren, die bei der Gründung der USA zu bewältigen waren. Um es bildlich zu machen: Der Unterschied zwischen den USA und Europa kann man an vielen Städten beider Kontinente sehen.

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Matthias von Hellfeld

 

 

 

Die Genese Europas

 

Der europäische Kontinent

vom antiken Griechenland

bis heute

 

 

 

Teil 1

 

Von der griechischen Antike (600 v. Chr.)

bis zum Ende des Frankenreichs (900 n.Chr.) 

Inhalt

1.) Vorwort

2.) Europa - Thesen

3.) Deutschland – Thesen

4.) Die griechische Antike

Die PolisgesellschaftSpartaGriechische MythologieSolon: Reform in AthenKleisthenesThemistoklesPeriklesEuropas antike WurzelnGrenzen der PolisdemokratieGriechenland im dauerhaften Kriegszustand„Europa“ in der griechischen AntikePeloponnesischer KriegAlle Macht den Philosophen!Philosophen-TriasAlexander „der Große“

5.) Die Römische Antike

Die Römische RepublikÄmter im antiken RomDie Mutter aller VerfassungenDie MagistratsverfassungVon der Republik zum ReichImperium RomanumHannibal Barkas und die Punischen KriegeEuropäische SupermachtProletarier Roms vereinigt Euch!BürgerkriegAufstand der BundesgenossenSullaCaesarSpartacusBello GallicoKaisertumWeltmacht RomKaiserzeitJesus von NazarethDie Geburt eines VorurteilsReligiöse VerfolgungenAugustusDie VarusschlachtVon Tiberius bis Marc Aurel„Constitutio Antoniniana“Beginn der SpätantikeDas Konzil von NicäaChristentum wird StaatsreligionEuropa und das Imperium Romanum

6.) Germanen und Völkerwanderung

Römer, Gallier und GermanenGallien und GermanienGötterdämmerung in RomDas Wandern der VölkerDie GotenAlarichDie Plünderung RomsAttilaOdoaker und das Ende des Weströmischen ReichsDie MerowingerDas „christliche Abendland“SlawenJustinian I. und die „Restauratio Imperii“„Codex Iustinianus“Langobarden-HerrschaftMohammed

7.) Das Frankenreich

HausmeierDie Schlacht bei Tours und PoitiersBilderstreit zwischen Rom und KonstantinopelPippinische SchenkungDie Franken und der PapstGeburt eines SuperstarsKaiserkrönungDie Organisation des FrankenreichsDas fränkische RegierungssystemDas LehnswesenKarolingische Renaissance„Translatio Imperii“Die Mitte EuropasKarls Erben und der Streit um die NachfolgeKarolingischer FamilienstreitStraßburger EideDie letzten Karolinger

8.) Verwendete und empfohlene Literatur

1.) Vorwort

Der vorliegende Text ist die Grundlage meiner über drei Trimester gehaltenen Vorlesung am Kölner „Campus für lebenslanges Lernen“, die im September 2013 begonnen hat. Ziel der Vorlesung ist ein Verständnis für das moderne Europa des 21. Jahrhunderts zu vermitteln und gleichzeitig Traditionen frei zu legen, die der Politik von heute zu Grunde liegen. Von den ersten „demokratischen“ Schritten im antiken Griechenland bis in unsere Tage sind 2600 Jahre vergangen. Es waren Jahrhunderte, in denen in Europa viel Blut vergossen worden ist für Ideen, nach denen wir heute das geeinte Europa ausrichten. Vieles von dem, was mühsam errungen worden ist, erscheint uns heute alltäglich: Ohne Parlamentarismus, Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder den allgemeinen Menschenrechten ist ein Leben in Europa nicht mehr vorstellbar.

Europa ist ein Kontinent, der sich definieren muss, wenn er der wirtschaftlichen eine politische Einheit folgen lassen will. Da es weder eine gemeinsame Sprache noch einen gemeinsamen Staat in der Vergangenheit gegeben hat, bleiben als Definitionskriterien nur die gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Diese Wurzeln sind es, die alle europäischen Staaten gleichermaßen beeinflusst und inspiriert haben. Sie sind über viele Jahrhunderte durch Kriege und gegenseitiges Misstrauen möglicherweise verschüttet gewesen. Aber verloren sind sie nicht.

Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten von Amerika schafft Europa eine politische Einheit – wenn überhaupt – erst nach dem Prozess des „nation building“. Als sich die Amerikaner zwischen der Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 und der Verfassung 1787 zu den „Vereinigten Staaten von Amerika“ zusammenschlossen, hatten die einzelnen Mitglieder dieser Konföderation den Prozess des „nation building“ noch vor sich – und zwar gemeinsam. In Europa ist das genau umgekehrt und deshalb ungleich schwieriger, ohne dabei die zahlreichen Probleme zu ignorieren, die bei der Gründung der USA zu bewältigen waren. Um es bildlich zu machen: Der Unterschied zwischen den USA und Europa kann man an vielen Städten beider Kontinente sehen. Während amerikanische Städte oftmals sehr gleich aussehen, findet man in Europa höchst unterschiedlich aussehende Städte, in denen eine andere Sprache gesprochen, etwas anderes gegessen und eine andere Lebensart bevorzugt wird.

Die Stärke und der Charme Europas ist seine Vielfalt, die in der gemeinsamen Geschichte und den vielen Ideen, die diesen Kontinent geprägt haben, ihren Ursprung hat. Sie freizulegen, ist Absicht der Vorlesung, der einige Thesen vorangestellt werden.

Köln, im Winter 2013

Matthias von Hellfeld

2.) Europa - Thesen

Europa ist identisch

Alle Werte und Normvorstellungen, an denen sich die europäischen Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts orientieren, sind in Europa entstanden, besser gesagt erkämpft worden: Der Parlamentarismus geht zurück auf die Staatsformenlehre des griechischen Philosophen Aristoteles, wurde in der mittelalterlichen Ständeversammlung ausprobiert und festgeschrieben beispielsweise in der englischen „Bill of Rights“ des Jahres 1689. Die Rechtsprechung kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die vom oströmischen Kaiser Justinian I. im 5. Jahrhundert bis heute reicht. Der „Codex Iustinianus“ ist vermutlich die wichtigste Gesetzessammlung der Spätantike, sie hat die moderne europäische Rechtsprechung vorgezeichnet. Die „Habeas-Corpus“-Akte von 1679 begründet das moderne Haftprüfungsverfahren und die „Petition of Rights“ ist seit 1628 die Grundlage des bürgerlichen Rechts in England. Die Menschenrechte gehen auf die Französische Revolution zurück, obwohl sie einige Jahre vorher schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergeschrieben wurden. Die europäischen Völker haben sich nicht erst seit dem KSZE-Prozess am Ende des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Verantwortung für den Kontinent gestellt. Die erste „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ hat nach dem 30jährigen Krieg stattgefunden, die zweite nach der Vertreibung Napoleons auf dem Wiener Kongress 1815. In beiden Fällen mit unterschiedlichen Ambitionen der Großmächte, aber doch von der Erkenntnis geleitet, den europäischen Kontinent als Ganzes zu betrachten.

