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Die "Genese Europas" ist eine Vorlesung am Kölner "Campus für lebenslanges Lernen". Der letzte Teil der Trilogie beginnt bei der Restauration Europas im Anschluss an den Wiener Kongress 1815. Die Mächte Europas versuchten alles, um revolutionäre Erhebungen wie die Französische Revolution zu verhindern. Die Großmächte Preußen, England, Frankreich, Russland und Österreich führten auf dem Kontinent deshalb einen Wiederherstellung des "Status quo ante" durch. Trotzdem konnten sie nationale Erhebungen, soziale Unruhen und zahlreiche Revolutionen nicht verhindern. Während des gesamten 19. Jahrhunderts blieb die "deutsche Frage" in der Mitte des Kontinents virulent. Die Frage, wer einem gemeinsamen Staat angehören sollte, entzweite die Delegierten der Frankfurter Paulskirche 1848. Als 1871 durch eine "Verpreußung Deutschlands" das Deutsche Kaiserreich gegründet wurde, schien die "deutsche Frage" vorerst gelöst. Aber spätestens mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 wurde klar, dass die Deutschen in der Mitte des Kontinents mit ihrer Rolle im "Konzert der Großmächte" nicht einverstanden waren. Als sich das nationalsozialistische Deutschland aufmachte, die verhasste Friedensordnung von Versailles zu revidieren, ließ Adolf Hitler verlauten, die "deutsche Frage ist nur noch militärisch zu lösen." Zwischen 1914 - dem Beginn des Ersten Weltkriegs - und 1945 - dem Ende des Zweiten Weltkriegs - hat sich der europäischer Kontinent in einem "zweiten 30jährigen Krieg" befunden, dem der "alte Krieg" bis 1989 folgte. Europa heute ist davon gekennzeichnet, dass es gelungen ist, den Konflikt zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Kapitalismus friedlich aufzulösen. Europäische Politiker haben es geschafft, den scheinbar unauflösbaren Gegensatz zwischen der freiheitlicher Demokratie und einer zentralistischen Staatsordnung zu überwinden.
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Seitenzahl: 442
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Die Genese Europas III Der europäische Kontinent vom antiken Griechenland bis heute Teil 3 - Von der Restauration Europas (1815) bis zur Entstehung der Europäischen Union
Matthias von Hellfeld
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2014 Matthias von Hellfeld
ISBN 978-3-8442-9766-9
Nationalismus und Liberalismus
Die deutsche Nationalbewegung
Alltag in Deutschland
Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Revolution in Frankreich
Nation Building in Europa
Schwarz – rot - gold
Weberaufstand in Schlesien
Am Vorabend der „deutschen Revolution“
„Februarrevolution“ in Paris
Die Revolution von 1848/49 in Deutschland
Die Deutsche Nationalversammlung
Robert Blum und die Konterrevolution
Die deutsche Frage III
Friedrich Wilhelm IV.
Industrielle Revolution
Arbeitsbedingungen in Deutschland
Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Ökonomischer Wandel
Otto von Bismarck
Deutscher Bruderkrieg
Der Norddeutsche Bund
Österreich
Italienische Befreiung
England und Frankreich
Machtkampf in Spanien
Die Schlacht von Sedan
Reichsgründung von oben
Kaiserkrönung im Spiegelsaal von Versailles
England am Ende des 19. Jahrhunderts
Russland
Spanien und Portugal
Kulturkampf gegen Katholiken
Sozialistengesetze
Düstere Ahnungen
Das Kaiserreich und Europa
Afrika den Europäern!
Europäische Außenpolitik
1888 - Das Dreikaiserjahr
Kaiser Wilhelm II.
Vom Ende des „Phäakendaseins“
Der deutsche Platz an der Sonne
Radikaler Nationalismus
Europas Hegemonie
England
Frankreich
Russland
Die Russische Revolution von 1905
Deutsches Reich
Die Julikrise 1914
Der Erste Weltkrieg
Europas Absturz
Kriegsbeginn
Stellungskrieg
Waffen im Ersten Weltkrieg
Kriegsziele
Die Spaltung der SPD
Revolution in Russland
Der Frieden von Brest - Litowsk
Die Kapitulation
9. November 1918
Waffenstillstandsabkommen
Der Vertrag von Versailles
Die Weimarer Verfassung
Europa-Ideen
Die Zwanziger Jahre
Russland
Die Gründung der Sowjetunion
Stalin
Italien
Österreich
Frankreich
England
Deutschland
Die Weltwirtschaftskrise
Adolf Hitler und die NSDAP
Demokratie ohne Demokraten
Reichspräsidentenwahl
„Machtergreifung“
Gleichschaltungen
Europa wird braun
Die deutsche Frage IV
Antisemitismus
Großdeutschland
Der Weg in den zweiten Weltkrieg
NS-Rassenpolitik
Hitlers Judenhass
Der Pakt der Diktatoren
Der Zweite Weltkrieg
Das Generalgouvernement
„Blitzkriege“
Die Luftschlacht um England
Das Unternehmen „Barbarossa“
Stalingrad
Der „totale Krieg“
Die Wannseekonferenz
Holocaust
D-Day
Die Konferenz von Jalta
Die deutsche Frage V
Nachkriegsordnung
Prozesse
Das Ende Europas
NATO und Warschauer Pakt
Deutsche Frage VI
Frankreich in den 50er Jahren
England in den 50er Jahren
Die Sowjetunion in den 50er Jahren
Spanien in den 50er Jahren
Italien in den 50er Jahren
Europa in den 50 Jahren
Der Bau der Mauer
Ostblock
Jugoslawien
CSSR
Deutschlandpolitik
Ost- und Entspannungspolitik
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa III
DDR, CSSR und Polen
Der „Historikerstreit“
Europa
Sowjetunion
Glasnost und Perestroika
Solidarnosc
Revolution in der DDR
Der Mauerfall
CSSR
Rumänien
1990 - Chronik eines „deutschen Jahres“
Europäische Union und Euro
Die Gemeinsamkeiten der Europäer
Das Europa der gemeinsamen Wurzeln
Das Europa der Christen
Das Europa der Aufklärung
Das Europa der Parlamente
Das Europa der Unterschiede und Gegensätze
Das Europa der Freiheit und Demokratie
Sozialstaat Europa
Europäische Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit
Magna Charta II
Der vorliegende Text ist der dritte und letzte Teil meiner Vorlesung über die „Genese eines Kontinents“, die ich am Kölner „Campus für lebenslanges Lernen – Zeit für Wissen“ halte. Ziel der Vorlesung ist es, die Wurzeln und Gemeinsamkeiten der europäischen Völker seit der Antike freizulegen und ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie sich Europa zu dem entwickelt hat, was wir heute erleben.
Nach dem Ende der Kriege gegen Napoleon revidierten die europäischen Mächte die Ergebnisse der französischen Revolution von 1789. Die Könige und Regierungschefs führten Europa auf den Weg der Restauration, also der Wiederherstellung der früheren Verhältnisse. Dennoch konnten sie weder weitere Revolutionen noch den Prozess der „Nationenwerdung“ verhindern, in dessen Verlauf ihre restaurative Ordnung über Bord geworden wurde.
In der Mitte des Kontinents blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts die „deutsche Frage“ virulent. Die Frage, wer einem gemeinsamen Staat angehören sollte, entzweite die Delegierten der Frankfurter Paulskirche 1848. Als 1871 durch eine „Verpreußung Deutschlands“ das Deutsche Kaiserreich gegründet wurde, schien die „deutsche Frage“ vorerst gelöst. Aber spätestens mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 wurde klar, dass die Deutschen in der Mitte des Kontinents mit ihrer Rolle im „Konzert der Großmächte“ nicht einverstanden waren. Als sich das nationalsozialistische Deutschland aufmachte, die verhasste Friedensordnung von Versailles zu revidieren, ließ Adolf Hitler verlauten, die „deutsche Frage ist nur noch militärisch zu lösen.“
Aber das Ergebnis dieser insgesamt mehr als 30 Jahre dauernden Kriegsphase zwischen 1914 und 1945 war für den Kontinent verheerend. Deutschland und Europa wurden geteilt und zum Spielball des Ost-West-Konfliktes. Dennoch ist es mit Diplomatie, Ausdauer und Geschick auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ gelungen, diesen scheinbar unauflöslichen Konflikt zwischen der freiheitlichen Demokratie auf der einen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung auf der anderen Seite friedlich zu lösen. Diese Fähigkeit und die vielen gemeinsamen kulturellen, historischen, politischen und künstlerischen Wurzeln verbinden die europäischen Völker. Sie sind nun aufgerufen auf dieser Grundlage eine gemeinsame europäische Ordnung zu schaffen, die all jenen Werten verpflichtet ist, die auf diesem Kontinent erdacht, erstritten und erkämpft worden sind: Demokratie und Verfassungsstaat, Religions- und Glaubensfreiheit, Parlamentarismus und Partizipation des Volkes, Freiheit und Menschenrechte. Millionen Männer und Frauen aus Europa haben im Laufe der vergangenen 2500 Jahre ihr Leben dafür gelassen, dass diese Ideen und Ziele sich durchgesetzt und immer noch Gültigkeit haben. Auf ihren Schultern stehen die heute lebenden Generationen.
