Das lange 19. Jahrhundert - Matthias von Hellfeld - E-Book

Das lange 19. Jahrhundert E-Book

Matthias von Hellfeld

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Beschreibung

Das lange 19. Jahrhundert beginnt in der Mitte des 18. Jahrhunderts und dauert in seinen Auswirkungen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Dazwischen liegen atemberaubende Entwicklungen, die unser Leben bis heute prägen: technische Neuerungen und Erfindungen, die Bildung von Nationen auf dem europäischen Kontinent und das Ende der absolutistisch regierenden Monarchien, die Durchsetzung von Verfassungsstaaten und Parlamentarismus, die Entstehung von Interessensverbänden wie Arbeiter- und Frauenbewegung, Jugendbewegung und Arbeitgebervereinigungen. Der Anfang war geprägt von Romantik und Biedermeier, das Ende war in Deutschland von einer preußischen Militärmonarchie charakterisiert. Über allem standen die Auswirkungen der Industrialisierung, die von England ausgehend den Kontinent im 19. Jahrhundert vollkommen veränderten. Die ehemals in der Agrarwirtschaft Beschäftigten wanderten in die Städte ab, wo sie oft in Elendsquartieren der Vororte landeten. Sie hofften auf neue und stabile Arbeitsplätze, die durch die Industrialisierung entstehen sollten. Diese Entwicklung löse die Urbanisierung aus, an deren Ende viele Städte ihre Einwohnerzahl verzehnfacht hatten. Und mitten drin versuchten die Deutschen mit einer Revolution, einen demokratischen Verfassungsstaat etablieren, der zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine deutsche Einheit in der Mitte Europas herstellen sollte. Die Deutsche Revolution von 1848/49 scheiterte, aber das Ziel eines gemeinsamen deutschen Staates wurde 1871 nach drei Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich durch die Gründung des deutschen Kaiserreichs doch noch umgesetzt. Die nun folgenden Jahre waren geprägt von einer sozialen Spaltung (Katholiken- und Sozialistenverfolgungen) und dem Versuch durch ein ausgeklügeltes Bündnissystem den Frieden in Europa zu bewahren. Diese Politik war verknüpft mit dem ersten Reichskanzler Otto von Bismarck. Dessen Abschied leitete den Beginn einer aggressiveren Außenpolitik ein.

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Matthias von Hellfeld

Das lange 19. Jahrhundert

- von Washington bis Wilhelm II. -

zwischen Revolution und Krieg

1776 – 1914

Überarbeitete Version einer 2016 im Bonner Dietz-Verlag erschienenen Hardcover-Ausgabe unter Verwendung von Photographien von Gilbert Stuart (gemeinfrei) und Thomas Heinrich Vogt (gemeinfrei)

Inhaltsverzeichnis

1.) Das 19. Jahrhundert als Epoche

2.) Französische Revolution

Amerikanische Unabhängigkeit

Europa und die Revolution

Die Revolution frisst ihre Kinder

Eine Revolution mit Folgen

Napoleon

Putsch in Frankreich

Kaiserreich

Das Ende des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“

Französische Hegemonie in Europa

Reformen in Preußen

Europa gegen Napoleon

Einer allein ist nicht stärker als die anderen zusammen

3.) Wiener Kongress und Restauration 

Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Restauration, Solidarität und Legitimität

Der Deutsche Bund

Modernisierungsschub

„Heilige Allianz“

Die „deutsche Frage“

Karlsbader Beschlüsse

4.) Biedermeier und Romantik

Biedermeier

Familienleben

Bürgertum

Romantik

Die Suche nach der „blauen Blume“

Heimatgefühl und Rheinromantik

Weltanschauung der Romantik

5.) Armut und Industrialisierung

Epidemie der Armut

Soziale Frage

Stadtleben

Weberaufstand

Industrialisierung Europas

Industriemacht England

Der deutsche Zollverein

Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Auswanderung in die USA

Ökonomischer und sozialer Wandel

6.) Nationalismus und Liberalismus

Wartburgfest

Nationale Ursprünge

Nationenwerdung in Europa

Schwarz – Rot – Gold

„Deutschland, Deutschland über alles“

Das „junge Deutschland“

Liberalismus

Verfassungen

Demokratiebewegung

Vormärz

7.) Deutsche Revolution 1848/49

Märzforderungen

Aufstand in Österreich

Die Deutsche Nationalversammlung

Die Schleswig-Holstein-Frage

Robert Blum und die Konterrevolution

Die deutsche Frage

Friedrich Wilhelm IV.

Das Ende der Revolution

Die Folgen der Deutschen Revolution

8.) „Nation Building“ in Europa  

Otto von Bismarck I

Krimkrieg

Die „neue Ära“

Deutsch – österreichischer Bruderkrieg

Der Norddeutsche Bund

Italienische Befreiung

Napoleon III.

Machtkampf in Spanien

Reichsgründung von oben

Das deutsche Kaiserreich

9.)  Parteien, Bewegungen und Verbände

Kulturkampf

Sozialistengesetze

Gewerkschaften und Unternehmerverbände

Kulturpessimismus

Frauenbewegung

Jugendbewegung

Reformpädagogik und Freikörperkultur

10. ) Deutschland und Europa

Otto von Bismarck II

Berliner Kongress

Europäische Bündnisse

Afrika den Europäern!

1888: Das Dreikaiserjahr

Preußische Marktwirtschaft

Radikaler Nationalismus

Antisemitismus

„Die verspätete Nation“

1                Das 19. Jahrhundert als Epoche

Das „lange“ 19. Jahrhundert begann 1776 mit Revolution und Krieg in Amerika. Die Schlachtrufe der Amerikaner, die von französischen Soldaten unterstützt wurden, erreichten bald Europa und hallten 1789 während der Französischen Revolution wider. Die Ergebnisse der beiden Revolutionen zu Beginn des „langen“ 19. Jahrhunderts haben bis heute Bestand. Die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte, das Prinzip des Verfassungsstaats, die Trennung von Kirche und Staat und der Vorrang des Individuums vor den Ansprüchen des Staates gehören zum Wertekanon moderner Demokratien. Die Französische Revolution brachte einen prägenden Modernisierungsschub, der die Staaten Europas zwang, adäquate Organisationsstrukturen zu entwickeln. Napoleon verbreitete den Code Civil über den Kontinent, brachte mit seinen Soldaten die Ideen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ unter die Leute und löste damit eine Kettenreaktion aus. Im Bewusstsein der Menschen des beginnenden 19. Jahrhunderts brachte die Französische Revolution eine kaum zu bewältigende Beschleunigung in ihr Leben. Binnen kurzer Zeit veränderte diese Revolution die Lebenswelt der meisten Europäer. Als die Ära der „Franzosenzeit“ zu Ende ging, konnten die Ergebnisse der Revolution nicht mehr zurückgenommen werden. Zwar folgte nach 1814 eine Phase der Restauration in Europa. Aber die Ideen von bürgerlichen Rechten, nationaler Einheit und liberalem Verfassungsstaat waren vom europäischen Kontinent nicht mehr zu tilgen. Die Revolution in Frankreich hatte einen tiefen Mentalitätswechsel bei vielen Menschen ausgelöst. In nahezu allen Ländern des Kontinents entstieg der nationale Geist aus den bis dahin fest verkorkten Flaschen und sorgte neben dem aufkommenden Nationalismus für liberale Verfassungsbewegungen, die nach Beteiligung an der Macht in den Staaten Europas riefen. Die Französische Revolution war 1789 der Beginn einer Epoche, die nicht nur das Ende der Revolution und die militärische Niederlage vor den Toren Leipzigs im Oktober 1813 überlebte, sondern bis in die Moderne nachwirkt. 