Europa ist kohärent

Beginnend bei der griechischen Philosophie sind die Völker Europas von einer gemeinsamen Kultur geprägt. Etwa 500 Jahre vor Christus erhoben griechische Denker den Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ zum Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Der Reformer Solon hat das 594 v. Chr. in Athen in eine erste „Verfassung“ integriert. Das öffentliche Infrage stellen als philosophisches Prinzip ist die Voraussetzung der Befreiung des Menschen von der Sklaverei gewesen und markiert gleichzeitig den Beginn einer säkularen Welt. Aus diesen Grundlagen folgen Renaissance, Humanismus oder Aufklärung. Selbst wenn diese Denkströmungen durch Kriege lange Zeit verschüttet oder nicht erkennbar waren, haben sie den europäischen Kontinent überzogen, die Völker berührt und ihre Kulturen beeinflusst.

Europa ist christlich

Dieser Kontinent ist spätestens seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert von der römischen Kirche geprägt worden. Der römische Kaiser Theodosius I. hat das Christentum faktisch zur Staatsreligion erhoben und damit seine Ausbreitung dem staatlichen Schutz unterstellt. Die frühen Christen haben eifrig von diesem Schutz Gebrauch gemacht und teilweise mit der Waffe in der Hand „das christliche Abendland“ geschaffen. Gleichzeitig haben sie über viele Jahrhunderte an den Grenzen Europas, die nur im Südosten schwer zu definieren sind, eine Demarkationslinie zu anderen Religionen, insbesondere dem Islam, gezogen. Das ist eine Bürde, mit der sich das moderne Europa jetzt herumschlagen muss. Die über viele Jahrhunderte starre, dogmatische Haltung der Päpste in Rom hat Antiströmungen provoziert. Die Aufklärung, der Protestantismus, aber auch die vielen mittelalterlichen Bettelorden sind ohne die von Dekadenz und Selbstüberschätzung gleichermaßen angefressene römische Kirche nicht zu verstehen. Das jüdisch verwurzelte Christentum und die Aufklärung sind die beiden Seiten einer europäischen Medaille.

Einer ist nicht stärker als die anderen zusammen

Europas Geschichte ist die Geschichte von Kriegen. Beinahe jede europäische Generation zwischen dem 6. vorchristlichen Jahrhundert und dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat den Krieg als eine Art Dauerzustand erleben müssen. Dabei ging es meistens um Landgewinne, Eroberung von Rohstoffen oder schlichten Racheaktionen. Der 30jährige Krieg war zwischen 1618 und 1648 insofern eine Ausnahme, als er zumindest am Anfang ein Krieg um die Religionsfreiheit war. Nicht selten haben die europäischen Großmächte versucht, die alleinige Macht in Europa zu erlangen. Das ist in jeden Fall gescheitert. Die Ostfranken und ihr „Heiliges Römisches Reich“, die Universalmonarchie eines Karl V., Napoleon, Wilhelm II. oder Hitler haben versucht, eine europäische Hegemonie aufzubauen, die es während des Imperium Romanum zumindest über einen Teil des Kontinents gegeben hat. Sie sind am Widerstand der anderen europäischen Völker – und im Zweiten Weltkrieg der USA – gescheitert: Einer ist nicht stärker als die anderen zusammen!

Ideen verändern, Kriege nicht

Europa hat eine lange Kriegsgeschichte hinter sich und doch ähneln sich die Landkarten der letzten 1200 Jahre sehr. Mitunter sind Grenzen verschoben und Millionen Menschen getötet oder vertrieben worden. Aber Franzosen, Deutsche, Spanier, Italiener, Kroaten oder Russen – um nur einige zu nennen – leben an nahezu der gleichen Stelle der europäischen Topographie wie ihre Vorfahren. Während also Kriege nur kurzfristig Zerstörung und Tod gebracht haben, ist Europa durch Ideen nachhaltig verändert worden: Christentum, Aufklärung, Perestroika. Deren Spuren prägen das Leben der Menschen in Europa auch viele Hundert Jahre nach ihrer Entstehung. Ideen verändern nachhaltig.

3.) Deutschland – Thesen

Deutschland ist ein Durchreise- und Einwanderungsland

Die geostrategische Lage gibt – etwas pathetisch formuliert – das Schicksal der Deutschen vor. Sie wohnen in der Mitte eines Kontinents, dessen Bewohner seit Jahrtausenden mobil sind. Händler und Handwerker, Kriegsheere und Elendsflüchtlinge, Heimatvertriebene und Menschen, die ihr Glück gesucht haben, sind durch dieses Land gereist. Manche sind geblieben, haben Familien gegründet, manche haben das Land wieder verlassen. Die germanischen Vorfahren der Deutschen, die vor und während der Völkerwanderung hier hergekommen sind, haben sich auf ihrer langen Reise ethnisch verändert. Sie sind in einer anderen Zusammensetzung angekommen als sie losgegangen sind. Die Deutschen sind immer schon ein Volk gewesen, das wegen seiner Lage in der Mitte Europas „gemischt“ gewesen ist. Die Idee des „reinrassigen Deutschen“ oder der „germanischen Rasse“ ist Blödsinn.