Köln, im Sommer 2014
Die Beschlüsse des Wiener Kongresses zielen auf die Wiederherstellung und Bewahrung der „alten Ordnung“ – also der politischen Zustände vor Beginn der Französischen Revolution - ab. Der Erhalt der alten Ordnung ist oberstes Ziel der Politik der europäischen Herrscherhäuser. Aufkommende nationale oder liberale Strömungen werden mit allen Mitteln unterdrückt. Der Anlass die Schrauben der Repression in Europa fester zu ziehen, bietet sich am frühen Nachmittag des 23. März 1819, als ein junger Mann an der Haustür des Dichters und russischen Staatsrates August von Kotzebue (1761 – 1819) klingelt, sich als „Herr Heinrichs“ ausgibt und Einlass findet. Aber kaum hat „Herr Heinrichs“ die Wohnung des Dichters betreten, zieht er plötzlich einen kleinen Dolch aus dem Hemdsärmel und sticht mit dem Ruf „Du, Verräter des Vaterlands!“ dreimal auf den Körper von Kotzebues ein. An Lunge und Herz getroffen bricht das Opfer zusammen und stirbt. Karl Ludwig Sand, wie „Herr Heinrichs“ in Wahrheit heißt, versucht anschließend sich auf gleiche Weise ums Leben zu bringen, wird aber vorher verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Nach einem Jahr kommt es vor dem Hofgericht des Niederrheins zum Prozess, an dessen Ende Karl Ludwig Sand zum Tode durch das Schwert verurteilt wird.
Für den österreichischen Außenminister und Architekten der Restauration Europas, Clemens Fürst Metternich (1773 – 1859) , ist der Mord an August von Kotzebue mehr als nur die Handlung eines geistig zurück gebliebenen Einzeltäters. In der Kanzlei Metternichs ist man überzeugt, dass Karl Ludwig Sand im Auftrag einer Verschwörung gegen die bestehende Ordnung gehandelt hat. Und damit ist die Tat ein willkommener Anlass, die Daumenschrauben der Repression innerhalb des Deutschen Bundes anzuziehen.
Im August 1819 beraten Österreich und Preußen auf einer Konferenz in Karlsbad, wie der Unruhe im Deutschen Bund zu begegnen sei. Die dort gefassten Beschlüsse, werden am 31. August 1819 veröffentlicht: Sämtliche Universitäten stehen nun unter der Aufsicht eines „außerordentlichen, landesherrlichen Bevollmächtigen“, die Pressefreiheit wird aufgehoben, die Zeitungen unterliegen einer strengen Zensur, liberal gesinnte Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen werden entlassen, Turnvereine und geheime Burschenschaften verboten. Per Dekret ist Deutschland damit in die vorrevolutionären Zeiten zurück „verordnet“ worden. Die deutschen Fürsten haben nun ein von der Bundesversammlung in Frankfurt abgesegnetes Instrumentarium, um der Unruhe mit polizeilichen Mitteln Herr zu werden. Ihre Angst ist nicht unberechtigt. Zur 300. Wiederkehr der Veröffentlichung der Thesen des Reformators Martin Luther haben sich zwei Jahre zuvor - Ende Oktober 1517 - viele tausend Burschenschaftler mit schwarz-rot-goldenen Fahnen in der Hand auf der Wartburg versammelt. Das Gedenkfest hat eher den Charakter eines Gottesdienstes gehabt, bei dem um eine kühne Tat für die „nationale Sache“ gebetet wurde. Für die Burschenschaftler ist der Mönch aus Eisleben dabei Vorbild gewesen.
Aber für Martin Luther ist 1517 die römische Kirche der Gegner gewesen. Jetzt 300 Jahre später ist es das als Fremdherrschaft empfundene politische System. Dagegen stellen die Anwesenden politische Forderungen, die einer Revolution gleichkommen:
Schaubild 1
[Politische Forderungen der „nationalen Bewegung“ 1817]
Aber die Gralshüter der Restauration, allen voran der österreichische Außenminister Clemens Fürst Metternich, erkennen die Signale von Wartburg nicht und glauben mit der Androhung staatlicher Gewalt, die öffentliche Ordnung gewährleisten zu können. Kurzfristig ist diese Strategie von Erfolg gekrönt, langfristig aber lassen sich nationale und liberale Strömungen nicht unterdrücken.
Zumal viele Deutsche 1816 und 1817 durch Hungersnöte und Wirtschaftskrisen in eine existenzielle Krise gedrängt werden. Der tägliche Überlebenskampf lässt bei vielen Menschen wenig Zeit übrig, sich über die zukünftige Gestaltung ihres Staates Gedanken zu machen. Aber die andauernde Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die unübersehbare Präsenz von Polizei und Staat, die für jeden sichtbare Verfolgung von so genannten „Demagogen“ sorgen für eine unheimliche Stille im Land. Mitglieder der studentischen Burschenschaften, Angehörige von verdächtigen Turnvereinen und Universitäten werden verfolgt, verhaftet oder amtsenthoben. Ernst Moritz Arndt, Turnvater Jahn und viele andere lernen preußische Gefängnisse von innen kennen
oder müssen das Land verlassen. Während die staatliche Rasterfahndung auf vollen Touren läuft, ziehen sich viele Menschen ins Private zurück, verzichten auf jede Form der politischen Betätigung. Es zählt das Eigene, der Rückzug ins Private wird zum Programm.
Zwischen 1815 und 1850 ist die Zeit des Biedermeier in Deutschland ein Reflex auf die von vielen Menschen empfundene Entfremdung und Sinnentleerung. Sie sehnen sich nach einem idyllischen, harmonischen Leben, das sie vor Urbanisierung und Industrialisierung schützt und besinnen sich auf die Natur und elementare Werte, die ihnen Schutz in turbulenten Zeiten gewähren sollen. Im Mittelpunkt dieser Kultur steht die bürgerliche Familie, die sich keine großen Sprünge erlauben kann, dazu sind die meisten zu arm. Das Land leidet unter den wirtschaftlichen Schäden der Kriege gegen Napoleon, die das Land ausgezehrt haben. Und gleichzeitig stehen sie am Beginn einer längeren Friedenszeit mit arbeitslosen Soldaten, die die einzigen sind, die sich über diesen Zustand beklagen. Unter den Augen des Polizeistaats macht sich dennoch eine oberflächliche Heiterkeit breit, die den beschaulich gekleideten Familienvater nebst Gattin und einer größer werdenden Kinderschar beim Sonntagsspaziergang hervorbringt. Die Zahl der Kinder steigt rapide, als habe es einen Knopfdruck gegeben, der den biologischen Ausgleich für die hohen Verluste der vorangegangenen Kriege in die Wege leitet. Bis zum Jahr 1848 erhöht sich die Bevölkerungszahl des Deutschen Bundes um ein Drittel, was die Landwirtschaft vor Probleme stellt, denn so viele Mäuler kann sie nicht stopfen. Die Armut ist in manchen Gegenden so groß, dass die örtlichen Verwaltungen regelrechte Bettelzüge zusammen stellen, die nach einem festgelegten Turnus durch die umliegenden Dörfer ziehen, um Lebensmittel zu erbetteln. In den Städten geht es nicht viel besser, das Heer der Gelegenheitsarbeiter steigt mit dem täglich größer werdenden Elend.
Nationalismus und Liberalismus sind in diesen Jahren zwei Seiten einer Medaille. Die Forderung nach nationaler Einheit und Selbstbestimmung ist verbunden mit dem Wunsch nach einer liberalen Verfassung, die den Menschen gleiche Rechte und Pflichten garantiert. Da sich diese Forderungen in Deutschland nicht durchsetzen lassen, blicken viele Intellektuelle sehnsuchtsvoll über die Landesgrenzen, wo Befreiungskämpfe den ersten Nationalstaaten Europas zum Durchbruch verhelfen.
Den Anfang machen die Spanier, die sich 1820 gegen die reaktionäre Herrschaft Ferdinands VII. (1784 – 1833) auflehnen. Nach einem Aufstand muss der spanische König notgedrungen die Konstitution der Cortes von 1812 wieder herstellen. Da aber bereits 1810 in der Cortes von Cadiz ein liberale Verfassung erarbeitet worden ist, die dem König ausführende Rechte und der Cortes das Gesetzgebungsrecht zuerkennt, ist die Herrschaft Ferdinands VII. an die Cortes gebunden. Aber Ferdinand sendet einen Hilferuf nach Frankreich, von wo 1823 eine militärische Intervention gestartet wird, die den König wieder in das hergebrachte absolutistische System einsetzt. Dennoch: Der Anfang ist gemacht und der Funke des Aufruhrs springt schnell über ins benachbarte Portugal.