Aus den Forderungen der Revolution entstanden die europäischen Nationalstaaten in England und Frankreich zuerst, dann in Griechenland, Belgien, Italien und Deutschland. Das „lange“ 19. Jahrhundert endete wie es begann: mit Revolution und Krieg, wozu die „inzwischen voll entfesselte“ Dynamik der Nationalstaaten entscheidend beitrug (Kocka, 2001). Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ebneten den Weg von der Vielstaaterei des Mittelalters in eine moderne Organisation des Kontinents. Zu Lebzeiten des protestantischen Religionsstifters Martin Luther existierten knapp 500 eigenständige politische Einheiten in Europa. Sie alle pochten auf überkommene Rechte, eigene Zölle, Währungen und Gesetze. Von diesem geopolitischen Flickenteppich blieben am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts noch 25 übrig.

Für das „lange“ 19. Jahrhundert waren zwei Entwicklungen besonders prägend. Tragender Pfeiler des wirtschaftlichen Aufschwungs, der sich bis zum Ende des Jahrhunderts einstellte, war die Industrialisierung. Sie veränderte die Produktionsbedingungen, marginalisierte die bisherigen Familienstrukturen, löste die strukturelle Armut während des Pauperismus und mehrere Auswanderungswellen aus, war der Beginn der Urbanisierung Europas und gleichzeitig Ursache für soziale Bewegungen, die all das nicht wollten. Die zweite prägende Entwicklung war die Gründung der Nationalstaaten, deren negative Wirkmacht ins 20. Jahrhundert hineinragte und als ursächlich für den Ersten Weltkrieg gilt. Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts versprachen ihren Bürgern Gleichheit und Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungen. Nach und nach wollten sie „ihre“ Bürger am Wohlstand beteiligen, Verfassungen erlassen und Freiheit und Fortschritt garantieren. Diese hohen Ansprüche waren verbunden mit kultureller Homogenität und Identität mit einer gemeinsamen Geschichte, die zum Bezugspunkt über die sozialen Grenzen hinweg wurde. Gleichzeitig versprach der Nationalstaat „Abgrenzung und Behauptung gegen äußere Gegner“ (Janz, 2013) und entblößte damit die zweite Seite der Medaille, denn „Abgrenzung und Behauptung“ hatten natürlich auch ein kriegerisches Element. Nach der gescheiterten deutschen Revolution 1848/49 und der Reichsgründung 1871 griff die Nationalstaatsidee immer mehr auf Ost- und Südosteuropa über. Beim Berliner Kongress erhielten 1878 Serbien, Montenegro und Rumänien ihre nationalstaatliche Eigenständigkeit, während Bulgarien teilweise autonom wurde. Mit der Ausdehnung der Nationalstaaten ging das Ende der multiethnischen Superstaaten einher. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich waren vor Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr in der Lage, als regionale Ordnungsmacht die ethnischen Konflikte in ihren Herrschaftsbereichen zu beruhigen.

Der Nationalstaatsgedanke des 19. Jahrhunderts verband sich mit der Zeit mit den Ideen des Liberalismus. Nun waren staatliche Einheit, Verfassungsstaat und individuelle Freiheiten der Dreiklang, der das überkommene System absoluter Monarchien erschütterte. Der Gedanke, in einer Nation mit gleichen Rechten für alle und einem an die Verfassung gebundenen Herrscher zu leben, erreichte mehr als nur die intellektuellen Eliten. In Deutschland war die Revolution 1849 gescheitert, aber die Ideen blieben erhalten – wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen. Der Nationalismus wurde mehr und mehr eine „konservative, auf den bestehenden Staat, seine Institutionen und Symbole bezogene Kraft – von der Obrigkeit gezielt gefördert“ (Janz, 2013). Er wurde schließlich zum sozialen Kitt, der als Antwort auf die Unwägbarkeiten, die die Industrialisierung mit der Binnenwanderung und der Urbanisierung nach sich zog, diente. Äußeres Erscheinungsbild waren Zeremonien, die mehrmals im Jahr die nationale Gemeinsamkeit zur Schau stellten. In Deutschland war das besonders der 2. September, an dem alljährlich an den Sieg im deutsch-französischen Krieg 1870 erinnert wurde. Jener „Tag von Sedan“ brachte Paraden, Schulfeiern, landesweite Beflaggung und national-patriotische Reden hervor, die allerdings oft in Hasstiraden gegenüber dem „französischen Erbfeind“ endeten. Frankreich erinnerte jedes Jahr an die glorreiche Revolution von 1789 und stellte dabei mitunter mehr als notwendig französisches Selbstbewusstsein zur Schau. Neben den Feiertagen wurden Staatsbegräbnisse aufwändig in Szene gesetzt. Das Pariser Panthéon, Westminster Abbey in London oder die Walhalla bei Regensburg gaben die geschichtsmächtige Umgebung derartiger Ereignisse ab. Der öffentliche Raum wurde mehr und mehr zu einer Feierstätte für Monarchen, Militärs und Staatsmänner. Allen voran gab der deutsche Kaiser Wilhelm II. den ersten Medienstar in der Geschichte. Seine öffentlichen Auftritte waren sorgsam inszeniert, für die anwesenden Photographen warf sich seine kaiserliche Hoheit auch schon mal in Pose. All das diente dem inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft, die in den zurückliegenden Jahrzehnten vieles hatte ertragen müssen.  

Neben dem inneren Spektakel, das für jeden sichtbar, die eigene Nation zur Schau stellte, war die Industrialisierung für die Ausbildung des Nationalstaatsgedankens von großer Bedeutung. Sie verursachte die Konkurrenz zwischen die Nationalstaaten und etablierte das Ringen um wirtschaftliche Macht zwischen Europas Nationen. Aus einem geregelten Nebeneinander wurde spätestens mit dem Beginn des kalendarischen 20. Jahrhunderts eine heftige Konkurrenz. Großbritannien war als Kolonialmacht und durch die früh einsetzende Industrialisierung schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum weltweiten Wirtschaftsimperium aufgestiegen. Amsterdam hatte seine Stellung als zentraler Handelsplatz Europas an London verloren. Die Gründung des deutschen Kaiserreichs im Januar 1871 geschah auch als Ausdruck eines Aufholprozesses gegenüber dem industrialisierten und hochgerüsteten Großbritannien. Mit dem Ende der Ära Otto von Bismarcks änderte sich das außenpolitische Augenmerk Deutschlands auf den Erwerb von Kolonien, um mit dem ungeheuren Reichtum und den ökonomischen Möglichkeiten der europäischen Kolonialmächte mithalten zu können. Damit einher gingen die Debatten um militärische Aufrüstung und die Anschaffung einer deutschen Flotte. Beides mündete schließlich in waffenstarrenden Militärblöcken, die sich im Sommer 1914 gegenüberstanden. Doch bevor es soweit war, verlagerten die europäischen Großmächte ihr Augenmerk auf die Aufteilung der Welt, die vor allem in Afrika verheerende Folgen bis weit in das 20. Jahrhundert nach sich zog. Bei der „Eroberung des schwarzen Kontinents“ wurden Pseudonationen geschaffen, Grenzen mit dem Lineal auf einer Landkarte gezogen und in die Tat umgesetzt. Afrikanische Gebiete wurden so aufgeteilt, wie es den Europäern praktisch erschien. Als diese künstlich geschaffenen Gebiete in der Mitte des 20. Jahrhunderts in die Unabhängigkeit entlassen wurden, entwickelten diese Staaten eine Sprengkraft, die nach wie vor den gesamten Kontinent erschüttern. 