Die „deutsche Frage“ ist Jahrhunderte alt

Deutschland liegt in der Mitte des Kontinents. Durch das Land führen fast alle wichtigen Handelswege. Für die europäischen Randstaaten, von denen einige eine lange Zeit Großmächte waren, ist es wichtig gewesen, wer in der Mitte geherrscht und die Regeln bestimmt hat. Wer das Zentrum des europäischen Kontinents passieren wollte, ist abhängig von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen in Europas Mitte gewesen. Es lag also durchaus im Interesse der europäischen Außenmächte, dass sich die Deutschen in der Mitte des Kontinents nicht auf einen gemeinsamen Staat einigen konnten. Stattdessen gab es bis zu 350 Einzelstaaten auf deutschem Boden. Es kam den Randmächten entgegen, dass der Prozess der Nationalstaatswerdung, der Europa am Ende des 18. Jahrhunderts erreicht, an Deutschland lange Zeit vorbeigegangen ist. Mehr noch: Im Westfälischen Frieden von 1648 wurden die deutschen Partikularstaaten zu Subjekten des Völkerrechts und konnten fortan Verträge mit andern Staaten abschließen. Die europäischen Mächte haben die deutschen Territorialfürsten also gegen die kaiserliche Zentralmacht gestützt. Die Deutsche Revolution von 1848 ist an der „deutschen Frage“ gescheitert, weil man sich nicht einigen konnte, wer eigentlich zu Deutschland gehört und wer nicht. Die beiden Versuche des 20. Jahrhunderts die „deutsche Frage“ mit Gewalt zu lösen, gehören ebenfalls in diese Reihe. Im Übrigen ist auch diese Frage nicht mit kriegerischen Mitteln gelöst worden, sondern durch Diplomatie nach einer erfolgreichen und friedlichen Revolution in Ostdeutschland. Erst mit der deutschen Einheit und der europäischen Integration des vereinten Deutschlands ist die „deutsche Frage“ gelöst – ohne einen einzigen Schuss abzufeuern.

Die Teile dominieren das Ganze

Für die deutsche Geschichte ist die starke Position der Partikulargewalt kennzeichnend. Zwar haben deutsche Kaiser über große Teile Europas geherrscht, aber sie hatten kein eigenes Heer. Ohne die deutschen Fürsten ging nichts im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“. Aus dieser Gemengelage hat sich über die Jahrhunderte eine besondere Tradition des „Gebens und Nehmens“ entwickelt. Wenn der Zentralstaat etwas wollte, dann mussten die Territorialstaaten entweder der gleichen Meinung sein oder durch Zugeständnisse, Geldzahlungen, neue Privilegien oder sonstige Vergünstigungen „überzeugt“ werden. Daraus ist ein institutionalisiertes Mitspracherecht entstanden. Dieser Föderalismus ist historisch gewachsen und eine der Konstanten in der deutschen Geschichte. Die Ministerpräsidenten von heute sind die Nachfolger der Territorialfürsten des Mittelalters – und sie benehmen sich manchmal auch so.

Magna Charta 2

Fasst man die Thesen zusammen, dann ergeben sich Schlussfolgerungen, die bei einer politischen Einheit Europas berücksichtigt werden sollten. Der alleinige Verweis darauf, dass die EU einen Krieg in Europa verhindert, reicht bei Jüngeren nicht aus, um Europabegeisterung zu erzeugen. In einer zweiten „Magna Charta“, die nicht zurückgenommen werden kann, sollten die gemeinsamen Wurzeln benannt und für ein Europa der toleranten Religionen geworben werden. Das vermutlich höchste Gut neben den allgemeinen Menschenrechten ist die Trennung von Kirche und Staat. Das gilt auch für die Aufklärung, die aus Europa einen Kontinent gemacht hat, der auf das Wissen und nicht den Glauben setzt. Der für jüngere Europäer wahrscheinlich wichtigste Punkt ist die Garantie eines europäischen Sozialstaats, der Ausbildungsplätze und Hilfe in der Not ebenso festschreibt, wie er genügend Schulen und Kindergärten bereithält. Das besondere an der historischen Magna Charta des Jahres 1215 ist die Tatsache, dass sie als „sakrosankt“, also „unverletzlich“ betrachtet und deshalb auch nie in Frage gestellt wurde. Das muss auch für die Magna Charta 2 gelten.

4.) Die griechische Antike

Die Polisgesellschaft

Die antiken Siedlungsgemeinschaften der Griechen sind die Poleis, kleine Orte mit kaum mehr als 2.000 oder 3.000 Einwohnern gewesen. Sie leben – meist bescheiden - weitgehend von Ackerbau und Viehzucht. Von diesen kleineren agrarisch strukturierten Siedlungen hat es auf dem griechischen Festland etwa 700 gegeben. Die Bauern bringen nach harter Arbeit ihre Erzeugnisse in die nächstgrößere Stadt, wo sie auf guten Umsatz und ein ausreichendes Einkommen hoffen. Die größte Poleis ist Athen, sie die „Mutterstadt“ - die „Metropolis“ - und Namensvorbild für die Großstädte der Neuzeit. Dort leben im vierten vorchristlichen Jahrhundert etwas mehr als 30.000 Einwohner. In der gesamten Poliswelt sind es nicht mehr als 120.000. In der Zeit der Hochblüte Athens leben dort ca. 150.000 Menschen.

Die Bewohner der „Poleis“ stellen eine religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Lebensgemeinschaft dar. Das Leben wird von der männlichen Bevölkerung bestimmt, Frauen haben bei den Diskussionen über die öffentlichen Angelegenheiten keinerlei Mitspracherechte. Sie sind ans Haus gebunden und mit der Erziehung der Kinder beschäftigt. Mitunter werden sie Priesterin oder Wahrsagerin und bekommen damit eine besondere Bedeutung. Die Frau im antiken Griechenland steht unter der Vormundschaft des Mannes. Falls dieser in einer der zahlreichen militärischen Konflikte ums Leben kommen sollte, nehmen Brüder oder Vater des Verstorbenen den Vormundplatz ein.

Die Polisgesellschaft ist Ausdruck des Wunsches nach Selbstverwaltung und Selbstregierung. Sämtliche Regeln, Pflichten, Rechte oder Privilegien gelten nur für freie männliche Bürger. Aber auch bei den Männern gibt es Einschränkungen: Um in den vollen Genuss aller Rechte und Pflichten zu kommen, müssen sie von Einheimischen abstammen. Zeitweise müssen sie über ein gewisses Vermögen verfügen, um neben dem aktiven auch das passive Wahlrecht ausüben zu können. Die ersten „demokratischen“ Versuche in der griechischen Antike kann man also als eine selektive Form der Partizipation der männlichen Bevölkerung beschreiben.