Portugal wird seit dem 17. Jahrhundert absolutistisch regiert. Die portugiesische Ständeversammlung – die Cortes - ist zum letzten Mal 1669 einberufen worden und die Weigerung sich an der Kontinentalsperre Frankreichs gegen England zu beteiligen, bewirkt 1808 die Besetzung durch französische Truppen. Nach den Vorbildern im benachbarten Spanien revoltieren portugiesische Liberale gegen die politischen Verhältnisse. Im Sommer 1820 beginnt der Aufstand einige Offiziere in Porto, wodurch die „liberale Revolution“ ausgelöst wird. Ein Jahr später wähnen sich die Revolutionäre am Ziel, denn 1821 wird die erste Verfassung für das Land verabschiedet. Portugal ist nun eine konstitutionelle Monarchie, in der sowohl die Inquisition, als auch die Feudalherrschaft und die Vorrechte der katholischen Kirche abgeschafft sind. Widerwillig kommt König Johann VI. (1767 – 1826) aus Brasilien, der Kolonie Portugals, zurück und akzeptiert die veränderte politische Lage.
In England ist das victorianische Zeitalter angebrochen – benannt nach der langen Regierungszeit von Königin Victoria (1819 – 1901). Das Vereinigte Königreich befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines weltweiten Einflusses. Die an das Parlament gebunden Krone ist bei den Untertanen akzeptiert und beliebt. Victoria ist die erste englische Monarchin, die auch Kaiserin von Indien ist. Die industrielle Revolution, die in England ihren Anfang nimmt, sorgt für eine wachsende Wirtschaft. Das und das hohe Ansehen der Königin haben – vermutlich – revolutionäre Strömungen auf den britischen Inseln verhindern können.
In Griechenland beginnt am 25. März 1821 die erste erfolgreiche Revolution gegen das restaurative Herrschaftssystem des Osmanischen Reichs. Obwohl es anfänglich militärische Niederlagen gibt, gelingt es den Revolutionären zahlreiche Inseln einzunehmen. Der entscheidende Schlag aber ist im April 1821 die Einnahme Athens. Ein Jahr später wird eine erste Verfassung Griechenlands verabschiedet. Als Ägypten auf Seite der Osmanen in den Konflikt eingreift, scheint die griechische Revolution verloren, aber England, Russland und Frankreich stützten die griechischen Aufständischen. In der Schlacht von Navarino kann eine englisch-russisch-französische Armee am 20. Oktober 1827 die griechische Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich sicherstellen. Im September 1831 wird mit dem bayrischen Prinzen Otto (1815 – 1867) ein neuer König gewählt. Griechenland wird eine konstitutionelle Monarchie, die bis zum Militärputsch 1974 erhalten bleibt.
Auch in Italien finden nationale Befreiungskämpfe statt, die aber von Österreich niedergeschlagen werden. Der massive Einsatz des Militärs und die zeitweilige Besetzung der Halbinsel führen dazu, dass die alte, restaurative Ordnung wieder eingesetzt wird. Der Sieg der Revolution ist – fürs erste jedenfalls – verhindert. Nach dem österreichischen Sieg in Italien ist Europa am Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Ausnahme Griechenlands fest in der Hand der Restauration – garantiert von Russland, Österreich und Preußen.
Dramatischer sind die Vorgänge in Frankreich, wo seit 1824 der Bourbonenkönig Karl X. (1757 – 1836) regiert. Ein Jahr vor seinem Regierungsantritt haben französische Truppen den Aufstand in Spanien niedergeworfen und König Ferdinand VII. von Spanien wieder zur Macht verholfen. Den Anhängern einer europäischen Revolution ist mit dieser Niederlage ein heftiger Dämpfer versetzt worden. Diese Situation nutzt Karl X. aus, in dem er in Frankreich die Pressefreiheit einschränkt und drakonische Strafen für eher lächerliche Vergehen verkündet. Das bringt ihm den Ärger seiner Untertanen ein, die der liberalen Opposition bei den Wahlen 1828 die Mehrheit in der Zweiten Kammer verschaffen. Zwei Jahre später wird die Opposition so stark, dass sich Karl X. als Gegenmaßnahme zu einem Staatstreich verleiten lässt.
Nachdem über 200 Abgeordnete dem König das Recht zur Ministerernennung streitig gemacht haben, kommt es zum Eklat: Karl X. löst am 25. Juli 1830 die zweite Kammer auf, schränkt das Wahlrecht ein, verschärft die Pressezensur und verringert die Zahl der Abgeordneten. Das französische Volk ist damit fast wieder in der Situation, unter der es vor Beginn der französischen Revolution 1789 zu leiden gehabt hat. Die „Juli-Revolution“, die daraufhin 48 Stunden später in Paris ausbricht, dauert drei Tage, bevor sie siegreich zu Ende geht. Am 29. Juli 1830 ist das Königtum der Bourbonen zusammen gebrochen, das Militär ebenso aus der Stadt vertrieben wie der König. Die französische Republik ist gerettet.
Die bürgerliche Mehrheit der Zweiten Kammer trägt daraufhin Louis Philippe (1773 – 1850), dem Herzog von Orléans, unter der Bedingung die französische Krone an, dass er die Errungenschaften der französischen Revolution akzeptiert. Die Trikolore wird wieder die französische Nationalflagge und die „Marseillaise“ die Nationalhymne. Louis Philippe ist der erste französische König, der die Krone aus den Händen des bürgerlich-liberalen Parlaments erhält. Damit ist Frankreich eine konstitutionelle Monarchie, in der König und Parlament nach Recht und Gesetz die Geschicke des Volkes lenken. Die Inthronisierung dieses „Bürgerkönigs“ markiert gleichzeitig auch das Scheitern der europäischen Nachkriegsordnung. Der König wird durch das Parlament berufen und kann sich nicht mehr auf irgendein „legitimes“ Erbfolgerecht seiner Familie berufen. Damit ist einer der Grundsteine zerstört, auf denen die Garantiemächte des Wiener Kongresses 1815 die europäische Nachkriegsordnung aufgebaut haben.
Die Niederlande bekommen 1813 mit der Krönung von König Wilhelm I. (1772 – 1843) ihre Unabhängigkeit. Vorher ist das Land von den Truppen Napoleons besetzt gewesen. Beim Wiener Kongress wird den Niederlanden noch das Gebiet des heutigen Belgiens hinzugefügt. Die niederländische Verfassung von 1848 ist für das Land ein Meilenstein, denn mit der Einführung der Ministerverantwortung ist der Weg zu einer demokratisch verfassten konstitutionellen Monarchie vorgezeichnet.
Auch Italien bleibt von den revolutionären Erhebungen nicht unberührt. Die ersten nationalen Aufstände sind aber deshalb nicht erfolgreich, weil sich die Revolutionäre nicht auf ein gemeinsames Ziel und eine von allen vertretene Strategie verständigen können. Die italienischen Revolutionäre müssen sich zunächst der Übermacht des österreichischen Militärs geschlagen geben. Die nationale Befreiung Italiens wird erst 1870 erfolgreich sein, aber die Ideen von Giuseppe Mazzini (1805 – 1872) und Giuseppe Garibaldi (1807 – 1882), die für die nationale Selbstbestimmung aller Völker kämpfen, hinterlassen ihre Spuren.
Auch polnische Nationalisten versuchen sich von der Fremdbestimmung durch die Politik des russischen Zaren Nikolaus I. zu befreien. Unterstützt vom polnischen Heer wagen Offiziere und Intellektuelle den Aufstand gegen die Besatzer, müssen aber in der Folgezeit militärische Niederlagen hinnehmen. Durch massiven Militäreinsatz kann der russische Zar die Macht im Land erhalten, aber der polnische Aufstand löst überall in Europa und gerade auch in Deutschland große Begeisterung aus. 1846 wird der Plan eines weiteren Aufstands in Polen den russischen Besatzern verraten. Der Aufstand scheitert.
Die Auswirkungen der „Julirevolution“ in Paris sind auch in anderen europäischen Staaten zu spüren. Der Funke springt zunächst nach Belgien über, wo sich die Revolutionäre nach einjährigem Kampf erfolgreich gegen die niederländische Herrschaft durchsetzen. Im Londoner Vertrag vom 15. November 1831 wird Belgien schließlich anerkannt. In der bald darauf erlassenen belgischen Verfassung ist das Volk der Souverän, dessen Volksvertretung – wie in Frankreich – den König wählt. Auch in der Schweiz rühren sich nationale Kräfte und erreichen bis 1848 die Verabschiedung einer neuen Verfassung für die schweizerische Eidgenossenschaft, deren Merkmal die bis heute gültige Referendumsdemokratie ist.