Die Militärpotenziale der europäischen Nationen trafen nicht nur in Afrika aufeinander. Auch in Asien waren die Kolonialmächte vertreten und eroberten Teile dieses Kontinents als wesentliche Station ihres weltweiten Handels. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte Europa auf diese Weise eine weltweite Dominanz erreicht. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde all das aufs Spiel gesetzt und verloren (Kocka, 2001). Am Beginn dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts hatte Deutschland ein gehöriges Maß an Schuld. Die Regierung in Berlin war im Sommer 1914 einer der maßgeblichen Akteure, selbst wenn Kaiser Wilhelm II. so tat, als sei er nicht involviert, weil er mit seiner Jacht in norwegischen Fjorden segelte. Aber Deutschland trug nicht allein die Verantwortung (Münkler, 2013).

Der Erste Weltkrieg trennt die beiden Jahrhunderte, von denen das 19. „lang“ und das 20. „kurz“ war. Der erste Krieg war das Menetekel eines noch viel größeren Desasters im Zweiten Weltkrieg. Aber die Grundlagen für die Anfälligkeit der Deutschen gegenüber den radikalen Positionen der Nationalsozialisten wurden im 19. Jahrhundert gelegt. Es fehlte an Demokraten und Erfahrungen mit der Demokratie, die Zivilgesellschaft funktionierte nicht, das Parlament wurde permanent an seiner Arbeit gehindert oder durch den allein regierenden Kaiser ausgehebelt, und schließlich hatte der alltäglich gewordene Militarismus den Deutschen einen Anblick serviert, der ihnen später bei den braunen Kolonnen von SA und SS nicht fremd war.

Nationalismus und Industrialisierung waren die beiden entscheidenden Komponenten des 19. Jahrhunderts. Die Menschen wurden durch beides zwar einerseits aus ihrer gewohnten Lebensumgebung herausgerissen, erlebten aber andererseits den Aufbruch in die Moderne mit. Ökonomisch betrachtet war England durch die schon weit fortgeschrittene Industrialisierung eine Weltmacht. Frankreich hatte es zwar mit inneren Unruhen zu tun, war aber doch ein weitgehend stabiles Königreich, das sich auf seine weltweiten Kolonien stützen konnte. Deutschland hingegen kämpfte noch mit der Überwindung der Folgen der konfessionellen Spaltung, seiner geopolitischen Zersplitterung und nicht zuletzt mit den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, der im 17. Jahrhundert die geographische Mitte des Kontinents zerstört hatte. Dadurch lag Deutschland ökonomisch deutlich hinter seinen europäischen Nachbarn zurück, auch wenn sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das wirtschaftliche Wachstum und der soziale Wandel rasch beschleunigten.

Mehr als zwei Drittel der deutschen Erwerbsbevölkerung war in der Landwirtschaft beschäftigt. Ihr Leben war eintönig, an die Scholle gebunden und warf für die Bauern nur ein bescheidenes Einkommen ab. Gleichwohl wurde der gesellschaftliche Reichtum im Agrarsektor erwirtschaftet, so dass jeder landwirtschaftlichen Innovation eine entscheidende Bedeutung zukam. Die gesellschaftliche Ordnung des ausgehenden 18. Jahrhunderts war ständisch geprägt. Die gesellschaftliche Trennung zwischen Adel, Klerus und dem aus freien Bauern und Bürgern bestehenden „Dritten Stand“ gab es im wirtschaftlichen ebenso wie im rechtlichen und sozialen Bereich. Dabei standen die Adligen mit den Fürsten und Königen an der Spitze der sozialen Rangordnung, die keinerlei Durchlässigkeit besaß. Mehr noch: Wer in eine soziale Schicht hinein geboren wurde, wurde durch Rechtsvorschriften darin festgehalten. Der Adel, der im 18. Jahrhundert von der Steuerzahlung befreit war, kontrollierte die Nutzung des Bodens und lebte von den Abgaben und Dienstleistungen, die die von ihm abhängigen Bauern zu erbringen hatten. Diese starre und jeder Modernität entgegenstehende soziale Ordnung wurde dadurch vor Veränderungen geschützt, dass den unteren Schichten kaum Wahlmöglichkeiten blieben. Sie konnten weder ihren Wohnort, noch ihre Arbeitsstelle, den Beruf und schon gar nicht ihre Ehepartner frei wählen. Ihr Leben unterlag strengen Regeln, die von ihren Grundherren überwacht wurden. Deshalb war es den meisten Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts nicht möglich, zu reisen, andere Städte oder Länder zu sehen. Und wenn sie ihre Region doch einmal verlassen konnten, dann traten sie eine beschwerliche Reise an, die sie in Pferdewagen über lehmige Wege von einem Ort zum anderen brachte. Den meisten Menschen wird ein derartiges Vergnügen allerdings verwehrt geblieben sein, weil sie weder das Geld noch das Interesse hatten, ihre heimatliche Umgebung zu verlassen. Mobilität bezog sich am Ende des 18. Jahrhunderts auf Händler, die den Kontinent kreuz und quer mit ihren Waren bereisten und auf fromme Pilger, deren Ziel meist der Vatikan in Rom war.

Kontemplatives Reisen und Erkunden passte nicht zur Lebenswirklichkeit der Menschen. Ihr Alltag bestand aus harter Arbeit auf den Feldern, die nicht ihnen gehörten. Die agrarischen Arbeitsweisen waren von Überlieferungen der Vorfahren geprägt, technischen Fortschritt gab es nicht. Das Familienleben war von der beständigen Sorge geprägt, was aus ihren Mitgliedern bei Krankheit oder Tod des Ernährers werden sollte. Die Kinder waren eine Art Zukunftssicherung, sie mussten eines Tages ihre Eltern unterstützen. Das Verhalten wurde bestimmt von ihrer Einstellung zum christlichen Glauben und zur Kirche. Die Bibel und die dazugehörige apostolische Interpretation bot den Menschen eine überirdische Sinnerklärung ihres beschwerlichen Lebens an. Durch die christliche Lehre war das Leben der Menschen stark von der Vorstellung geprägt, schon im Diesseits für das Jenseits zu leben. Im jenseitigen Reich des christlichen Herrn würden sie für ihre irdischen Qualen reichlich entschädigt werden, so die Heilsbeschreibung der katholischen und evangelischen Kirche. Damit ließen sich für die einen alle irdischen Ungerechtigkeiten leichter ertragen und für die anderen besser rechtfertigen. Gleichzeitig trug der christliche Wertekanon aber auch zur Stabilisierung der sozialen Ordnung am Ende des 18. Jahrhunderts bei. Beide christliche Kirchen boten den Menschen Halt in einer als ungerecht empfundenen Welt an. Der Wegfall dieses Halts durch die Säkularisierung der christlichen Welt während der Französische Revolution war Auslöser für Unsicherheitsgefühle und Zukunftsängste bei vielen Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts. 