Die Polisgesellschaft im 6. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert ist aber auch Ausdruck eines unbändigen Freiheitswillen der Menschen. Sie wollen die Unabhängigkeit durch eigene Gesetze und eigene Institutionen erreichen. Für sie zählt „Autonomia“ mehr als alles andere. Das gilt auch für die eigene Wehrhaftigkeit. In der Polisgesellschaft besteht allgemeine Wehrpflicht, die mit der Pflicht verbunden ist, sich selbst auszurüsten.

Die Bewohner werden oft in Bruderkriege geschickt, die Griechenland zu einem dauerhaften Kriegsschauplatz machen. Trefflich wird die Geschichte „des alten Hellas als die eines einzigen großen Verwandtenmordes“ bezeichnet. Diese Einschätzung geht zurück auf den Althistoriker Egon Friedell. Der Krieg aller gegen alle, zwischen Dorf und Dorf oder Tal und Tal ist der Normalzustand, der bald eine erhebliche Schwächung bedeutet, denn auf Dauer lässt sich eine solche Selbstzerfleischung nicht kompensieren. Vor der Wehrpflicht kann sich kein Mann in der griechischen Polisgesellschaft drücken, ebenso wenig wie vor dem Grundsatz, dass alle Bürger der Polis vor dem Gesetz gleich sind. Man könnte hierin eine frühe Form der Rechtsstaatlichkeit erblicken, wenn diese Gleichheit nicht nur für den männlichen Teil der Bevölkerung gegolten hätte. Unantastbar ist auch der Grundsatz, dass es Privateigentum an landwirtschaftlich nutzbarem Boden gibt. Damit soll – zumindest in der Theorie – die ökonomische Unabhängigkeit der einzelnen Bauern erreicht werden. Aber die Realität ist anders, denn oft müssen Bauern wegen Kriegseinsätzen ihre Felder brach liegen lassen oder können sie nur schlecht bewirtschaften. Das antike Griechenland kennt persönliche Insolvenzen, die oft mit Verarmung oder sogar Leibeigenschaft der einst freien Bauern endet. Aber so lange der Ertrag stimmt, können die Bauern über ihr Land verfügen, es beleihen oder vererben.

Während Griechenland sich in einem permanenten Kriegszustand befindet, verfassen die Dichter und Denker in den Metropolen der Antike jene kulturellen Wurzeln, die bis heute auf dem europäischen Kontinent ihre Wirkung zeigen. Sie gehören nach wie vor zum klassischen Bildungsgut Europas. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die meisten Menschen der griechischen Antike das Leben mühsam und der Ertrag ihrer Ernten kärglich gewesen ist. Viele Tausend Kleinbauern leben in Abhängigkeit vom Grundherrn, der ihr Land aufgekauft oder es im Zuge der Überschuldung der Bauern als Gegenwert bekommen hat. Die Bauern plagen sich Tag für Tag mit den Widrigkeiten der Landbestellung. Überliefert sind die Lebensverhältnisse des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts von Hesiod (ca. 710 – 660), der in dieser Zeit in Askra gelebt und seinen Lebensunterhalt mit der merkwürdigen Kombination aus Ackerbau und Schreiben verdient hat. Sein Werk überliefert die Lebens- und Denkweisen jener Zeit. Hesiod schildert das hoffnungslose, an Arbeit und Enttäuschungen reiche Leben der Bauern, die sich nur durch ihren unerschütterlichen Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit über die Widrigkeiten des irdischen Lebens hinwegtrösten können.

Aus seinem Werk lässt sich heute schließen, welche Vorstellung die Griechen von der ihnen bekannten Welt gehabt haben. In der Abhandlung „Theogonie“ beschreibt Hesiod vor allem den östlichen Mittelmeerraum und Kleinasien – also die Ägäis und den heute zur Türkei gehörende Teil Asiens, der im Norden vom Schwarzen Meer, im Nordwesten vom Bosporus, im Süden vom Mittelmeer und im Westen eben von der Ägäis begrenzt wird. Das westliche Mittelmeer ist ihm ebenso bekannt wie die Donau und die Alpen. Weiter nördlich reicht sein Wissen nicht. Aber immerhin: Die ersten Umrisse Europas sind durch ihn überliefert.

In den meisten Städten Griechenlands stellen adlige Familien die höchsten Beamten, den obersten Feldherrn sowie die Gerichts- und Finanzbeamten. In Athen sind sie im „Areopag“ versammelt, einem Adelsrat, der die oberste Staatsaufsicht stellt und für die Rechtsprechung zuständig ist. Die Angehörigen des Demos – also des Volkes – besitzen insofern ein Mitspracherecht, als sie zur Volksversammlung Zutritt haben und dort auch reden dürfen. Sklaven, Männer aus anderen Städten und Frauen kommen nicht in den Genuss dieser ersten Form der Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten - sie stehen außerhalb der politisch-rechtlichen Ordnung der attischen Gesellschaft.

Die politische Führung liegt in Athen in den Händen des griechischen Adels. Aber mitunter reißen Tyrannen die Macht an sich und verschlimmern damit das soziale Elend der Kleinbauern noch. Zwar erlangen sie vordergründig durch soziale Versprechungen das Vertrauen der Menschen, aber ihre Alleinherrschaft dient nicht dem Wohl des Volkes. Dennoch ist es vorgekommen, dass Tyrannen die Unzufriedenheit der Bürger und inneren Unruhen für sich haben nutzen können, um mit Hilfe von Söldnern ihre Gegner aus der Stadt zu verjagen.

Sparta

Athen und Sparta sind die klassischen Gegenentwürfe der griechischen Antike gewesen. Auf der einen (attischen) Seite sind die ersten Versuche eines auf Ausgleich bedachten sozialen Gemeinwesens (mit teilweise dramatischen Auswüchsen!) zu beobachten. Auf der anderen Seite steht eine Gesellschaftsordnung, die den militärischen Belangen unterstellt ist. Die Erziehung der Kinder wird den Eltern in Sparta weitgehend genommen, der Nachwuchs wird schon in jungen Jahren auf ein militärisches Dasein vorbereitet und mit sieben Jahren von den Eltern getrennt. Die sprichwörtliche „spartanische“ Erziehung muss ihrem Namen alle Ehre gemacht haben. Zeitgenössische Kritiker versteigen sich zu der Behauptung, die Gesetze Spartas seien mit Blut geschrieben worden. Aber auch diese Kritik kann nicht übersehen, dass es Sparta gelungen ist, trotz einer relativ geringen Einwohnerzahl eine Zeit lang zur bedeutendsten Militärmacht des Peloponnes zu werden.