Deutsche Nationalisten verfolgen die Vorgänge in Europa aufmerksam, aber eine ähnliche Revolte wie bei den Nachbarn gibt es in Deutschland nicht. Dennoch ist der Wunsch nach Veränderungen auch hier unübersehbar. Am 7. September 1830 stürmen Braunschweiger Bürger das Stadtschloss, ähnliches geschieht in Kassel, in Sachsen, in Hannover und in Göttingen, wo im Januar 1831 Studenten und einige Bürger unter Führung von drei Universitätsdozenten die Stadt für einige Tage unter ihrer Kontrolle haben. Wenig später bereiten 7.000 Soldaten aus Hannover dem Aufstand in Göttingen ein Ende. Noch drastischer wird es 1837, als Ernst-August (1771 – 1851), Herzog von Braunschweig-Lüneburg, den Königsthron in Hannover besteigt. Zeitgenossen beschreiben den neuen König von Hannover als jemanden, der schon alle „menschlichen Verbrechen“ außer dem Selbstmord begangen habe und genauso regiert er das Land auch. Er setzt die liberale Verfassung außer Kraft, was den Widerspruch von sieben angesehenen Göttinger Hochschullehrern provoziert. Sie bestehen auf der Gültigkeit der Verfassung von 1833. Aber König Ernst – August bleibt hart und schmeißt sie aus dem Land. Die „Göttinger Sieben“ erhalten überall in Deutschland Zuspruch, weil sie dem Wunsch vieler Menschen nach einem geeinten Staatswesen, das auf einer Verfassung mit Rechtssicherheit basiert, durch ihr mutiges Eintreten gegen die königliche Willkür Ausdruck verliehen haben.
Aber die Bekundungen des deutschen Einheitswillens münden in keine Bewegung, die von allen Deutschen getragen wird. Dennoch wächst die Zahl der Anhänger einer deutschen Einheitsbewegung. Sichtbarer Ausdruck ihrer Existenz ist ein Fest, das vom 27. bis zum 30. Mai 1832 vor den Toren des Hambacher Schlosses in der Pfalz stattfindet. Mehrere zehntausend Menschen sind zusammen gekommen, um für einen bundesstaatlichen Zusammenschluss Deutschlands zu demonstrieren. Das Fest wird beherrscht von schwarz-rot-goldenen Fahnen, deren Farbkombination an die Uniformen des Freikorps Lützow während der Befreiungskriege gegen Napoleon I. erinnert. Daran knüpfen die Teilnehmer des Hambacher Festes an und deklarieren die Farben des Freikorps zu den „deutschen“ Farben. Sie demonstrieren für die Einheit und Freiheit Deutschlands und für eine föderative deutsche Republik, die gleichberechtigter Partner in einem europäischen Staatenbund sein soll. Den Ruf nach einer Abkehr von der reaktionären „Heiligen Allianz“ kleidet der Schriftsteller Johann Wirth (1798 – 1848) in eine Klage über die „knechtische“ Haltung der Deutschen gegenüber den Unterdrückern der nationalen Freiheit des eigenen Landes:
„Die Regungen der Vaterlandsliebe sind uns unbekannt, was dem Vaterland Not tut, ist Hochverrat. (…) Wir helfen Griechenland befreien, wir trinken auf Polens Wiederauferstehung, wir zürnen, wenn der Despotismus der Könige den Schwung der Völker in Spanien, in Italien lähmt, (…) wir beneiden den Nordamerikaner und sein glückliches Los, das er sich mutvoll selbst erschaffen: Aber knechtisch beugen wir den Nacken unter das Joch der eigenen Dränger (…) Es wird kommen der Tag (…), wo ein selbst gewobenes Bruderband alle umschließt zu politischer Einheit und Kraft; wo die deutsche Flagge, statt Tribut an Barbaren zu bringen, die Erzeugnisse unseres Gewerbefleißes in fremde Weltteile geleitet und nicht mehr unschuldige Patrioten für das Henkerbeil auffängt, sondern allen freien Völkern den Bruderkuss bringt.“
Der romantisierende Nationalismus, von dem Johann Wirth und seine Zuhörer in Hambach schwärmen, verhallt in Deutschland zwar noch weitgehend ungehört, ist aber heute eine der demokratischen Traditionen der Bundesrepublik Deutschland.
In Deutschland breitet sich zu Beginn der 30er Jahre Armut aus. Im Vergleich zu England, wo seit Anfang des Jahrhunderts die Industrialisierung einen ökonomischen Aufschwung bewirkt hat, sind die Länder des Deutschen Bundes unterentwickelt. Bis 1840 wandern knapp 200.000 Menschen aus, zehn Jahre später ist es fast eine halbe Million. Not und Armut sind so groß, dass zahlreiche Städte dazu übergehen, Armutswanderer mit strengen Vorschriften von ihrem Gebiet fernzuhalten. Das Problem der Massenarmut wird aufs Land verschoben und lässt dort die Frage aufkommen, ob ein geeinter Nationalstaat nicht viel besser mit Landstreicherei und Armut zu Recht kommen würde. Gleichzeitig glauben viele, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung nicht nur die materiellen Probleme lösen, sondern auch den gemeinsamen deutschen Staat würde schaffen können. Dabei sind industrielle Fertigung durch den Einsatz moderner Maschinen und Verbindung der einzelnen deutschen Staaten durch die Eisenbahn die Zauberworte, die eine glückliche Zukunft verheißen.
Voraussetzung dafür ist der 1834 geschaffene Deutsche Zollverein, dem am Anfang neben Preußen die Königreiche Bayern und Sachsen sowie Darmstadt, Hessen und Thüringen angehören. Die Attraktivität eines gemeinsamen Wirtschaftsraums sorgt dafür, dass bis 1866 das Königreich Hannover und das Herzogtum Nassau sowie die Grafschaften Oldenburg und Baden beitreten. Bald danach folgen die norddeutschen Herzogtümer Schleswig, Holstein und Mecklenburg-Schwerin. Während die Ökonomen kühl kalkulierend vor allem die wirtschaftlichen Vorteile für den Transport von Waren und Personen sehen, erkennen die nationalen Revolutionäre im Deutschen Zollverein den Vorläufer eines deutschen Staates. Und tatsächlich entwickelt der Deutsche Zollverein eine beträchtliche politische Schubkraft. Aber trotz Zollverein und großen Anstrengungen bleibt die Industrieproduktion hinter den Bedürfnissen zurück. Die Verwendung von leistungsstarken und kostengünstigen Maschinen kommt nur schleppend voran, was besonders in der deutschen Stoffindustrie, die sich der starken englischen Konkurrenz zu erwehren hat, zu Verwerfungen führt. Englische Großhändler greifen auf billige Importe aus den Kolonien zurück und können so die deutschen Händler unterbieten. Die Antwort der deutschen Großhändler ist eine gnadenlose Senkung der Einkaufspreise.
Bei den Webern in Schlesien führt das zu chaotischen Zuständen. Trotz harter Akkordarbeit ist der Lohn für die Weber derart niedrig, dass sie nicht mehr überleben können. Unterernährung, hohe Kindersterblichkeit und unbändiger Zorn auf die Zustände, in denen sie leben müssen, sind die Folgen. Am 3. Juni 1844 entlädt sich die Wut der Weber in der schlesischen Kleinstadt Peterswaldau: Sie stürmen die Fabrik des Großhändlers und legen sie in Schutt und Asche. Die Nachricht vom „Weberaufstand“ verbreitet sich wie ein Lauffeuer, wenig später sind mehr als 3.500 Weber an der Revolte beteiligt. Obwohl sich ihr Zorn ausschließlich gegen die Geschäftspraktiken der Großhändler richtet und auch nur deren Gebäude zerstört werden, fühlen sich auch die Adligen Schlesiens ihrer Haut nicht mehr sicher. Auf ihren Wunsch werfen eilig herbeigeführte preußische Soldaten den Aufstand blutig nieder. Wahllos schießen sie auf die Demonstranten, elf werden getötet – darunter Frauen und Kinder – viele von ihnen verhaftet.
Der Aufstand der schlesischen Weber, dem wenig später der Dramatiker Gerhard Hauptmann (1862 – 1946) ein literarisches Denkmal setzt, schlägt fehl, die Aufständischen werden vor Gericht gestellt und zu hohen Haft- und Prügelstrafen verurteilt. Der Aufschrei gegen die jämmerliche Situation, in der sich die Arbeiter befinden, ist die erste „proletarische“ Revolution, von denen es in Deutschland und Europa in der Folgezeit noch einige geben wird. 1844 aber reagiert die sächsische Regierung mit harten Strafen und Repressionen. Überall in Deutschland werden einige Tausend Berufsverbote und Landesverweise ausgesprochen. Am Vorabend des Revolutionsjahres 1848 gibt es in Deutschland einerseits zahlreiche nationale „Spinner“ und Phantasten, die das Land verherrlichen und der eigenen Geschichte unkritisch und irrational gegenüberstehen. Andererseits wollen Teile der Nationalbewegung Deutschland politisch befreien und entwerfen zu diesem Zweck zahlreiche programmatische Zukunftskonzepte.