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung auf dem Land. Die allermeisten Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft beschäftigt, sie stellten das Rückgrat der agrarischen Gesellschaft. Lediglich zehn Prozent der Menschen hatten sich in Städten oder kleinen Siedlungen niedergelassen. Dort waren sie in den Manufakturen tätig oder übten kaufmännische und militärische Berufe aus. Aber auch in den Städten und Dörfern war das Leben strengen Regeln unterworfen. Zünfte und Gilden organisierten den Berufsalltag und sorgten durch strenge Zugangsregeln dafür, dass politische oder wirtschaftliche Rechte für die Angehörigen der jeweiligen Verbände erhalten blieben. Auch in den Städten kamen die meisten Menschen über ihren unmittelbaren Umkreis nicht hinaus. Reisen aus privaten oder beruflichen Gründen waren höchst selten, Straßen waren weder geteert noch kartographiert. Die Pferdewagen holperten über Kopfsteinpflaster oder lehmige Böden, was das Reisen verlangsamte und zur Strapaze machte.  

Wer doch eine Reise antrat und Deutschland durchqueren wollte, musste mehrfach Zölle oder andere Abgaben zahlen, die an den Grenzen der vielen kleinen Territorien erhoben wurden. Hunderte eigenständige Völkerrechtssubjekte hatten sich auf deutschem Boden versammelt und damit zwar einerseits den Grundstein für den Föderalismus der heutigen Bundesrepublik gelegt, andererseits aber auch einen einheitlichen Wirtschaftsraum in der europäischen Mitte verhindert. Die französischen Nachbarn hingegen lebten bereits seit langem in einem einheitlichen, zentralistisch organisierten Staat. Die rückständige Agrarstruktur und die starke Wirkung der fortbestehenden feudalen Strukturen erschwerten in Deutschland sowohl die Lösung der nationalen Frage als auch die Bildung eines einheitlichen Marktes. Die feudalen Produktionsverhältnisse in Deutschland hemmten Produktion und Handel. Es gab keinen einheitlichen Markt und kein beherrschendes Zentrum des Handels. Jedes einzelne Territorium beharrte auf besondere Privilegien und Rechten und forderte lautstark die Beibehaltung besonderer Zölle und Abgaben.

Auf dieser Grundlage starteten die Deutschen in das aufregende 19. Jahrhundert. Wenn man es aus ihrer Sicht betrachtet, dann haben sie innerhalb eines Menschenlebens den Sprung aus einer rückständigen, kaum mobilen und wenig technisierten Agrargesellschaft in einen hochentwickelten, innovativen und stark technisierten Staat geschafft. Wie groß der Abstand zwischen Absprung und Landung war, kann man an technischen und ökonomischen Veränderungen ermessen. Gab es 1800 weder Straßen noch Eisenbahnlinien, schlängelten sich 1880 bereits 34.000 Kilometer Gleise durch das Land. Zur Jahrhundertwende arbeitete in Deutschland noch kein Hochofen, 100 Jahre später hatten sich im Ruhrgebiet ganze Städte um die qualmenden Schlote gebildet. Obwohl die neue Welt kaum noch wieder zu erkennen war und die alten Strukturen pulverisiert waren, mussten sich die Menschen in Deutschland diesem Wandel nicht nur anpassen, sondern ihn auch noch gutheißen. Von diesen Entwicklungen waren alle europäischen Länder betroffen. Aber die Deutschen waren auf Grund ihrer Geschichte und geographischen Lage in der Mitte des europäischen Kontinents besonders von den Umwälzungen betroffen. Deshalb lohnt die Betrachtung des 19. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel der Deutschen, die den geostrategisch wichtigsten Teil des europäischen Kontinents bewohnt haben: Die Mitte.

2                             Die Französische Revolution                                             

„Der König befiehlt? Der König hat hier nichts zu befehlen! Wir sind das Volk. Wir werden erst unsere Plätze verlassen, wenn man uns mit Bajonetten dazu zwingt.“ Mit diesen wütend herausgebrüllten Sätzen des eigentlich nicht zum Jähzorn neigenden Grafen Mirabeau begann eine Revolution, die das Gesicht des europäischen Kontinents veränderte wie kein Ereignis vorher.

Was war passiert? Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der europäische Kontinent als instabil erwiesen. Als Folge des preußisch-österreichischen Konfliktes um den Einfluss im Deutschen Reich, hatte sich Frankreich auf Seiten Österreichs und England auf Seiten Preußens in den „Siebenjährigen Krieg“ zwischen 1756 und 1763 eingeschaltet. In diesem „Weltkrieg“ wurde sowohl in Europa, als auch in Nordamerika, in Indien und in der Karibik gekämpft. Die Vielzahl der Orte, an denen sich Truppen gegenüberstanden, und die Gleichzeitigkeit der Kämpfe legen die Globalisierung des Konflikts offen. Dieser an verschiedenen Orten ausgetragene Krieg machte deutlich, dass die Kontinente näher zusammengerückt waren. Jene europäischen Großmächte, die auch Kolonialmächte waren, mussten nun ihre Interessen an verschiedenen Stellen der Erde gleichzeitig vertreten können. Für das Deutsche Reich, Preußen und Österreich galten diese Konsequenzen der ersten Globalisierung nicht, denn sie hatten in der Mitte des 18. Jahrhunderts keine Kolonien um deren Erhaltung oder Erweiterung sie kämpfen mussten. Frankreich und England hingegen hatten diese Entwicklung ins politische Kalkül einzubeziehen und die finanziellen Folgen ihrer Kolonialpolitik zu tragen. Besonders Frankreich war nach seinen Teilnahmen am Siebenjährigen Krieg und am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg sowie durch die notorische Verschwendungssucht seines Königs Ludwig XVI. in finanzielle Probleme geraten.