Wichtigstes Merkmal in Sparta ist das Königtum, in dem der Herrscher weitgehende Vollmachten innehat. Eine spartanische Besonderheit ist das Doppelkönigtum, durch das eine gegenseitige Kontrolle sichergestellt werden soll. Auf dem Papier sind beide Könige gleichrangig, in der Praxis aber hat immer einer der beiden ein Übergewicht. Beide Amtsinhaber können die Macht des jeweils anderen nicht aufheben, sondern allenfalls Gegengewichte schaffen oder Ausgleichsmaßnahmen ergreifen. Heiratspolitik zum Zweck der Ämterhäufung oder der Interessenbündelung ist verboten, da das Doppelkönigtum und der Wunsch nach zwei Königshäusern in der Bevölkerung stark verankert sind.

Kontrolle üben die auf ein Jahr gewählten Ephoren aus. Sie sind so etwas wie oberste Staatsbeamte, die die Beschlüsse der Könige zu kontrollieren haben. Die Macht der Könige und ihre Position stellen sie jedoch nicht in Frage. Unstimmigkeiten zwischen diesen beiden „Verfassungsorganen“ werden durch gegenseitige, monatlich zu erneuernde Schwüre eingedämmt: Die Könige verpflichten sich, ihr Handeln in Einklang mit den Gesetzen zu bringen (!), die Ephoren schwören im Gegenzug die Königsherrschaft zu bewahren. Das bringt eine gewisse Stabilität in die gesellschaftliche Ordnung Spartas, die angesichts der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Peloponnes auch durchaus sinnvoll ist.

Die Ephoren haben umfangreiche Aufgaben, ihre Stellung in der spartanischen Gesellschaft ist bedeutend. Ihnen untersteht die „Sittenaufsicht“, das Buß-, Verhaftungs- und Anklagerecht, die Kontrolle über Fremde, das Kapitalstrafrecht über niedere soziale Gruppen – die Periöken und Heloten. Sie wachen über die heidnisch-religiösen Rituale, denen in Sparta große Bedeutung zukommt. Sie haben zudem diplomatische Aufgaben, sie sind für die Mobilmachung zuständig und beraten die Militärführer. Die Ephoren begleiten die Könige auf Feldzügen, sie kontrollieren deren Befehle und Entscheidungen, dürfen aber nicht eingreifen. Falls bei den zahlreichen Feldzügen etwas schief gelaufen ist, können sie nach dem Ende eines Feldzugs Anklage erheben. Ferner gibt es einen Ältestenrat, die „Gerusia“, der ebenfalls als Kontrollinstanz dient und gleichzeitig der Oberste Gerichtshof in Sparta ist. Der „Gerusia“ gehören neben 28 „Gerontes“ (Männer über 60 Jahre) die beiden Könige qua Amt an.

In der Volksversammlung sind die wehrfähigen spartanischen Vollbürger versammelt. Diese Versammlung ist neben Königtum, Ephoren und Gerusia die vierte Säule der Verfassung Spartas. Sie muss regelmäßig einberufen werden, kann aber keine eigeninitiativen Vorschläge machen, sondern lediglich Anträge, die vorher von den Ephoren eingebracht worden sind, ablehnen oder ihnen zustimmen. Abstimmungen erfolgen durch Zurufe und nicht durch die Auszählung von Stimmen. Aber: In der spartanischen Volksversammlung steht die Wiege des heute noch gebräuchlichen „Hammelsprungs“. Bei strittigen Entscheidungen stellen sich die Angehörigen der Volksversammlung in zwei Gruppen auf, wodurch das Stimmenübergewicht deutlich wird, heute geht man durch unterschiedliche Türen.

Die spartanische Gesellschaft ist streng hierarchisch, die einzelnen Schichten sind voneinander abgeschottet, dennoch gibt es Durchlässigkeit. Eine „soziale Mobilität“ ist gewährleistet. Ganz oben auf der sozialen Leiter stehen die Vollbürger, die Spartiaten. Sie genießen alle politischen Rechte, sind passiv wählbar, üben wichtige Ämter aus und besetzen die wichtigsten militärischen Positionen. Darunter stehen die Periöken. Sie sind zwar ebenfalls Spartaner, haben aber keine politischen Mitwirkungsrechte. Periöken kommen aus den ländlichen Gegenden um Sparta und sind von der spartanischen Militärmacht unterworfen worden. Sie leisten Heeresdienste und können in der militärischen Hierarchie aufsteigen, aber aktive Teilhabe am öffentlichen Leben in Sparta ist ihnen verwehrt. Daneben gibt es die Hypomeiones, die die grundsätzliche Möglichkeit haben den Status des Vollbürgers zu erlangen. Viele von ihnen sind verarmt, müssen ihren Grundbesitz verkaufen und haben auf diesem Wege ihren ursprünglich besseren Status verloren. An der untersten Stelle stehen die Heloten. Das sind Sklaven, die als Staatsbesitz betrachtet werden und keinerlei Rechte besitzen. Mit einer Ausnahme: Sie müssen sich ständig zum Waffendienst bereithalten. Persönlich aber sind sie frei und dürfen sich in Friedenszeiten ohne Einschränkung in der Stadt bewegen. Sie spielen bei öffentlichen Entscheidungen ebenso wenig eine Rolle wie die Frauen, die ebenfalls kein Mitspracherecht haben.

[Schaubild 1: Verfassung Spartas um 500 v. Chr.]