Aber auch in anderen Ländern brodeln nationale Bewegungen, die nur mühsam von Polizei und Militär in Schach gehalten werden können. Der italienische Revolutionär und Jurist Giuseppe Mazzini ist nach London ins Exil gegangen und beobachtet von dort den italienischen Befreiungskampf des „Risorgimento“. Sein Ziel ist die „Selbstbestimmung der europäischen Völker“, die durch eine Befreiung und Einigung aller Völker des Kontinents erreicht werden könne. Gemeinsam mit einigen anderen
Aktivisten gründet er den „Comitato europeo“. Mazzinis Konzept strebt die Errichtung einer „europäischen Republik“ an – ein „Europa der Völker“. Im gleichen Jahr fordert der Vorsitzende des ersten europäischen Friedenskongresses, der Schriftsteller Victor Hugo (1802 – 1885) in Paris die „Vereinigten Staaten von Europa“. Beeindruckt von den revolutionären Aktionen in vielen europäischen Ländern, vor allem aber von der „Februarrevolution“ 1848 in Frankreich, hat der Literat eine Vision:
„Ein Tag wird kommen, wo diese beiden gewaltigen Staatengruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa einander gegenüber stehen und sich die Hand reichen werden“.
In Deutschland schwankt die Stimmung zwischen Resignation und nationalem Pathos. Im Oktober 1847 treffen sich gemäßigte Liberale in Heppenheim und fordern eine deutsche Einigung unter preußischer Führung. Verwaltung und Justiz sollen getrennt, der Mittelstand und die Arbeiter entlastet, Pressfreiheit und unabhängige Schwurgerichte eingeführt, eine konstitutionelle Verfassung erarbeitet und ein gesamtdeutsches Parlament einberufen werden. Die Hoffnungen der liberalen Reformer, unter denen sich auch der spätere Präsident der Frankfurter Nationalversammlung Heinrich von Gagern (1799 – 1880) befindet, richten sich auf Preußen. Die effiziente preußische Bürokratie und der industrielle Aufschwung des Landes haben für ein hohes Ansehen bei den deutschen Bundesbrüdern gesorgt.
Bei seinem Amtsantritt am 7. Juni 1840 ist der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795 – 1861) den Reformern scheinbar entgegen gekommen. Aber er enttäuscht sie und das nicht zum letzten Mal. Friedrich Wilhelm IV. gilt den Zeitgenossen als Romantiker auf dem Thron, der von den Idealen einer von „Gottes Gnaden“ erteilten Regentschaft ebenso schwärmt wie vom Ständestaat und von der mittelalterlichen Reichsidee. Zunächst erlässt der neue König einige „Reförmchen“, setzt die inhaftierten Ernst-Moritz Arndt (1769 – 1860), Hermann von Boyen (1771 – 1848) und Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852) wieder auf freien Fuß und entschärft den Konflikt mit der katholischen Kirche. Aber den Erlass einer gesamtstaatlichen Verfassung, wie er insbesondere von den liberal gestimmten Landtagen des Rheinlands und Ostpreußens gefordert wird, lehnt er kategorisch ab. Als Kompromiss lädt er zu einem „Vereinigten Landtag“ ein, der aus Abgesandten der Provinzial-Landtage besteht, und gewährt dem Landtag das Recht zur Steuerbewilligung. Als es in diesem Gremium zu heftigen Streitigkeiten kommt, stehen auch in Preußen die Zeichen auf Sturm, zumal aus Paris erneut revolutionäres Getöse zu hören ist.
Angestachelt durch die Reden des Schriftstellers und Politikers Alphons de Lamartine (1790 – 1869) ist zum Jahreswechsel 1847/48 die Zahl der Aufständischen in Paris gestiegen, während der Staat mit immer heftiger werdenden Verfolgungen reagiert. Seit Anfang 1848 flüchten sich Aufständische in so genannte Bankette, wo sie ihre Versammlungen unter dem Deckmantel eines gemeinsamen Essens abhalten. Das Verbot eines solchen Banketts führt am 22. Februar 1848 zum Aufstand in Paris, nur mit großer Mühe kann Lamartine die Aufständischen daran hindern, das Pariser Rathaus zu stürmen. Aber die Straßenkämpfe werden immer brutaler und halten bis weit in den Sommer an. Im Verlauf dieser „Februarrevolution“ muss der „Bürgerkönig“ Louis Philippe abdanken. Anschließend wird er mit Schimpf und Schande nach England gejagt. Die Revolutionäre erklären Frankreich zur Republik, bilden eine provisorische Regierung, die Wahlen zu einer Nationalversammlung ausschreibt. Nach der Wahl verabschiedet die neue Nationalversammlung eine Verfassung und wählt den aus dem Exil zurückgekehrten Neffen von Napoleon Bonaparte, Louis Napoleon (1808 – 1873) am 10. Dezember 1848 zum neuen französischen Staatspräsidenten. Aber diese zweite französische Republik hält nur drei Jahre, denn im Dezember 1851 putscht Präsident Bonaparte gegen die Republik, ruft das zweite Kaiserreich aus und lässt sich als Napoleon III. zum Kaiser krönen.
In Wien erzwingen Aufständische den Rücktritt des verhassten Staatskanzlers Clemens Fürst Metternich, in Berlin klettern revoltierende Bürger auf die Barrikaden und liefern sich Straßenschlachten mit dem Militär. In allen deutschen Ländern sind die Zutaten einer revolutionären Situation bereitgestellt: Forderungen nach einer rechtstaatlichen Verfassung, Sehnsucht nach nationaler Einheit der Deutschen, schwierige wirtschaftliche Verhältnisse mit Hungersnöten in manchen Teilen des Deutschen Bundes und die allgemein verbreitete Meinung, ein Umsturz stehe unmittelbar bevor. Die Obrigkeiten können den Deckel nicht mehr auf dem brodelnden Topf halten und akzeptieren deshalb Teile der so genannten „Märzforderungen“, wodurch in vielen Ländern „Märzregierungen“ entstehen. Unterstützt und angeheizt durch Tumulte auf den Straßen machen sich die neuen Regierungen daran, für ihre Länder Presse- und Versammlungsfreiheit zu verkünden, Parteien zu erlauben und im ganzen Land die schwarz-rot-goldene Fahne der Revolution von Rathaustürmen und Hausdächern flattern zu lassen.
In Berlin eskaliert die Situation, die Stadt gleicht Anfang März 1848 einem riesigen Heerlager. Mitte des Monats entlädt sich die aufgestaute Spannung in tumultartigen Ausschreitungen, die derart gewalttätig werden, dass die zusammen gezogenen preußischen Truppen sie nicht mehr unterdrücken können. Der sichtlich irritierte preußische König versteht die Welt und seine aufmüpfigen Untertanen nicht mehr: Er resigniert und tritt die Flucht nach vorne an. Mit einer schwarz-rot-goldenen Armbinde – den Farben der Revolution! – reitet Friedrich Wilhelm IV. durch die Straßen von Berlin und beteuert in seiner Proklamation „An mein Volk“, dass Preußen „fortan in Deutschland“ aufgehen werde. Dem Jubel der Straße folgt das Staunen der preußischen Untertanen: ein liberales Ministerium wird eingerichtet, Presse- und Versammlungsfreiheit verkündet und sogar eine preußische Nationalversammlung einberufen!
Im März 1848 reagiert die Bundesversammlung in Frankfurt auf die revolutionären Ereignisse und die zahlreichen Rufe nach einer Reform des Deutschen Bundes. Ein Vorbereitungsausschuss soll sich mit den „Märzforderungen“ auseinandersetzen und eine Reichsverfassung erarbeiten. Wenige Tage später wird in Frankfurt ein Vorparlament zusammengerufen, dem 500 Männer angehören, die sich vorher in den unterschiedlichsten nationalen Zirkeln einen Namen gemacht haben. Daraus geht schließlich die Deutsche Nationalversammlung hervor, die am 18. Mai 1848 zusammentritt, um eine Verfassung zu erarbeiten und freie Wahlen vorzubereiten. Für die kommenden 13 Monate wird ihre Tagungsstätte zum entscheidenden Ort für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte. Gelingt es den Abgeordneten einen deutschen Nationalstaat zu gründen oder scheitern sie an den Widerständen, die gegen einen deutschen Staat in der Mitte Europas ins Feld geführt werden? Die Ereignisse nehmen einen dramatischen Verlauf.