Amerikanische Unabhängigkeit

Ludwigs XVI. Engagement im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg sollte sich als schwere Hypothek erweisen. Zwar verhalf Frankreich den Amerikanern zum Sieg über England und ebnete so den Weg zur amerikanischen Unabhängigkeit und zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, aber der Preis für diesen Einsatz war hoch. Einerseits hatten Frankreich und England eigene koloniale Absichten und wirtschaftliche Interessen, die sie in Nordamerika durchsetzen wollten. Deswegen hatten sie zwischen 1756 und 1763 um die Vorherrschaft auf dem amerikanischen Kontinent Krieg geführt. Aber sie waren andererseits auch in Europa Konkurrenten, weswegen der Ausgang des Krieges in Amerika auch auf dem „alten“ Kontinent Auswirkungen haben würde. Der Krieg um die amerikanische Unabhängigkeit begann im April 1775 mit einigen Scharmützeln mit britischen Kolonialtruppen und fand in der am 4. Juli 1776 verkündeten Unabhängigkeitserklärung von 13 amerikanischen Staaten ihren vorläufigen Höhepunkt. Aber die britische Kolonialmacht nahm diese Erklärung nicht ohne Widerspruch zur Kenntnis. England drängte die Aufständischen in die Defensive und eroberte kurz darauf New York. In dieser Situation wandten sich die Amerikaner an den französischen König und baten um militärische Unterstützung. Unter der Führung des Plantagenbesitzers Georg Washington gelang es den Amerikanern durch die sofort einsetzende massive Militärhilfe Frankreichs die britischen Truppen zurückzudrängen. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg dauerte bis zum Oktober 1781, als die britische Armee nach einer verheerenden Niederlage bei Yorktown zur Kapitulation gezwungen war. Am 3. September 1783 wurde der amerikanische Unabhängigkeitskrieg mit dem Frieden von Paris offiziell beendet und die „Vereinigten Staaten von Amerika“ wurden von der britischen Krone anerkannt.  

Ludwig XVI. konnte sich brüsten, dem englischen Konkurrenten um die Macht in Europa und in den Kolonien eine empfindliche Niederlage beigebracht zu haben. Die Friedensverhandlungen fanden zudem in Paris statt, was für die Briten eine zusätzliche Schmach bedeutete. Der britische Verhandlungspartner war so verärgert, dass er sich weigerte, für das offizielle Gemälde Modell zu sitzen, das ihn neben den beiden Gründervätern der USA, John Adams und Benjamin Franklin, gezeigt hätte. Aber der Sieg, den Ludwig XVI. in Amerika erreicht hatte, leitete gleichzeitig seine Niederlage in Frankreich ein, denn in der Unabhängigkeitserklärung waren zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die universellen Menschenrechte verkündet worden. Die französischen Soldaten, die an der Seite ihrer amerikanischen Waffenbrüder kämpften, wurden von ihnen mit den Ideen und den Zielen der Aufständischen infiziert. Die Erklärung beinhaltete neben den unveräußerlichen Menschenrechten auch das Recht des Volkes, sich einer schlechten Regierung zu entledigen. Alle Menschen seien „gleich erschaffen“, stand in der Erklärung und jeder von ihnen habe das Recht „nach Glückseligkeit“ zu streben. Davon konnte in Frankreich keine Rede sein. Der König besaß alles, das Volk nichts. Die Adligen brauchten keine Steuern zu zahlen und frönten einem prunkvollen Leben am Hofe des Königs, die Bauern und Handwerker mussten dafür Abgaben und Steuern aufbringen. Als die französischen Soldaten in ihre Heimat zurückkehrten, waren sie empfänglich für das, was einige Jahre später als „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ durch ihr Land hallte.

Vier Jahre nach dem Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs begannen im Mai 1787 in Philadelphia die Verhandlungen über eine gemeinsame amerikanische Verfassung. Schließlich verabschiedeten die Delegierten eine Verfassung, die neben dem Recht auf Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit auch den Schutz vor Willkürmaßnahmen des Staates und der Gerichte garantierte. Die amerikanische Verfassung vom 17. September 1787 ist bis heute gültig und stellt durch die Trennung von Exekutive und Legislative und wegen der Einführung des Zweikammer-Systems einen Meilenstein der Menschheitsgeschichte dar. Rund anderthalb Jahre später stand Ludwig XVI. vor dem Staatsbankrott, weil das Kriegsabenteuer in den USA und die kostspielige Hofhaltung in Versailles ein tiefes Loch in die Staatskasse gerissen hatten. Mitte 1789 fasste er deshalb den Entschluss, die „Generalstände“ nach Paris zu laden. Diese Versammlung war seit 1614 nicht mehr einberufen worden, weil sie der Regierungsauffassung der absolutistischen Herrscher Frankreichs im Wege gestanden hatte. Nun sollten die Vertreter der Städte, des Adels, der Bauern und Bürger dem König durch die Genehmigung von Steuererhöhungen aus der Finanzmisere helfen. Aber die mehr als tausend Delegierten, die sich zur ersten Sitzung am 5. Mai 1789 in Paris einfanden, waren von der Eröffnungsrede des Königs enttäuscht, denn Ludwig wollte Frankreich nicht mit dringend notwendigen Reformen verändern, sondern durch Notmaßnahmen lediglich die Symptome der Krise beheben. Am 17. Juni 1789 sprachen sich Vertreter des 3. Standes, die Bauern und Bürger, dafür aus, aus der Versammlung der „Generalstände“ eine Verfassungsgebende Nationalversammlung zu machen, die das feudalistische System der französischen Sonnenkönige beenden sollte. Jahrzehnte lang hatten sie ansehen müssen, wie die Lage auf dem Land, bei den vielen Millionen Bauern immer dramatischer geworden war. Hungersnöte und Missernten, hohe Abgaben und Steuern, von denen der Adel ausgenommen war, hatten das Leben für die meisten Menschen beschwerlich gemacht. Jetzt wollten sie die Gelegenheit beim Schopfe packen und mit diesem sozialen Elend aufräumen. Schnell stellte sich heraus, dass sich auch einige Geistliche und Adlige von der aufrührerischen Stimmung anstecken ließen und die Forderungen des 3. Standes, die Monarchie zu stürzen, die Adelsprivilegien abzuschaffen, das Kircheneigentum zu konfiszieren und schließlich eine Republik auszurufen, unterstützten.

Der König war empört über diese „Anmaßung“ und erteilte den Befehl, die Ständeversammlung aufzulösen. Die Delegierten sollten sich an verschiedene Orte begeben und keinen Kontakt mehr untereinander haben. Der Sitzungssaal wurde geschlossen und verriegelt, gleichzeitig berief er für den 23. Juni 1789 eine „königliche Sitzung“ ein, von der die aufmüpfigen Delegierten aber ausgeschlossen waren. Als ein Königsbote den Delegierten die Entscheidungen Ludwigs XVI. mitteilte, ließ sich der Graf Mirabeau zu seinem Wutausbruch hinreißen. Kaum hatte er sich beruhigt, zogen die Delegierten ins benachbarte Ballhaus und schworen, bis zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht mehr auseinander zu gehen. Dieser „Ballhaus-Schwur“ war die Kampfansage an das „Ancien Regime“ und zugleich der Startschuss zur wichtigsten Revolution der europäischen Geschichte. Als der König begann, Truppen in Paris zusammen zu ziehen, breitete sich revolutionäre Unruhe in der Stadt aus. Am 14. Juli 1789 stürmte eine aufgebrachte Menge die Bastille – das Gefängnis im Osten der Stadt - und öffnete die Tore für die Gefangenen. Die Nachricht vom Sturm auf die Bastille verbreitete sich ebenso schnell wie das Gerücht, es stehe ein Militärputsch bevor.