Griechische Mythologie

In Sparta wie in Athen herrscht ein kultischer Götterglaube. Beide Städte sind mystisch-heidnische Gesellschaften. Religion oder besser gesagt der Glaube an die Götter bestimmt das öffentliche Leben und ist Entscheidungskriterium für Krieg und Frieden. Die Menschen der Antike sind auf der Suche nach ihrer Herkunft. Sie wollen wissen, warum sie auf der Erde sind, wie es nach dem Tod weitergeht und wer die Menschen, die Erde, die Tiere und die Luft zum Atmen erschaffen hat. In Ermangelung rationaler Alternativen entwickeln sie eine Götterwelt, die über die Menschen herrscht. Den „Zorn der Götter“ zu provozieren, ist eine schlimme Androhung. Über allen stehen Zeus, der Göttervater, und seine Frau Hera. Dahinter folgen seine Geschwister Poseidon (Gott des Meeres), Demeter (Göttin der Fruchtbarkeit) und Hestia (Göttin der Familie) sowie seine Kinder Pallas Athene (Göttin der Weisheit), Hephaistos (Gott des Feuers), Ares (Gott des Krieges), Aphrodite (Göttin der Schönheit), Hermes (der Götterbote), Apollon (Gott der Künste) und Artemis (Göttin der Jagd). Diese 12 Gottheiten haben ihren Wohnsitz auf dem Olymp und werden um Beistand gebeten bei der Jagd, im Krieg oder bei der Familienplanung.

Die Menschen konstruieren sich auf diese Weise die Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Einmaligkeit und sie erhoffen sich durch einen Verehrungskult Schutz durch die Götter. Aber es gibt auch Menschen, die posthum einen Gott ähnlichen Status erreichen können. Die Heroen haben in der spartanischen Welt große Bedeutung. Einer der Heroen ist Lykurg, der vermutlich gar nicht gelebt hat, sondern ebenfalls eine mystische Figur ist. Er soll der Legende nach die sagenhafte spartanische Ordnung geschaffen haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Königspaar Menelaos und Helena, die im Mittelpunkt des Trojanischen Krieges stehen – jedenfalls wenn es nach der griechischen Mythologie geht. Jener Kampf um Troja, der in Homers „Ilias“ teilweise geschildert wird, ist das zentrale Ereignis in der griechischen Mythologie.

Helena wird in dieser Legende durch Paris, den Sohn des trojanischen Königs Priamos zwecks Heirat entführt. Nach dieser ungeheuerlichen Tat vereinigen sich die Griechen und ziehen gemeinsam gegen Troja, um das ruchlose Verbrechen zu rächen. Aber auch nach zehn Jahren Belagerung ist kein Sieg der alliierten Griechen in Sicht. Auf Anraten des Odysseus bauen die Griechen ein überdimensionales Holzpferd, in dessen hohlem Innenraum sie die besten und tapfersten ihrer Krieger verstecken. Dann täuschen sie ihre Abreise vor und lassen das Holzpferd am Strand der kleinasiatischen Küste vor den Toren Trojas stehen. In der Stadt beraten die Trojaner und werden sowohl von der Wahrsagerin Kassandra als auch vom Priester Laokoon gewarnt. Aber ihre Warnungen werden in den Wind geschlagen, das Pferd in die Stadt geholt und die Niederlage von Troja besiegelt, denn die Soldaten klettern nachts aus dem Inneren des Pferdes, öffnen die Stadttore, lassen die wieder zurück gekehrten Griechen in die Stadt und stecken Troja in Brand.

Athen und Sparta sind streng patriarchalisch organisierte Gesellschaften. Dennoch ist der Gegensatz zwischen ihnen groß. Wenn die Europäer heute von Griechenland als „der Wiege der Demokratie“ sprechen, dann meinen sie Athen und die attische Demokratie und die griechische Philosophie - aber nicht das ganze Griechenland. In Athen und Attika werden erste Demokratieschritte erprobt, die trotz mannigfaltigen sozialen Problemen nicht zurückgenommen werden. Sparta ist eine Militärdiktatur. Athen entwickelt binnen weniger als 100 Jahren aus der Erklärung der politischen Gleichheit aller Vollbürger eine Form geradezu radikaler Demokratie, die auch im Angesicht massiver äußerer Bedrohung durch die Perser nicht aufgegeben wird. Sparta hingegen bleibt auch weiterhin eine Diktatur unter der Fuchtel der Militärs, die die Stadt und ihre Krieger zu weithin gefürchteten Gegnern machen.

Solon: Reform in Athen

Zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. wird Athen von sozialen Unruhen erschüttert. Die Angehörigen der Aristokratie fürchten um ihre Privilegien, sie sorgen sich vor sozialen Umwälzungen, selbst eine Revolution der weitgehend verarmten Bevölkerung scheint nicht mehr ausgeschlossen. Als gleichzeitig viele nicht-adlige, aber freie Bürger mehr Rechte in der politischen Mitbestimmung fordern, muss ein Kompromiss gefunden werden. Für die Oberschicht ist eine Revolution oder gar eine Militärdiktatur das größere Übel, also stimmen sie schließlich 594 v. Chr. der Wahl von Solon (640 – 560 v. Chr.) zum Archonten – dem höchsten Beamten in der Stadt – zu. Eine Reform aus seiner Hand kann nicht so schlimm sein, schließlich gehört Solon selbst dem Adel an.

Aber sie haben sich getäuscht, denn unmittelbar nach Beginn seiner Amtszeit löst Solon die seit 621 v. Chr. geltenden, sprichwörtlich „drakonischen“ Gesetze des Drakon auf und reformiert den Stadtstaat Athen. Zunächst werden die Bauern entschuldet, nicht ohne massiven Druck auf die Gläubiger auszuüben, der Entschuldung auch zuzustimmen. Dann werden Maße und Gewichte vereinheitlicht, wodurch Waren überall miteinander verglichen werden können. Heute nennt man das Markttransparenz. Anschließend verbietet Solon die so genannte „Schuldknechtschaft“. Das „Leihen auf den Körper“ ist bis dahin oft der letzte Ausweg für in Not geratene Bauern, bedeutet aber Sklaverei. Solon legt außerdem eine Höchstgrenze bei Grundbesitz fest und reformiert das Gerichtswesen.