Am 19. Mai 1848 wird Heinrich von Gagern zum Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er ist kein Unbekannter. 1815 hat er an der Schlacht von Waterloo teilgenommen, ist einige Jahre später als liberaler Finanzexperte ins hessische Parlament eingezogen. Aber seine erste Personalentscheidung erweist sich als Fehlgriff. Weil er – wie die Mehrheit der Nationalversammlung – an einen gesamtdeutschen Staat unter Einschluss Österreichs glaubt, schlägt Heinrich von Gagern Erzherzog Johann von Österreich (1782 – 1859) für das Amt des Reichsverwesers, also des kaiserlichen Vertreters, vor. Der Reichsverweser soll die Zentralgewalt des Deutschen Bundes so lange innehaben, bis nach einer Parlamentswahl eine neue Regierung im Amt ist. Der liberale Erzherzog wird am 29. Juni 1848 mit überwältigender Mehrheit gewählt und verfasst kurze Zeit später einen Aufruf an das deutsche Volk:
„Deutsche! Eure in Frankfurt versammelten Vertreter haben mich zum deutschen Reichsverweser erwählt. Unter dem Zurufe des Vertrauens, unter den Grüßen voll Herzlichkeit, die mich überall empfangen, und die mich rührten, übernahm ich die Leitung der provisorischen Centralgewalt für unser Vaterland. (…) Unser Vaterland hat ernste Prüfungen zu bestehen. Sie werden überwunden werden. Eure Straßen, Eure Strome werden sich wieder beleben, Euer Fleiß wird Arbeit finden, Euer Wohlstand wird sich heben, wenn Ihr vertrauet Euren Vertretern, wenn Ihr mir vertraut, den Ihr gewählt, um mit Euch Deutschland einig, frei und mächtig zu machen. (…) Deutsche! Lasst mich hoffen, daß sich Deutschland eines ungestörten Friedens erfreuen werde. Ihn zu erhalten ist meine heiligste Pflicht. Sollte aber die deutsche Ehre, das deutsche Recht gefährdet werden, dann wird das tapfere deutsche Heer für das Vaterland zu kämpfen und zu siegen wissen.
Der Reichsverweser Erzherzog Johann“
Für die Radikalen in der Nationalversammlung ist Erzherzog Johann aber ein Vertreter des alten politischen Systems und deshalb nicht akzeptabel. Wie schwer, wenn nicht unmöglich die Aufgabe des Reichsverwesers ist, zeigt sich schon bald. Angesteckt vom revolutionären Schwung in Berlin und Frankfurt hat sich schon im März 1848 in Schleswig-Holstein eine provisorische Revolutionsregierung gebildet, die gegen ihren Landesherrn, den dänischen König Frederick VII. (1808 – 1863), opponiert. Der schickt daraufhin seine Truppen nach Kiel, was - auf Wunsch der Nationalversammlung - am 2. Mai 1848 mit dem Einmarsch preußischer Truppen in Dänemark beantwortet wird. Als englische Kriegsschiffe im Sommer 1848 ihre Stärke durch massive Präsenz in der Nordsee demonstrieren, russische Truppen an der preußischen Ostgrenze aufmarschieren und schließlich auch der französische Gesandte insistiert, zieht Preußen seine Truppen aus Dänemark zurück und unterzeichnet am 26. August 1848 den Waffenstillstand von Malmö. Die Revolution gewinnt, wer die Macht hat. Das ist jetzt ebenso klar, wie die Erkenntnis, dass diese Macht nicht in Händen der Frankfurter Nationalversammlung liegt. Seine faktische Machtlosigkeit – ohne eigenes Heer und ohne zentrale Kompetenz – muss auch Erzherzog Johann am 16. September 1848 erkennen, als die Frankfurter Nationalversammlung den Waffenstillstand notgedrungen ratifiziert und damit die Interessen eines Bundesmitglieds – nämlich Schleswig-Holsteins - aufgibt.
Einen Tag später bricht deswegen in Frankfurt ein Volksaufstand aus, der die revolutionäre Stimmung auch in anderen Teilen des Deutschen Bundes anheizt. Während der Barrikadenkämpfe vor dem Portal der Paulskirche kommen zwei Abgeordnete ums Leben, über die Stadt wird der Belagerungszustand verhängt, bevor der Aufstand militärisch niedergeschlagen wird. Am nächsten Tag hält der sichtlich erregte Heinrich von Gagern eine Rede vor der Nationalversammlung, in der er die Abgeordneten zu mehr Mut und Entschlossenheit aufruft:
„Wenn man sich bemüht hätte, Verständigung zu suchen, statt die Leidenschaften aufzuregen und walten zu lassen, statt im Parteigeist sich abzuschließen, wir würden die Ereignisse nicht erlebt haben, wie wir sie haben erleben müssen (…) Es sind Maßregeln zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe von den Reichsministerien getroffen worden, und wir werden gewiss zu allem die Hand bieten, was zur Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung notwendig ist (…) Wollen wir die Freiheit, so müssen wir sie mit Maß wollen und ihr Maß lehren; wollen wir die Einheit, so lassen Sie uns vor allem hier einträchtiger zusammenwirken!“
Aber die Herstellung der Einheit unter den Abgeordneten ist genau so schwierig, wie die Herstellung einer staatlichen Einheit. Schnell merken die Delegierten, dass es an allem fehlt: Es gibt keine Hauptstadt, keine nationalen Institutionen, keine nationale Kunst und schon gar keinen Nationalstaat. Alles muss neu geschaffen werden – eine Aufgabe, die noch dadurch erschwert wird, dass die meisten Abgeordneten Professoren und Akademiker sind. Ihre Neigung den Dingen mit akribischer Genauigkeit auf den Grund zu gehen, verhindert pragmatische Entscheidungen und lähmt ihre Handlungsfähigkeit. Während in der Frankfurter Paulskirche die Abgeordneten wochenlang um die Ausgestaltung der Bürgerrechte, die Meinungs- und Pressefreiheit debattieren, werden genau diese Rechte in einigen Staaten des Deutschen Bundes außer Kraft gesetzt.
Am 6. Oktober bricht in Wien wegen des Einsatzes österreichischer Truppen gegen ungarische Revolutionäre ein Aufstand aus. Um eine Solidaritätsadresse der Frankfurter Abgeordneten zu überreichen, reist der Kölner Delegierte Robert Blum (1807 – 1848) in die österreichische Hauptstadt. Anfang November 1848 wird die Revolte niedergeschlagen und Robert Blum gerät in Haft. Nach kurzem Prozess wird er am 8. November zum Tode verurteilt und einen Tag später standrechtlich erschossen. Ein Aufschrei der Empörung über diese Hinrichtung hallt durch Deutschland, ändert aber nichts daran, dass in Österreich die Revolution beendet, die alte Ordnung wieder hergestellt und Wien von den Revolutionären „befreit“ ist.
Machtlos ist die Frankfurter Nationalversammlung auch gegen den zeitgleich stattfindenden konservativen Staatsstreich in Preußen, wo die seit Ende Mai 1848 tagende preußische Nationalversammlung kurzerhand nach Brandenburg verlegt wird. Der Traum von einer liberalen Verfassung und einem demokratischen Regierungssystem zerplatzt unter den Stiefeln von 40.000 preußischen Soldaten, die in Berlin einmarschieren und den revolutionären Tumulten ein Ende machen. Am 11. November 1848 verhängt General Friedrich von Wrangel (1784 – 1877) den Belagerungszustand über die Stadt und löst das Parlament auf. Die konservative Gegenrevolution hat in Deutschland auf ganzer Linie gesiegt, weil die beiden wichtigsten Schaltstellen der Macht wieder in ihren Händen sind. In Wien und Berlin können die Monarchen nun in aller Gelassenheit die Ideen der Frankfurter Nationalversammlung erst zur Kenntnis nehmen und dann ablehnen.
Ohne sich von den dramatischen Veränderungen der tatsächlichen Machtverhältnisse in den deutschen Ländern beeindrucken zu lassen, verabschieden die Abgeordneten in Frankfurt am 28. Dezember 1848 einen Katalog der allgemein gültigen Grund- und Menschenrechte. Das ist ein Meilenstein für die deutsche Geschichte, dessen Bedeutung wegen der widrigen Umstände außerhalb der Mauern der Frankfurter Paulskirche keine rechte Würdigung erfährt: Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte sind die Menschenrechte und die Grundprinzipien des Rechtsstaat schriftlich festgehalten und finden Eingang in die später beschlossene Reichsverfassung.
Ein anderes Thema aber erregt die Gemüter der Frankfurter Abgeordneten sehr viel mehr, denn die leidige „deutsche Frage“, wer denn nun zu einem deutschen Nationalstaat gehören müsse, wartet immer noch auf eine befriedigende Antwort. Soll Preußen dabei sein und was geschieht dann mit dem Teil Preußens, der außerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes liegt? Soll auch Österreich in den Bund hinein und damit die gleiche Frage aufwerfen, was mit dem außerhalb der neuen deutschen Grenzen liegenden Teils Österreichs werden soll. Oder soll man sich auf den Deutschen Bund allein beschränken und Preußen und Österreich nicht aufnehmen? Die Grenzen des zu gründenden neuen Staates sind von einer so überragenden Bedeutung, dass eine Auseinandersetzung darüber eigentlich am Anfang aller Debatten hätte stehen müssen. So aber ist wertvolle Zeit verloren gegangen, in der sich die konservativen Gegenkräfte vom Schock der revolutionären Ereignisse des Vormärz erholt haben.