Die Nationalversammlung ließ sich davon nicht beeindrucken und führte in den kommenden Monaten radikale Änderungen in Frankreich durch, die am 26. August 1789 mit der Verkündung der „allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte“ einen ersten Höhepunkt erreichten. Die Adelsprivilegien wurden abgeschafft, die „Bürger und Menschenrechte“ erklärt und der Kirchenbesitz verstaatlicht. Ein Jahr nach Beginn der Revolution feierte die Pariser Bevölkerung mit 60.000 Delegierten aus den neu gegründeten Départments auf dem Marsfeld ein Förderationsfest, bei dem Ludwig XVI. einen Schwur auf das Wohl der Nation leisten musste. Aber die Jubelstimmung konnte kaum verdecken, dass die politische Lage zunehmend instabiler geworden war. Radikale Republikaner, deren wichtigste Sprecher Maximilien Robespierre und Georges Jacques Danton waren, und gemäßigte „Girondisten“ standen sich gegenüber. Zum Ort politischer Debatten stiegen die radikalen Jakobinerclubs auf. Sie sollten bald darauf die Keimzelle der Radikalisierung der Revolution werden.

Europa und die Revolution

In den europäischen Königshäusern herrschte angesichts der Revolution in Frankreich blankes Entsetzen. Während Intellektuelle und Schriftsteller anfangs voller Begeisterung die Revolutionsideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ über den Kontinent verbreiteten, machte sich in den Palästen der Fürsten Ratlosigkeit breit. Der deutsche Kaiser Leopold II., eines der vielen Kinder der österreichischen Erzherzogin Maria Theresia, war der einzige Potentat, der die Revolution nicht sofort ablehnte. Aber er hatte die innere Dynamik eines revolutionären Prozesses unterschätzt und schwenkte im August 1791 auf die Seite der Gegner der Revolution. Gemeinsam mit seinem preußischen Amtsbruder Friedrich Wilhelm II. setzte er sich nun für die Restauration der französischen Monarchie ein und schloss am 1. März 1792 ein Defensivbündnis mit Preußen gegen Frankreich. Der preußische König Friedrich Wilhelm II. stand der Revolution ebenso ablehnend und feindlich gegenüber wie der spanische König Karl IV. Auch die russische Zarin Katharina II. fand kein gutes Wort für den Umsturz in Paris. Zwar gehörte sie zu der kleinen Schar von „aufgeklärten“ Regenten, die der Aufklärung nahestand. Dennoch rief sie angesichts des Umsturzes in Paris zum Kreuzzug gegen die „französische Pest“ auf, bei dem es unsterblichen Ruhm zu ernten gebe. Unterstützt wurde sie vom schwedischen König, der vorsorglich Truppen ins belgische Spa schickte. Erbost über den Verlust des Kircheneigentums nannte Papst Pius VI. die Vorgänge in Frankreich gottlos und verdammte die Ziele der Revolution. Die unverhohlenen Drohungen der meisten europäischen Königshäuser, dem Spuk mit militärischer Gewalt ein Ende zu bereiten, ließen die revoltierenden Franzosen noch enger zusammenrücken. Von überall strömten die Menschen nach Paris, um „ihre“ Revolution zu verteidigen und brachten damit ihren Willen zum Ausdruck, die Revolution mit allen Mitteln zu verteidigen. Das löste bei den Gegnern des Umsturzes Angst aus. Denn sollten sich die Revolution und die Ideen der Aufklärung durchsetzen, würde in einem „aufgeklärten“ Europa auch ihre eigene Regentschaft in Gefahr geraten.

Kurz nach den Ereignissen in Frankreich kam es auch in den linksrheinischen Gebieten Deutschlands zu revolutionären Erhebungen. Nahe der französischen Grenze waren die Rufe aus Paris deutlich zu vernehmen. In Mainz, Köln oder Trier erhoben sich ebenfalls Bauern, Handwerker oder innerstädtische Gruppierungen, um lokale Missstände zu beheben. Fast überall wurden diese Unruhen durch Vereinbarungen mit den Regierungen der Fürsten behoben, die unter dem Eindruck der Ereignisse in Paris zu Konzessionen bereit waren. Zu einer regelrechten Revolution kam es trotz der vielerorts festgestellten Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Bevölkerung und der politischen Realität nicht. Das lag vor allem an der Zersplitterung des deutschen Reichs. Zudem fehlte eine Zentrale wie Paris, von wo der revolutionäre Funke gelenkt werden und auf das Land überspringen konnte. Die deutschen Intellektuellen waren zwar unter den so genannten „Revolutionspilgern“, dennoch sah keiner von ihnen die Notwendigkeit einer politischen Revolution im eigenen Land. Entscheidend aber dürfte die Auffassung der deutschen Fürsten und Könige gewesen sein, dass sie von einer Schwächung der französischen Monarchie profitieren könnten (Demel, 2005), weswegen sie den Ereignissen in Frankreich keineswegs ablehnend gegenüberstanden.

Am 22. Mai 1790 verzichtete die Nationalversammlung in Paris feierlich auf Eroberungskriege. Angesichts der unverhohlen geäußerten Kriegsdrohungen einiger europäischer Fürsten- und Königshäuser entschloss sich die Nationalversammlung am 20. April 1792 aber trotzdem Österreich den Krieg zu erklären. Als die französische Armee eine schwere Niederlage einstecken musste, entstand im Sommer 1792 eine bedrohliche Lage für Frankreich. In den folgenden Wochen überschlugen sich die Ereignisse in der französischen Hauptstadt. Die Residenz Ludwigs XVI. in den Tuilerien wurde besetzt und der König gezwungen mit einer Revolutionsmütze auf dem Kopf auf das Wohl des Umsturzes zu trinken. Am 11. Juli erklärte die Nationalversammlung, „das Vaterland sei in Gefahr“, weil auch Preußen in einen Krieg gegen Frankreich eingetreten war und wenig später ins Land marschierte. Ende Juli erließ der preußische Oberbefehlshaber, Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig, ein Manifest mit der Aufforderung an die französische Bevölkerung, ihrem König Treue und Gehorsam zu erweisen. Als er drohte, Paris in Schutt und Asche zu legen, stürmten am 10. August 1792 aufgebrachte Pariser Bürger das königliche Tuilerienschloss und nahmen Ludwig XVI. nebst Gattin fest. Gleichzeitig wurde die Monarchie aufgehoben und der Nationalversammlung die Regierungsgewalt übertragen. Zwei Tage nach dem Sieg der Revolutionsarmee über ein preußisch-österreichisches Heer am 20. September 1792 bei Valmy erklärte die Nationalversammlung Frankreich zu einer einigen und unteilbaren Republik – der ersten von bislang fünf französischen Republiken.