Anschließend legt er eine Verfassung vor, die die Beteiligung aller vier Klassen in Athen festlegt. Die Klassen sind nach Einkommen – gemessen in Scheffel – aufgeteilt; in der ersten finden sich Großgrundbesitzer in der vierten Landarbeiter wieder. Sie haben unterschiedliche Stimmrechte: Gemeinsam wählen sie die Volksversammlung, die das alleinige Recht hat, die obersten Richter des Volksgerichts zu bestimmen. Die drei ersten Klassen dürfen den „Rat der 400“ wählen und die erste Klasse zudem über die Wahl der Archonten mitbestimmen. Die Volksversammlung entsendet 400 Männer in den „Rat der 400“. Da diese Funktion ein Ehrenamt ist, kann es nur von Reichen, also dem Adel oder der Oberschicht angehörenden Personen wahrgenommen werden. Wichtigste Funktion des Rates ist die Bestimmung der Archonten, den höchsten und wichtigsten Beamten in Athen. Der „Rat der 400“ schickt Vorschläge und Abstimmungsvorlagen an die Archonten, die teilweise aus der Volksversammlung kommen, teilweise von ihnen selbst. Schließlich gibt es den Areopag, der sich aus ehemaligen Archonten zusammensetzt. Der Areopag ist eine Art Oberaufsicht über die öffentlichen Belange Athens. Zudem obliegt dem Areopag die so genannte „Blutgerichtsbarkeit“, also Strafverfahren, die mit Tod oder körperlichen Verstümmelungen geahndet werden können. Areopag-Urteile sind unwiderruflich, haben also eine große Bedeutung. Später wird der Areopag entmachtet und auf sakrale oder heidnisch-religiöse Aufgaben beschränkt.

Solon gilt als einer der Wegbereiter der „attischen Demokratie“ – in der Antike hat er den Ruf einer der „sieben Weisen“ des Landes zu sein, aber es gibt nur wenige Überlieferungen über ihn, so dass man mit dem Urteil über sein Wirken vorsichtig sein sollte. Trotzdem hat er es zu Weltgeltung gebracht, denn er ist der erste, der

[Schaubild 2: Verfassung von Solon 594 v. Chr.]

in einer Verfassung den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Solon hat zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit versucht, das Individuum zu emanzipieren. Er hat diese Idee in die Welt gesetzt und damit eine kulturelle Entwicklung angestoßen, die den Menschen und seine Lebenswelt zur Richtschnur des gesellschaftlichen Handelns macht. Der Mensch und sein Leben stehen im Mittelpunkt und nicht die Interessen der Machthaber oder jener, die sich die politische und ökonomische Pfründe bis dahin gegenseitig zugeschoben haben. Jeder Bürger soll teilhaben am Gemeinwesen, nicht nur einige. Dieser Grundsatz gilt bis heute für die europäische Verfassungsgeschichte. Aber so groß Solons Eifer auch ist, es bleibt festzuhalten, dass von wirklicher Gleichheit in modernem Sinne im Jahr 594 v. Chr. nicht die Rede sein kann. Die Reform des Solon gilt nämlich nicht für Frauen, Sklaven und Fremde. Ihnen werden pauschal sämtliche Rechte einer beginnenden politischen Partizipation vorenthalten.

Kleisthenes

Den Ruf, der Begründer der „attischen Demokratie“ zu sein, hat der um 570 v. Chr. geborene Kleisthenes (570 – 507 v. Chr.). Er ist schnell zum höchsten Beamten Athens geworden, gerät aber in die innerattischen Streitigkeiten über eine Tyrannei des Hippias (ca. 540 – 490 v. Chr.). Jener Hippias schickt Kleisthenes in die Verbannung, wo – der Legende nach - Kleisthenes das Orakel von Delphi bestochen haben soll. Der gekaufte Orakelspruch weissagt daraufhin, dass ausgerechnet der Spartanerkönig Kleomenes I. (um 500 v. Chr.) die Stadt Athen von der Tyrannei befreien müsse. Da die Wirkung eines solchen Orakelspruchs in der antiken Welt der Griechen seine Wirkung nicht verfehlt, hat also jener Kleomenes I. die Meute des Tyrannen vertrieben. Nach einigen weiteren militärischen Auseinandersetzungen kehrt Kleisthenes nach Athen zurück und startet 508 v. Chr. ein Reformprogramm. Man weiß nicht besonders viel über diesen Mann, der vermutlich ein Jahr nach dem Beginn Reformen gestorben ist. Jedenfalls hat er vorher die Stadt verlassen – freiwillig oder gezwungen ist unklar.

Klar ist, dass er in Attika – also in Athen und in den umliegenden Regionen – die Gleichheit der Vollbürger eingeführt hat - die so genannte „Isonomie“. Dazu teilt Kleisthenes das Staatsgebiet Attikas in drei Teile. Diese „Demen“ sind in drei Regionen gegliedert: Stadt, Küste und Hinterland. Die Demen sind in jeweils 10 Unterbezirke aufgeteilt. So entstehen in jeder Region 10 „Phylen“, die in der Volksversammlung vertreten sind. Die Volksversammlung wiederum bestimmt per Los je 50 Abgesandte pro „Phyle“ in den dadurch entstehenden „Rat der 500“. Dieser Rat ist die attische Regierung, während die Volksversammlung zum „zentralen Entscheidungsgremium“ geworden ist, wie es der Althistoriker Wilfried Nippel in seiner 2008 erschienenen Abhandlung „Antike oder moderne Freiheit“ festgestellt hat. Durch die Gleichheit ihrer Stimmen werden alle Bürger Attikas an den politischen Entscheidungen ihrer Region gleichberechtigt beteiligt.

Die Reform zielt auf die Entmachtung des Adels und sorgt für eine Mischung der Bevölkerung. Die Reformen des Solon werden erweitert, die Unterscheidung in Bürger verschiedener Klassen aufgehoben und der Volksversammlung durch die Wahlentscheidung für Gericht und Regierung eine wesentlich größere Bedeutung gegeben. Im Urteil der Historiker ist die Reform des Kleisthenes die erste „proportionale Repräsentation einer Bevölkerung“. Und gleichzeitig ist sie auch eine Art Geburtsurkunde des demokratischen Europas, denn durch die Verfassungsreform des Kleisthenes 508 v. Chr. haben sich tatsächlich demokratische Strukturen in einer der Antike gemäßen Form durchgesetzt. Wahr ist aber auch, dass die Reform für Frauen ebenso wenig, wie für Sklaven oder Fremde gilt, die außerhalb der attischen Polis gelebt haben. Zudem ist die demokratische Organisationsform keineswegs unumstritten, denn Vertreter des Adels halten sie für eine „Herrschaft des Pöbels“ und sind stets auf dem Sprung, sie wieder abzuschaffen. Bedenkenswert erscheint auch der Einwand, die Reformen seien vor allem unter militärischen Aspekten entstanden, was in den Jahren dauerhafter Kriege nicht verwunderlich wäre. Das Losverfahren, das Kleisthenes bei der Besetzung des „Rats der 500“ einsetzt, soll die Einflussnahme reicher Familien ausschließen. Zudem wird ein Mal im Jahr ein Scherbengericht abgehalten. Dabei schreiben die Bürger einen Namen auf eine Tonscherbe und bezichtigen so den Genannten der beabsichtigten Tyrannei. Dieses Verfahren dauert mehrere Tage, so dass jeder die Gelegenheit zur Teilnahme hat. Kommen mindestens 6.000 Scherben mit dem gleichen Namen zusammen, kann derjenige für höchstens zehn Jahre aus der Stadt verbannt werden.