Ungeachtet dessen streiten die Abgeordneten in Frankfurt hingebungsvoll über die Grenzlinien des neuen Staates in der Mitte des Kontinents. Die einen plädieren für einen großdeutschen Staat mit Österreich und Preußen. Die Befürworter dieser Idee träumen von einem Großdeutschland unter habsburgischer Kaiserkrone, sie schwärmen von dem wieder erwachten alten Kaiserreich des Mittelalters und ummanteln es mit ein wenig liberalem Zeitgeist. Dabei merken sie kaum, dass sie sich selbst ein Bein stellen, weil sie die Frage nicht beantworten können, wie mit den vielen Millionen Nichtdeutschen umzugehen sei, die im österreichischen Vielvölkerstaat leben. Zudem ist Österreich nur mit einem Teil seines Staatsgebietes im Deutschen Bund. Dann – so ihre Antwort – soll eben nur der „deutsche“ Teil Österreichs dem neuen Staat angehören. Was aber soll mit dem Rest Österreichs geschehen? Das kategorische „Nein“ des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. (1830 – 1916) auf diesen waghalsigen Plan ist weder erstaunlich noch lässt es lange auf sich warten. Die Annahme dieses Plans würde unweigerlich die Teilung Österreichs nach sich ziehen, weil sich die nicht zum neuen deutschen Reich gehörenden Länder abspalten würden. Die „Großdeutschen“ übersehen auch den Rest der Nationalitäten, die in den Grenzen des von ihnen erdachten Reiches leben: Italiener in Istrien und Tirol, Slowenen in Krain, Tschechen und Polen in Schlesien. Zudem gibt es Länder, in denen die Deutschen eindeutig in der Minderheit sind: in Böhmen und Mähren.
Den „Großdeutschen“ halten die „Kleindeutschen“ ihren Plan entgegen: Dem neuen deutschen Staat sollen der Deutschen Bund und Preußen angehören. Auch dieser Plan erwirkt den Widerspruch von Franz Joseph I., der Österreich als deutsche Bundesmacht erhalten will. Die Rede des Dichters Ludwig Uhland vom 22. Januar 1849 fasst die Bedenken gegen diese „kleindeutsche“ Lösung zusammen:
„Die deutsche Einheit soll geschaffen werden; diese Einheit ist aber nicht eine Ziffer; sonst könnte man fort und fort den Reichsapfel abschälen, bis zuletzt Deutschland in Lichtenstein aufginge. Eine wahre Einigung muss alle deutschen Ländergebiete zusammenfassen. Das ist eine stümperhafte Einheit, die ein Drittel der deutschen Länder außerhalb der Einigung lässt. Dass es schwierig ist, Österreich mit dem übrigen Deutschland zu vereinigen, wissen wir alle; aber es scheint, manche nehmen es auch zu leicht, auf Österreich zu verzichten. (…) Wie verengt ist unser Gesichtskreis, wenn Österreich von uns ausgeschieden ist!“
Dem Beifall von der einen Seite stehen Buh-Rufe der anderen Seite gegenüber. Die Nationalversammlung ist gespalten genau wie in einer anderen, ebenfalls entscheidenden Frage. Soll der neue Staat eine Republik oder eine konstitutionelle Monarchie werden, in der die Macht des Königs durch Parlament und Gesetze eingeschränkt ist? Der bayrische Abgeordnete Marquard Barth (1809 – 1885) ist ein glühender Verfechter der erblichen Monarchie, was er in seiner Rede vor den Abgeordneten der Nationalversammlung am 18. Januar 1949 in folgende Worte kleidet:
„Macht ist es, meine Herren, was die Nation von uns verlangt, und als Mittel zur Macht die Einheit, aber nicht jene ideale Einheit, welche sich als loses Band um eine große Ländermasse schlingt, sondern eine praktische Einheit. Nur wenn es klar hervortritt, dass Deutschland aufgehört hat, ein Durcheinander zu sein, und ein Bundesstaat geworden ist, nur dann wenn klar hervortritt, dass das Reich wirklich eine Bedeutung und dass die Reichsgewalt wirklich eine Gewalt (ist), nur dann werden wir Ansehen haben und Kredit. (…) Darum lassen Sie uns nicht zurückschrecken vor dem letzten entscheidenden Schritte, lassen Sie uns nicht stehen bleiben vor dem Throne, den wir nicht vernichten, sondern errichten wollen. (…) Wenn Sie wollen, dass das künftige Oberhaupt des Reiches seine Interessen mit denen des Staates amalgiere, sein eigenes Bestes und das seines Hauses nur wiederfinde in dem allgemeinen Besten des Vaterlandes, dann müssen Sie nicht ein vertragsmäßiges Verhältnis eingehen, dazu bedarf es mehr, dazu bedarf es einer Ehe.“
Und diese Ehe soll am 27. März 1849 geschlossen werden, als nach langem Hin und Her die deutsche Reichsverfassung verabschiedet wird. Deutschland soll eine konstitutionelle Monarchie werden mit dem preußischen König als deutschem Kaiser an der Spitze. Er soll den Oberbefehl über das Heer erhalten, das Land nach außen vertreten, Minister ernennen und entlassen. In seinem Handeln ist er allerdings an die schriftliche Zustimmung von Parlament und Minister gebunden. Kaiser und Minister haben Einfluss auf die Gesetzgebung, weil sie beide ein Veto einlegen können, der Kaiser kann zudem auch eigene Gesetzesinitiativen starten.
Die eigentliche Gesetzgebungskompetenz liegt aber beim Reichstag, der aus zwei Kammern besteht. Seine Beschlüsse müssen von beiden Kammern getragen und gebilligt werden. Das „Volkshaus“ (vielleicht vergleichbar mit dem Bundestag) besteht aus je einem Vertreter für 50.000 Einwohner. Das „Staatenhaus“ – also der Bundesrat – wird zur Hälfte von den Landesregierungen, die ihre Delegierten wählen, beschickt und zur anderen Hälfte von den Landtagen, die ihre Vertreter ernennen. Die Minister sind dem Reichstag Rechenschaft schuldig. Das Reichsgericht ist von der Politik unabhängig, über seine Besetzung soll ein eigenes Gesetz entscheiden und wählen dürfen alle Männer über 25 Jahren in allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Abstimmungen. Frauen haben kein Wahlrecht. Einen Tag nach der Verabschiedung der neuen Verfassung wählt die Nationalversammlung mit knapper Mehrheit den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum deutschen Kaiser.
Schaubild 2
[Verfassungsentwurf der deutschen Nationalversammlung vom 27. 3. 1849]
Mit diesem Votum in der Tasche machen sich am 3. April 1849 mehr als 30 Delegierte der Nationalversammlung auf den Weg zum preußischen König nach Berlin. Friedrich Wilhelm IV. nimmt seine Wahl zum deutschen Kaiser mit freundlichen Worten zur Kenntnis und bittet um Bedenkzeit. Aber seine Entscheidung steht schon lange fest. „Dieses Ding“, wie er die Kaiserkrone nennt, nimmt er nicht an. Seine Gründe hat er dem Abgeordneten Ernst Moritz Arndt schon kurz vorher anvertraut:
„Das Ding, von dem wir reden, trägt nicht das Zeichen des heiligen Kreuzes, drückt nicht den Stempel ‚von Gottes Gnaden‘ aufs Haupt, ist keine Krone. Es ist das eiserne Halsband der Knechtschaft, durch welches der Sohn von mehr als 24 Regenten, Kurfürsten und Königen, das Haupt von 16 Millionen, der Herr des treuesten und tapfersten Heeres der Welt der Revolution zum Leibeigenen gemacht werden würde.“
Friedrich Wilhelm IV. will nicht von der „Kanaille“ gekrönt werden. Diese leichtfertige Abweisung des Wunsches der Nationalversammlung ist aber weit mehr als nur die starrsinnige Haltung eines preußischen Potentaten. Der König von Preußen vergibt mit seiner Ablehnung den Deutschen die letzte Chance sich friedlich in einem gemeinsamen Staat zu vereinen. Ihm ist das sicher nicht bewusst gewesen, aber in der historischen Rückschau erweist sich seine Haltung als fatal. Dem Parlament gegenüber verweist Friedrich Wilhelm IV. auf die Ablehnung seiner Regentschaft durch sämtliche europäischen Herrscher, die in einer neuen kaiserlichen deutschen Großmacht – nach bekanntem Strickmuster – nur einen lästigen Konkurrenten sehen und ihn vermutlich alsbald in einen Krieg verwickeln würden. Weit mehr aber zählt, dass Friedrich Wilhelm IV. kein Bürgermonarch ist. Einer durch das Parlament bewerkstelligten deutschen Einheit ist damit der Weg versperrt, jetzt bleibt nur noch die Vereinigung von oben - durch die deutschen Fürsten. Diese „Einheit“ wird der Bruder und Nachfolger Friedrich Wilhelms IV. 1871 mit Hilfe des „eisernen Kanzlers“ Otto von Bismarck ebenso prunkvoll wie gewaltsam inszenieren.