Wenig später wurde dem in Haft sitzenden König der Prozess wegen Hochverrat gemacht. Das Urteil war vorher schon klar: Tod durch die Guillotine. Als das Haupt Ludwigs XVI. vor einer großen Menge Schaulustiger durch das Beil vom Hals getrennt war, griff der Henker in den Korb und hielt den blutenden Kopf des Königs in die Höhe. Laute „Vive la République!“ - Rufe erschallten, manch einer drängte sich nach vorne und tauchte sein Taschentuch ins königliche Blut. Den Anwesenden war klar, dass sie mit dieser Tat alle Brücken hinter sich abgebrochen hatten. Jetzt waren sie es selbst, die für Fehlentwicklungen oder soziale Ungerechtigkeiten zur Verantwortung gezogen werden würden. Die Menschen ahnten, einem Mord beigewohnt zu haben, der sie unwiderruflich mit der Revolution verstrickte. Im Moment der Hinrichtung des Königs waren die Zuschauer zu Mittätern geworden. Sie hatten die Revolution zu einer Sache des ganzen Volkes gemacht. Im benachbarten Deutschland löste die Hinrichtung Ludwigs aber einen Stimmungsumschwung aus. Die anfängliche Begeisterung für die Abschaffung der feudalen Strukturen und den Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie war im Moment der Hinrichtung bei vielen deutschen Intellektuellen einer entsetzten Ablehnung gewichen. Zwar wollten die meisten, dass sich die Revolutionsideale auch weiterhin über den Kontinent verbreiteten, waren aber gleichzeitig über die „blutigen Entartungen“ der Jakobiner erschrocken. Johann Wolfgang von Goethe, der Carl August, den Herzog von Sachsen-Weimar bei der Belagerung von Mainz durch die französische Revolutionsarmee begleitet hatte, hoffte sogar, dass Revolutionen in Deutschland nicht stattfinden würden, wenn „die Regierung ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.“ Tatsächlich setzte sich bei den Regierungen der deutschen Fürsten die Erkenntnis durch, dass Reformen vielleicht doch besser waren als Revolutionen mit unvorhersehbarem Ausgang. 

Die Revolution frisst ihre Kinder

Die Revolution stellte das öffentliche Leben in Frankreich auf den Kopf, nichts war mehr so wie vorher. Anfang 1793 wurde klar, dass die schwerste Bewährungsprobe für das Land noch bevorstand. Neben den immer zahlreicher werdenden Radikalisierern der Revolution, war Frankreich umzingelt von äußeren Gegnern. Unter diesem Druck spitzte sich die Revolution soweit zu, dass sie zeitweise das Gegenteil von dem darstellte, was sie ursprünglich erreichen wollte. Im Nationalkonvent, wo eine neue revolutionäre Verfassung ausgearbeitet werden sollte, prallten Gegner und Befürworter einer verschärften Revolution aufeinander. Es ging um die „Diktatur der Freiheit“, also um die Frage, ob und inwieweit die eigentlich angestrebten Revolutionsideale geopfert werden müssten, um die Revolution insgesamt zu retten. Der Abgeordnete Jean Paul Marat brachte es im April 1793 auf die Formel, dass man einen „vorübergehenden Despotismus der Freiheit errichten muss, um den Despotismus der Könige zu vernichten.“ Als sich eine Mehrheit unter den Delegierten fand, eine zeitlich begrenzte Diktatur zur Durchsetzung der revolutionären Ziele einzurichten, begann in Frankreich eine „Herrschaft des Terrors“, die alle Befürchtungen überstieg.

Kopf und Lenker des Terrors war Maximilien Robespierre, der zunächst die gemäßigten Girondisten aus den Reihen der Revolution ausschloss und ihnen Prozesse machen ließ, die diesen Namen nicht verdienten. Die Gerichte waren von „überflüssigen Formalitäten“ befreit worden, so dass zur Urteilsfindung schon die Aussage der Geschworenen genügte, sie seien ausreichend informiert, um ein Urteil zu sprechen. Die erste Französische Republik war vollständig in Händen der radikalen Jakobiner, die die gerade erst verkündeten Menschenrechte wieder außer Kraft setzten, um sie angeblich zu verteidigen. Die Revolution fraß aber nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Väter. Als am 5. April 1794 Georges Jacques Danton die letzten Stufen zum Schafott hinauf gehen musste, erreichte die Henkershand einen der klügsten Köpfe der Revolution. Erschrocken über die Ausschreitungen hatte er zur Mäßigung aufgerufen, was ihm vor dem Revolutionstribunal als „zu große Milde“ gegen die Feinde der Revolution ausgelegt worden war. Spätestens mit Dantons Tod, dem der Dramatiker Georg Büchner mit seinem gleichnamigen Werk ein Denkmal gesetzt hat, war es den Zeitgenossen klar, dass sie Zeuge einer blutrünstigen Diktatur geworden waren. Mitte 1794 begann die schlimmste Phase der Schreckensherrschaft. Anstelle von Pfingsten wurde das „Fest des höchsten Wesens“ gefeiert, die Kirche Notre Dame hieß nun „Tempel der Vernunft“ und am 10. Juni 1794 wurde das „Schreckensgesetz“ verkündet, das Hinrichtungen auf dem Verwaltungswege erlaubte. Zwischen 50 und 100 Menschen wurden nun täglich im Namen der Revolution ins Jenseits befördert. Aber gleichzeitig wuchs auch der Unmut gegen den jakobinischen Terror, für den Maximilian Robespierre verantwortlich war. Als Ende Juli 1794 Robespierre und einige seiner Gefolgsleute verhaftet und tags darauf unter großer öffentlicher Anteilnahme guillotiniert wurden, signalisierte das anschließende Volksfest das Ende der Terrorherrschaft.

In Deutschland lösten die Nachrichten von der Terrorherrschaft der Jakobiner blankes Entsetzen aus. Die ursprüngliche Begeisterung für die Revolution, die manchen Intellektuellen nach Paris hatte pilgern lassen, um eine Sitzung des Nationalkonvents zu verfolgen, schlug ins genaue Gegenteil um. Was sollte das für eine Revolution sein, die im Namen der Freiheit die Guillotine auspackte und tausendfach benutzte? Waren nicht alle Tugenden der Aufklärung im Blut der Ermordeten versunken? War nicht das Ideal vom brüderlichen Zusammenleben gleicher und freier Bürger in einer von der Vernunft bestimmten Gesellschaft grundsätzlich verraten worden? Und schließlich: Welche Philosophie sollte sich hinter einer Revolution verbergen, die ganz offensichtlich und ohne den Versuch zu unternehmen, es zu vertuschen, die Menschenrechte mit Füßen trat?

Dennoch besetzt die Revolution von 1789 im französischen Selbstverständnis bis heute einen überragenden Platz. Als zum Schutz der ins Wanken geratenen Revolution Soldaten aus Marseille Ende Juli 1792 in die Hauptstadt einmarschierten, hatten sie ein Lied auf den Lippen. Die Pariser Bürger nannten den Song „Marseillaise“ und erhoben ihn zum Revolutionslied, weil sie damit den Einsatz der Marseiller Soldaten würdigen wollten. Der Sturm auf die Bastille und das Lied der Soldaten aus Marseille sind Kernstücke des französischen Nationalstolzes. Die Erstürmung der Bastille und der Marsch der Soldaten verkörpern den Mut und die Entschlossenheit, die die Zeitgenossen an den Tag gelegt haben, als sie für „ihre“ Sache zu kämpfen begannen. Ohne diese Tugenden, auf die sich die moderne französische Nation heute mit so großem Stolz bezieht, wäre die Revolution des Jahres 1789 vermutlich gescheitert. Denn sie war nicht nur von den Anhängern der absolutistischen Monarchie bedroht, sondern auch von den Auswüchsen der eigenen Scharfrichter, die im Namen von Freiheit und Vernunft die Guillotinen aufstellten, um vermeintliche oder tatsächliche Konterrevolutionäre zu Tausenden umzubringen. Schließlich haben sich die Bürger von Paris auch dagegen gewehrt und dafür gesorgt, dass die Französische Revolution weder am Widerstand der europäischen Mächte noch an den Unzulänglichkeiten der Revolutionäre gescheitert ist. Damit hat Frankreich dem europäischen Kontinent einen für immer prägenden Stempel aufgedrückt.