[Schaubild 3: Verfassung von Kleisthenes 508 v. Chr.]

Der zentrale Teil der Reform des Kleisthenes ist aber der Rat der 500. Er hat die Aufgabe die Regierung und die hohen Beamten zu kontrollieren. Dadurch dass der Rat durch Losverfahren zusammengesetzt ist, kann es nicht zu Absprachen oder zum Aufbau einer willfährigen Hausmacht kommen. Durch die Dreiteilung Attikas in die Regionen Stadt, Land, Küste ist gewährleistet, dass nicht nur reiche Athener das Sagen haben, sondern alle Schichten der attischen Bevölkerung beteiligt sind.

Themistokles

Nach den Reformen durch Kleisthenes betreten zwei Staatsmänner die Bühne Athens, die die Stadt nachhaltig verändern sollten. Der eine ist der Feldherr und Politiker Themistokles (525 – 459 v. Chr.). Er wird um 525 v. Chr. von einer Frau geboren, die keine Athenerin ist. Als Folge dieses Umstands ist Themistokles auch kein Bürger Athens – dazu bräuchte er beide Elternteile, die Bürger der Stadt sind. Die vollen Bürgerrechte bekommt Themistokles erst mit den Reformen des Perikles (490 – 429 v. Chr.). Schnell gelangt er in hohe militärische Ämter, wird unter anderem Stratege und muss den Kampf gegen die Perser organisieren. Die Perser sind den griechischen Streitkräften bei Weitem überlegen, so dass Themistokles den Ausbau der Flotte betreibt, um den Persern auf dem Wasser begegnen zu können. Der Flottenausbau hat zwangsweise eine Reform der Verfassung zur Folge, denn mehr Schiffe benötigen mehr Kämpfer an Bord als die Athener Bevölkerung stellen kann.

Die neuen Kämpfer kommen aus den Reihen der bis dahin rechtlosen „Theten“, die weder Vollbürger sind noch an der Volksversammlung teilnehmen dürfen. Sie sind Tagelöhner, werden nun zwangsweise rekrutiert und bekommen als Gegenleistung mehr Rechte. Gleichzeitig führt Themistokles auch bei der Auswahl der höchsten Beamten das Losverfahren ein, so dass auch auf dieser politischen Ebene der Schutz vor Bestechung und Patronage größer wird. Das Oberkommando der Streitkräfte wird auf ein zehnköpfiges Strategenteam übertragen. Das ist eine erstaunliche Entscheidung, denn anstatt auf die Erfahrung eines Feldherrn zu setzen, legen die Bürger Athens die Macht in die Hände von zehn Strategen, die von der Volksversammlung gewählt werden! Sie stimmen in der Volksversammlung über ihre militärischen Führer ab und entscheiden damit selbst über ihr Schicksal, das ohne Zweifel von den Fähigkeiten der Militärs abhängt. Das ist ein Schritt in Richtung einer „egalitären Demokratie“ gewesen, wie es der Historiker Erich Bayer formuliert hat. Jetzt gibt es echte Partizipationsmöglichkeiten für alle freien Bürger. Allerdings muss auch hier die Einschränkung gemacht werden, dass Frauen, Sklaven und Fremde von dieser Reform ausgeschlossen bleiben.

Perikles

Der zweite entscheidende Mann in Athen dieser Jahre ist Perikles. Er wird um 490 geboren, über seine Jugend ist wenig bekannt, aber er muss von Beginn an ein begnadetes Rhetoriktalent gewesen sein. Kaum eine Rede vor der Volksversammlung bringt nicht das von ihm gewünschte Abstimmungsergebnis. Zudem ist er der Bauherr des Athen, das in Teilen bis heute erhalten ist. In seine Amtszeiten als Stratege fallen die Auseinandersetzungen mit den Persern, der Machtkampf mit Sparta, der im Peloponnesischen Krieg endet und schließlich in den Niedergang der Hegemonialstellung Athens bewirkt.

Aber Perikles revolutioniert auch die attische Demokratie. Er führt Diäten ein. Damit wird jeder Bürger Athens in die Lage versetzt, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Diese bis heute so bezeichnete Bezahlung von „Politikern“ ist ein Quantensprung in der demokratischen Entwicklung, weil nun auch ärmere Schichten hohe und höchste politische Ämter einnehmen können. Gleichzeitig wird ein kostenloser Lese- und Schreibunterricht für alle Bürger eingeführt. Zweifellos kalkuliert er den zu erwartenden Popularitätsschub ein und hofft – nicht zu Unrecht – damit seine eigene Stellung in Athen zu festigen. Das gilt auch für das so genannte „Schaugeld“. Dieses Geld wird an Bedürftige gezahlt, wenn sie an öffentlichen Veranstaltungen – etwa philosophischen Diskursen – teilnehmen wollen.

Unter Perikles wird das attische Staatswesen zu einem Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat. Zumindest Teile der Bevölkerung erliegen den Verlockungen der Diätenzahlungen, die doch eigentlich zur Vollendung der Demokratie gedacht sind, und entfremden sich zusehends von produktiver Arbeit. Dieser nicht beabsichtigte Effekt, die stark kritisierte Finanzpolitik und die zunehmend rigider werdende Bürgerrechtspolitik sollten sich als verhängnisvoll für die Zukunft Athens erweisen. Denn mit der Einschränkung der Bürgerrechte radikalisiert sich die attische Politik zunehmend gegenüber jenen Menschen, die keine „Vollbürger“ sind. „Vollbürger“ ist nur, wer zwei in Athen geborene Elternteile vorweisen kann. Damit geht Perikles wieder einen Schritt zurück, denn diese Vorschrift hat es schon zu Themistokles Zeiten gegeben.