Die frustrierte Abordnung der Nationalversammlung reist in der berechtigten Vorahnung nach Frankfurt zurück, dass mit dieser Entscheidung die deutsche Revolution gescheitert ist. Zwei Tage nach ihrer Rückkehr werden die österreichischen Abgeordneten nach Wien zurück beordert, gleichzeitig wird die Reichsverfassung von 28 Kleinstaaten des Deutschen Bundes anerkannt. Aber drei der wichtigsten deutschen Staaten Bayern, Sachsen und Hannover lehnen die Reichsverfassung ab und signalisieren das Scheitern der Bemühungen einen deutschen Zentralstaat zu schaffen. Als sich die Zweite Kammer des preußischen Landtags am 21. April 1849 der Verfassung anschließt, wird sie durch einen königlichen Erlass kurzerhand aufgelöst. Obwohl im ganzen Land die revolutionären Aufstände unter den Knüppeln von Polizei und Militär zusammen gebrochen sind, rufen die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung unbeirrt die Regierungen der Einzelstaaten auf, die Reichsverfassung anzuerkennen. Aber das Ende der deutschen Revolution ist nah.
Am 14. Mai 1849 werden die preußischen Abgeordneten aus Frankfurt abberufen, zwei Wochen später weicht das so genannte Rumpfparlament nach Stuttgart aus. Mitte Juni marschieren preußische Truppen in der Pfalz ein. Dort tagt seit einigen Wochen eine provisorische Revolutionsregierung, deren Truppen von preußischen Soldaten blutig nieder gemacht werden. Am 18. Juni 1849 erringen württembergische Truppen den zweifelhaften Ruf, die letzten Abgeordneten des Stuttgarter Rumpfparlaments auseinander gejagt zu haben. Die verängstigten Männer der Nationalversammlung flüchten in alle Himmelsrichtungen. Den endgültigen Schussstrich unter die gescheiterte deutsche Revolution ziehen am 23. Juli 1849 die letzten in der Festung Rastatt eingeschlossenen Revolutionstruppen: Sie kapitulieren.
Die Revolution von 1848/49 ist zum einen an ihren eigenen Unzulänglichkeiten und an der fehlenden Machtbasis, von der aus sie hätten agieren können, gescheitert. Zum anderen hätte ein großdeutscher Staat das europäische Sicherheitssystem empfindlich gestört, was weder Frankreich noch Russland kommentarlos hingenommen hätten. Einmal mehr müssen die Deutschen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Nachbarn ein vitales Interesse daran haben, wie die Mitte des Kontinents politisch gestaltet ist. Eine zersplitterte Mitte Europas sichert den Status Quo der übrigen europäischen Staaten. Eine Machtkonzentration aber birgt aber in den Augen der andren Großmächte die Gefahr einer Destabilisierung Mitteleuropas. Aber die Frankfurter Abgeordneten sind auch an der Frage der Staatsgrenzen gescheitert. Ein Ausschluss Preußens und Österreichs hätte den faden Beigeschmack hinterlassen, einen deutschen Rumpfstaat etabliert zu haben, der – wie der Deutsche Bund - allein nicht überlebensfähig und vom guten Willen der beiden übrigen Deutschländer abhängig gewesen wäre. Die Einbeziehung Preußens und Österreichs hätte zwangsweise die Auflösung der beiden Staaten nach sich gezogen und die Frage aufgebracht, wie das Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten in einem Gesamtverband eigentlich hätte aussehen sollen.
Die gescheiterte Revolution von 1848 ist aber nur das eine Problem, das den Europäern und speziell den Deutschen zunehmend Schwierigkeiten bereitet. 1801 brennt im englischen Coalbrookdale der erste mit Koks befeuerte Hochofen. Er wird zum Symbol der beginnenden Industrialisierung und zum Start für flächendeckende soziale Verwerfungen, die den Kontinent über viele Jahre beschäftigen. 1769 hat James Watt (1736 – 1819) die Dampfmaschine erfunden, 1814 ächzt die erste Lokomotive mit einigen Anhängern über die Gleise. Beide Ereignisse sind Symbole für die industrielle Revolution, die in England beginnend rasch auf den Kontinent überschwappt und dort Arbeits- und Familienstrukturen durcheinanderbringt.
In den 40er- und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts steigt die Bevölkerungszahl in Deutschland derart dramatisch an, dass die Ernährung der Menschen mit den herkömmlichen Methoden die Landwirtschaft kaum noch sichergestellt werden kann.
Der einzige Ausweg ist die Intensivierung des Ackerbaus durch den Einsatz von Maschinen. Damit steigt zwar die Produktivität, die Zahl der Landarbeiter aber nimmt ab. Die nun nicht mehr benötigten Landarbeiter flüchten in die Städte, wo sie auf Arbeit in der entstehenden Industrie hoffen. Aber auch in den Städten sind die Folgeprobleme der Industrialisierung unübersehbar, denn die neuen maschinellen Produktionsmöglichkeiten treten in Konkurrenz zu dem bis dahin vorherrschenden Kleingewerbe. Dadurch steigen auch in den Städten die Arbeitslosenzahlen. Es herrscht also bei den Landarbeitern und bei den in den Städten nicht mehr benötigten Arbeitern eine doppelte Arbeitslosigkeit. Das Überangebot an Arbeitskräften führt zu extrem niedrigen Löhnen und Arbeitsbedingungen, die jeder Beschreibung spotten. Nicht zum letzten Mal zahlen die Arbeiter den Preis für den industriellen Fortschritt, von dessen segensreichen Folgen sie allerdings nicht profitieren.
Der Arbeitsalltag wird bestimmt durch den Takt der Maschinen, die an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr laufen. In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts beträgt die normale Arbeitszeit 14 Stunden. Der Hungerlohn, der dabei am Ende herauskommt, reicht für das Überleben einer Familie nicht. Die meisten Kinder bekommen keine Ausbildung, weil sie arbeiten müssen – nicht selten unter Tage, wo sie wegen ihrer Gewandtheit und geringen Körpergröße bestens eingesetzt werden können. Die „Proletarier“ – wie die Arbeiterschaft nun heißt – haben keinen Besitz, keine soziale Absicherung und keine Altersversorgung. Auf Gedeih und Verderb sind sie ihren Arbeitgebern ausgeliefert, die allerdings keinerlei soziale Vorsorge für sie betreiben. Ihre Hoffnung ruht auf den Kindern, weswegen sie ihre vom lateinischen Wort „proles“ (Kind) Bezeichnung „Proletarier“ bekommen haben. Wer nichts hat als seine Kinder, ist ein „Proletarier, der auf eine möglichst große Kinderschar setzt, die ihn im Alter am Leben halten könnte. Aber das führt zu weiterem Wachstum der Bevölkerung und lässt die Folgen der industriellen Revolution noch drastischer werden.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts lebt mehr als die Hälfte der Deutschen in diesem Teufelskreis unterhalb des Existenzminimums. Das „Lumpenproletariat“, wie die ärmsten von ihnen genannt werden, vegetiert in elenden Slums, Fürsorge kennen sie nicht, ihre Familienstrukturen sind weitgehend zerstört und Alter oder Krankheit bedeuten eine unmittelbare Existenzbedrohung. Mit dem „Vaterland“ und einer irgendwie begründeten „nationalen Identität“ haben sie nichts am Hut. Hunger haben sie, arbeiten wollen sie und ein Leben führen, das ihnen die Würde lässt. Die unübersehbare Diskrepanz zwischen einem ungebremsten wirtschaftlichen Aufschwung und der Massenarmut lässt der industriellen Revolution eine dramatische soziale Verelendung folgen, deren Ausmaß erschreckend ist. Wer sich dagegen zur Wehr setzt, riskiert den Verlust des Arbeitsplatzes, Zusammenschlüsse von Arbeitern sind ebenso streng verboten wie die Verbreitung von revolutionären Parolen. Dennoch lassen sie sich nicht mehr lange unter dem Teppich halten, zumal immer wieder aufrührerische Artikel kursieren, die geeignet sind die revolutionäre Unruhe im Land anzuheizen.
Einige dieser Artikel stammen aus der Feder des in London lebenden deutschen Zeitungsredakteurs Karl Marx (1818 – 1883). Er unterstützt die Arbeiter in seiner Heimat in der Hoffnung den Beginn einer europäischen Revolte einzuleiten, an dessen Ende das befreite Proletariat stehen werde. Zu Beginn der 40er Jahre lebt er in Paris. Als 1848 in Deutschland die Revolution beginnt, muss er das Land verlassen. Der preußischen Regierung sind seine Zeitungsartikel ein Dorn im Auge, sie fordern die französischen Behörden auf, Marx unter Druck zu setzen und schließlich des Landes zu verweisen. Nach seiner Ausweisung übersiedelt Karl Marx nach Brüssel, wo er dem zwei Jahre jüngeren Friedrich Engels (1820 – 1895) begegnet. Friedrich Engels, Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten aus Wuppertal-Barmen, ist kurz vorher dem „Bund der Gerechten“ beigetreten, der in London seinen Sitz hat und später zum „Bund der Kommunisten“ umbenannt wird.