Eine Revolution mit Folgen

Die revolutionären Ideen aus Frankreich veränderten Europa, selbst wenn sie nicht sofort in politischen Programmen oder Forderungen von Aufständischen Eingang fanden. Die Revolution hat Europa reformiert. Es begann die Zeit der Verfassungen und der an diese Verfassungen gebundenen Monarchien. Die von den Revolutionären in Paris ausgerufenen „Menschen- und Bürgerrechte“ waren nicht mehr revidierbar. Die Menschen Europas hatten die Fanfaren der Freiheit gehört und forderten diese Freiheiten nun für sich ein. Bürgerrechte und vermehrte politische Partizipation läuteten das Ende des Ancien Régime ein. In Preußen, später in den Niederlanden, in Italien, in Griechenland oder in Belgien wird es Verfassungen geben, die durch die Revolution in Frankreich beeinflusst waren. Mit diesem Prozess ging die Säkularisierung Europas einher, die durch den schlechten Ruf des Vatikans als Hort der Reaktion und Unterdrückung noch unterstützt wurde. Die „Entgottung“ der Welt, die von der Revolution in Frankeich propagiert worden war, fand in den kommenden Jahrzehnten überall in Europa ihren Niederschlag. Der direkte Einfluss der Kirche auf die Politik ist seither in Europa immer weiter zurückgegangen.

Die Französische Revolution war der Frontalangriff auf die alte Ordnung. Sie wirkte wie ein Durchbruch in die Moderne – versinnbildlicht durch den wenig spektakulären Untergang des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“, der für Zeitgenossen wie Johann Wolfgang von Goethe bereits weniger interessant war „als der Streit mit dem Postboten“. Immerhin hatte diese Konstruktion ziemlich genau ein Jahrtausend Bestand gehabt und - jedenfalls zeitweise – als Ordnungsfaktor in Europa durchaus funktioniert. Die Territorialfürsten hatten sich darin ebenso eingerichtet wie die jeweiligen Kaiser, die sich als Bewahrer dieser seit Karl dem Großen überkommenen Ordnung einen Namen gemacht haben. Die Französische Revolution propagierte dagegen den Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und goss diese Ideale in Verfassungen mit Bürger- und Menschenrechten. Dahinter steckte der zuerst in der griechischen Antike formulierte Anspruch, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Abgesehen von der Zeit der Terrorherrschaft rückten die Revolutionäre das Individuum in den Mittelpunkt des Interesses und der daraus abzuleitenden politischen Handlungen. Der Mensch sollte aus der Umklammerung einer unmenschlichen Politik befreit werden. Arroganz und Menschenfeindlichkeit der französischen Sonnenkönige, das hohe Maß an Ungerechtigkeit, mit der Bauern und Handwerker gezwungen worden waren, den ausufernden Lebensstil einer nutzlosen Adelsclique am Hofe des Königs zu finanzieren – all das waren Auswüchse eines gegen die Menschen gerichteten politischen Systems, das es endgültig zu überwinden galt.     

Wie erfolgreich dieser Angriff auf das alte System war, konnte man im Verlauf des 19. Jahrhunderts sehen. Die Revolutionen in Griechenland und Italien, zahlreiche Aufstände und Revolutionen in Frankreich und Umwälzungen in Belgien oder den Niederlanden und nicht zuletzt die deutsche Revolution 1848/49 legten davon Zeugnis ab. Die europäischen Regenten haben sich mehrheitlich gegen die Revolution von 1789 ausgesprochen, nachdem sie die Sprengkraft der Vorgänge in Paris begriffen haben. Als der „Spuk“, wie sie hofften, vorbei war, machten sie sich daran, das alte Europa beim Wiener Kongress wieder zu restaurieren. Aber das alte, korrupte und auf die Herrschaft einiger Potentaten ausgerichtete Europa war nach der Französischen Revolution zerstört. Der Kontinent war mit den restaurativen Mitteln des Wiener Kongresses nur noch mit großem polizeilichem und militärischem Aufwand für einen begrenzten Zeitraum in seinem alten Status Quo zu erhalten.

Napoleon

Für die europäischen Königs- und Fürstenhäuser war ein Erfolg der „gottlosen Revolution“ in Frankreich ein Horrorszenario. Knapp drei Jahre nach Beginn der Revolution hatte der erste Koalitionskrieg begonnen, der nach der Pariser Kriegserklärung an Österreich von 1792 bis 1797 dauerte. Preußen schied nach einem Sonderfrieden 1795 aus den Reihen der Alliierten aus, um den Rücken frei zu haben für die dritte polnische Teilung, mit der dieser Staat für lange Zeit von der europäischen Landkarte verschwand: Zwar gab es Millionen von Polen, ein polnischer Staat aber existierte nicht mehr. Zu dieser Zeit, hielt Johann Wolfgang von Goethe fest, genoss das mittlere und das nördliche Deutschland einen „fieberhaften Frieden“, der aber für zeitgemäße Reformen nicht genutzt wurde.

Umfassende Reformen gab es hingegen in Frankreich. Am 22. August 1795 wurde eine neue Direktoriums-Verfassung in Kraft gesetzt, die eine Trennung der Exekutive, der Legislative und Judikative vorsah. Nachdem eine radikal-

demokratische Verschwörung in Paris ebenso wie eine royale Gegenrevolution niedergeschlagen waren, hatten sich die innenpolitischen Verhältnisse in Frankreich einigermaßen stabilisiert. Außenpolitisch musste sich Frankreich in den folgenden Jahren allerdings gegen viele Gegner zur Wehr setzen. Dabei kam einem jungen Artillerieleutnant aus der korsischen Hafenstadt Ajaccio die bedeutendste Rolle zu. Napoleon Bonaparte hatte sich erste militärische Sporen bei der Niederschlagung eines Aufstandes königstreuer Bürger im Oktober 1795 verdient. Der Nationalkonvent hatte den 26jährigen Korsen fortan für größere militärische Aufgaben im Auge. Dabei profitierte Napoleon davon, dass die französische Armee keiner Söldnerarmee mehr war, sondern junge Franzosen zur Verteidigung der Revolution rekrutiert wurden. Diese Bürgersoldaten kämpften für ihre eigene Sache und verteidigten verbissen ihr Vaterland. Angeführt von waghalsigen, meist jungen Generälen fielen französische Truppen im Westen Deutschlands ein, besetzten und annektieren das Rheinland, die Niederlande, Savoyen und Belgien. Die alte Idee von der durch den Lauf des Rheins „natürlich“ vorgegebenen Ostgrenze Frankreichs lebte wieder auf. Der preußische König Friedrich Wilhelm II. führte zwar das große Wort von der „gottlosen“ Revolution in Frankreich im Mund, trat aber den französischen Soldaten in den preußischen Gebieten an den Ufern des Rheins nicht entgegen.